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VI.

Mit verbundener Stirn und ungewöhnlich bleichem Antlitz lag Editha von Hasselrode am nächsten Morgen auf einem Ruhebette in dem kleinen, traulichen Wohnzimmer, das die beiden Schwestern mit einander teilten. Monika, die an ihrer Seite saß, und deren überwachtes Gesicht deutlich genug verriet, mit welcher Aufopferung sie sich nach den Stürmen des gestrigen Abends noch der Pflege der kranken Schwester hingegeben hatte, las ihr mit ihrer weichen, selbst bei gleichgiltigen Aeußerungen seltsam zu Herzen dringenden Stimme aus den eben angekommenen Morgenzeitungen vor, und es schien eine Zeit lang, als ob die Patientin wirklich dieser Lektüre ihre ganze Aufmerksamkeit zuwende.

Plötzlich aber legte sie ihre Hand auf den Arm der Schwester und sagte:

»Wovon hat Doktor Asmus gestern abend auf dem Heimwege mit Dir gesprochen? – Hat er sich über mich beklagt?«

Monika sah fast erschrocken auf.

»Nein, Editha! – Wir haben überhaupt nicht von Dir gesprochen.«

»Und was hat er Dir als Erklärung dafür angegeben, daß er sich während der letzten Wochen in so auffälliger Weise von uns fern gehalten hat?«

Monikas Wangen hatten sich schon wieder mit jenem feinen Rot überzogen, das zu ihrem eigenen Verdruß so oft zum Verräter dessen wurde, was in ihrer Seele vorging, und ihre Augen blieben jetzt hartnäckig auf die Zeitung in ihrem Schoße geheftet.

»Der Doktor kam nicht dazu, mir auf meine dahingehende Frage zu antworten,« sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie es zuging; aber das Gespräch lenkte sich gleich wieder auf andere Dinge, und dann kam auch jener Steinwurf, über dem natürlich alles andere sogleich vergessen war. – Hast Du auch jetzt noch große Schmerzen, liebste Editha?«

»Nein, ich fühle die Wunde gar nicht mehr. Aber sage mir doch, Monika: welchen Eindruck haben die Anklagen auf Dich gemacht, welche Doktor Asmus gegen meinen Verlobten geschleudert? Hältst Du es für möglich, daß er in allen Stücken die Wahrheit gesagt und daß Neukamp sich wirklich brutal und hartherzig gegen die armen Leute benommen haben könnte?«

»Ich habe kein Urteil über diese Dinge, Editha,« lautete Monikas schüchtern ausweichende Erwiderung. »Und Doktor Asmus sagte ja selbst, daß Dein Bräutigam nur gethan habe, wozu er durch das Gesetz berechtigt gewesen sei.«

Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung lehnte die Kranke dies Zugeständnis ab.

»Nicht doch! – Das ist ja gar nicht Deine wirkliche Meinung; denn Du hast so gut gehört als ich, daß ihm Asmus dies in einem sehr bittern und sarkastischen Tone sagte. Aber es könnte ja sein, daß er aus Haß gegen Neukamp die wirklichen Thatsachen entstellt und übertrieben hätte, nur um ihn in unseren Augen herabzusetzen.«

»Oh Editha, welch ein Verdacht! – Warum nur bist Du, die sonst so klug und gütig ist, gerade in Bezug auf Dein Urteil über Doktor Asmus so ungerecht und hart?«

»Wer sagt Dir, daß, er gerechter ist in Bezug auf mich?« klang es fast schroff von Edithas Lippen zurück. »Hatte sein Benehmen nicht ganz den Anschein, als ob er sich berechtigt glaube, mich zu verachten?«

»Gewiß nicht! – Wie sollte er auch dazu kommen, da Du ihm doch sicherlich niemals einen Anlaß für solche Empfindungen gegeben hast?«

Editha wandte das Gesicht nach der Wand und schwieg. Als Monika nach einer kleinen Weile fragte:

»Soll ich weiter lesen?« – erwiderte sie mit fast unfreundlicher Bestimmtheit:

»Nein! – Du mußt ja auch müde sein! – Lege Dich nur ein paar Stunden auf Dein Bett, um den versäumten Nachtschlummer nachzuholen. Ich bleibe sehr gern für eine Weile allein.«

Das klang viel mehr wie ein Befehl, denn wie eine Bitte, und Monika, die sich von jeher dem Willen ihrer schönen Schwester widerspruchslos untergeordnet hatte, ging denn auch leise hinaus, nachdem sie noch einen sanften, zärtlichen Kuß auf Edithas Stirn gedrückt Hatte.

Aber schon nach Verlauf von wenig Minuten kehrte sie zurück.

»Es ist ein Mädchen aus Eberbach da, das Dich durchaus sprechen möchte, liebe Editha,« sagte sie. »Ich glaube, es ist dieselbe, welche Du damals mit Doktor Asmus auf ihrem Krankenlager besucht hast. Ich habe sie nicht ohne weiteres fortschicken wollen, weil es scheint, als ob ihr die Mitteilung, welche sie Dir zu machen wünscht, sehr schwer auf dem Herzen läge.«

Die Patientin zauderte ein paar Sekunden lang; dann sagte sie lässig:

»Laß sie meinetwegen hereinkommen! Wenn ich auch nicht weiß, was sie mir zu sagen haben könnte, so wird sie mir doch vielleicht die Langeweile in etwas vertreiben.«

Monika, die über diesen günstigen Bescheid sichtlich erfreut war, ging hinaus und gleich danach trat die Angemeldete über die Schwelle.

Es war wirklich die Tochter des Stellmachers, und Editha würde sie auf den ersten Blick an ihren Augen wieder erkannt haben, auch wenn nicht die breiten, roten Narben, welche ihr ehedem gewiß nicht unschönes Gesicht entstellten, sie sogleich hätten davon überzeugen müssen, daß es die bedauernswerte junge Heldin von Eberbach sei, welche sie da vor sich habe.

Da die Besucherin schüchtern in der Nähe der Thür stehen blieb, winkte ihr Editha näher zu kommen und sagte freundlich:

»Guten Morgen, mein Kind! – Ich freue mich, Sie wieder so weit hergestellt zu sehen, und es ist hübsch, daß Sie den weiten Weg nicht gescheut haben, um mir in eigener Person Mitteilung davon zu machen.«

Agnes Mehnert war jetzt wirklich ganz nahe an das Ruhebett herangetreten, und nun erst nahm Editha den Ausdruck einer Aufregung, welche unmöglich allein durch ihre Zaghaftigkeit erklärt werden konnte, in den Zügen des Mädchens wahr.

»Ja, es geht mir wieder ganz gut, gnädiges Fräulein,« sagte die Angeredete so leise, als ob sie sich davor fürchten müsse, belauscht zu werden. »Aber ich bin nicht deshalb nach der Stadt gekommen! – Ach gnädiges Fräulein« – und nun stürzte plötzlich ein Thränenstrom aus ihren Augen – »wir sind ja so unglücklich – so über alle Maßen unglücklich!«

Editha hatte eine Empfindung lebhaften Unbehagens. Ohne Zweifel würde sie die Person nicht empfangen haben, wenn sie vorausgesehen hätte, daß es sich nur darum handeln würde, Klagen und Lamentationen anzuhören. Sie verhehlte denn auch ihre Ungeduld kaum, indem sie mit wesentlich verminderter Freundlichkeit erwiderte:

»Ist die Not in Ihrem Hause wieder größer geworden? – Ich glaubte allerdings, derselben für längere Zeit abgeholfen zu haben, als ich Ihrem Bruder einen Arbeitsplatz in der Hartogschen Fabrik verschaffte.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, noch immer außer stande, sein Schluchzen zu bemeistern.

»Wenn wir auch Not litten, so würde ich das gnädige Fräulein, das so gütig gegen uns war, damit doch gewiß nicht behelligen. Aber es ist etwas viel Schlimmeres! – Ach, Du mein Gott, das gnädige Fräulein wird es uns niemals, niemals verzeihen können.«

»Was soll ich Ihnen nicht verzeihen können?« fragte Editha, verwundert ein wenig den Kopf erhebend. »Sie müssen schon deutlich und ohne viele Umschweife sprechen, wenn ich mich mit Ihnen unterhalten soll; denn ich befinde mich, wie Sie sehen, nicht ganz wohl.«

»Ja, ja – ich will es rund heraus sagen; denn darum bin ich ja hergekommen. Der böse Mensch, der den Stein nach Ihnen geworfen hat – es – es ist mein Bruder gewesen; aber ich schwöre, daß er nicht die Absicht gehabt hat, Sie zu treffen.«

Edithas Gesicht wurde streng und hart. Mit einer befehlenden Gebärde erhob sie die Hand.

»Mich oder einen anderen – das Verbrechen wird dadurch nicht geringer. Gehen Sie! – Ich wünsche mit Ihnen und Ihrer Familie nichts mehr zu schaffen zu haben.«

Statt der Weisung zu gehorchen, fiel Agnes Mehnert neben dem Ruhebett in die Kniee und streckte Editha flehend die gefalteten Hände entgegen.

»Ach, wenn Sie wüßten, wie er seine schlechte That bereut – wie verzweifelt er ist – Sie würden mich gewiß nicht fortschicken, ohne daß Sie mich angehört hätten. Er will sich ja auch aus freien Stücken den Gerichten stellen – heute noch! Und er meinte, wenn sie ihm den Kopf abschlügen, so würde es ihm auch recht sein; denn er glaubt ja nicht anders, als daß er das gnädige Fräulein getötet oder doch schwer verwundet hätte.«

»Es war gewiß nicht sein Verdienst, wenn ich gnädiger davon gekommen bin. Erwarten Sie nun etwa von mir, daß ich ihn davon zurückhalte, sich der verdienten Bestrafung zu überliefern?«

»Nein – nein! – Sie sollen nur nicht gar zu schlecht von uns denken und sollen nicht glauben, daß wir jemals vergessen könnten, wie viel Gutes Sie uns gethan.«

»Die Art, in welcher Ihr Bruder seine Dankbarkeit da an den Tag gelegt hat, ist nicht gerade sehr überzeugend. Daß er nicht die Absicht hatte, mich zu treffen, kann ich mir wohl denken; denn ich hatte ihm allerdings sehr wenig Veranlassung gegeben, mich zu hassen. Aber wenn der Wurf Herrn Neukamp zugedacht war, so ist die Erbärmlichkeit der Gesinnung, welche sich in seiner Handlungsweise offenbart, gewiß keine geringere. Er hatte guten Grund, Herrn Neukamp als seinen Wohlthäter zu betrachten, und ihm am wenigsten stand es zu, sich in solcher Weise an der aufrührerischen Bewegung gegen den Mann zu beteiligen, der ihn und seine Angehörigen vor dem Elend bewahrt hätte.«

»Ach, es geschah ja auch gar nicht wegen der Lohnsache,« klagte die Tochter des Stellmachers. »Aus solcher Ursache hätte er sich gewiß niemals an dem Herrn Neukamp vergriffen. Es geschah ja nur in seiner ersten Wut und Aufregung darüber, daß der Herr Neukamp es gewesen war, der durch seine Schlechtigkeit meine arme Schwester in den Tod getrieben.«

Editha richtete sich auf, und ihre Augen öffneten sich weit in starrem Entsetzen.

»Was sagen Sie da? – Was für ein Märchen ist es, durch das Sie Ihres Bruders feige, tückische That zu rechtfertigen gedenken? – Was hätte mein – was hätte Herr Hugo Neukamp mit Ihrer Schwester zu schaffen gehabt?«

Agnes Mehnert wußte offenbar nicht, welche Beziehungen zwischen dem Fabrikherrn und der Tochter des Obersten bestanden; aber die unerwartete Wirkung ihrer Worte versetzte sie nichts desto weniger in große Bestürzung.

»Ich lüge ganz gewiß nicht, gnädigstes Fräulein,« versicherte sie erschrocken. »Gott ist mein Zeuge, daß ich nur die lautere Wahrheit sage! – Aber wenn das gnädige Fräulein so böse darüber sind –«

Editha atmete schwer. Mit jener bewunderungswürdigen Selbstbeherrschung, die sie oft selbst für ihre nächsten Angehörigen zu einem Rätsel machte, zwang sie ihre mächtige Aufregung nieder und sagte in ganz verändertem, scheinbar ruhigem Ton:

»Ich bin Ihnen nicht böse, denn ich sehe ja, daß Sie sich selbst durch eine erlogene Erzählung irre führen ließen. Aber ich wünsche diesen Dingen auf den Grund zu gehen, und Sie müssen mir darum alles sagen, was man Ihnen berichtet hat – hören Sie: Alles! Von dem Grade Ihrer Aufrichtigkeit wird es abhängen, ob ich Ihrem Bruder meine Verzeihung zu teil werden lasse oder nicht.«

»Ach, das ist eine so lange und traurige Geschichte, gnädiges Fräulein – die Geschichte von meiner armen Schwester –«

»Ich kenne sie bereits aus dem Munde Ihres Vaters. Ihre Schwester ging in den Tod; weil ein Ehrloser sie betrogen – unter einem falschen Namen ihre Liebe gewonnen und sie dann verraten hatte – war es nicht so?«

»Jawohl – und bis gestern wußten wir nicht, wer jener schlechte Mensch eigentlich gewesen; denn die Lene hatte in ihrem letzten Briefe seinen wirklichen Namen absichtlich verschwiegen. Da begegnete mein Bruder gestern zufällig einer Frau, welche die Lene in der letzten Zeit ihres Lebens gekannt hatte, und von ihr erfuhr er, daß kein anderer als Herr Hugo Neukamp damals jene schändliche That vollführt habe. Paul sagt, daß er der Frau anfänglich selber keinen rechten Glauben geschenkt habe; aber sie wußte so viele Einzelheiten anzugeben, und alles, was sie sonst über die Lene und über jene traurige Zeit berichtete, stimmte so genau mit allem, was er selber gehört hatte, daß er endlich gewiß war, nur die Wahrheit zu vernehmen. Und nun überkam ihn, wie er uns in dieser Nacht erzählte, eine furchtbare Wut. Er meinte fortwährend Blut vor sich zu sehen, und er war ganz fest entschlossen, den Herrn Neukamp ums Leben zu bringen. Als er davon hörte, daß ein Auflauf vor seiner Villa entstanden sei, mischte er sich unter den Haufen und suchte die Leute aufzustacheln, daß sie das Haus stürmen und den Fabrikherrn erschlagen sollten. Er war es auch, der sie zum Ungehorsam gegen die Gendarmen aufhetzte und er hat dabei selber von einem Säbelhieb eine Wunde an der linken Schulter erhalten. Dann aber kam, wie er sagt, der Herr Doktor Asmus, um den wütenden Arbeitern ins Gewissen zu reden – und gegen den wollte er nichts unternehmen; denn es giebt keinen Menschen, von dem er so viel hält wie von dem Herrn Doktor, wenn er sich auch in seiner sonderbaren, verschlossenen Weise schämt, es zu zeigen. Er ging also zugleich mit den anderen fort; aber die Wut, die in ihm kochte, ließ ihm doch keine Ruhe und er trieb sich in der Nähe der Fabrik herum, obwohl er selber meinte, daß sich an diesem Abend keine Gelegenheit mehr für ihn finden würde, seine Absicht auszuführen. Da kam mit einem Mal die Gesellschaft aus der Villa zu Fuß daher und er sah, daß auch der Herr Neukamp dabei war. Und nun muß ein böser Geist ihm eingegeben haben, daß es setzt die rechte Zeit sei, den Mann, der unsere Schwester gemordet hatte, hinterrücks zu erschlagen. Er las einen großen Stein auf und schlich sich in der Dunkelheit daneben her, bis er den günstigen Augenblick gekommen glaubte und meinte, ihn nicht mehr verfehlen zu können. So nahe als möglich ging er heran und warf den Stein nach Herrn Neukamps Kopfe. Aber er sah alsbald, daß er ihn doch nicht getroffen hatte; denn er blieb aufrecht stehen, und nur die Dame, die er am Arm geführt hatte, brach mit einem schrecklichen Schrei zusammen. – Und als ihr der Doktor Asmus dann in das blutige Gesicht leuchtete, sah er aus seinem Hinterhalt ganz deutlich, daß es dieselbe war, die uns vor einigen Wochen besucht und mich bei der Gelegenheit so reich beschenkt hatte. Und nun stürzte er fort, als ob die Gendarmen, die ihn greifen wollten, schon hinter ihm wären. Gegen Morgen kam er in Eberbach an und weckte uns aus dem Schlafe, um dem Vater und mir gleich auf der Stelle alles zu bekennen. Wir meinten, er würde sich ein Leid anthun, so verzweifelt war er, und wer weiß, ob es nicht auch wirklich dahin gekommen wäre, wenn wir nicht alles aufgeboten hätten, um ihn zu beruhigen und ihm zuzureden, daß er wenigstens warten solle, bis ich am Morgen in die Stadt gegangen wäre, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. – Wir wollen ja ganz gewiß nicht, daß er ohne Strafe bleiben soll; aber es würde uns in unserem namenlosen Unglück einen so großen Trost gewähren, wenn Sie darum doch noch nicht ganz schlecht von uns denken wollten, und wenn Sie wenigstens nicht mich und meinen armen Vater entgelten lassen wollten, was Ihnen der Paul in seiner Aufregung und Verblendung gethan.«

Die Thränen der armen Person waren gegen den Schluß ihrer Erzählung hin schon wieder sehr reichlich geflossen, und nur mit Mühe hatte sie unter vielem Schluchzen die letzten Worte herausgebracht. Es mußte sie nicht wenig befremden, als sie von Editha Minuten lang überhaupt keine Antwort erhielt und als sie wahrnahm, daß die vornehme junge Dame mit eigentümlich starrem Gesicht und mit leerem Blick gerade vor sich hinstarrte, wie wenn sie die Anwesenheit der anderen vollständig vergessen hätte. Die Tochter des Stellmachers wagte in dieser bedrückenden Situation schließlich kaum noch zu atmen, und sie zitterte am ganzen Körper, als Editha endlich, sich ihr jäh zuwendend, sagte:

»Ich wünsche nicht, daß Ihr Bruder sich den Behörden stelle – hören Sie? – Ich will nicht, daß er bestraft werde und daß damit alle diese Dinge zu einem Gegenstand öffentlichen Geredes werden! – Hier –« und sie entnahm einer auf dem Tischchen neben ihr liegenden Geldbörse mehrere Goldstücke – »geben Sie ihm dies, damit er in den Stand gesetzt werde, sich so rasch und so weit als möglich aus unserer Gegend zu entfernen. Was ich thun kann, um eine Verfolgung zu verhindern, wird gewiß geschehen, und ich glaube, dafür einstehen zu können, daß ihm nichts widerfahren wird, wenn er selber Schweigen beobachtet über seine That. – Und nun gehen Sie! – Danken Sie mir nicht, denn ich habe für meine Handlungsweise vielleicht andere Beweggründe, als Sie vermuten, und ich wünsche nicht, mich mit dem Glorienschein einer Großmut zu umgeben, die mir fremd ist. Wenn Sie sich mir erkenntlich zeigen wollen, so sorgen Sie dafür, daß Ihr Bruder sich meinem Verlangen fügt, und daß ich weder jetzt noch künftig weiter von ihm höre.«

Sie verabschiedete das Mädchen mit einer Bewegung, die an der Bestimmtheit ihres Wunsches, allein zu sein, keinen Zweifel lassen konnte, und das arme, eingeschüchterte Wesen wagte denn auch nicht, ihrem so deutlich kundgegebenen Willen auch nur durch ein einziges, gestammeltes Dankeswort zuwider zu handeln. Es schlich still hinaus, und als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, schlug Editha beide Hände vor das Gesicht, um lange regungslos in dieser Stellung zu verharren.

Ein Klopfen war es, das sie nach Verlauf einer Viertelstunde auffahren ließ. Ihre trockenen Augen zeigten, daß sie nicht eine einzige Thräne vergossen hatten; aber ihr Aussehen hatte sich erschreckend verändert und sie machte jetzt wirklich ganz den Eindruck einer Schwerkranken.

»Doktor Asmus ist da, um nach Dir zu sehen!« sagte Monika, die auf der Schwelle erschien. »Willst Du, daß ich ihn sogleich hereinführe?«

»Ja! – und ich bitte Dich, laß mich mit ihm allein! Ich möchte etwas mit ihm besprechen, wobei mich selbst Deine Gegenwart genieren würde.«

Wenn dies Verlangen Monika befremdete, so ließ sie in ihrem Benehmen doch nichts davon merken. Sie winkte den Doktor herein und zog sich leise zurück. Der junge Arzt aber hatte Mühe, seine Bestürzung zu verbergen, als er Edithas ansichtig geworden war.

»Wie geht es Ihnen, Fräulein von Hasselrode?« fragte er mit nur schlecht maskierter Besorgnis. »Verursacht Ihnen Ihre Wunde starke Schmerzen? – Oder haben sich etwa inzwischen noch andere lästige Erscheinungen eingestellt?«

»Nein!« erklärte sie mit einem energischen Kopfschütteln. »Ich bin überzeugt, daß die kleine Schramme nichts auf sich hat, und ich fühle mich schon wieder fast ganz Wohl. Aber ich habe trotzdem mit Sehnsucht auf Ihr Kommen gewartet; denn ich habe eine Frage an Sie zu richten, auf die Sie mir als Mann von Ehre offen und rückhaltlos Antwort geben müssen. Wollen Sie mir versprechen, das zu thun?«

»So weit es in meinen Kräften steht und nicht im Widerspruch ist mit meinen Pflichten – gewiß! – Aber wenn es sich, wie ich fast vermute, um Dinge handelt, die aufregend auf Sie wirken könnten –«

»Oh, nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Nerven! – sie sind widerstandsfähig genug, um selbst einen starken Ansturm auszuhalten, und gerade die Gewißheit, die ich von Ihnen zu haben wünsche, soll mir überdies meine verlorene Ruhe wiedergeben. – Sie waren mit meinem – mit Herrn Hugo Neukamp während seiner Studienzeit befreundet und Sie waren als sein Freund gewiß auch in seine intimsten Angelegenheiten eingeweiht – nicht wahr? – Sie wußten, was er trieb und mit wem er verkehrte – es ist ja selbstverständlich, daß zwei Kommilitonen, die derselben Verbindung angehören, dergleichen nicht vor einander verbergen können.«

»Allerdings! – Ich kann diese Fragen in ihrer Allgemeinheit nicht ohne weiteres verneinen – aber ich weiß nicht –«

»Und Sie entzweiten sich dann mit ihm,« fuhr Editha, ohne ihn ausreden zu lassen, hastig fort. »Sie kündigten ihm Ihre Freundschaft auf, weil Sie die Gewißheit erlangten, daß er eine erbärmliche, eine ehrlose Handlung begangen hatte! – Verhält es sich nicht so? – Können Sie mir mit Ihrem Ehrenwort erklären, daß es sich nicht so verhält?«

»Ich mußte es, so weit ich mich erinnere, schon einmal ablehnen, Ihnen über die Ursachen meines Zwistes mit Ihrem Verlobten Auskunft zu geben, Fräulein von Hasselrode! Sie sollten mich nicht in die unangenehme Notwendigkeit versetzen, diese Ablehnung heute zu wiederholen.«

»Wenn Sie eines Menschen Leben retten könnten um den Preis einer geringfügigen Verletzung jener Gebote, welche Zartsinn und meinetwegen auch Ehrgefühl Ihnen vorschreiben – würden Sie dann auch nur eine Minute lang zögern, dem großen Zweck dies kleine Opfer zu bringen?«

»Wohl kaum, – wenn es sich wirklich um ein Menschenleben handelte; aber hier –«

»Hier ist es das Glück und die ganze Zukunft eines solchen Daseins, um welche es sich handelt,« fiel sie ihm in die Rede. »Ist das nicht im Grunde ganz dasselbe? – Ich habe Sie beleidigt und verletzt – oh, versuchen Sie nicht, es in Abrede zu stellen – ich selbst kenne mein Verschulden gut genug, um mich durch keine großmütige Versicherung des Gegenteils täuschen zu lassen – ich habe also nicht um Sie verdient, daß Sie meinetwegen auch nur die kleinste That der Selbstüberwindung vollbringen. Aber ich habe eine zu hohe Meinung von Ihrer Ritterlichkeit, als daß ich zu fürchten vermöchte. Sie könnten mich mit heimlicher Genugthuung einem selbstverschuldeten Elend entgegen gehen – einer selbstverschuldeten Schmach erliegen sehen! – Was Sie für den Letzten und Armseligsten unter Ihren Bekannten thun würden, das werden Sie auch für mich thun, nicht wahr, wie tiefgewurzelt auch Ihr Groll gegen mich sein mag.«

»Ich wäre selbstverständlich mit Freuden bereit, Ihnen jedes Opfer zu bringen; aber ich verstehe wirklich nicht, was es zu Ihrem Glücke beitragen könnte, wenn ich einwilligen wollte, Ihnen jene alten, von mir selber fast schon vergessenen Geschichten zu erzählen.«

»Oh nein, Doktor Asmus, Sie haben sie noch nicht vergessen. Jedes Wort, das Sie zu Hugo Neukamp gesprochen, jeder Blick, den Sie auf ihn gerichtet haben, ist ein Beweis dafür, daß Sie sich ihrer noch unablässig erinnern. Aber wenn es Ihnen denn so sehr widerstrebt, eine Geschichte zu erzählen, so will ich Ihnen diese Aufgabe ersparen und will nichts weiter von Ihnen verlangen als ein einfaches Ja oder Nein! Aber ein Ja oder Nein auf Ihre Ehre, Doktor Asmus! – Es wäre die unverzeihlichste Handlung Ihres Lebens, wenn Sie es jetzt übers Herz brächten, mich zu belügen! – Ist es wahr, daß Hugo Neukamp damals Beziehungen zu einem Mädchen namens Helene Mehnert unterhielt? – Ist es wahr, daß er sich ihr unter einem falschen Namen genähert hatte, und daß die Unglückliche freiwillig den Tod suchte, als sie erfuhr, wie schimpflich er sie betrogen? – Geschah es um dieser Sache willen, daß Sie das Band zerschnitten, welches Sie mit Ihrem ehemaligen Freunde verknüpfte?«

Der junge Arzt hatte während ihrer lebhaften Beschwörungen schweigend vor sich niedergeblickt, und auch jetzt noch schien er unentschlossen, was er ihr antworten solle. Es gab, als sie geendet, eine kleine, drückende Stille; dann aber richtete Doktor Asmus sich plötzlich auf und sagte:

»Ja, es verhält sich so, wie Sie vermuten. Ich würde Ihnen aus eigenem Antrieb niemals von diesen Dingen gesprochen haben; aber ich fühle mich auch nicht berechtigt. Sie zu belügen. An dem nämlichen Tage, an welchem ich aus Hugo Neukamps eigenem Munde von seinem »pikanten« Abenteuer mit der hübschen Bonne und von dem unerwartet tragischen Abschluß desselben Kenntnis erhielt, wurde unsere Freundschaft für immer begraben. – Aber Sie fühlen sich schwach, Fräulein Editha, Sie versuchen mich über Ihren Zustand zu täuschen – ich sehe ja, daß Sie nahe daran sind, ohnmächtig zu werden.«

Wirklich hatte es für einen Moment ganz diesen Anschein gehabt; aber mit dem Aufgebot ihrer starken Willenskraft überwand Editha die bedrohliche Anwandlung von Unwohlsein und Schwäche. Es war wenigstens eine halbe Wahrheit, als sie sagte:

»Nein, es ist schon wieder vorüber – und ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie wenigstens jetzt aufrichtig gegen mich waren. Vielleicht hätte mir und anderen mancher Kummer erspart werden können, wenn Sie es schon damals gewesen wären, als ich Sie zuerst nach den Ursachen Ihres Zerwürfnisses mit Hugo Neukamp fragte. Doch an dem Geschehenen ist nun ja nichts mehr zu ändern. – Sagen Sie mir nur noch das Eine, Herr Doktor: glauben Sie, daß es Ihnen jemals gelingen werde, mir zu verzeihen und etwas freundlicher von mir zu denken?«

»Es giebt nichts, daß ich Ihnen zu verzeihen hätte, Fräulein von Hasselrode,« antwortete er ernst und zurückhaltend. »Sie waren die freie Herrin Ihres Willens und jedenfalls nicht verantwortlich für meine thörichten Einbildungen. Auch sind alle diese Dinge ja nun für immer abgethan und begraben. Seien Sie versichert, daß Ihnen niemand aufrichtiger alles erdenkliche Glück wünschen kann als ich.«

Trotz der Freundlichkeit dieser Erwiderung mußte Editha durch dieselbe wohl viel eher enttäuscht und schmerzlich berührt als ermutigt worden sein; denn ihr blasses Gesicht nahm einen sehr trüben Ausdruck an, und während ein tiefer Seufzer ihren Busen hob, schloß, sie die Augen, als ob sie dem Arzt die Thränen verbergen wollte, die sie nicht mehr zurückzuhalten vermochte.

Doktor Asmus betrachtete sie mit einem ernsten, sorgenvollen Blick. Er bat um die Erlaubnis, ihre Wunde zu sehen und zählte die matten, hastigen, unregelmäßigen Pulsschläge ihres Blutes. Der Schatten auf seinem Antlitz wurde dabei immer augenfälliger und tiefer.

»Sie sind kränker, Fräulein Editha, als es durch die an und für sich nur geringfügige Verletzung erklärt werden könnte,« sagte er eindringlich, »und Sie sollten mir kein Symptom Ihres Leidens zu verheimlichen suchen. Ist es nur die Erregung, welche Sie in diesen fiebrischen Zustand versetzt hat, so sollten Sie wenigstens alles daran setzen, sie zu bezwingen und auf andere Gedanken zu kommen.«

»Ich will es versuchen, Doktor Asmus,« versetzte sie mit einem matten Lächeln. »Und Sie dürfen hinsichtlich meines Zustandes ganz ruhig sein. Ich fühle ein wenig Kopfschmerz, nichts weiter – und wenn Sie mir jetzt ein Schlafpulver geben wollen, so werde ich gewiß frisch und gesund erwachen. Nur lassen Sie die Dosis, bitte, nicht zu schwach sein! Ich sehne mich so sehr danach, zu schlafen – so sehr!«

Sie wandte den schönen Kopf zur Seite mit einer Bewegung, die wirklich tiefste Müdigkeit bekundete. Doktor Asmus zog sein Taschenbuch und schrieb ein Rezept; dann sah er sie noch einmal lange und aufmerksam an, lauschte auf ihre Atemzüge und ging ohne ein Wort des Abschieds zur Thür.

Draußen fand er den Obersten, der sich eben hatte zu seiner Tochter begeben wollen.

»Ah, es ist hübsch von Ihnen, daß Sie schon so früh da sind, Herr Doktor,« sagte er, ohne den sorgenvollen Ausdruck in den Mienen des jungen Arztes sogleich wahrzunehmen. »Ich hörte beim Erwachen von Monika, daß alles gut stände, und da machte ich mich denn auf, um zu meinem Schwiegersohne hinaus zu gehen. Ich wollte doch sehen, wie es draußen in der Fabrik stände und ob er in der Nacht unbehelligt nach Hause gelangt sei. – Außerdem – Sie waren ja zugegen und ich brauche es darum vor Ihnen nicht zu verheimlichen – war ich wohl in meiner ersten Aufregung etwas unfreundlich und ungerecht gegen ihn gewesen. Es ist immer besser, wenn solche kleinen Mißverständnisse so rasch als möglich wieder aus der Welt geschafft werden, und so wollte ich denn nicht erst warten, bis er selber seinen Besuch machen würde. Wie es scheint, ist draußen ja jetzt alles ruhig. Die Leute aus der Fabrik, deren ich ansichtig wurde, sahen durchweg sehr gedrückt aus und schienen ihre nächtlichen Ausschreitungen nicht wenig zu bereuen. Ich bin sicher, daß eine Wiederholung der gestrigen Krawalle von ihnen nicht zu befürchten ist; aber ich kann es nach den Erfahrungen dieser Nacht meinem Schwiegersöhne trotzdem nicht verargen, wenn er sich auch der bloßen Möglichkeit einer solchen Wiederholung nicht erst aussetzen will. Er hat heute morgen schon lange Konferenzen mit dem Bürgermeister und anderen maßgebenden Persönlichkeiten unseres Städtchens gehabt, und man ist dahin übereingekommen, für den Abend und die Nacht militärischen Schutz aus der nächsten Garnison zu erbitten. Da ein ausführlicher Bericht über die letzten Ereignisse beigefügt werden muß, steckt der arme Neukamp bis über beide Ohren in anstrengender Arbeit und er war gewiß herzlich froh, durch die guten Nachrichten, welche ich ihm bringen konnte, der Notwendigkeit einer sofortigen persönlichen Erkundigung nach Edithas Befinden überhoben zu werden. – Und ich war doch berechtigt, ihm Gutes zu melden – nicht wahr?« fügte er mit einem Anflug erwachender Besorgnis hinzu, als er jetzt aufmerksamer in des Doktors Antlitz sah. »Es ist doch nicht etwa eine Verschlimmerung in dem Zustande meiner Tochter eingetreten?«

»Ich möchte Sie nicht ohne Not beunruhigen, Herr Oberst,« erwiderte der Gefragte, »aber ich darf Ihnen doch auch nicht verhehlen, daß ich mit Fräulein Edithas Befinden keineswegs zufrieden bin. Die Wunde zwar ist ganz unbedeutend und ihre Heilung wird voraussichtlich einen durchaus normalen Verlauf nehmen, – das gesamte Nervensystem aber scheint in hohem Grade alteriert, und es sind gewisse Anzeichen da, die mich fast den Ausbruch einer schweren, fieberhaften Krankheit befürchten lassen. Für den Augenblick freilich vermag ich weder etwas ganz Bestimmtes zu sagen, noch irgend etwas zu thun. Ich werde nach Verlauf einiger Stunden wieder kommen und ich lege Ihnen ans Herz, der Kranken bis dahin möglichst absolute Ruhe zu gönnen. Lassen Sie niemanden zu ihr, den sie nicht ausdrücklich zu sehen wünscht, und schließen Sie davon, wenn es so ihr Wille ist, auch diejenigen nicht aus, welche sonst wohl ein Recht darauf hätten, sie zu sehen. Es könnten unter Umständen doch sehr ernste Dinge sein, welche hier in Frage stehen.«

Der Oberst, der bereits jede Gefahr als beseitigt angesehen hatte, wurde durch diese unerwarteten Mitteilungen natürlich gewaltig erschreckt. Er hatte noch eine Unzahl von Fragen und beschwor den Doktor mit den beweglichsten Worten, doch um Gotteswillen ja recht bald wiederzukommen. Noch in der Thür versicherte er ihm, daß alle seine Anordnungen befolgt werden sollten, wie wenn es unverbrüchliche Gesetze seien, und dann, als Asmus sich entfernt hatte, eilte er, seine Tochter Monika aufzusuchen, an die er sich noch immer in jeder Not und Verlegenheit zuerst gewendet hatte und deren sanfte, gleichmäßige Ruhe im Verein mit ihrer immer opferbereiten Hingabe gerade in solchen Tagen für ihn schon oft von unschätzbarem Werte gewesen war.


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