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Der Doktor war schon in seinem Garten, als die Kinder ihn wieder besuchten. Er besichtigte gerade seine Rhabarberpflanzen und drehte die kräftigsten Stiele heraus, als Dieter und Traute anlangten. Zum Willkommengruß arrangierte Dieter mit Traute gemeinsam ein Volksgemurmel:
»Rharbarber, Rhabarber ...«
Der Doktor blickte hoch, erkannte seine Kinder und war glücklich. Immer hereinspaziert, der Doktor Kleinermacher hat seine Freunde gern, und wer sich das Herz des Doktors erobert hat, der ist immer willkommen.
Als Dieter die Rhabarberstiele in den Händen des Doktors sah, verlangte er gleich auf nüchternem Magen nach einer Belehrung:
»Doktor, Rhabarber, das ist das Stichwort. Du kannst uns doch von jeder Pflanze eine Geschichte erzählen.«
»Kinder, ihr seid grausam. Mir fällt vom Rhabarber nichts ein. Muß ich euch enttäuschen? Halt, da kommt mir eine Erleuchtung. Friedrich der Große und Rhabarber. Der alte König hatte einen kranken Oberst, der ewig über seine Leiden klagte und an seinen obersten Kriegsherrn eine Eingabe richtete, er möge die Lasten des Offiziers in Anbetracht der Krankheit erleichtern. Der Alte Fritz schrieb an den Rand der Eingabe: ›Mir geht es auch nicht immer, wie ich es gern haben möchte, deswegen muß ich immer König bleiben. Rhabarber und Geduld wirken vortrefflich. Friedrich II.‹
Ihr müßt wissen, Rhabarber nahm man damals nicht nur als Kompott, sondern auch als Heilmittel. So, das ist meine Geschichte vom Rhabarber. Sie ist reichlich kurz, aber auf nüchternen Magen dürft ihr nicht mehr von mir verlangen. Jetzt kommt herein in meine Laube. Bevor wir auf Abenteuerfahrt gehen, wollen wir die Stiele putzen, schneiden und kochen. Für die kleine Hausfrau Traute habe ich drinnen eine Beschäftigung.«
Die drei Abenteurer eilten der Laube zu, um das Volksgemurmel, die Rhabarberstiele, zu kochen. Aber auf dem Wege blieb der Doktor stehen, ließ die Stiele in den Sand fallen und beobachtete angestrengt einen Vorgang auf einer Zaunpfahlspitze seines Gartens. Die Kinder traten näher und suchten auf der Spitze des Pfahles nach einem Abenteuer. Denn wenn der Doktor sogar die Rhabarberstiele in den Sand fallen läßt, dann muß irgendwo ein Tier in der Nähe sein, dann beginnt hier irgendwo ein Abenteuer.
Auf dem Zaunpfahl saß eine kleine Spinne. Auf ihrem Platz hatte sie einige kleine Spinnfäden befestigt, ein längerer Faden war gleichfalls angeklebt, und den spann sie immer mehr aus, bis er in weitem Bogen vom leichten Winde ausgebuchtet wurde. Der Kopf der Spinne war dem Winde entgegengerichtet, so daß der Spinnfaden gut im Winde lag.
Der Doktor jubilierte: »Kinder, das gibt heute ein gutes Wetter. Der Altweibersommer beginnt. Wenn das letzte gute Wetter anhält, dann bauen sich die Spinnen ihre Luftschiffe und starten in die frische Luft. Schnell, packt eure Sachen! Wir fliegen mit. Den Rhabarber können wir immer noch kochen. Wir machen eine Fahrt ins Blaue!«
Die drei eilten in die Laube und trafen alle Vorbereitungen. Die Wunderflasche wurde bereitgestellt, und aus Seidenpapier fertigte der Doktor eine ganz kleine Gondel. Ein paar Spinnenfäden hielten sie zusammen. Nun schnell zurück zur Spinnenluftfahrerin!
So ein Pech, die Spinne war schon gestartet. Soll man auf die Luftreise verzichten? Soll das Abenteuer diesmal ausfallen? Der Doktor suchte und suchte, und endlich fand er Ersatz. Auf einem Stein saß noch so eine Luftfahrspinne. Die hatte ihre Vorbereitungen noch lange nicht beendet. Schnell einsteigen, ehe es zu spät ist. Vorsichtig befestigte der Doktor den Spinnfaden seiner Gondel an den Spinnfäden der Luftschifferin. Dann ließ er die Wunderflasche herumgehen. Aber bevor er trank, setzte er die Flasche wieder ab.
»Kinder, die Sache ist ja verdammt peinlich. Wie kommen wir nur auf den Stein hinauf? Wir müssen ein Brett anlegen. Die Sache eilt, schnell, schnell! Jetzt ist keine Zeit zu verlieren. Paßt auf, wir werden folgenden kühnen Versuch unternehmen. Wenn wir klein geworden sind, etwa noch dreimal so groß wie der Stein, dann springen wir mit aller Kraft auf den Stein hinauf. Wir werden es gerade noch schaffen. In der Luft schrumpfen wir noch mehr zusammen, und wenn wir im Sprunge auf dem Stein landen, dann werden wir so klein geworden sein, daß wir auf dem Felsen schon Platz finden. Habt ihr mich verstanden? Also, jetzt geht es los!«
Die drei Abenteurer tranken, programmgemäß schrumpften sie zusammen, und als sie noch dreimal so groß wie der Stein waren, setzten sie zum Sprung an. Herr des Himmels, reißt und zieht das in den Gliedern. Es schmerzt ja so sehr, daß man kaum springen kann. Aber alle Kraft zusammengenommen, damit das Abenteuer nicht verpfuscht wird! Hau-Ruck! Und die drei Abenteurer sprangen in die Luft. Noch im Sprunge wurden sie kleiner und kleiner, und als sie auf dem Stein landeten, da waren sie schon so klein, daß er für sie alle bequem Platz bot. Glücklicherweise sprangen sie nicht auf die Spinne. Aber Traute war mit halber Kraft gesprungen. Wohl erreichte sie noch die Oberfläche des Steines, auf der schrägen Fläche rutschte sie aber ab, kam ins Gleiten, und wie ein Dachdecker, der keinen Halt mehr findet, fuhr sie abwärts, dem Erdboden zu. Ihre Schlittenfahrt ging dicht an der Seidenpapiergondel des Doktors vorüber. Inzwischen war sie immer kleiner geworden. Ängstlich streckte sie ihre Hände aus, um die Gondel zu ergreifen. Wird der Spinnenfaden halten, oder wird er reißen und Traute mitsamt der Gondel in die Tiefe stürzen?
Aber der Spinnenfaden hielt. Traute kletterte in die Gondel hinein, sobald ihre Kleinheit es erlaubte. Der Doktor atmete erleichtert auf und Dieter auch. Dann kletterten die »beiden Männer« vorsichtig die Steinböschung hinab, bis auch sie in die Seidenpapiergondel steigen konnten.
Die Spinne hatte die Vorgänge bemerkt. Argwöhnisch hielt sie in ihrer Arbeit inne und zeigte Lust, ihre Vorbereitungen zur Luftfahrt im Stich zu lassen. Das ist ja ärgerlich, was die Zwerge da für einen Tumult machen. Als sich die Abenteurer aber in ihrer Gondel mucksmäuschenstill verhielten, setzte sie langsam ihre Arbeit wieder fort. Der Spuk ist vorüber, es kann weitergesponnen werden.
Die Spinne, es war eine sogenannte Wolfsspinne, hatte sich den Stein zum Starten ausgesucht. Auf dem Startplatz am Boden hatte sie erst ein paar kurze Fäden befestigt, dann einen langen Faden angeklebt, der vom Winde ausgebuchtet wurde. Am langen Faden hatte der Doktor mit einem fremden Spinnenfaden seine Seidenpapiergondel befestigt. Immer länger wurde der lange Faden, immer mehr blies der Wind in die Fadenschlinge. Jetzt schien die Spinne ihre Vorbereitungen beenden zu wollen. Sie biß die befestigte Stelle am Steine durch, der Wind blies kräftiger in die Fadenschlinge, sie straffte sich immer mehr, und langsam wurde auch die Spinne emporgehoben. Die Seidenpapiergondel wurde noch eine kurze Strecke über den Stein geschleift. Es rumorte und polterte, die drei Abenteurer mußten sich krampfhaft festhalten, und dann endlich erhob sich die Gondel langsam in die Luft. Der Start zur Luftschiffreise war geglückt.
Der Wind drückte den Spinnenfaden immer mehr nach oben, die Gondel stieg immer höher. Herrlich, so eine Fahrt ins Blaue! Jetzt geht es schon über die Sträucher hinweg, da kommt auch der Zaun des Gartens. Nanu, soll die Reise am Zaun zu Ende sein? Wird die Höhe ausreichen? Aber der Wind war nett, immer höher hob der Luftzug das Fahrzeug mit Spinne und Gondel, so daß die drei Abenteurer glücklich über den Zaun kamen. Nun sind wir hoch genug, jetzt kann uns nichts mehr geschehen. Hinein in den Altweibersommer! Die Welt ist groß und herrlich, und das Leben ist schön!
Traute sah zur Gondel hinaus. Unter ihr breitete sich die Riesenlandschaft aus, über den Menschenzwergen schwebte die Spinne, und darüber flatterte der lange Spinnenfaden im Winde. Dann aber dachte sie an den Namen »Altweibersommer«, und sie fragte:
»Doktor, warum nennt man denn die letzten schönen Tage des Sommers Altweibersommer? Und warum fliegen denn die Spinnenfaden nur morgens durch die Luft?«
»Langsam, langsam, Traute! Mehr als eine Frage auf einmal kann ich nicht beantworten. Und du weißt, beim Doktor Kleinermacher sind die Antworten nicht so kurz.
Also, fangen wir an. Schon immer beobachtete man, daß an den letzten schönen Tagen im Herbst die Luft voller Spinnenfäden ist. Aber nur am frühen Morgen, Spätaufsteher merken nichts mehr davon. Die alten Germanen glaubten, daß die Schicksalsgöttinnen die Fäden spinnen. Man sprach von einem Mettkensommer. Daraus ist dann Mädchensommer geworden. Die Christen sagten, es sei nicht die Schicksalsgöttin, sondern die Jungfrau Maria spinne gemeinsam mit zwölftausend Jungfrauen die Fäden.
Lange hielt sich der Name Mädchensommer. Aber ein Mädchen ist jung, und jung ist auch der Frühling. Die Tage zwischen Sommer und Herbst sind zwar sehr schön, aber sie stehen ziemlich am Ende des Jahres. So machte man denn aus dem Mädchensommer einen Altweibersommer. Die Schweizer sprechen sogar von einem Witwensommer. Der Ausdruck ist hart, und doch steckt ein schöner Gedanke dahinter. Nicht nur die jungen Mädchen sind schön, auch die reife Frau, die ältere Frau kann in einer edlen, erhabenen Schönheit aufblühen. Kinder, das versteht ihr noch nicht, aber vielleicht findet ihr eure Mütter schön. So schön wie die Sonnentage im Herbst. Aber darüber reden wir mal, wenn ihr älter geworden seid.
Zurück zu unseren Tieren! Wie kommen eigentlich die Spinnen dazu, ihre Fäden zu spinnen und damit die Herbsttage anzufüllen? Es gab einmal einen alten weisen Griechen, einen Naturforscher und Philosophen, der erklärte damals schon, daß die Fäden von den Spinnen herrührten. Im Mittelalter aber vergaß man seine Weisheit wieder. Man hielt die Fäden für Geistererscheinungen und fürchtete Pest, Hungersnot oder Krieg. Die mittelalterlichen Naturforscher gingen in die Irre. Sie glaubten, daß die Fäden eingetrocknete Pflanzensäfte seien. Andere phantasierten von getrockneter Luft oder von harzähnlichen Ausschwitzungen der Bäume. Später glaubte man, daß der Morgentau die Fäden verursache oder die Luftelektrizität am Altweibersommer schuld sei.
Inzwischen hat man die Natur wieder besser beobachten gelernt. Es sind Spinnen, die die Fäden in die Luft schicken. Merkwürdigerweise sind es aber nur Spinnen, die keine Fangnetze spinnen. Verschiedene Arten beteiligen sich am Altweibersommer. In der Mehrzahl sind es die sogenannten Wolfsspinnen.
Wolfsspinnen! Das ist der richtige Name für die Tiere. Sie schleichen sich an ihre Beute heran, und blitzschnell stürzen sie sich dann über ihr Opfer und verzehren es. Unschuldslämmer sind die Wolfsspinnen nicht. Wie bei fast allen Spinnen haben die Tiere größere Weibchen als Männchen. So verläuft denn die Hochzeit als echte Spinnenbluthochzeit. Der Gemahl wird von der holden Braut aufgefressen. Die Wolfsspinnenfrauen sind alle Witwen. Der Name Witwensommer ist also sehr berechtigt. Davon aber wußten die Schweizer noch nichts, als sie den Namen Witwensommer erfanden.
Die Frau Wolfsspinne ist eine sehr schlechte Gemahlin, dafür aber eine gute Mutter. Wenn sie ihre sechzig Eier gelegt und sie zu einem Eierkokon zusammengefügt hat, dann klebt sie die Eier an ihrer Spinnendrüse fest und schleppt das Eierpaket immer mit sich herum. Da es fast so groß wie der Körper und zwischen den Beinen angebracht ist, ist die Wolfsspinne etwas im Laufen behindert. Sie kann nur noch auf Zehenspitzen laufen. Trotz der Last geht sie aber weiter auf Jagd und läßt nie ihr Eierpaket im Stich. Man hat den Wolfsspinnen gewaltsam das Eierpaket entfernt. Da wurde die Mutter unruhig. Überall suchte sie ihren Eierkokon. Zwei Mütter können auf Leben und Tod um ein Eierpaket kämpfen. Grausame Forscher legten den beraubten Müttern Schrotkörner hin, die geschickt wie Eierpakete hergerichtet waren. Die Mütter nahmen die Schrotkörner an, belasteten sich damit, und obgleich die Metallkörner zwanzigmal schwerer als die Spinnen waren, schleppten sie tapfer ihr Gewicht, bis sie an Erschöpfung zugrunde gingen. Eine Mutter rackert sich lieber zu Tode, ehe sie ihre Kinder aufgibt. In einer Mutter steckt ebensoviel Heldentum wie in jedem Soldaten. Auch bei den Kreaturen.
Wenn dann die Kinder auskriechen, krabbeln sie der Mutter auf dem Rücken herum. Wie voller Läuse erscheint Frau Wolfsspinne. Bald gehen die jungen Wolfsspinnen auch schon selbständig spazieren. Kommt aber eine Gefahr, dann flüchten sie wieder zurück auf den Rücken der Mutter. Bei Muttern ist es am schönsten und am sichersten.
Die vielen jungen Wolfsspinnen auf einem Platze sind aber große Konkurrenten untereinander. Die Jäger kommen sich oft ins Gehege, sie müssen sich verteilen. Um die Zerstreuung recht gründlich zu besorgen, benutzen sie den Wind. In den letzten schönen Tagen des Jahres spinnen sie ihre Fäden und gehen auf die Luftreise. Der Altweibersommer ist da. So, nun wißt ihr es, Kinder.«
Der Doktor mußte seine Erzählung unterbrechen, denn ein herrlicher Falter kam angeflattert und segelte dicht an der Gondel vorüber. Traute begrüßte ihn mit einem Freudenruf, und der Doktor erklärte den Namen des Schmetterlings:
»Das ist das sogenannte Landkärtchen.«
»Nanu, der Schmetterling, der Landkärtchen heißt, sieht doch ganz anders aus. Ich habe im Frühling einen gesehen, der sah viel heller und rötlicher aus.«
»Ja, Dieter, das war ein Frühlingslandkärtchen. Das Sommerlandkärtchen ist etwas dunkler und etwas größer. Die Schmetterlinge, die im Frühling geboren werden, sehen anders aus als die Sommerschmetterlinge. Darüber hat man lange gestaunt. Für diese seltsame Erscheinung gibt es einen sehr gelehrten Namen: Saisondimorphismus. Damit ist aber noch gar nichts erklärt. Was sollen die verschiedenen Farben?
Früher glaubte man, die schönen Farben der Natur seien zur Freude des Menschen da. Die Gräser und Blätter seien grün, weil Grün unseren Augen wohltue. Die schönen Blüten seien ausschließlich für uns Menschen eine Augenweide. Dann entdeckte man, daß die Blüten nicht die Menschen, sondern die Insekten anlocken sollen. Man erkannte auch ein neues Prinzip der Natur. Schutzfärbung! Die Frösche sind grün, damit man sie im Grase nicht so leicht erkennt. Die Schneehasen sind weiß, damit die Schnee-Eulen sie nicht so leicht entdecken können.
Aber nicht alle Farben sind Schutzfarben. Auch unsere Schmetterlinge wissen wenig von Schutzfarbe. Man kam sehr bald dahinter, warum das Landkärtchen im Frühling heller ist als im Sommer. Die Schmetterlingspuppen, die den Winter überdauern, werden von der Kälte so beeinflußt, daß sich die rote Farbe stärker entwickelt. Man nahm Winterpuppen in geheizte Zimmer, ließ die Kälte nicht an sie herankommen, und zum Frühling entwickelten sich Schmetterlinge, die genau so gefärbt waren wie die Sommerschmetterlinge. Umgekehrt nahm man auch Sommerpuppen, legte sie in den Eisschrank, und es entwickelten sich Frühlingsschmetterlinge. Der Eisschrank wurde zu einer Farbenfabrik. Da man die Kälte manchmal nur kurz, manchmal aber lange auf die Puppen einwirken ließ, gab es die verschiedensten Farbenabstufungen. Man kann Schmetterlinge also künstlich färben. Und die beiden Farbpinsel heißen Kälte und Wärme.
Wo ist denn unsere Landkarte geblieben? Ich erzähle euch so lange von den Tieren, bis sie verschwunden sind.«
Aber die Kinder hörten jedes Wort vom Doktor, und doch ließen sie die Tiere nicht aus den Augen. Bis zuletzt verfolgten sie den Schmetterling, der sich Landkärtchen nannte, mit den Augen, bis er hinter einem Baum verschwand.
Aber nie wurde es einsam da oben. Immer andere Tiere flogen durch die Luft. Da sauste eine schöne, glitzernde Libelle an den Kindern vorüber. Herrlich sah das Tier aus. Die Libelle ist ein furchtbarer Räuber unter den Insekten. Aber schön ist der Räuber doch.
Überhaupt Räuber! Was man hier oben alles zu sehen bekam! Da flog eine Biene friedlich ihre Luftstraße entlang, eine fleißige, unschuldige Honigbiene. Etwas höher flog ein sogenannter Bienenwolf. Das ist eine Wespe, etwas größer als die Biene und bedeutend dickköpfiger. Kaum sah sie die Honigbiene fliegen, stürzte sie sich auch schon wie ein Falke auf die Ahnungslose. Das ging so schnell, daß die Biene gar keine Zeit fand, sich zu wehren. Der Sturzflug ging bis zur Erde, dann wurde die arme Honigbiene getötet und ins Nest des Bienenwolfes geschleppt. Die Bienenwolfkinder essen nämlich gern Bienenfleisch.
Jetzt ging die Fahrt höher und höher. Hoffentlich geht es nicht in die Wolken hinein! Nur gut ist es, daß man in der Höhe nirgends anstoßen kann.
Ja was ist denn das? Die Spinne segelt ja auf ihrem Fluge gerade auf einen Kirchturm zu. Kinder, das wird ja immer schöner. Wenn die Spinne landet, dann müssen wir da oben aussteigen, uns am Kirchturm festhalten und warten, bis wir größer geworden sind. Dann rufen wir um Hilfe, die Feuerwehr kommt und holt uns 'runter. Wochenlang wird die Stadt noch davon sprechen. Ein gewisser Doktor Kleinermacher ist plötzlich wahnsinnig geworden. Mit zwei Kindern stieg er auf den Kirchturm der Stadt, brachte drei Menschenleben in Gefahr und ließ sich von der Feuerwehr retten. Das kann ja gut werden. Alle Zeitungen werden voll davon sein. Kinder, das wird ja eine nette Überraschung!
Der Kirchturm kam immer näher. Aber, kaum auszudenken, der Wind drehte sich etwas, nur ein ganz klein wenig, und haarscharf ging es am Kirchturm vorbei. Dem Doktor fiel ein Stein vom Herzen, den konnte er aber nicht als Ballast über Bord werfen.
Lange, sehr lange noch, ging die Luftreise. Endlich ließen die Winde nach, die Gondel senkte sich tiefer, immer tiefer, und endlich stießen sie auf dem Boden auf. Da die Spinne aber noch in der Luft schwebte und die Gondel über den Boden geschleift wurde, gab es ein Rütteln und Schütteln, das kaum auszuhalten war. Schließlich entschlossen sich die drei Abenteurer, über Bord zu springen und die Gondel der Wolfsspinne zu überlassen.
Aber da, wo die Wolfsspinne landete, befand sich ein Wassertümpel. Wird die Wolfsspinne ertrinken? Die drei rannten zum Ufer des Wassers, um zu beobachten, ob die Wolfsspinne schwimmen könne.
Die Wolfsspinne kann nicht schwimmen, sie kann aber etwas viel Besseres. Sie kann über Wasser laufen. Das Tier ist nämlich viel zu leicht, um in das Wasser einzusinken. Die Oberfläche des Wassers hat eine dünne Haut, die Physiker sprechen von einer sogenannten Oberflächenspannung. Und diese Haut ist stark genug, die Spinne zu tragen.
Die Wolfsspinne ertrank nicht, und doch mußte sie sterben. Auf dem Wasser jagte eine sogenannte Jagdspinne. Auch sie ist so leicht, daß sie trocknen Fußes über das Wasser schreiten kann. Sie achtet auf alle Tiere, die aufs Wasser fallen, dort zappeln und nicht entfliehen können. Dann fällt sie über ihr Opfer her und frißt es auf.
Kaum hatte die Jagdspinne die Wolfsspinne auf dem Wasser gesehen, als sie auch schon herbeieilte und sich über die arme junge Wolfsspinne hermachte. Der Doktor sah die Tragödie und sagte:
»Ein Glück, daß wir früher ausgestiegen sind. Wären wir da gelandet, die Jagdspinne hätte uns aufgefressen. Nein, ich danke für den Tod im Spinnenmagen. Dann schon lieber auf dem Kirchturm landen und sich von der Feuerwehr herunterholen lassen. Und wenn die Zeitungen auch den Doktor Kleinermacher für verrückt erklären.«
»Doktor, was gibt es doch alles für sonderbare Spinnen. Die Jagdspinne läuft übers Wasser. Das ist wohl die sonderbarste Spinne, die es gibt?«
»Noch ulkiger finde ich die Floß- oder Piratenspinne. Die baut sich ein kleines Floß und fährt damit über das Wasser. Von ihrem Floß aus betätigt sie sich als Räuberin. Kommt Gefahr, dann klettert sie nach der Unterseite des Flosses und wartet unter Wasser die Gefahr ab.«
»Doktor – – –«
Dieter konnte nicht mehr weitersprechen, es zuckte wieder in den Gliedern – das Wachstum begann. Drei Riesen wuchsen in eine fremde Umgebung hinein.
Wo sind wir denn eigentlich? Die drei wanderten zum nächsten Bahnhof und fragten an, wie das Nest hier eigentlich heiße? Man sah den Doktor verwundert an, gab aber Auskunft. Die drei Abenteurer waren auf keinem Kirchturm gelandet, und doch wurden sie für verrückt gehalten, weil sie den Ort nicht kannten.
Achtzehn Kilometer hatte die Wolfsspinne mit ihrem Zeppelin die drei Abenteurer entführt. Das sei noch gar nichts, meinte der Doktor. Der Naturforscher Darwin hat beobachtet, daß Spinnen Luftreisen von über hundert Kilometer machen können. Ein Glück, daß es nur achtzehn waren. Nun aber schnell nach Hause, Mutter wartet schon.