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Ich fühlte unter meinem Rücken weiches Stroh, am Halse kratzte der Bast einer geflochtenen Matte, Brandgeruch zog mir in die Nase, und der Schein eines kleinen Feuers flackerte rot am Gebälk, das dicht über meinem Kopfe war: das waren meine ersten Eindrücke, als ich aus der Bewußtlosigkeit erwachte.
Ich wußte nicht, wo ich war, nur, daß ich in einer Negerhütte lag, wurde mir klar. Ich war zu schwach, um mich zu fragen, wer mich hier gebettet habe. Die Hütte war von Feuerschein und auch von schwachem Tageslicht erhellt, das durch eine zugestellte Schilftür hereinfiel.
Ich war allein. Es dauerte aber nicht lange, da kam eine Gestalt an die Tür, bückte sich in den Raum, schob die Holzstücke auf der Feuerstelle nach der Mitte zusammen, so daß die Flammen heller aufschlugen, und schien sich nicht um mich zu kümmern.
Ich stöhnte. Da wandte sich der Neger zu mir und sagte: »Du bist krank, Herr.« Ich verlangte nach einem Trunk, und er reichte mir eine Kalabasse mit säuerlichem Wasser. Als ich getrunken hatte, legte ich mich schweratmend wieder nieder. Ich hatte Fieber.
Die folgenden Stunden vergingen mit abwechselndem Schlafen und Halbwachen, während ich gleichgültig wahrnahm, daß Neger hereinkamen, sich in der Hütte zu schaffen machten und wieder gingen. Das Geräusch der Menschen störte mich und beruhigte mich zugleich; ich war dankbar, daß irgendwelche Geschöpfe sich um mich bemühten.
Eine schlimme Nacht kam und ein noch schlimmerer Tag.
Das Fieber war bald heftiger, bald gelinder, und schreckliche, wüste Eindrücke, kaum Träume zu nennen, jagten sich in meinem Gehirn.
Am zweiten Tage konnte ich mit den Negern sprechen und erfuhr, daß sie Fischer seien und mich beim Fischfang vom Wasser aus hätten liegen sehen. Und das sei die Hütte des Häuptlings, und der Häuptling, das sei dieser; und als ich den ansah, da grinste der und machte eine Handbewegung: »Du bist ja krank,« sagte er, »und hier ist die Ärztin.«
Ich bemerkte eine alte Frau, die sich schon mehrmals um mich bemüht hatte und mir auch jetzt ein Getränk zurechtmachte, in das sie aus einer kleinen, mit Leder umnähten Flasche einige Tropfen hinein tat: das sollte gegen Fieber helfen. Als die Alte mir das Gefäß reichte, sah ich, daß sie mit vielen Zieraten und Merkwürdigkeiten behangen war.
Die Stunden vergingen mit Fieber und Schlaf. Die Neger pflegten mich aufmerksam; da fühlte ich mich bald merklich besser. In der dritten Nacht hatte ich gut geschlafen und kroch in aller Frühe aus der Hütte hinaus. Wie ich so dastand in der Morgenluft, wurde ich der Reihe nach an alle Organe erinnert, die mit der Abwehr des Fiebers gekämpft hatten. Mein Kopf war noch befangen, das Licht stach mir in die Augen, und der Magen verlangte nach Nahrung. Als ich zu der nächsten Bananenstaude ging, merkte ich, wie schwach meine Beine waren. Ich griff nach einer reifen Traube und drehte mir eine strotzende Bananenhand heraus. Dann fing ich mit großem Genuß an zu essen, während ich zwischen den Hütten des Dorfes vorwärts schritt.
Die Neger waren meist noch in ihren Hütten, die um einen freien Platz herum gebaut waren. Der breite Weg, der durch das Dorf hindurchführte, war von nackten Füßen festgetreten. Die Hütten waren in ihrem unteren Teil aus großen Lehmziegeln aufgebaut, die untereinander mit Lehm verschmiert worden waren. Die Dächer waren aus Stangen und Palmblättern zusammengebunden.
Die Rodung, auf der das Dorf stand, war nicht groß; hinter den Hütten lagen Kornfelder, dahinter erhob sich der hohe Wald. Daß der Landbau nicht die Hauptbeschäftigung dieser Neger war, sah ich an der geringen Ausdehnung der Felder und an den vielen alten Fischreusen und Resten großer Einbäume, die im Dorf umherlagen.
Einige Männer kamen schon vom Fischfang zurück. Sie trugen die Fische auf einer Bastschnur aufgereiht und hatten die Schnur durch die Kiemen der Fische und durch die Mundöffnungen gezogen.
Ich ging bis zu dem Ende des Dorfes, wo eine Stange aufgerichtet war, an der ein rostiges Messer hing. Das sollte wohl an die Macht des Häuptlings mahnen und vor Diebstählen warnen. An einer anderen Stange war ein totes Krokodil angebunden, das an den siegreichen Kampf der Fischer gegen die Tiere der Wildnis zu erinnern schien.
Als ich zur Hütte des Häuptlings zurückkehrte, saßen einige Neger da und wiesen mir unter dem vorspringenden Dach freundlich einen Platz an. Dort ließ ich mich auf eine Matte nieder und fühlte bei aller Müdigkeit doch, daß meine Kräfte wiederkehrten.
Mit der Zeit sammelten sich noch mehr Neger an und sprachen wichtig über mich. Sie schienen regen Anteil an meinem Zustand zu nehmen; ich aber antwortete nicht viel, sondern beobachtete meine Gastfreunde. Die Gesichter dieser Neger waren durch drei gleichlaufende Schmisse, Ziernarben, die sich auf jeder Backe vom Ohrläppchen bis zum Mundwinkel hinzogen, stark entstellt. Dadurch sahen sie auch bei freundlichem Gespräch grimmig aus.
Die Männer trugen nur ein Hüfttuch. Im Hintergrunde hielten sich einige Frauen. Sie hatten Pflöcke in den Ohren und seltsame Hautschnitte auf dem Leib. Ich sah eine junge Frau, auf deren Leib die Umrisse eines Krokodils eingeschnitten waren.
Als die Neger sich zu ihrer Arbeit begeben hatten, ging ich vor die Hütte, wo zwischen Bananenstauden ein großer Tonkrug mit Wasser stand. Dort wusch ich mich gründlich und fühlte mich recht wohl.
Ich hatte Hunger, und bat die Frauen, mir etwas zu essen zu geben. Eine brachte mir Maniokwurzeln, die in Stücke geschnitten und gekocht waren, eine andere eine Schüssel mit reifem Mais, der leicht angeröstet war und den ich vom Kolben abessen mußte; dazu einige Fische, die zusammengerollt und in Fett gebraten waren. Dann gab sie mir noch etwas einfachen Kuchen aus dem Mehl getrockneter Bananen, das zu einem Teig verarbeitet und geröstet worden war. Das schmeckte mir alles recht gut, da ich nicht in Versuchung kam, es mit irgendeinem europäischen Gewürz zu genießen. Es ist eine wichtige Beobachtung, daß die einfachen Nahrungsmittel, Körnerfrüchte und Knollen ungewürzt einen vollen Geschmack haben, wenn man sie in Ruhe kaut.
Gegen Mittag bekam ich wieder einen Fieberanfall mit Schüttelfrost und wickelte mich fest in meine Matte ein.
Ich mochte mehrere Stunden gelegen haben, als ich einen Europäer an der Spitze einer lärmenden Schar von Eingeborenen und schwarzen Soldaten quer über den Platz auf mich zuschreiten sah. Ich nahm das nur wie im Traume wahr, richtete mich aber erstaunt auf.
Der Weiße kam nahe heran, legte die Hand an den Tropenhelm und grüßte militärisch: » Good day, Sir!«
» Good day, Sir!« (Guten Tag, Herr), sagte auch ich, worauf er mühsam und mit französischer Betonung auf Englisch die Frage stellte:
»Was machen Sie hier, sind Sie krank?«
Ich wollte nicht gleich Antwort geben, stellte mich schwächer, als ich war, und überlegte: Nicht nur die Sprache, auch die Khakiuniform des Mannes und die Gestalten der französischen Kolonialsoldaten ließen keinen Zweifel, daß ich es mit einem Franzosen zu tun hatte und auf französischem Gebiet war: in Dahome also, wo sonst? Nun fiel mir Porto Novo ein, das nicht weit sein konnte, und ich fürchtete, dorthin gebracht zu werden, wo man mich kannte.
Der Franzose, ein Mann von mittelgroßer Gestalt, mit Napoleonsbart, beugte sich über mich, ergriff meine rechte Hand und fühlte nach dem Puls. Dann nahm er aus seiner Tasche eine kleine Flasche und schüttete mir einige weiße Plätzchen in die Hand. Ein Soldat reichte mir das Trinkgefäß. Ich spülte die Pillen hinunter, schmeckte, daß es Chinin war, und flüsterte:
» Merci bien, monsieur!« (Danke sehr, Herr.)
» Vous parlez français?« (Ihr sprecht Französisch?)
» Mais oui, monsieur« (ja, Herr), sagte ich mit leiser Stimme: » C'est ma langue maternelle!« (Es ist meine Muttersprache.)
Alle weiteren Fragen, woher ich komme und wohin ich wolle, ließ ich unbeachtet und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Ich wollte Zeit gewinnen und keine Antwort zu viel sagen und mich dadurch in Widersprüche verwickeln.
Der Franzose sah, daß ich schwerkrank sei, und ließ mich unbehelligt. Er wandte sich durch einen Dolmetscher an meinen Gastgeber, den alten Häuptling. Der Neger erzählte mit umständlichen Kopf- und Armbewegungen, wann, wie und wo mich die Fischer aufgefunden hätten und noch manches andere, aus dem niemand klug werden konnte.
Wahrscheinlich hatte er ein böses Gewissen und glaubte Erklärungen geben zu müssen, weshalb mir der Inhalt meiner Taschen bis auf meine Papiere abhanden gekommen war, und brauchte aus Furcht vor Strafe allerhand Ausreden.
Ich folgte diesem Verhör aufmerksam und bemerkte, daß der Franzose von seinen Soldaten angeredet wurde: » Mon adjudant«. Ich schloß daraus, daß ich einen Feldwebel der französischen Kolonialtruppe vor mir hatte.
Der Franzose fragte noch andere Neger aus. Schließlich befahl er mehreren Soldaten, mich in eine Hängematte zu legen, die von zwei Schwarzen an einer langen Stange getragen wurde.
Als die Träger sich in Bewegung setzten, blieb der Franzose an meiner Seite und war freundlich um mich besorgt. Der Trupp bewaffneter Soldaten folgte uns, und eine große Schar Männer, Weiber und Kinder des gastlichen Dorfes begleitete uns noch eine Strecke weit durch den Urwald. Es war nur harmloses Geplauder gewesen, daß die Leute meinen Aufenthalt verraten hatten; sie hatten gewiß nicht gedacht, ich könnte gefangengesetzt werden.
Schwach lag ich in der Hängematte und ließ alles mit mir geschehen. Ich konnte noch keinen klaren Gedanken fassen und fiel bald in einen tiefen Schlaf, aus dem ich erst erwachte, als wir nach Einbruch der Dunkelheit in einen großen Ort kamen und vor einem Europäerhause haltmachten.
Hier wurden wir von einem Weißen empfangen, der ebenfalls die Uniform der » Infanterie coloniale« trug. Ich wurde aus der Hängematte in das Haus gebracht und in ein breites Bett gelegt. Ich hatte nur Hemd und Hose an, blieb deshalb angekleidet und zog nur die Schuhe aus. Ein schwarzer Soldat wachte die ganze Nacht hindurch neben mir und hob von Zeit zu Zeit das Moskitonetz, um mir einen kalten Umschlag auf die Stirn zu legen oder mir einen Schluck Zitronenwasser zu reichen.
Als sich das Fieber um Mitternacht etwas legte und ich wieder klar denken konnte, unterhielt ich mich mit meinem Pfleger und erfuhr, daß ich mich auf einem französischen Militärposten befände, der von zwei Unteroffizieren der französischen Kolonial-Infanterie und fünfzig Mann schwarzen Soldaten besetzt sei. Nun kannte ich meine Lage.
An Flucht war nicht mehr zu denken. Ich mußte jetzt versuchen, mich als Angehörigen eines neutralen Landes auszugeben, und da lag es nahe, daß ich bei meiner Kenntnis des Französischen die Schweiz wählte. Ob man mir glauben würde, war sehr fraglich, und ich nahm mir vor, mich nach Art der hoffnungslosen Menschen, denen ich nach meinem Äußern recht gut angehören konnte, so zu stellen, als ob mir mein Geschick völlig gleichgültig sei, und mir jedenfalls nicht den Anschein zu geben, als ob ich irgendein bestimmtes Ziel hätte.
In aller Ruhe ging die Reise weiter. Der andere Unteroffizier der Station, ein Herr Brigadier Lefèvre, begleitete mich. Er war weniger freundlich als sein Kollege. Aber auch er belästigte mich nicht weiter mit Fragen; wahrscheinlich vermuteten beide in mir einen aus Togo versprengten Deutschen, den sie ihrer Pflicht gemäß ihrer vorgesetzten Behörde übergeben wollten. Ich hatte den Eindruck, als ob diese Leute mich für einen wertlosen Vagabunden hielten und nur bedauerten, mich nicht einfach wie eine unnütze Sache in den Busch werfen zu dürfen. Diesen Eindruck bekam ich auch aus den Gesprächen, die meine Begleiter mit den Europäern führten, die uns begegneten. Niemand sprach mit mir. Ich war Gefangener und Vagabund. Ich fühlte mich bei der Ruhe und der frischen Luft schon leidlich gut, und es gelang mir, gegen die Nichtachtung der Franzosen unempfindlich zu sein, indem ich mir vorstellte, daß es nicht jeder meiner früheren Mitschüler so gut habe wie ich, der ich auf Kosten der französischen Kolonialregierung, von einer Truppe begleitet, in einer Hängematte durch eine französische Kolonie getragen wurde.
Wenn es mein Zustand erlaubte, sah ich mit Freude in die Umgebung. Der Weg war gut und breit und führte durch viele Negerdörfer, in deren Nähe Früchte aller Art angebaut waren. Am Wege standen Ananas. Die Dörfer bestanden hier nicht mehr aus den luftigen Strohhütten, die ich im Innern gesehen hatte, sondern aus großen Häusern, die nahe zusammengebaut waren, so daß enge, düstere Straßen entstanden.
Einmal kamen wir durch einen Ort, in dem auch eine weiße Frau wohnte. Die fragte teilnehmend nach meinem Befinden und zeigte mir ein freundliches Gesicht, wofür ich innerlich dankbar war.
Ich wußte noch immer nicht, wohin ich gebracht wurde, bis wir endlich am späten Nachmittag unser Ziel erreichten: den Hafenplatz Kotonou, wo viele Europäer wohnen. Hier wurde ich dem Fieberkrankenhaus übergeben.
Ich konnte warm baden, mich gründlich reinigen und bekam reine Wäsche und ein sauberes Bett. Ein Arzt untersuchte mich.
Noch gegen Abend kamen einige Beamte. Einer von ihnen forderte mich in schlechtem Deutsch auf, meine Papiere abzugeben. Ich war darauf gefaßt, daß man versuchen werde, mich als Deutschen anzusprechen, und sagte in gutem Französisch, ich bäte, mit mir Französisch zu sprechen, damit ich besser verstände.
Offenbar überrascht, wiederholte der Herr die Worte auf französisch.
Die Herren standen an meinem Bett. Zu meinem Glück hatte ich einige wichtige deutsche Papiere, die ich in einem wasserdichten Zelluloidumschlag unter der Achsel trug, schon bevor ich die Lazarettkleidung anzog, unbemerkt unter der Matratze verschwinden lassen und gab nur einige Briefe und Bilder ab, die mich nicht als Deutschen verdächtigten, und die ich in die rechte, äußere Tasche meines Hemdes gesteckt hatte.
Die Beamten gingen mit den Papieren ans Fenster und prüften die Schriftzeichen, die durch Feuchtigkeit fast unleserlich geworden waren. Ich horchte gespannt hinüber nach dem Gespräch, das die Herren führten.
Ein französisch geschriebener Brief war ihnen aufgefallen; er wurde von allen dreien durchgelesen. Da hörte ich mit einem Male, wie einer der Herren sagte: » Mais c'est un Suisse!« (Er ist also Schweizer.) Jetzt stand es fest: ich konnte mich als Schweizer ausgeben und behaupten, ich stamme aus der französischen Schweiz.
Den Brief, der diese gute Aussicht eröffnete, hatte ich erhalten, als ich mich noch in der britischen Kolonie Nigeria aufhielt. Er trug die Aufschrift:
»Monsieur M. Kirsch, Lagos (Apapa). British Southern Nigeria.« Als Absender stand deutlich auf der Rückseite: »K. H. Kirch, Genève (Suisse). Rue Rousseau 11.«
Der nichtssagende Inhalt des Briefes konnte gut auf einen Franzosen oder einen französischen Schweizer als Absender schließen lassen. Es waren merkwürdige Zufälle, die mir halfen, und der größte Zufall war, daß ich den Brief auf meiner langen Wanderung nicht vernichtet hatte, wo ich doch keine Ahnung gehabt hatte, daß er mir noch einmal von Nutzen sein könne.
Der Absender des Briefes war ein Schulkamerad von mir, ein guter Deutscher. Er war bei einer deutschen Familie in Genf angestellt, wußte, daß ich gut und gern Französisch sprach und liebte es, mir jetzt in französischer Sprache zu schreiben, um zu zeigen, wie gut er in Genf Französisch gelernt habe.
Ein weiterer, fast unglaublicher Zufall und ein Umstand, den ich bisher noch gar nicht beachtet hatte, war, daß mein Freund beinahe denselben Namen hatte wie ich. Er schrieb seinen Namen »Kirch«, ich »Kirsch«. Das fiel also kaum auf. Ich zitterte vor Erregung, während ich hin und her dachte, ob meine Angaben lückenlos sein würden. Aber meine Vorsicht, abzuwarten, bis ich gefragt würde, und kein Wort zuviel zu sagen, bewährte sich hier: Man legte mir alle Ausreden fertig in den Mund.
Es war menschlich zu verstehen, daß der, der den schlauen Gedanken gehabt hatte, ich sei ein Schweizer, nun auch den Wunsch hatte, seine Behauptung bekräftigt zu sehen; und so kam mir zugute, daß er und kein anderer es war, der die folgenden Fragen an mich stellte: »Ist der Brief an Sie gerichtet?«
»Jawohl, mein Herr!«
Er wandte den Umschlag und fragte: » C'est alors de votre frère?« (Das ist also von Ihrem Bruder?)
» Oui, monsieur« (Ja, Herr), sagte ich, scheinbar gleichgültig, obwohl ich das vor Freude am liebsten hinausgebrüllt hätte.
» Vous êtes donc Suisse?« (Sie sind also Schweizer?)
» Oui, monsieur.« (Ja, Herr.)
Da war es heraus! Schon vorher geglaubt, noch ehe ich selbst den Mund aufgetan hatte! Der Beamte warf seinen Begleitern einen Blick zu, der sagen sollte: »Seht ihr, die Sache stimmt.« Die anderen nickten. Einer aber fragte: »Weshalb waren Sie in Togo und weshalb hielten Sie sich bei den Negern versteckt?«
Jetzt erzählte ich eine Geschichte, die ich mir schon auf meiner Flucht in Togo zurechtgelegt hatte, und die sich in anderer Gegend als Erlebnis eines anderen ebenso zugetragen hatte, wie ich es schilderte. Ich brauchte nur einzufügen, daß ich Schweizer sei.
Ich gab an, in Lome, der Haupthafenstadt in Deutsch-Togo, von Bord des englischen Dampfers »Badagry« entflohen zu sein, weil mir die Arbeit als Kohlenzieher nicht mehr gepaßt habe und ich Lust hatte, das Innere von Afrika kennenzulernen. Da ich mittellos gewesen sei, habe ich mich bei den Schwarzen aufgehalten und sei aus Furcht vor den Behörden in einsame Gegenden gegangen. Dann sei der Krieg ausgebrochen. Ich habe von Kämpfen der Europäer in Togo gehört und mich von jeder europäischen Ansiedlung ferngehalten, um nicht einer Partei in die Hände zu fallen und dann vielleicht als Spion verdächtigt zu werden, da ich als Schweizer sowohl Französisch als auch ein wenig Deutsch spräche und in keiner der Kolonien bekannt sei. Nach langem Umherirren sei ich durch Entbehrungen geschwächt worden und habe Fieber bekommen. So hätten mich die Neger gefunden. Das Ende der Geschichte konnte der Feldwebel, der zugezogen wurde, selbst bestätigen, weil es ihm sein Kamerad so erzählt hatte.
Jetzt wurden noch einige Fragen gestellt, von denen mich manche hätte verraten können, wenn ich mich nicht so gleichgültig gegen die Sache gezeigt hätte.
Meine Geschichte wurde geglaubt. Man suchte in den Verzeichnissen der Gefangenen von Togo und Nigerien nach meinem Namen und fand ihn nicht darin. Niemand dachte daran, daß ich vielleicht noch weiter hergekommen sei und daß ich in der Liste der Gefangenen der Goldküste stehen könne. Der weite Weg, den ich zurückgelegt hatte, hatte alle Spuren hinter mir verwischt.
Wie war ich froh, daß mich ein gütiges Geschick davor bewahrt hatte, in Gesellschaft des Heizers Bracht zu fliehen! Unfehlbar wären wir jetzt getrennt verhört worden, und unsere Aussagen hätten sich widersprochen.
Auch war es ein großes Glück, daß ich mittellos gewesen war. Wäre ich im Besitz einer Summe Geldes gewesen, so hätte ich wahrscheinlich einen Diener angeworben, um mir den Kampf mit der Wildnis zu erleichtern. Dann aber wäre ich in die Gefahr gekommen, meine Spur selbst zu verraten.
Mein Schicksal hatte sich endlich entschieden: Ich wurde als » non justifié« (unsicher) vermerkt, sollte aus der Kolonie ausgewiesen werden und mit dem nächsten Dampfer nach Europa abreisen.
Nach wenigen Tagen war ich gesund und konnte im Krankenhause umhergehen. Da wurde der französische Frachtdampfer »Ogoué« gemeldet. Ich wurde als geheilt aus dem Lazarett entlassen und zur Agentur der Dampferlinie gebracht, wo ich die Bedingungen der Überfahrt erfahren sollte. Dort war gerade der Kapitän des Schiffes und wickelte bei einem Glase »Pernot« (Absinth) seine Geschäfte ab.
Der Kapitän sah mich und schien über meine Erscheinung nicht erfreut zu sein. Zwar hatte mir der Beamte des Krankenhauses ein Paar alte Schuhe geschenkt, durch die ich die abgetragenen Stiefel ersetzen konnte, und man hatte mir einen verbeulten Tropenhelm mitgegeben, den ein Gast hatte liegen gelassen; aber diese Verschönerung, die mir sehr wesentlich erschienen war, machte auf den Kapitän keinen Eindruck. Er maß mich mit anderem Maßstab und sah mich so, wie ich war: kümmerlicher als meine Mitmenschen; unrasiert, mit allzu langen, über die Stirn herabhängenden Haaren, von Entbehrungen und Krankheit stark abgezehrt und ohne Jacke, nur mit meiner alten Hose und dem treuen, alten Hemd bekleidet, das inzwischen gewaschen und geflickt worden war, und in dessen Geheimfach unter der Achselhöhle wieder mein Zelluloidtäschchen mit seinem Inhalt ruhte. Ein Vorteil war es immerhin, daß ich ein paar Lazarettstrümpfe hatte behalten dürfen, so daß bei der zu kurzen Hose nicht die nackten Knöchel sichtbar wurden. Im ganzen war ich keine vornehme Erscheinung, sondern konnte nur als Vagabund, als zum Auswurf der Menschheit gehörig, angesehen werden. Der Kapitän wütete: »Ich habe genug Gesindel an Bord!« sagte er zu dem Agenten. Der aber hatte von der Regierung die bestimmte Anweisung bekommen, mich auf dem Schiff unterzubringen, und so mußte der Kapitän einwilligen, als vereinbart wurde, daß ich auf der »Ogoué« Dienst als Kohlentrimmer tun sollte, ohne Lohn beanspruchen zu dürfen. Obwohl es klar war, daß ich nichts in die Wagschale zu werfen hatte als die Arbeit, die mein geschwächter Körper hergeben sollte, stellte ich mich so, als ob mir die Bedingungen gerade nicht gefielen; denn nur durch solches Auftreten konnte ich für einen echten, ungelernten Arbeiter gelten, von dem man weiß, daß er zu aller Zeit und vor hoch und niedrig darauf hält, daß das einzige, was er hat, hoch bewertet werde: seiner Hände Arbeit.