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Wer ist Oskar Panizza?

Im Januar 1891 wurde zu München die »Gesellschaft für modernes Leben« gegründet. Michael Georg Conrad leitete die Eröffnungsfeier unter großem Andrang des Publikums. Ich gehörte, wohl der Jüngsten einer, zu den Gründungsmitgliedern und übernahm den Posten eines musikalischen Leiters, dessen Aufgabe es war, die öffentlichen und intimen Abende nach Bedarf mit Musik zu verbrämen.

Die Begeisterung für unsere neue, gewichtige »Mission« teilte ich mit einer ganzen Schar jugendlicher Heißsporne. Es war für uns alle eine gloriose Sturm- und Drangzeit, wie sie keinem von uns je wiederkehrte. Manch einer ist seitdem in den Orkus gefahren. Verdorben und gestorben. Ein Dutzend Nekrologe könnte ich schreiben, wenn man's verlangte. Manch anderer jener Kämpfer aber ist zu Ruhm und Ehre emporgestiegen, die Zeitgenossen drückten ihm den Lorbeer aufs ergrauende Haupt, indes die nachdrängende Generation sich rüstet und brüstet, mit Geringschätzung auf ihn herabzuschauen; mit derselben, stets neu wiederkehrenden Geringschätzung, mit der wir »Moderne« von 1891 auf Paul Heyse und andere herabgesehen hatten, die damals – ihrerseits – unser Tun und Treiben mit grimmem Hohn und Kopfschütteln betrachteten.

Sic transit …

Ungefähr ein halbes Jahr vor Entstehung unserer streitbaren und kampfeslüsternen Phalanx machte ich die Bekanntschaft Oskar Panizzas, der – damals noch nominell Irrenarzt – bereits längst mit Leib und Seele der Literatur angehörte. Sein Lebenslauf bis dahin ist in Kürze folgender:

Oskar Panizza, der Sohn eines wohlhabenden Hotelbesitzers in Kissingen, geboren Anno 1853, studierte Medizin, befaßte sich aber schon sehr früh eingehendst mit Philosophie und Literatur. Als Student verbrachte er mehrere Jahre in Paris und London; dort erweiterte er seine sprachlichen Kenntnisse und legte damit den Grund zu einer eminenten Belesenheit und allgemeinem reichen Wissen. In London schrieb er auch seine ersten Gedichte, »Düstere Lieder« (1886), »Londoner Lieder« (1887), »Legendäres und Fabelhaftes« (1889). In München war er als Irrenarztassistent tätig. Dort vollzog sich bald sein definitiver Übergang zur Literatur.

In rascher Aufeinanderfolge schrieb er »Erste Beiträge über Oberammergau, Bayreuth« und viele andere weniger umfangreiche Essays, Skizzen und Novellistisches, sowie die burleske Satire »Aus dem Tagebuch eines Hundes«.

Bald hatte sich um ihn ein Kreis von »Auserlesenen« gebildet. Auch ich durfte mir ein bescheidenes Plätzchen erobern, von dem aus ich mit stets wachsendem Interesse den anregenden und geistvollen Unterhaltungen folgte, die unter der Ägide des Pfadfinders und Bahnbrechers M. G. Conrad geführt wurden.

Panizza war ein gern gesehener Gast an unserem Tische. Sein glattrasiertes, sympathisch-offenes Gesicht, das manchmal fast apathisch und nichtssagend dreinschauen konnte, belebte sich wunderbar, wenn eine Idee ihn anregte, wenn er im Gespräche nach Ausdruck rang. Die hellen blauen Augen konnten einen dann verteufelt klug anblitzen, und das fast unausgesetzte, jesuitische Lächeln seines Mundes stand in einem seltsamen Kontrast zu den unglaublichen Derbheiten und Aufrichtigkeiten, die er vom Stapel ließ, wenn es ans Diskutieren ging. Seine Anwesenheit verbreitete stets eine behagliche Stimmung; man hatte das angenehm-prickelnde Gefühl, neues, kulinarisch reizvoll Tolles vorgesetzt zu bekommen. Dieser erzgescheite Mensch mit dem scharfen Blick geistiger Überlegenheit und großer Welterfahrung, mit dem vitalen Gehirn, dem Hautgout einer dekadenten Weltanschauung und den blasphemischen Kühnheiten übte auf uns denselben Reiz aus, wie die verbotene Lektüre eines Boccaccio oder Casanova, Anno dazumal, als wir noch die Schulbank drückten.

Bild: Paul Haase

Seine Schriften kannten wir fast ausnahmslos; sie fesselten uns in demselben Grade, wie sie uns befremdeten. Schon damals fanden sich zahlreiche Gegner der Panizzaschen Muse. Und wahrlich: bei dieser ungewohnten, schwerverdaulichen Mischung von bäurischer Derbheit und raffiniertester Feinschmeckerei konnte kein Alltagsmensch auf seine Kosten kommen. wir aber, die wir das Ungewohnte, Neue suchten, liebten ihn.

Verblüffend wirkte seine stupende Belesenheit und sein ungewöhnliches Gedächtnis. Er war ein großes Nachschlagebuch, das man niemals vergeblich um Auskunft fragte. Seine Gespräche würzte er mit zahllosen Beispielen aus der Literatur aller Länder und Zeiten; er erinnert in dieser Hinsicht an Karl Julius Weber, den Verfasser des ergötzlichen »Demokritos«. Panizzas Fähigkeit, alles in der Originalsprache zu zitieren und auch sofort mustergültig aus dem Stegreif zu übersetzen oder zu kommentieren, löste allenthalben Erstaunen und Bewunderung aus. Ich war bald ganz im Banne dieses wunderlichen Menschen und suchte seine Gesellschaft, wo ich nur konnte; damals stagnierte meine mit Vehemenz und Selbstgefälligkeit begonnene Produktivität vollkommen: so rückständig kam ich mir diesem Alleswisser gegenüber vor. Willenlos überließ ich mich ganz dem heimlichen Grauen, das mir dieser vielgewandte, vielverschlagene Phantast weckte.

So war es vielleicht ein Glück, daß mich bald mein Schicksal von München forttrieb, hinaus in die kaum geahnte Welt, die mich mit ihren Polypenarmen umschlang und mir ach! so oft den Atem raubte. Ich mußte kämpfen, nicht mehr um Worte, Ideen, Prinzipien, sondern – ums tägliche Brot.

»Ja, ja, es geht um die Wurscht, mein Junge!« schrieb mir damals Panizza nach Dollarien, als er gehört hatte, daß ich dort drüben mit Gottes unerforschlichen Ratschlüssen nicht so ganz einverstanden war.

Bald darauf schickte er mir seine 1895 veröffentlichte »Himmelstragödie in fünf Aufzügen: Das Liebeskonzil«.

Mit wahrem Heißhunger stürzte ich mich auf den literarischen Leckerbissen. Je mehr mir Sinn und Inhalt klar wurden, desto höher stieg meine panikartige Erregung. Ich war in allen Poren aufgereizt, bis in die tiefste Seele erschreckt, überwältigt, erdrückt von der gigantischen Blasphemik des Werkes.

Es ist – dem Andenken Huttens gewidmet.

Hier ist in hundertfünfzig Worten der Inhalt:

Gottvater erfährt von der sittlichen Verworfenheit am Hofe des Papstes Alexander II. In höchstem Zorn beschließt er furchtbare Bestrafung. Christus, Maria, Maria Magdalena und der Heilige Geist helfen mitberaten; der Teufel, vor den Thron zitiert, muß ein Mittel zur Geißelung der sündigen Menschheit erfinden. Der wählt die Verruchteste unter allen Frauen, Salome, zeugt mit ihr ein himmlisch schönes Weib und schickt es auf die Erde, das Blut der Menschheit zu vergiften. Die Höllentochter erscheint einer Versammlung der päpstlichen Familie während der heiligen Messe … In trüber Morgendämmerung verläßt sie mit halb entblößter Brust, übernächtig, hohläugig, den päpstlichen Palast. Der Teufel herrscht sie an: Jetzt zu den Kardinälen! Dann zu den Erzbischöfen! Dann zu den Gesandten! Dann zum Camerlengo! Dann zu den Neffen des Papstes! Dann zu den Bischöfen! Dann durch alle Klöster durch! Dann zu dem übrigen Menschenpack! – Tummle dich und halte die Rangordnung ein! – (Weib langsam ab. Der Vorhang fällt.)

Als ich mich von meiner ersten Betäubung erholt hatte, schrieb ich an Panizza:

»Mensch, wie konnten Sie die Tollkühnheit besitzen, ein solches Buch der Öffentlichkeit anzuvertrauen?! Tausende werden es nicht zu Ende lesen können, man wird Sie mit Haß und Verachtung überschütten. Keiner wird an Ihren Ernst glauben. Man wird Sie, den Gotteslästerer, bespeien und ans Kreuz schlagen. Der Heiland und der Schächer mußten des gleichen Todes sterben!«

Ich prophezeite ihm als Minimum ein Jahr Gefängnis.

Armer Panizza! Meine Rechnung hatte leider gestimmt. Das verhängnisvolle Buch wurde konfisziert, Panizza flüchtete, gedrängt von seinen juristischen Ratgebern, ins Ausland. Bald darauf wurde er unter Kuratel gestellt. Er führte ein verbissenes, ruheloses Dasein und starb fast vor Sehnsucht nach seiner deutschen Heimat, bis er sich zum Entsetzen seiner Freunde selbst den Gerichten stellte, die ihn zu einem Jahr Gefängnis verurteilten.

Als ich nach fünfjähriger Abwesenheit nach Deutschland zurückkehrte, feierten gerade die Münchener Freunde Panizzas Entlassung aus der Gefangenschaft. Etwas blaß und mager war er geworden, doch schien er heiter und guter Dinge. Im stillen Zwiegespräch aber erkannte ich bald den starken Wechsel, den die grauen Stunden der Gefängniszelle hervorgebracht hatten. Aus dem Denker war ein Grübler, aus dem Wissenden ein Zweifler, aus dem Lachenden ein Grinsender geworden. Seine abgedämpfte Stimme und sein umflortes Auge standen in erschütterndem Widerspruch zu der bowlengeschwängerten Atmosphäre und zu der geräuschvollen Heiterkeit jener Stunden im Münchner Ratskeller.

Wenige Monate nach unserem Wiedersehen flaute unser Verkehr aus mir heute noch unbekannten Gründen ab, bis ich ihn schließlich ganz aus meinem Gesichtskreis verloren hatte. Eines Tages erzählte man, Panizza sei irrsinnig geworden; tatsächlich befindet er sich seit mehr als zwölf Jahren in einer Irrenanstalt.

So weit reichen meine persönlichen Erinnerungen an Oskar Panizza; sie mögen manchem spärlich genug erscheinen. In mir aber hinterließ der Mensch und Dichter tiefgehende, gewaltige, unvergeßliche Eindrücke.

Dieser genialische Kopf besaß nicht nur den durchdringenden Blick des Psychiaters und die unerbittliche Logik des Philosophen, er war auch ganz besonders begabt mit einer ungeheuren Phantasie. Sein Gehirn war ein Land unbegrenzter Möglichkeiten. Seinen unwiderstehlichen Hang zum Zynischen milderte rührende Aufrichtigkeit und gaminhafter Humor. Seine im Grund lutherische Gesinnung hatte er ins Moderne erweitert, ohne seinen fanatischen Antikatholizismus dabei einzuschränken. Diesen polemisierenden und engherzigen Glaubenshaß verquickte er mit überschäumender Phantasie, letztere oft in den Dienst des ersteren stellend. Und mit diesem Rüstzeug angetan, betrat er den Boden der großen Satire. Sein geschichtliches Wissen und seine in ernster Forschung erworbene Kenntnis des Papsttumes und der katholischen Dogmatik prädestinierten ihn zu einem fürchterlichen Gegner von geradezu Döllingerscher Bedeutung. Aber es fehlte ihm einerseits an ernstlicher zielbewußter Konzentration, andererseits beraubte ihn seine haßdurchtränkte Phantasie des objektiven Blickes, und so blieb es bei der Satire. Ihm aber, der alles künstlerische Werkzeug zum Satiriker besitzt, fehlt – hier zitiere ich Otto Julius Bierbaum, den genauen Kenner Panizzas – eine Hauptsache: der hohe Standpunkt mit dem weiten Blick. Er hat die Wissenschaft vom Verkehrten in der Welt in reichem Maße, er hat witzige Phantasie in schier unendlicher Fülle, er hat die Kunst des treffsicheren Geißelwortes. Er besitzt als Charakter den rücksichtslosen Mut, eine Draufgängercourage von erquickender Mannhaftigkeit, den richtigen furor satiricus, der alles stürmt, was seiner Laune sich in den Weg stellt, seien es Misthaufen, seien es feierliche Ruinen, – aber er hat einen engen Horizont.

Sein Buch »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (Zürich 1893) ist eine satirische Leistung größten Stiles, wie wir nur ganz wenige besitzen. Es ist vielleicht das Furchtbarste, Kühnste, was jemals gegen den Katholizismus geschrieben worden ist. Wir sehen aber – fährt Bierbaum fort – in diesem Buche nur die Äußerung einer ganz eminenten satirischen Begabung, und wenn uns der Stoff geniert, so geschieht dies darum, weil wir wünschten, daß ein so bedeutender Satiriker sich lieber Angriffspunkte gesucht haben möchte, die es sich wirklich verlohnt, mit so wuchtigem Rüstzeug des Wissens und Könnens anzugreifen. Hierin liegt eben die Schwäche des Satirikers Panizza. Er sieht nicht weit genug. Was hier in ihm rebellt, das ist eigentlich der Lutheraner, nicht der ganz freie Mensch. Im Grunde ist es doch der Lutherzorn, der hier tobt und dogmenstürmt. Die Tendenz der Satire ist Donquichotterie und fordert selber zur Satire heraus, und das ist bedauerlich, weil der Kunstwert der Arbeit so überaus bedeutend ist.

Worin bestand nun eigentlich die Achillesferse im Schaffen Panizzas!

Ich resümiere: diesem seltsamen Menschen fehlte zum Wissenschaftler der eiserne Wille und die Gründlichkeit – doch wußte er unendlich viel mehr wie hundert Gelehrte, die mit Ausbeutung eines Spezialgebietes, zu dem ihre Begabung hinneigte, sich einen klingenden Namen und allgemeine Achtung erzwangen. Zum Künstler fehlte ihm das göttlich Naive, das Harmlose des Produzierens und vor allem die Sehnsucht nach dem Schönen. Er entbehrte keineswegs der Selbstkritik, wo er einmal an reelle Werte seiner Dichtung glaubte, wo es sich nach seinem Gutdünken verlohnte; dann siebte er mit gewissenhafter Hand, bis eine klare Form erstand, und suchte mit zähem Eifer nach dem Rechten. Oft aber – nur allzuoft! – schleuderte er mit knabenhaftem Leichtsinn Paradoxe in die Welt, an denen er, den Einwendungen aufrichtiger Freunde zum Trotz, eine gewisse boshafte Freude empfand; manchmal aber geschah es aus bloßer Laune. Dieser a-Goethesche Zug ( sit venia verbo!) seines Wesens, der in ihm selten die reine Freude am Entstehen einer Kunstform oder an der Wahrung eines einheitlichen Stiles aufkommen ließ, bildete das größte Hindernis in seiner künstlerischen Entfaltung. Und trotz alledem: seine Gedichte, seine Phantastereien, wie auch seine Essays enthalten zahlreiche künstlerische Momente von wahrhafter Größe und Schönheit, unstreitige Werte von köstlicher Eigenart. Seine phänomenale Literaturkenntnis und sein tadelloses Gedächtnis prädestinierten ihn gewissermaßen zum Epigonen, vielleicht sogar zum Plagiator: Keiner aber hat jemals einen ähnlichen Vorwurf ausgesprochen. Man konnte allerdings unschwer die Wurzel erkennen, aus der er seine Kraft bisweilen sog (schon die häufigen Widmungen und Mottos seiner Vorbilder, die er offenherzig genug an die Spitze seiner Opera setzte, verraten zumeist den Ursprung), aber es war noch immer viel Eigenkraft, viel Selbstgeschautes, was da erstand.

Eines aber wurde meines Wissens bei der Aufzählung von Panizzas Eigenarten noch nicht erwähnt, obschon es das auffallendste pathologische Moment bildet: Die nervenzerrüttende Gedanken- und Ideenflucht, an der er litt; sie unterminierte die Ruhepunkte, die jedes Normalgehirn sich selbst sucht. Der rastlosen Nerverspannung seiner Phantasie konnte er auf die Dauer nicht Widerstand leisten. Seine dekadente Gourmandise, mit der er alles erspähte und in sich aufnahm, was Jahrhunderte an literarischen und künstlerischen Genüssen aufgespeichert hatten, erzeugte die schlimmsten Symptome der Hypertrophie. Allzuleicht ward dieser Boden befruchtet, allzurasch zeitigte die exotische Hitze seines Temperamentes diesen Samen; allzu kunterbunt sah es in dem Wundergarten seiner Phantasie aus; zwischen duftenden Blüten seltsamster Form schoß häßliches Unkraut hervor, krauses, wirres Zeug, Zwitterdinge, für die es keinen Namen gab.

»Ein groß Vermögen schmählich ist vertan«, ist Bierbaums Schlußfolgerung in seiner Panizzaschrift (Gesellschaft, August 1893).

Man könnte dieses tragische Wort vielleicht auf das ganze Schaffen Panizzas anwenden. (Bierbaum kannte damals das 1895 erschienene »Liebeskonzil« selbstverständlich noch nicht: sein Urteil wäre anders ausgefallen.) Das »Liebeskonzil« aber ist, allen Tendenzen und Gesetzen zum Trotz, ein Werk von satanischer Größe, nach Form und Inhalt der Kulminationspunkt in des unglückseligen Dichters Schaffen …

Noch in seinen besten Jahren schrieb Panizza (Münchener Flugschrift) einen Aufsatz über »Genie und Wahnsinn«. Es war seine eigene Diagnose.

Köln, 17. April 1914.
Hannes Ruch.


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