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Die Flucht durch den afrikanischen Busch

Ich hatte keine Bedenken, mit meinem Leidensgenossen zusammen zu gehen, weil er sogleich zu allem entschlossen war, wie so viele der armen Menschen, die nichts zu verlieren haben und im Leben verlernt haben, Leid schwer zu tragen. Der Plan gemeinsamer Flucht belebte und beschäftigte uns. Wir sahen uns die Umgebung genauer an: Hinter dem Pfahlzaun fing die Steppe an. Nur einige Negerhütten waren da in der Nähe. Die Schwierigkeit war, aus dem Zaun hinauszukommen. Über den Zaun durfte man nicht hinüber, das wäre gesehen worden, denn draußen ging ein Posten auf und ab.

An der Stelle, an der die Wasserrinne unter dem Zaun hindurchführte, war ein morscher Balken, den wir leicht wegstießen. Ich hatte schon früher gesehen, daß die Ziegelsteine sich hier leicht lösten und dann draußen in den Graben fielen. Der Posten aber konnte nicht bemerken, wenn die Steine in das hohe Gras hinunterfielen. Bald hatten wir das Loch so vergrößert, daß wir hindurchsehen und den Posten beobachten konnten. Er ging mit seinem roten Fes, seiner kurzen Affenjacke, roten Weste und Khakikniehose, mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett stumpfsinnig auf und ab.

Wir fanden in einer Ecke des Hofes einige alte Brottaschen, die die schwarzen Soldaten liegen gelassen hatten, und die wir auf der Flucht brauchen konnten. Wir legten in diesen Tagen von Nahrungsmitteln, besonders von halbreifen Bananen, etwas zurück, weil wir nicht wußten, wie die ersten Tage in der Steppe werden würden und ob wir darauf rechnen könnten, Nahrung zu bekommen. Am dritten Abend waren wir zur Flucht bereit.

Wir verabredeten, ich sollte warten, bis Bracht drei Stunden nach Anfang der Nacht käme. Es war Anfang September, also nicht Regenzeit, denn die ist hier im Juni, aber nach der Schwüle des Nachmittags verdunkelte sich heute der Himmel. Das Heulen und Pfeifen eines Gewittersturmes begann. Ich versah mich mit meiner Brottasche und schob den Riegel zur Seite, schloß die Tür leise von außen, horchte, ob meine Wächter sich rührten, und drückte mich hinaus.

Mein Freund war, gegen die Verabredung schon da. Ich steckte als erster meinen Kopf durch die Öffnung und sah zu meinem Ärger, daß der Posten in kurzem Hin und Her immer gerade vor dem Schlupfloch auf und ab ging. Wir waren in steter Angst, unser Fehlen könnte vor der Zeit entdeckt werden, und jetzt bekam mein Genosse, der unter Fieber litt, einen starken Anfall von Schüttelfrost; er sagte aber: »Das ist gleich, wir gehen.«

Einmal sprach der Posten mit einer Frau, und der Augenblick der Flucht schien gekommen. Ich kroch halb durch die Öffnung, mußte aber schnell wieder zurück, weil der Soldat sich gerade umdrehte.

Endlich gab's doch eine Gelegenheit. Die Ablösung des Postens kam, und während die militärischen Gebräuche erledigt wurden, ließ ich mich durch die Öffnung gleiten, kletterte auf der anderen Seite des Grabens wieder hoch, huschte über den Weg, der von den nackten Füßen der Posten glattgetreten war, und sprang in das hohe Gras.

Ich konnte nicht vermeiden, daß es raschelte. Der Posten aber hatte nichts gehört; er stand jetzt allein, zupfte an Gräsern und döste. Ich legte mich nieder und wartete auf Bracht. Ich sah gespannt nach dem Zaun hinüber, aber dort regte sich nichts. Bracht hatte entweder den Mut verloren oder war von einem neuen, stärkeren Fieberanfall überrascht worden. Ich durfte nicht daran denken, mich unter den Augen des Postens zurückzuschleichen und noch einmal nach ihm zu sehen. Ich wartete etwa eine halbe Stunde, dann schlich ich leise davon.

Als ich in einiger Entfernung war, blieb ich stehen und horchte noch einmal zurück. Es war nichts zu hören als das Branden des Meeres in der Ferne. Das Gewitter hatte sich verzogen, die Mauern der Christiansborg waren von hellem Mondlicht beschienen, und Sterne standen am Himmel. So konnte ich mich zurechtfinden. Wenn ich dem Meere den Rücken zuwandte, sah ich nach Norden. Ich sah das Sternbild des Orion, das Kreuz des Südens, die Plejaden. Ich wußte aus vielen Tropennächten, wie sich das Bild verschieben mußte, welche Sternenbilder gegen Morgen untergingen und wo der Himmel zuerst heller werden würde.

Jetzt begann ich zu laufen. Die Nacht war noch lang, und während der Zeit konnte ich Wege benutzen und ein gutes Stück vorwärtskommen. Oft stutzte ich: Hohe Termitenhügel und einzelne Baumstämme sahen aus wie Gestalten von Menschen oder Tieren.

Nach langen Stunden begann der Himmel zu meiner Rechten heller zu werden. Die Sterne verblaßten. Büsche und Gräser nahmen festere Umrisse an, Hügelreihen schimmerten bläulich in der Ferne. Ich hielt die Richtung nach Nordosten und benutzte einen Negerpfad, der einmal nach rechts, einmal nach links von der Richtung abwich, die Hauptrichtung aber innehielt.

Als es hell geworden war, kletterte ich auf einen abseits vom Wege stehenden Mangobaum und sah, daß ich mich in völliger Einsamkeit befand. Zu meiner Linken sah ich zwischen Büschen einen Eisenbahndamm.

Der Weg näherte sich der Bahnlinie. Ich wollte jetzt den offenen Weg meiden, um keinem Menschen zu begegnen, und versuchte, durch den Busch zu gehen. Das ging aber nicht, und ich mußte dem Bahndamm folgen. Als da, am Vormittag, einige Weiber mit Körben gingen, drückte ich mich nicht in den Busch, sondern wagte es, den Leuten in aller Ruhe zu begegnen. Sie sagten freundlich »Guten Tag«, und ich erwiderte den Gruß. Gegen Abend legte ich mich abseits unter einen Baum und schlief sofort ein.

Ich muß lange geschlafen haben. Als ich erwachte, war ich ganz verdutzt. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Meine Glieder waren steif und kalt; ich war aber ausgeruht und in bester Stimmung. Ich reckte mich, ging auf den Weg, schnitt mir einen Stock und schritt kräftig aus.

Ich konnte nun die Dörfer nicht immer vermeiden, weil die Umgehungen durch den Busch mir zu viel Zeit kosteten.

Eine unbändige Wanderlust erfaßte mich. Lange Tage war ich gefangen gewesen und hatte mich nicht richtig ausarbeiten können. Jetzt fühlte ich die ganze Freude der Freiheit. Alle Sorgen waren vergessen, wenn ich zwischen wechselnden Pflanzenbildern in das schöne Land dahinschritt.

Am zweiten Abend getraute ich mich schon, in einem Dorfe zu übernachten. Ich sah die Neger auf dem Platze mitten zwischen den Hütten sitzen. Als ich mich näherte, standen sie ehrerbietig auf, ich setzte mich aber mitten zwischen sie. Die Leute freuten sich, daß ich hier schlafen wollte.

Der Häuptling gab mir Apfelsinen, Bananen und eine Art Gebäck zu essen. Ich sättigte mich und würzte das Mahl durch freundliche Scherzworte an die liebenswürdigen Menschen. Ich schlief auf einer Matte, nachdem ich einen Lehmtopf hinausgetragen hatte, in dem glühende Holzkohlen zu viel Rauch entwickelten.

Am Morgen gab ich meinem Gastgeber ein Zweischillingstück, das einzige Stück, das ich von dieser Art bei mir hatte. Ich wollte den Schwarzen hier nicht durch Armut auffallen, damit sie nicht irgendeinen Verdacht bekämen.

Ich verließ das Dorf und folgte einem breiten Wege nach Nordosten. An Nahrung fehlte es mir nicht. In der Nähe der Dörfer waren viele Bananenstauden. Ich lebte von dem, was die Natur bot, und ging, wenn ich Hunger hatte, an Büsche und Bäume der bebauten Felder hinan. Daß ich nichts bezahlte, brauchte mich nicht zu bedrücken; die Früchte haben hier ja kaum Geldwert.

Ich ging, fast ohne auszuruhen, wieder einen ganzen Tag lang und fühlte mich frisch und gesund. Gegen Abend hörte ich Negergesang und näherte mich einigen Hütten. Auf dem freien Platz saßen viele Menschen, einige tanzten in der Mitte. Die Aufmerksamkeit der Neger richtete sich ganz auf die Tänzer, so kam ich unbemerkt näher. Ich beobachtete die Gruppen einige Zeit und freute mich über die harmlose Freude dieser Wilden. Endlich trat ich in den Feuerschein. Die Neger erschraken, und mehrere Mädchen entflohen. Einige freundliche Worte genügten aber, die fröhliche Gesellschaft wiederherzustellen.

Ich mußte meinen Besuch erklären und sagte dem Häuptling, es folgten mir noch andere Weiße. Die Neger hatten bald Vertrauen zu mir, als ich mich scherzend unter sie mengte und ihnen zeigte, wie man in Europa tanze. Ich bekam auch hier eine gute Hütte angewiesen und schlief bis in den Tag hinein.

Am Morgen ging ich weiter. Der Häuptling begleitete mich aus Neugierde. Er wollte die anderen Weißen, von denen ich erzählt hatte, sehen. Die Begleitung war mir aber auf die Dauer lästig, und ich bewog den Mann nach einigen Stunden, mich allein zu lassen.

Der Weg ging in ein Gebirge hinein und folgte fruchtbaren Tälern. Ich ging wieder bis zum Abend. Als es dunkel wurde, konnte ich nirgends Ansiedelungen finden und mußte mich im Freien nach einer Schlafstelle umsehen. Da fand ich eine Stelle mit weichem, warmem Flußsand. Dort bot ein Felsvorsprung mir guten Schutz gegen den Tau, und ich legte mich nieder. Als ich einschlief, merkte ich die Kälte der Nacht.

Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich eine Bewegung an meinem Fuße spürte und auffuhr. Ich stieß mit dem Kopf gegen die Steinplatte über mir und sah ein Tier fauchend zurückspringen. Ich sprang auf die Füße und erkannte die Gestalten zweier Hyänen. Die Tiere wichen erst, als ich einige Steine warf und das eine der Tiere traf. Ich hörte ein schauriges Knurren in der Nähe.

Ich hatte mich sehr erschrocken, und alle Müdigkeit war auf einmal dahin. Deshalb ging ich weiter. Der Weg war hell beschienen, die Richtung höher ins Gebirge war nicht zu verfehlen, so schritt ich munter aus und setzte mich erst nach einigen Stunden nieder, wo trockenes Gras in Menge neben einem Wall lag und zur Ruhe einlud. Hier schlief ich ein, erwachte aber schon vor Sonnenaufgang und brachte Bewegung in die steifen Glieder.

Jetzt ging es wieder bergab. Eine große Ebene mit Steppenwald lag unter mir. Ich kam in ein Negerdorf, das mit Fischreusen ausgerüstet war, was auf die Nähe von Wasser schließen ließ.

Als ich mir Essen kaufen wollte und nach Geld in die Tasche griff, hielt ich in der Hand eine kleine Karte mit Uniformknöpfen der Wörmannlinie. Die Frau, die bei mir stand, verlangte gleich danach, und ich kaufte mir für zwei Knöpfe ein Gericht zubereiteter Fische.

Während ich unter einer Hütte saß und frühstückte, kam ein Zug Haussa an, die sich durch Hörnerblasen schon von weitem bemerkbar machten. Die Aufmerksamkeit der Neger richtete sich gleich auf die herannahenden Händler, die malerisch gekleidet waren.

Einer der Händler, ein großer Mensch mit edlen Zügen, kam auf mich zu und grüßte mich nach Mohammedanerart mit erhobenem Arm. Der Mann wunderte sich, mich hier zu sehen, war aber nicht zudringlich. Ich konnte mich gut mit ihm unterhalten.

Am Nachmittage rüsteten die Haussa zur Weiterreise und fragten mich, ob ich mit ihnen gehen wollte. Ich willigte gern ein und sollte es nicht bereuen. Der vornehmste der Haussa hatte aufmerksame Diener, die gefällig heransprangen, wenn er winkte. So bekam ich Wasser und Früchte und seltene Pflanzen, die ich sehen wollte.

Der Haussa erzählte mir allerlei von dem Lande vor mir und sagte mir auch, daß in Togo große Kämpfe andauerten. Ich sagte ihm, daß ich auf einem Jagdausflug gewesen sei. Das war eine Gelegenheit für den Händler, nach Schießwaffen zu fragen. Jeder Eingeborene, jeder Händler will Schießwaffen haben.

Am Abend wurde mir eine angenehme Lagerstelle hergerichtet; der Haussa ließ mir Matten ausbreiten und lieh mir ein schönes Lederkissen.

Großen Eindruck machte es, als die Händler bei Sonnenuntergang mitten im Dorf ihre Gebetmatten ausbreiteten und sich betend nach Osten verneigten. Ich hielt mich im Hintergrunde. Die Eingeborenen sahen hinter den Hütten hervor. Der Führer der Haussa betete laut vor, die anderen murmelten nach. Die Haussahändler, die das Land nach allen Richtungen durchziehen, sind eine fliegende Mission des Islams. Ihre stolze Art muß auf jeden Neger Eindruck machen.

Der Diener brachte wieder Saft und Früchte. Der Haussa setzte sich zu mir, und ich bewunderte die schönen Züge des Mannes. Er erzählte von seinen Reisen und freute sich, daß ich ihm die Dampfer, die er an der Küste gesehen hatte, beschreiben konnte. Es war erstaunlich, wie die Diener auf die kleinsten Winke des Herrn aufmerkten, das Feuer bedienten und Gegenstände herbeibrachten.

Am nächsten Morgen sah ich den großen Grenzfluß, der in seinem Oberlauf das Gebiet der Goldküste von Togo trennt, den Volta. Der Weg entfernte sich wieder vom Flusse. Ich fürchtete, daß er zu weit nach Westen führte und sagte den Haussa Lebewohl. Mit einer segnenden Handbewegung grüßte der Händler zum Abschied.

Ich wollte dem Flußlauf folgen und oberhalb von Stromschnellen eine Stelle suchen, wo ich hinüberkonnte. Der Busch aber war undurchdringlich, und ich mußte zuerst doch wieder dem Wege folgen, den die Haussa gegangen waren. Dann aber hielt ich mich an den ersten Weg, der rechts nach dem Fluß führte. So kam ich nachmittags an eine Stelle, wo einige Einbäume am Ufer lagen. Ich sah, daß ein Boot unterwegs war, und erwartete die Neger. Es war nicht leicht, mit ihnen einig zu werden. Sie waren ermüdet und wollten jetzt nicht rudern. Endlich sprang ich selbst in das Boot und zeigte in die Richtung zum anderen Ufer, aber die Neger bedeuteten mir, daß das Boot weit hinauf gebracht werden müsse, wenn wir das andere Ufer erreichen wollten. Vier nackte Männer ruderten mein Boot zuerst weit stromaufwärts, dann quer über den Strom. Es war eine gefährliche Fahrt, was ich vom Ufer nicht hatte voraussehen können. In der Mitte des Stromes ragte ein Felsen aus dem Wasser, da teilte sich der Strom. Der Einbaum näherte sich dieser Stelle bedenklich, und ich krampfte meine Hände fest an die Bordwand, weil ich glaubte, das Boot werde zerschellen. Die Neger aber kannten diese Stelle und wußten sie zu nehmen. Sie waren ihr gewiß nicht zum ersten Male nahe gekommen. Ich aber fühlte mich den Negern, die mich mit ihrer Kraft und Gewandtheit aus gemeinsamer Gefahr gerettet hatten, dankbar, und als wir das andere Ufer glücklich erreichten, gab ich den wackeren Ruderern gern einen Wörmannknopf mehr, als ich vereinbart hatte.

Ich hatte mehrere große Dörfer durchschritten und näherte mich einer kleinen Ortschaft, als eine Gestalt im Khakianzug, Strohhut und Schuhen sichtbar wurde. Ich sprang in ein Gebüsch, erkannte aber gleich darauf, daß ich einen Hosennigger vor mir hatte.

Der Mann grüßte und sagte: » Good day, Ssö!« (Guten Tag, Herr). Ich wollte mich als Engländer ausgeben und fragte auf Englisch nach dem Namen des Dorfes und nach dem Wege. Da hörte ich etwas von »Mission« und »Bruder Johannes«.

»Was! Bruder Johannes?« entfuhr es mir auf deutsch.

»Ach, mein Err, Sie sprechen Deutsch?!« Jetzt sagte der Neger mir stolz, daß er sieben Jahre auf der Schule gewesen sei und sogar Deutsch schreiben könne.

Nachmittags erreichten wir die Missionsnebenstation K. ... Hier war ein Haus mit Hof und Lagerschuppen, und das Erscheinen eines Weißen schien nichts Seltenes zu sein. Ein Mulatte betrat die Veranda des Hauses. Mein Begleiter grüßte sehr untertänig. Der Mulatte fragte in einem Über-Hochdeutsch: »Guten Tag, mein Herr, was führt Sie her?«

»Ich muß mit Euch sprechen!« antwortete ich.

»Kommen Sie herein.«

Er bot mir Waschwasser an und lud mich ein, mich zu setzen. Ich sah etwas verwahrlost aus; meine Hose war eingerissen, die gelben Schuhe hatten stark gelitten.

Der Mulatte berichtete mir, die Deutschen seien schon lange weg. – »Wir sind von Lome abgeschnitten; die meisten Deutschen haben sich ergeben, auch Kamina ist in den Händen der Feinde.« Ich verschwieg, daß ich von Accra gekommen war, und sagte, ich sei unterwegs von der Küste nach dem Innern. Er riet mir dringend, mich den Engländern sogleich zu ergeben: es habe keinen Zweck, daß ich mich mit Not und Sorgen im Busch umhertreibe. – »Das gibt's gar nicht!« platzte ich heraus und mußte herzlich über einen Menschen lachen, der innerlich so ganz anders aussah als ich.

»Na, geben Sie mir mal erst ordentlich was zu essen, es wird Ihnen später vergolten werden, wenn alles wieder deutsch ist«, sagte ich frech.

»Halten Sie das für möglich?«

»Was? Möglich? Selbstverständlich! Sie ahnen ja gar nicht, wie mächtig wir Deutschen in Europa sind, und in Europa wird dieser Krieg entschieden.« Meine Zuversicht machte auf den Kerl großen Eindruck.

Übersicht der Flucht durch den afrikanischen Busch.

Der Weg, den Kirsch von dem Gefängnis Christiansborg bis zur Grenze von Dahome zu Fuß zurücklegte, ist danach 350 Kilometer lang.

»Auch ich«, fuhr ich fort, »werde noch helfen, die Engländer und Franzosen zu besiegen: ich fahre nach Deutschland!«

Der Diener hatte mir ein gutes Mahl zurechtgemacht, und ich ließ es mir gut schmecken.

Die Nacht schlief ich in einem prächtigen Bett mit Moskitonetz. Das war eine große Wohltat für mich, und am nächsten Morgen war ich sehr dankbar und aufgekratzt, als ich meinen komischen Gastgeber wiedersah.

Wir hatten sehr verschiedene Anschauungen. Er lebte nach den Worten: »Seid Untertan der Obrigkeit, die gerade da ist« und meinte, es sei alles Gottes Wille, und man solle sich fügen.

Ich konnte auf die Dauer hier nicht bleiben, weil der Mann für seine Missionsstelle fürchtete, und schlief nur noch eine Nacht in dem Hause; dann brach ich auf.

Ich wollte erst nach Norden, aber da war kein Vorwärtskommen, so mußte ich mich der Küste wieder etwas nähern.

Jetzt war ich vorsichtig wie ein verfolgtes Wild. Ich sah mehrmals im Staub der Wege frische Spuren von Europäerschuhen und durfte keine Ortschaften besuchen.

Wenn ich Menschen kommen hörte, drückte ich mich in den Busch. Es wurde eine schreckliche Zeit. Nur einige Male konnte ich in Hütten übernachten, wenn ich in ein sehr entlegenes Dorf fand und wußte, daß keine Europäer in der Nähe waren. Eines Abends mußte ich mir mitten im Urwald eine Schlafstelle schaffen. Ich fand einen umgestürzten Baum, auf den ich bis in die Krone hineinklettern konnte. Dort, fünfzehn Meter über dem Erdboden, band ich eine Menge Lianen zusammen und versuchte, in einer Art Netz zu schlafen. Ich hatte, um mich zu bedecken, zusammengerafft, was ich an trockenen, weichen Gräsern finden konnte. Aber es war eine böse Nacht, und ich weiß nicht, wie unsere Vorfahren es in der Wildnis aushalten konnten. Mücken plagten mich, ein übler Fäulnisgeruch umgab mich, und die vielen Stimmen des Waldes ließen mir trotz aller Übermüdung keine Ruhe. Da flogen Fledermäuse; Nashornvögel flatterten in den Baumkronen, gespenstige Eulen huschten durch die Stämme. Äste brachen, und in der Ferne hörte ich ein gleichmäßiges Schlagen: Stimmen von Fröschen.

In der Dunkelheit konnte ich nicht weiter; so blieb ich hier bis in die Dämmerung und sah im Morgenlicht zwei zierliche Buschböcke unter meinem Lager hindurchgehen.

Das war eine anstrengende Nacht im Urwalde, und als ich abgespannt, kalt und hungrig zu Boden kletterte und vor dem Tau zitterte, der mir mit den Blättern entgegenschlug, war ich in Versuchung, mich auf jeden Fall wieder menschlichen Ansiedelungen zu nähern. Allein, jeder Tagemarsch, den ich nach Osten zurücklegte, ehe ich mich der Küste wieder näherte, verwischte meine Spur mehr, und wenn die Sonne mir Wärme und neue Kräfte brachte, bekam ich neuen Mut. Zwei Bahnlinien überschritt ich auf meiner Wanderung. Bei der zweiten kam ich in eine Pflanzung hinein und wurde durch das Gekläff von Hunden vom Wege abgetrieben.

Ich konnte von den Negern im Lande nichts mehr verlangen; denn ich sah nicht mehr aus wie ein Europäer und wurde nicht mehr geachtet. Wohl badete ich, wo es irgend möglich war, und wusch mein Zeug. Anstatt Seife benutzte ich Lehm, Flußsand und trockene Blätter. Aber ich sah im Spiegel eines Baches, wie ungepflegt ich aussah. Ich mochte keine Ansiedelung mehr aufsuchen und lebte von dem, was ich in der Nähe der Dörfer auf den Feldern wegnehmen konnte. Oft war es im Dunkel der Nacht.

Ich fühlte, daß meine Kräfte geringer wurden und wurde gleichgültig gegen mein Geschick. Ich mußte mir mit Gewalt einreden, daß mir noch irgend ein Weg zur Freiheit offen stehe. Es schien mir wie ein Märchen, daß es noch irgendwo einen Platz gebe, wo mich liebevolle Pflege, ein Bett, ein warmes Bad erwarteten.

Die Reihenfolge der Erlebnisse ist mir entfallen. Es war mir, als ob Erinnerung wertlos sei, wo ich das Ende dieser Irrfahrt nicht wußte. Die Sorge um den Tag und die kommende Nacht hielt mich davon ab, zurückzudenken und die Schlafplätze und Sonnenaufgänge zu zählen, die ich hinter mir hatte. Es ist gewiß, daß wir in ruhigem Leben so etwas tun, ohne es noch zu wissen.

Einmal traf ich eine Stelle, wo Engländer gelagert hatten. Konservendosen und leere Tabaksbüchsen lagen da und ein Fetzen der »Daily Mail«, von Tau durchnäßt.

Die Nähte meiner Schuhe platzten, ich band die Schuhe mit einer Schnur zusammen, die ich an einer Fetischhütte der Eingeborenen wegnahm. Jetzt hatte ich nicht mehr die Kraft, den ganzen Tag zu wandern. Ich bekam Kopfschmerzen und mußte ruhen.

Als ich einen Gebirgsbach kreuzte und über einen Stein sprang, fiel mir mein Tropenhelm vom Kopfe. Ich wollte ihm nach, konnte aber nicht hingelangen, wo er antrieb, weil da ein scheußlicher Schlamm war, in dem ich nicht schwimmen und nicht waten konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir von Palmenblättern eine Art Hut zu binden und mein einziges Taschentuch als Mütze unterzuknöpfen.

Ich war mürbe geworden. Wenn mich Weiße überrascht hätten, wäre ich beinahe froh gewesen; und doch umging ich jede Niederlassung: Freiwillig wollte ich meinen Plan, einen möglichst fernen Punkt der Küste zu erreichen, nicht aufgeben. Mir fielen die Überschriften auf dem englischen Zeitungsblatt ein. Wie nebensächlich war ich gegen den ganzen Weltkrieg! Vielleicht war ich der einzige Deutsche, der hier noch frei umherlief. Eine unglaubliche Lage! Wer wußte jetzt von mir, wer fragte nach mir, bei diesen großen Ereignissen?

In der freien Wildnis gab es nirgends etwas zu essen; wenn ich den Hunger stillen wollte, mußte ich mich Dörfern nähern, mußte näher gehen, wo Rauch und Feuerschein waren, wo Hundegebell, Kindergeschrei und das Stampfen von Getreide zu hören waren.

Krank war ich, unrasiert, abgerissen; deshalb mußte ich, was ich an Ansehen nicht hatte, durch heimliche Gewalt ersetzen.

Ich mochte achtzehn Tage unterwegs sein, als ich an einen Fluß kam, wo ich keine menschliche Niederlassung sehen konnte. Das Ufer war ziemlich seicht. Ich wollte hinüber; es war wenig Wasser im Fluß. Zur Regenzeit mußte es ein mächtiger Fluß sein, denn die hohen Ufer lagen weit zurück. Hier und da sah eine Felsbank heraus. Ich dachte von einem festen Punkt zum andern zu gehen und ging in den Fluß hinein. Das Wasser war an einigen Stellen tiefer, als ich gedacht hatte. Bald stand ich in der Mitte des Flußes und hatte vor mir die eigentliche Rinne des Stromes. Das Wasser wurde immer tiefer. Noch dreißig Meter waren es bis zur Sandbank des anderen Ufers. Ich wollte nicht zurück. Oberhalb sah ich einige Krokodile in der Sonne liegen; dennoch ließ ich mich in das Wasser fallen und begann zu schwimmen. Ich hatte aber die Strömung unterschätzt und wurde weit stromabwärts mitgerissen. Das ermüdete mich entsetzlich. Ich war halbtot, als ich wieder festen Boden erreichte, und als ich die Uferböschung hochklettern wollte, konnte ich keinen Schritt mehr weiter. Ich warf mich hin; nicht einmal sitzen konnte ich. Ich hatte nur noch so viel Besinnung, mich mit dem Kopf in den Schatten der Uferböschung zu legen. Die nassen Kleider drückten mich, und ich fror, obwohl das Licht der Sonne meinen Leib und meine Beine traf. So schlief ich ein.


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