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Dreizehntes Kapitel.
Die bremer Firma.

Man schrieb 1787 nach Christi Geburt. Es waren in Heustedt mit unsern Bekannten mancherlei Veränderungen vorgegangen. Wildhausen hatte das Gestüt Kirnberg-Heustedt eingerichtet und zum Nutzen und Frommen der Hoyaer eine ad mandatum regis erlassene Verordnung erwirkt, wonach ausschließlich Hengste aus diesem Gestüte fortan hoyaische Stuten beglücken sollten. Die Summen, die er für das eigene Gestüt erhalten, reichten hin, die Schulden, welche auf die Güter der Gräfin in den letzten Jahren gemacht waren, zu tilgen, nicht aber die Verschuldung der eigenen Güter zu heben. Als er im Jahre zuvor gestorben war, sahen sich die Vormünder der Comtessen Olga und Heloise, die Mutter dieser und der Geheimrath Graf Schlottheim veranlaßt, seine Allodialerbschaft auszuschlagen. Die Lehnsgüter fielen der Krone anheim, da aber schon Expectanzen darauf ertheilt waren, kamen sie in die Hände einer der herrschenden Adelsfamilien, die durch erkannten Concurs seit funfzehn Jahren ruinirt war, jetzt aber wieder aufblühte, während ein Concursverfahren über den Allodialnachlaß des Grafen Wildhausen entstand.

Concurse über Lehns- und Allodialgüter mit großem Grundbesitz versehener Adelicher waren bei der großen Verschwendung, der man sich hingab, an der Tagesordnung.

Claasing war wohlbestallter Obergestütmeister in Kirnberg. Sein Verhältniß zu Melusine hatte schon seit längerer Zeit gänzlich aufgehört, da diese die Veränderung liebte und jüngere Nebenbuhler von der Garde oder aus dem Marstalle ihn verdrängt hatten. Von Dänemark bezog er nach wie vor seine Einkünfte, aber er hatte dem Spiele entsagt, dem Hazardspiel wenigstens, und sogar angefangen, sparsam zu werden und Geld zurückzulegen. Er hatte Achtung vor dem Werthe des Geldes bekommen. Mit Reitpferden, Equipagen auf das glänzendste versorgt, auf königliche Rechnung natürlich, pflegte er beinahe jeden Abend in Heustedt zuzubringen, und nichts war natürlicher, als daß er, der das Leben des Cavaliers in den größten Hauptstädten Europas und am Hofe von Kopenhagen, der Göhrde, Celle durchgekostet, bald die erste Rolle unter den Kleinstädtern spielte, Amtmann und Beamte, Landrath und den Baron von Bardenfleth verdunkelte. Er war in Abwesenheit der Gräfin die alleinige Sonne, die für die Gesellschaft der kleinen Stadt schien, und selbst die Baronin von Bardenfleth nahm Claasing, den vierzigjährigen noch immer schönen Mann, mit Vergnügen in die Zahl ihrer Courmacher auf.

Die Oberhauptmännin von Schlump war mit dem Kinde Adele nach Hannover gezogen. Es wollte ihr weder glücken, einen Mann für das Kind zu finden, das freilich noch immer in den Zwanzigen zu sein behauptete, wie es nicht gelingen wollte, einen Klosterplatz in einem adelichen Stift für dasselbe zu erhalten, da die sechzehn Ahnen fehlten.

Der Forstschreiber Haus hatte das Zeitliche gesegnet, er war eines Tages todt im Bette gefunden worden. Ein Schlagfluß machte seinem Leben ein Ende. Die Witwe erhielt eine spärliche Pension; aber ihr Stiefbruder, ein reicher Kaufherr in Bremen, verpflichtete sich, ihr gegenüber für Karl zu sorgen, ihn auf der Domschule wie auf der Universität zu unterstützen. Das war alles, was sie verlangte, für sich selbst brauchte sie sehr wenig, sie lebte allein dem Sohne.

An Haus' Stelle war Oskar Baumgarten durch die Protection der Gräfin wohlbestallter Forstschreiber mit erhöhtem Gehalte geworden. Herr von Teufel hatte sich pensioniren lassen und einen tüchtigen Forstbeamten zum Nachfolger erhalten, dem die Nachlässigkeiten seines Vorgängers viel Arbeit machten.

Georg und Marie Schulz lebten ein glückliches Leben in bescheidener Einfachheit und Zurückgezogenheit, sie lebten glücklich in dem Gedanken, daß es ihren Kindern besser ergehen würde auf Erden, als es ihnen ergangen war. Zwei Töchter wuchsen ihnen heran, von denen die eine schöner war als die andere. Klara, die älteste, jetzt erst sechzehn Jahre, war vollkommen ausgewachsen und zeichnete sich durch musikalisches Talent und eine wundervolle Stimme aus, schade nur, daß es an einem tüchtigen Lehrer zu ihrer Ausbildung fehlte; Marianne, vierzehn Jahre alt, war ganz das Ebenbild der schönen Mainzerin in ihren jungen Jahren; der jüngste Sohn Otto war früh gestorben.

Die einzige Sorge machte Friedrich. Er hatte seine fünfjährige Lehrzeit als Schlosserlehrling in der größten Werkstatt Hannovers nicht ausgehalten, sondern den Aeltern geschrieben, er könne da nichts mehr lernen, er wolle die Welt sehen. Deshalb ließ er sich denn bei einem Regiment Dragoner als Hufschmied annehmen, von dem es hieß, es solle nach Ostindien, um Hyder-Ali zu bekämpfen. Im Streit gegen Nordamerika kaufte Georg III. Hessen und andere Unterthanen deutscher Kleinfürsten, Hannoveraner nahm er nur in Sold, er brauchte da kein Kaufgeld sich selbst zu zahlen, um sie in Ostindien, Minorca, Gibraltar für England kämpfen zu lassen. Zum Troste der Aeltern ging das Regiment, in welchem Friedrich diente, nicht nach Ostindien, sondern nach Flandern.

Hans Dummeier betraf das Unglück, daß das zweite Töchterchen, das ihm Anne Marie geboren hatte, nur ein halbes Jahr alt wurde. Trotz aller Pflege unterlag es den damals noch heftig grassirenden Blattern.

Moses Hirsch aber erhielt die Erlaubniß, den Bauplatz von Lenchen's Hause anzukaufen, er riß das Schulz'sche Haus nieder und errichtete an der Stelle beider Häuser einen wahren Prachtbau, das schönste Haus an der Langenstraße damals. Zwei Zimmer der Mitteletage und Stallung waren an Claasing vermiethet, »aus purer Freindschaft« natürlich.

Im Schlosse zu Heustedt waren Olga und Anna längst in aller Stille confirmirt und zu Damen herangewachsen, die trotz des abgeschlossenen Lebens, das sie führen mußten, ganz die Tournure der großen Welt hatten. Die Gräfin hielt streng das Gebot aufrecht, daß Tante Hulda sowol als ihre Tochter und deren Gespielin jeder Geselligkeit in Heustedt und allen Beziehungen zu Personen im Orte fern bleiben sollten. Claasing war im Schlosse zugelassen, er mußte den jungen Damen Unterricht im Reiten ertheilen.

Anna's Phantasie war durch die Erzählungen der Tante Hulda von ihrer Jugend in Versailles und die Berichte der Gouvernante von dem Leben in Paris, auch einige leichte Lektüre, welche die Französin eigenthümlich besaß, entflammt, ihr hübsches leichtfertiges Köpfchen war mit tausend ritterlichen Gestalten erfüllt, von denen sie gar zu gern einige ins Leben und ganz speciell in das ihrige hätte treten sehen, sie sehnte sich nach Abenteuern und hätte, wer weiß was, darum gegeben, wären die Grenzen ihres täglichen Verkehrs nicht gar so eng und streng gezogen worden. Die Reitstunde war noch das Einzige, was ihr Vergnügen machte. Während Olga zu der bestimmten Stunde ungern und nur um den Befehlen der Mutter zu genügen, von ihren englischen Schriftstellern sich losriß, in deren tieferes Verständniß Eleonore sie bereits eingeweiht hatte, konnte Anna, die im Reitkleide und dem koketten Federhütchen sich allerliebst fand, kaum die Zeit erwarten, bis auch Olga die nöthige Toilette machte. Oft fand Olga die Milchschwester schon ungeduldig mit der Reitgerte um sich schlagend auf dem Platze vor dem Marstalle, den man zur Reitbahn zugerichtet, indem man die Steinplatten für Fußgänger entfernt und Kies aufgefahren hatte, auf- und abgehen oder sogar schon hoch zu Roß liebliche Blicke und Worte mit Claasing wechselnd, der dagegen keineswegs unempfindlich schien. Es war ganz natürlich, daß Claasing mehr Interesse an der muntern, gelehrigen, kühnen und gewandten Schülerin fand, die ihn an die schöne Zeit zurückerinnerte, da er der Königin Mathilde noch Unterricht ertheilte, als an ihrer ernsten Gefährtin, welche ihr eigenthümlich würdevolles Wesen auf alles übertrug, was sie that.

Anna trat durch Claasing zum ersten mal mit der Männerwelt in Verkehr, denn die Knaben – pah! wie sah sie auf die herab – waren nur Knaben. Ihre leichterregte Phantasie stattete den Lehrer mit all den schönen Eigenschaften aus, welche die Helden der heimlich genossenen Romane so verführerisch und begehrenswerth machten.

Ihr Bild, das pfirsichsammtene mit dem neckischen Grübchen, den immer lustigen Augen, dem kindlichen Uebermuth, schwebte um dieselbe Zeit, da Anna's Phantasie Claasing zu ihrem Helden ausschmückte, vor der Seele des treuen unschuldigen Heinrich, der mit Karl Haus in Verden ein gemeinsames Zimmer bewohnte und die Domschule nun schon vier Jahre besucht hatte. Jahre voll Fleiß waren das gewesen. Beide waren aber auch Lieblingsschüler des Rectors, Johann Christoph Meier, eines derben originellen Mannes und guten Heiden. Sie hatten viel gelernt, aber ihr ganzes Trachten und Hoffen ging dahin, mehr zu lernen. Ihr Wissensdrang war mächtig und die Zeit eine gärende, danach angethan, nach allen Seiten anzuregen. Meier war kein Pedant, der von weiter nichts als von den Classikern wußte und wissen wollte; er, der in seiner Jugend ein begeisterter Anhänger Basedow's gewesen, schwärmte noch für eine Neugeburt der Menschheit durch Erziehung und Schule, er kannte jede neue Erscheinung der Literatur und interpretirte in der deutschen Stunde in Prima Lessing so gut wie Aeschylus und Sophokles. Meier war auch ein gründlicher Kenner der französischen und englischen Sprache, und obgleich letztere nicht zu den Gegenständen gehörte, in welchen öffentlich Unterricht ertheilt wurde, hatte er sich zu Privatstunden um so lieber bereit finden lassen, als die Stubengenossen von der Engländerin her schon eine gute Vorbereitung mitbrachten. Karl wendete den größten Fleiß an, es zu einem gründlichen Verständniß der englischen Sprache und Dichter zu bringen, Heinrich wollte bei Spaziergängen und in Freistunden zu Hause dagegen nur französisch conversiren. Warum? In Heustedt lebte eine junge blasse Schönheit, die das Englische zu ihrer Lieblingslektüre gemacht hatte, und sie lebte in dem Herzen Karl's, und Heinrich dachte nur daran, wie ihn Anna das letzte mal, als er in den Ferien zu Hause war, geneckt hatte, daß er noch immer französisch nicht so plappern konnte, als es ihr selbst vom Munde floß.

Der Schwarzhaarige setzte all sein Thun, sein ganzes Dichten und Trachten mit dem Bilde Olga's in Verbindung. Er fragte sich nicht, ist das, was du thust, gut, sondern er fragte, was würde Olga dazu sagen, daß du das thust?

Alles, wovon er voraussetzen durfte, daß es Olga lieb sein würde, wurde ihm leicht, machte ihm Vergnügen. Er hegte keinen Gedanken an eine künftige Lebensvereinigung mit der Geliebten, wie hätte er, der Arme, der von der Gnade eines Onkels existirte, an eine reiche Gräfin denken dürfen? Armuth zeugt Demuth bei gutgearteten, Bosheit und Neid bei schlechtgearteten Menschen; den Gedanken auch nur an Gegenliebe hatte Karl nie gehegt, wenn er aber überhaupt an Olga dachte, hörte das Denken bald auf, Gefühl und Phantasie behielten die Oberhand, in der das Bild einer verklärten Olga, schöner noch, als sie in Wirklichkeit war, die ganze Jünglingsseele füllte.

Anders der blonde Heinrich, er hatte sich ein Leben an der Seite Anna's als Frau Pfarrerin in einem schönen Dorfe ausgemalt, nach Voß'scher Idyllenart. Daß das neckische, vor Uebermuth sprudelnde Wesen nicht zur Pastorin passe, kam ihm nicht in den Sinn. Die Freunde hatten sich nun zu Vertrauten ihrer Liebe gemacht. Sie corrigirten und kritisirten gegenseitig die unzähligen Sonette und Oden, in welchen sie ihre Göttinnen verherrlichten. Waren sie aber in den Ferien daheim, so spielten sie, um es gerade herauszusagen, die stummen dummen Jungen den Angebeteten gegenüber. Keins der unzähligen Gedichte kam Olga oder Anna zu Gesicht, und welches Mädchen sähe sich nicht gern besungen und vergäße nicht über den Dichter den Schüler?

Die Beziehungen der Gräfin Melusine zu der Gesellschaft in Heustedt waren dieselben; auch die jungen Damen blieben dieser fern; nur auf Spazierritten mit Claasing, meist nach Kirnberg, wurde die Schönheit derselben von den paar Husarenoffizieren, die in Heustedt Quartier hatten, den einzigen jungen Leuten, nach denen Anna etwa das Köpfchen drehte, bewundert. Zu den steifen Diners der Mutter kamen nur ältere Leute, und diese traten den jungen Mädchen aus Ehrerbietung und Furcht vor der Mutter auch nie näher. Anknüpfungen, welche die Baronin Bardenfleth gesucht, die von gemeinsamen Spazierritten gesprochen, waren mit großer Kälte abgelehnt. Die Französin, welche es einmal gewagt hatte, der Gräfin gegenüber das Wort Ball auszusprechen, bekam eine Strafrede, daß sie der Gräfin auswich, wo sie dieselbe nur sah.

So geschah es, daß die jungen Damen sich mehr mit Literatur beschäftigten, als es unter andern Verhältnissen der Fall gewesen wäre. Die Bibliothek des höchstseligen Grafen von Alvensleben, die sich vor denselben erschlossen hatte, bot in dieser Beziehung das reichste Material, was englische wie französische Classiker anbetraf, die in verschiedenen Ausgaben in reichen Lederbänden mit Goldschnitten vorhanden waren. Auch Memoiren, Briefwechsel, Reisebeschreibungen standen in großer Anzahl in den bestäubten Fächern, und Anna hatte eine ganze Bibliothek guter und schlechter, aber doch so decenter Romane, als man sie im vorigen Jahrhundert für die gute Gesellschaft schrieb, vorgefunden.

Deutsche Literatur gab es in der Bibliothek, abgerechnet einige gelehrte Schmöker und erbauliche Predigtsammlungen, von den Verfassern in tiefster Ehrerbietung und Unterthänigkeit der Excellenz Graf Alvensleben zu Füßen gelegt, gar nicht, weil es zur Zeit des Großvaters deutsche Dichter im Lande Hannover wenigstens noch nicht gab, und weder Graf Wildhausen noch Melusine jemals Geschmack an Literatur gehabt und etwa Lessing's, Wieland's, Klopstock's, Gleim's und andere Werke angeschafft hatten.

Erst die jungen Gymnasiasten hatten aus der Bibliothek des Rectors Meier die angebeteten Damen mit einigen deutschen Literaturerscheinungen, namentlich den ersten Dramen von Lessing und dem Lustspiel »Minna von Barnhelm« bekannt gemacht. Der Comteß Olga, die unter Anleitung der englischen Gouvernante sich dem ernsten Studium Milton's und Shakspeare's mit Eifer hingegeben und Geist und Phantasie mit den großartigen Schöpfungen beider genährt hatte, blieb freilich eine Sara Sampson unverständlich, aber Emilia Galotti war ihre Heldin und Minna von Barnhelm regte ihr patriotisches Gefühl auf; hatten doch Engländer und Hannoveraner auf seiten des Großen Fritz gekämpft.

Anna wollte von dem deutschen Zeuge nichts wissen, sie konnte höchstens Gefallen finden an der muntern übermüthigen Franziska und dem das Deutsche radebrechenden Riccaut de la Marlinière. »Wie kann ein so schönes reiches Mädchen wie Minna«, sagte sie zu Olga, »einen so steifleinenen pedantischen Helden wie Tellheim, dem seine soldatische Ehre über alles geht, ihre Liebe und Treue nur so, so nachwerfen?! Sie kann ja hundert andere, Bessere, Liebenswürdigere haben.«

Olga schüttelte den Kopf zu solchen leichtfertigen Reden, hielt sie aber nur für den Ausdruck augenblicklicher übermüthiger Laune, während sie der Ausdruck einer schon ausgeprägten Gesinnung waren.

Doch zurück zu unsern Gymnasiasten. Die lange erwarteten Michaelisferien waren gekommen. Karl und Heinrich hatten vom Rector Meier die Bescheinigung erhalten, daß sie reif zur Universität seien. Aber die Vorlesungen in Göttingen begannen erst Ende October. Ehe Karl zu seiner Mutter, Heinrich zu seinen Aeltern zurückkehrte, sollte ein großer Wunsch beider, der, eine größere Stadt zu sehen, Befriedigung finden. Eine solche Sehnsucht kennt unsere heutige Jugend nicht mehr, ein Knabe von vierzehn Jahren hat heutzutage in der Regel mehr von der Welt gesehen als damals ein Greis von achtzig Jahren. Viel Poesie, aber auch viele Illusion ist mit den Eisenbahnen und Dampfschiffen von der Erde verschwunden; Reisen war damals eine große Lust, heute ist es der Jugend obschon eine Last.

Karl's Onkel in Bremen hatte diesen eingeladen, ihn zu besuchen, ehe er die Universität bezöge, und ihm erlaubt, seinen Freund und Stubengenossen Heinrich, dessen Karl in jedem Briefe Erwähnung that, mitzubringen. Die Reise ward jetzt angetreten; sie sollten die erste größere Stadt sehen, eine Stadt, wenn nicht an der See, doch mit seestädtischem Verkehr. Früh am Morgen, ehe noch die Sonne aufgegangen, waren die jungen Burschen wach, banden sich gegenseitig die Zöpfe auf und frisirten sich, aßen ihren Teller Warmbier, steckten die frischen Semmeln, wie sie unten im Hause aus dem Ofen ihres Hauswirths, eines Bäckers, kamen, in das Ränzel zu der wenigen Leibwäsche, und fröhlich ging es durch die Sandwüsten nach Achim hinauf, wo man sein Frühstück einnahm, zum ersten mal den Lauf der Weser längere Zeit überschaute und in nordwestlicher Ferne die Thürme von Bremen wahrnahm. Man marschirte tapfer darauf los und war gegen Mittag in der Nähe der Stadt.

Bremen hatte damals noch nicht das freundliche und heitere Aussehen wie heute, es war wie beinahe sämmtliche größere Städte noch in die mittelalterliche Form der Festungen eingezwängt, mit hohen Mauern und Wällen, Festungsgräben und Basteien umgeben. Man sah von der Stadt nur die Thürme und die verschiedenen Zwinger und Windmühlen auf den Wällen. Man trat durch den Zwinger des Osterthors in die Stadt, deren Längenstraßen von Nord nach Süd nur eine mäßige Breite hatten, während die von Ost nach West führenden Straßen, mit einziger Ausnahme der zur Großen Weserbrücke führenden Wachtstraße, meistens so eng waren, daß zwei Wagen sich nicht ausweichen konnten. Karl's Onkel wohnte in einem der dem Hochstift ursprünglich zugehörenden Häuser am Domhofe und war halb hannoverischer, halb bremischer Unterthan. Die alte erzbischöfliche Besitzung, das Stift, war nämlich mit allem Zubehör, der Domkirche, den Diensthäusern, Schulgebäuden, Gottesbuden und etwa hundertsechsundzwanzig Häusern und verschiedenen Meierleuten im Stockholmer Frieden an Hannover abgetreten worden. Dieses hatte innerhalb der Stadt, die Georg II. bei seiner Belehnung mit dem bremisch-verdenschen Herzogthume als eine freie reichsunmittelbare anerkannt hatte, einen eigenen Staat, der durch einen Oberhauptmann, welcher in der Intendantur am Domplatze (Palatium) wohnte, regiert wurde. In diesem Staate wurde Recht nach hannoverischen und schwedischen Verordnungen von der Stadt fremden Gerichten gesprochen, die Bewohner der Stiftshäuser u. s. w. beanspruchten Befreiung von bremer Steuern und Abgaben, obgleich sie die Vortheile und den Schutz der Freien Stadt genossen; diese Wohnungen bildeten Asyle, hinter denen sich versteckte, wer sich vom Stadtgerichte bedroht sah. Der Amtmann, oder wie er sonst hieß, der hier die hannoverischen Hoheitsrechte ausübte, war natürlich beständig bestrebt, die Rechte des Königs-Kurfürsten auszudehnen. Daß es unter solchen Verhältnissen täglich zu Conflicten zwischen der Intendantur und der Weisheit der bremischen Rathsversammlung kam, kann nicht wundernehmen. Ganz eigentümlich gestaltete sich aber noch das Verhältniß für solche, die, wie die Firma Junker, ein Haus bewohnten, für das an die Intendantur ein Kanon bezahlt werden mußte, während das an die Katharinenstraße grenzende zweite Hinterhaus auf rein städtischem Gebiete dem Rathe contribuirte.

Der Inhaber der Firma war bremischer Großbürger und zugleich hannoverischer Unterthan.

Johann Karl Junker, so hieß der Onkel und Pathe Karl's, war als armer Knabe von Göttingen nach Bremen gekommen und hatte sich mit unsäglicher Anstrengung und noch größerer Sparsamkeit vom Kaufmannslehrling zum Commis emporgeschwungen, von da zum Krämer und endlich zum Kaufmann und Großhändler. Zu seiner Zeit, während und nach dem Siebenjährigen Kriege, trieb Bremen noch keinen eigenen Seehandel und sehr wenig eigene Schiffahrt (nach Norwegen), es trieb nur Zwischenhandel und betrachtete die Thäler der Weser, der Werra, Fulda, Leine, Aller und der dreihundertneunundzwanzig sich in diese ergießenden kleinen Flüsse und Bäche als sein Handelsgebiet. Junker hatte dieses Gebiet als Commis zu Schiffe, zu Pferd und zu Fuß nach allen Richtungen durchstrichen, und als er eine Specialität Kaffee und später Taback auf eigene Rechnung zu verkaufen anfing, hatte er die Reise noch einmal für sich gemacht und sich an kleinen und großen Orten sichere Abnehmer gewonnen.

Als im Anfange der achtziger Jahre der Schiffsbaumeister Cassel die Fregatte Asia ausrüstete und eine Actiengesellschaft zum directen Handel mit China und Ostindien zu Stande brachte, unter Begünstigung und Mitwirkung des preußischen Staatsministers von der Horst, drang Junker schon darauf, statt mit Ostindien, mit Nordamerika anzuknüpfen. Er ward nicht gehört, das ostindische Unternehmen scheiterte und führte große Entmuthigung herbei.

Junker aber hatte durch seine klugen Abmahnungen die Gewogenheit eines Actionärs sich gewonnen, der ohne seine Einrede das Zehnfache von Actien genommen haben würde. Dadurch entspann sich ein näheres Verhältniß an, und Junker heirathete die Tochter des Kapitalisten, die ihm eine sehr ansehnliche Aussteuer, einen reichen Brautschatz und das Haus auf der Katharinenstraße zubrachte. Der Anfänger war von nun an ein Mann, der an der Börse eine Stimme hatte. Als die Unabhängigkeit der nordamerikanischen Staaten durch den Frieden von Versailles 1783 bestätigt war, bewog er seinen Schwiegervater und einige Freunde desselben, bei Herrn Cassel ein Schiff bauen zu lassen zum directen Handel mit Nordamerika. Seine Verbindungen mit den Thalländern der Weser benutzte er, um an Geldesstatt von seinen Kunden Leinwand aller Art einzutauschen und auf Credit anzukaufen, wobei er in das Gebiet der Elbe und das der Haase und Ems hinüberschritt. Er charterte das neue Schiff, nach seiner Frau Luise getauft, und führte eine wohlversicherte Ladung Leinwand nach Amerika, die er gegen Taback umsetzte. Den Kaffee bezog er von Holland. Das Unternehmen warf ein glänzendes Resultat ab, er selbst hatte die Reise nach Nordamerika gemacht, sich dort ein halbes Jahr aufgehalten, Bekanntschaften und Handelsverbindungen angeknüpft, und er war es, welcher für Bremen die Goldgrube eröffnete, die aus der directen Verbindung mit Amerika seit jener Zeit erstand.

Junker hatte seit seiner Verheirathung die Firma Johann Karl Junker und Comp. angenommen, indem er seine Frau als stillen Compagnon ansah und ihr in seinem Hauptbuche den Gewinnanteil an seinen neuen Unternehmungen nach der Summe ihres Eingebrachten gewissenhaft anschrieb. Er hatte seitdem die stehende Redensart angenommen: »Alles für die Firma, nichts über die Firma.« Diese Redensart wiederholte er täglich ein Dutzend mal nicht nur im Comptoir, sondern gegen jedermann, natürlich in Platt, denn Hochdeutsch wurde in den wenigsten Familien Bremens gesprochen.

Junker's Haus war leicht zu finden, es stand unmittelbar neben dem alten Palatio. Es war nur schmal, aber sehr hoch, hatte unten nur zwei Fenster und einen geräumigen, ebenfalls für Wagen passirbaren Eingang. Unten in vorgebauter Laube diente das Zimmer als Comptoir. Die Fenster waren mit Eisen vergittert. Zu den obern Etagen des Hauses, das aus einer großen Diele zu bestehen schien, gelangte man durch eine Freitreppe, die zu einer ganz im Innern des Hauses herumlaufenden Galerie führte. In diese mündete die Thür des in der Anslucht über dem Comptoir befindlichen Visitenzimmers und der danebenliegenden Wohn- und Fremdenzimmer. Außer Küche und Eßzimmer in den Parterreräumen und einigen dunkeln Zimmern nach der Nachbarseite war alles im Hause Lagerraum. In den obern Räumen bis zum Giebel war Leinwand vollauf gethürmt, von Packleinwand, Segeltuch und Sackleinwand bis zu dem feinsten Gespinst, welches Handarbeit hervorbringen kann, während unten im Hintergebäude die dickbäuchigen Fässer mit Taback neben schlanken Kaffeesäcken und kleinen Fässern mit sehr starkem Essig, für Südamerika bestimmt, friedlich nebeneinander lagerten. Hier war hinten ein halbes Dutzend Arbeiter beständig mit Auf- und Abladen, Herunter- und Hinaufwinden der Waaren beschäftigt, während im Comptoir neben dem Kaufherrn nur drei Comptoiristen an hohen Pulten schrieben. Ein Lehrling war im Hintergebäude beschäftigt, die ankommenden und abgehenden Fässer und Säcke zu zählen, sie wiegen zu lassen und die Zahlen anzuschreiben.

Herr Junker selbst war ein Mann nach der alten Mode, er hatte noch nie ein seidenes Kleid, noch nie ein Kleid mit Tressen getragen; war noch nie, wie andere seiner Collegen, mit Chapeaubas auf der Börse erschienen; er trug die schwarze Tracht, wie sie vor dem Siebenjährigen Kriege Mode gewesen, gleichwie seine Frau das Regentuch so lange beibehalten hatte, bis es nicht einmal mehr die Dienstmädchen und die Fischerweiber trugen. Doch geschah dies bei letzterer nicht aus löblicher Einfachheit und Sparsamkeit, sondern aus Geiz, bis zu welchem Extreme sie ihre Sparsamkeit trieb. Erst beim Kirchgange zur Taufe des Johann Karl junior war sie zu bewegen, eine Enveloppe umzunehmen, und dieser Gang erfolgte erst einige Jahre später als das hier Erzählte.

»So! so! so«, empfing Junker die beiden mit dem Ränzel in das Comptoir tretenden Jünglinge – »so so, so, das wäre also mein Pathe, der Karl Haus und sein Freund Heinrich Schulz! Brave Burschen werden, immer festhalten an dem Worte: alles für die Firma, nichts über die Firma. Immer fleißig und sparsam; habe die Firma Johann Karl Junker, auch ohne einen Groten zu besitzen, hoch gekriegt. Jeden Schwaren dreimal umwenden, ehe man ihn ausgibt, ist probat, glaubt's mir. Müßt die Firma Haus und die Firma Schulz hoch bringen, geht alles in der Welt, wenn man es nur recht anfängt. Doch werdet hungerig sein, habt einen tüchtigen Marsch gemacht. Folgt mir zu meiner Altschen.«

Er führte sie zu einem kleinen Garten, welcher den Zwischenraum zwischen Haus und Hinterhaus füllte, hier saß in einer Laube von türkischen Bohnen, die noch immer einzelne Blüten trieben, die Frau vom Hause.

»Hier mein Pathe Karl, und hier sein Freund Heinrich Schulz, haben schon einen tüchtigen Marsch gemacht! laß eine Tasse guten Kaffee kochen, das übrige wird sich am Abend finden.«

Kaffee und Semmeln, geschrotetes Brot und gelbe Butter wurden in der Laube aufgetragen, und Karl wie Heinrich zeigten einen tüchtigen Appetit. Als der Kaffee getrunken war, zeigte Junker den Gästen sein Haus, seine Waarenvorräthe, sogar seine Bücher, und wiederholte dabei zum öftern sein Lieblingswort.

Abends sieben Uhr wurde das Comptoir geschlossen. Die Comptoiristen begaben sich in das Familienzimmer zwischen dem Comptoir und der Küche; dort nahm man eine gebrannte Mehlsuppe, Butter, Brot und holländischen Käse als Abendmahl ein, auch schenkte die Hausfrau, aber nur auf Verlangen, Dünnbier aus einer dickbäuchigen Kruke.

Während des Essens brachte ein Mädchen einen Gruß von Herrn Brauer, und der Herr Schwiegersohn möge doch in die Pröhlte kommen, Herr Brauer habe einen Studenten aus Hoya zum Besuch.

»Das trifft sich ja vortrefflich«, sagte Junker, »da können die jungen Herren die zwölf Apostel anschauen und kommen dann am Abend noch rechtzeitig zu Haus, um ein neues Schauspiel ansehen zu können, das stille Begräbniß des Senators Meier.«

Man begab sich zum Rathskeller, wo man nicht in einer kleinen Koje, sondern in einem größern Cabinet, in welchem sich allabendlich eine bestimmte Gesellschaft zu einem Trunke Wein einzufinden pflegte, Platz nahm.

Herr Brauer, der Schwiegervater Junker's, liebte ein Gläschen Wein, und Junker selbst verschmähte es außer seinem Hause niemals. Herr Brauer hatte einen Vetter bei sich, einen Studiosen der Medicin, Erich Justus Bollmann aus Hoya, der mit seinem Tressenhut, seinem betreßten Kleide, der langen Weste und dem Degen an der Seite keck und von oben herab auf die eintretenden jungen Männer schaute. Nach gegenseitiger Vorstellung, nachdem man einige Gläser getrunken, sagte der junge Bollmann zu dem Vetter Brauer: »Aber Vetter, Ihr Bruder in Karlsruhe hat mir so oft den Wein des Rathskellers gerühmt, daß ich schier deshalb herübergekommen bin, mich zu überzeugen, wie es mit den zwölf Aposteln und dem Bacchuskeller beschaffen sei. Was ihr uns da vorsetzt, ist wahrer Krätzer, ich versichere Euch, mein Landwein von der Bergstraße ist mir lieber.«

»Der Junge hat Geschmack«, sagte Herr Brauer – »ist nicht umsonst drei Jahre bei meinem Bruder in Karlsruhe gewesen. Nun, weil du Rheinwein zu würdigen weißt, sollst du zwischen jungem fünfundachtziger Rüdesheimer und altem achtundfünfziger die Wahl haben, und damit der Wein nicht in den leeren Magen kommt, eine Unterlage von Austern, die dir mein Bruder nicht vorsetzen konnte.«

»Brav, alter Bursche«, erwiderte keck der Studiosus, »ich ziehe den jungen vor, mögt Ihr den alten trinken. Ihr sollt sehen, Vetter, daß ich kein Kostverächter bin.« Ein hundert Austern und mehrere Flaschen Wein mit neuen Römern wurden herbeigebracht. Die jungen Heustedter wurden eingeweiht in die Kunst, Austern zu essen. Karl mochte von seinem Vater, der eine unglaubliche Menge dieses Gethiers vertilgen konnte, die Kunst ererbt haben, mit Heinrich wollte es nicht gehen, er sah das Schneckenzeug, wie er sagte, zum ersten mal und seine Miene beim Verschlucken des ersten Thieres erregte allgemeines Gelächter. Als aber einige Gläser des feurigen Rüdesheimer getrunken waren, griff er von selbst zu.

Der Hoyaer schenkte sich fleißig ein und ermuthigte die blöden Heustedter zum Trinken; »sollt beide meine Leibfüchse in Göttingen werden, kommt, stoßt an.« Bollmann hatte den Burschenton inne, er wollte absolut ein Burschenlied singen und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, indem Herr Brauer auf die sich mehrenden ehrsamen Gäste hinwies, welche voll Verwunderung auf die jungen Genossen der Herren Brauer und Junker sahen.

Diese wurden zu einem Gespräche unter sich veranlaßt, Bollmann erzählte von seinem Aufenthalte in Karlsruhe und am Rheine, von dem Leben und Treiben auf der Georgia Augusta, Karl und Heinrich wußten nur von dem zu erzählen, was sie in Verden »tractirt«.

Noch ehe man aufbrach, hatte die Jugend aber Gefallen aneinander gefunden und Brüderschaft getrunken, und der »Heuer«, wie man in Platt aussprach, hatte versprochen, die neuen Freunde nächstens im benachbarten Heustedt zu besuchen.

Etwas weinselig verließ man den Keller, auf den Straßen war es ziemlich lebhaft und namentlich in der Nähe der Wohnung des Kaufherrn, denn der Senator Meier, dessen stille Beerdigung heute stattfinden sollte, hatte im Schlüsselkorbe gewohnt, und es drängte schon jetzt das Volk aus Stadt und Vorstädten, um dem Schauspiele zuzusehen.

Der Schwiegervater wurde mit seinem Begleiter eingeladen, bei Junker einzukehren, weil man da den Zug, der über den Domshof ging, abwarten könne. Man betrat das Visitenzimmer, das von so viel Männertritten auf einmal noch nie entheiligt worden war, und unterhielt sich von der Unsitte der Nachtbegräbnisse. »Ich erinnere mich noch recht wohl«, sagte Junker, »daß alle Begräbnisse mittags stattfanden – allein es war ein ungeheuerer Luxus eingerissen und das Zurerdebringen eines Großbürgers kostete mehrere hundert Thaler. Da verordnete ein Senator, ich glaube gar, es war der Vater des jetzt Verstorbenen, in seinem Testamente, daß er abends ganz still und ohne Pomp begraben sein wolle. Man lobte das sehr und es fand allgemeine Nachahmung. Damals verstand man aber unter Abend sieben bis acht Uhr. Es ist noch kein Menschenalter verstrichen und schon ist abermals ein viel größerer Luxus vorhanden als damals, aus Abend ist Nacht geworden, aus einem stillen Begräbniß ein möglichst geräuschvolles.«

»Seht, da wird der Dom schon erleuchtet, nun da wird eine schöne Lobrede gehalten werden, möchte wetten, daß so ein vierzig Louisdor hineingeflogen sind in das Superintendentenhaus.«

Der Zudrang wurde immer größer, der Schaulustigen immer mehr, alle Fenster am Domshofe waren, mit Ausnahme des Junker'schen Hauses, mit Frauenköpfen garnirt, selbst nebenan in der Intendantur schien Frau Oberhauptmännin Dankwerth ihre ganze weibliche Bekanntschaft zum Besuch eingeladen zu haben. Das Volk auf den Straßen fing schon zu murren an, die Sache dauerte ihm zu lange. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Zwölf Männer in langen, schwarzen Mänteln mit weißem, langflatterndem Flor auf den dreieckigen Hüten, große Stangen, an denen Laternen befestigt waren, in der Hand, gingen voran. Es folgte der Leichenwagen mit vier Pferden, in schwarzes Tuch bis zur Erde eingehüllt, schwarze Straußenfedern auf dem Kopfe. Der Sarg war reich mit Silberplatten verziert, neben ihm gingen abermals zwölf Träger mit Stocklaternen, eine ebensolche Anzahl folgte hinter dem Wagen. Dann kam die Trauermusik; hinterher Leidtragende aus allen Ständen, dann zwei Drittel aller Equipagen von Bremen, die damals nicht drei Dutzend betrugen. Neben den Leidtragenden gingen die Laternenträger, wie jeder Wagen von zwei Laternenträgern begleitet war. Vor der Thür des Doms hielt der Zug, dort stand eine Grenadierwache aufgestellt. Der Sarg wurde vom Wagen genommen und in die Kirche getragen, dahin folgten die Leidtragenden und eine große Menge des Volkes. In der Kirche ward eine erbauliche Todtenrede, d. h. eine Lobrede auf den Verstorbenen und seine gesammte Sippschaft gehalten und dieselbe zugleich, auf das splendideste und prächtigste gedruckt, vertheilt. Diese Leichenreden aus jener Zeit sind zum Theil wahre typische Kunstwerke. Nachdem die Rede beendet, ging der Zug an der andern Seite des Domshofes zurück, durch die Bischofsnadel dem Bischofsthore zu. Das Volk lärmte und folgte der Leiche bis zum Thore hinaus.

»Nun Gute Nacht«, sagte Brauer zu Tochter und Schwiegersohn, »der Vetter ist ganz still geworden, scheint müde zu sein. Morgen früh nach dem Frühstücke hole ich die jungen Herren ab, um ihnen Bremens Merkwürdigkeiten zu zeigen.«

Wir wollen Brauer und die jungen Leute auf ihrer Wanderschaft begleiten, aber nur die Dinge hervorheben, die sich jetzt gänzlich verändert haben. Der Roland vor dem Rathhause, dieses selbst und das hochgegiebelte Haus der Altermänner, der Schütting gegenüber, sind noch heute so, wie sie damals waren. Durch die Wachtstraße ging es der großen Weserbrücke zu, zu welcher der Zugang durch ein festes Thor vertheidigt werden konnte. Die Brücke war von Holz, ohne jedes Geländer. Gleich rechts an der Brücke, wo jetzt etwa das von Kapff'sche Haus steht, stand ein großer kupferner Kasten, funfzehn Fuß lang, breit, hoch und tief, davor in der Weser war ein großes Rad, so groß, wie die jungen Männer noch nie ein solches gesehen, es hatte funfzig Fuß im Durchmesser, mit sehr breiten Schaufeln, an diesem hingen Kannen, die unten in der Weser sich voll Wasser füllten, und sich oben in eine Rinne leerten, welche das Wasser in den erwähnten Kasten führte, der ziemlich hoch über der Wachtstraße auf einem Pfahlwerke stand.

»Dat ist dat Waterrad«, erläuterte Brauer, »dat ist all 1394 fundeert, und wie da schreben steit in – in –«; » in publica commoda ducit«, las Bollmann, da der Vetter nicht weiter kommen konnte. »Dat Rad ist toulezt 1710 ny upgebuet«, fuhr Brauer fort, »und gript 9 Tunnen Water, wenn et einmal rum geit. Dat Rad geit aber in einer Stunne 51 mal umher, bringt also in 24 Stunnen 10800 Tunnen à 125 Stübchen.«

»Wozu denn aber?« fragte Bollmann.

»Me düssen Water wert de gemeinen Woltgoten speiset, und uter den groten gemeinen Rören gift et vor jedes Hus Privatnebenrören, dei öhre Abstecher von den gemeinen Goten hebbet. So krigt jedes Kirchspeel und jedes Hus sin Water.«

Die große plumpe Maschine, über welche eine hohe Breterbude geschlagen war, bewegte sich langsam herum, man sah es ihr an, daß sie so ziemlich noch in der Ursprünglichkeit des 14. Jahrhunderts bestand, nur hatte sie im Laufe der Zeit eine eiserne Welle bekommen.

An der Brücke nach unten lagen damals noch zwölf Schiffsmühlen.

Am jenseitigen linken Ufer der Weser, da, wo jetzt das Armenhaus steht, auf einer durch die Kleine Weser gebildeten Insel, erhob sich das Castell, Die Braut. Dasselbe war nach Norden mit dem Bauhofe, nach Süden mit dem Werder durch Zugbrücken in Verbindung gesetzt. Das Castell wurde durch einen runden, festen Thurm gebildet, der drei Etagen enthielt und mit Wall und Graben versehen war. Die Mauern von sechzehn Fuß Dicke konnten schon eine Kanonenkugel, wie sie im Dreißigjährigen und im Siebenjährigen Kriege geschleudert wurden, aushalten. Die »Braut« war ursprünglich hundertfünfundsechzig Fuß hoch, bei einem Durchmesser von neunzig Fuß. Vor jetzt etwa funfzig Jahren, im September 1739, hatte der Blitz in das zugleich als Pulvermagazin dienende Castell geschlagen und den obern Theil zerstört, der neuern Ursprungs war. Man leitete den Namen »Braut« daher ab, weil die Stadt dem Castell wie ein huldigender Bräutigam gegenüberliege; dem war so, man hatte schon vom Walle des Castells, der allein betreten werden durfte, eine kostbare Aussicht.

Gegenüber an den Schlagten, welch reiches Leben! Eine große Anzahl Schiffe, welche die Waaren von und bis Elsfleth, Brake und der Rhede in der Gegend von Lehe brachten, bis wohin die Seeschiffe selbst herauffuhren, wurden da aus- und eingeladen, oder in oberländische Schiffe umgeladen. Der große Kran, die rothe Wuppe, die gelbe Wuppe, die bunte Wuppe und die grüne Wuppe waren in Thätigkeit, Lasten auf die Schlagt zu heben. Kähne fuhren ab und zu, und am Lande schwere Lastwagen.

Weiter hinunter unter der letzten Schlagtpforte machte sich das hochdachige neue Kornhaus bemerkbar, darunter, da, wo bisher etwa der Anlegeplatz für die Unterweserdampfschiffe war, der jetzt wegen der Eisenbahnbrücke verlegt ist, sprang die Assenburg in die Weser hervor, noch weiter nach Norden trat die Stephanikirche hervor. Dann sah man die Wichtenburg; darunter schloß die Stadt mit dem Armenhause, Waisenhause, Zuchthause ab, hinter welchem die Stephanibastei sich erhob. Von den Schlagten ab war die ganze Weserseite mit einer hohen Mauer eingefriedigt, die nur verschiedene verschlossene Pforten hatte.

Der markige Domthurm, der noch höhere der Sanct-Ansgariikirche, die Thürme von Martini, Liebenfrauen, der Stephans- und der Klosterkirche gaben der Stadt ein gar stattliches Aussehen.

Man ging dann wieder zur Altstadt und die Tiefer- und Holzpforten entlang zum Osterthorzwinger, der damals schon als Gefangenenhaus diente, besah sich auch dieses alte Castell im Innern, und kam durch eine Menge kleiner Gassen, die Lauf- und Dreckstraße, zu dem Platze, wo jetzt die neue Börse steht, damals aber der Wurstmarkt und die kleine Wilhaldikirche sich befanden.

»Nun, Jungens, ich bin müde«, sagte Herr Brauer, »ihr könnt euch jetzt erst unter die Erde, dann über dieselbe begeben. Durch diesen Kreuzgang kommt ihr zur Bleikammer; die Frau des Küsters, die euch dieselbe öffnet, hat auch die Schlüssel zum Domthurme, da könnt ihr hinaufsteigen und euch das ganze bremer Gebiet ansehen. Mich trefft ihr im Rathskeller, den mein werther Vetter schon zu finden weiß.« Wir folgen unsern jungen Freunden weder zu den Mumien des Bleikellers noch zu den Höhen des Domes, obgleich wir kaum glauben, daß von den vielen tausend Fremden, welche Bremen an den Tagen des Deutschen Bundesschießens im Juli 1865 besuchten, ein einziger den Muth hatte, die Hunderte von Stufen hinaufzusteigen; man begnügte sich, Bremen vom Plateau der Fahnenhalle zu sehen, von wo man damals nichts gesehen haben würde als Stadtgraben und Wälle und die darüber hinwegragenden Thürme.

Der Aufenthalt der jungen Burschen in Bremen dehnte sich nur ein paar Tage aus, Junker war vom Morgen bis zum Abende im Dienste der Firma, die Tante nicht sehr freundlich; sie berechnete fortwährend die Mehrausgaben, welche die Gäste verursachten, und ließ selbst die unbefangene Jugend fühlen, daß es besser sei, wenn sie den Besuch nicht zu lange ausdehnte. Der Onkel hatte Karl eine Unterstützung von 400 Thalern zugesagt und drückte ihm beim Abschiede die erste vierteljährige Rate in die Hand, mit einer Bewegung, die andeutete, daß er jedes Dankes in Gegenwart des stillen Compagnons der Firma enthoben sein möchte. Bollmann hatte sich entschlossen, die neuen Freunde gleich nach Heustedt zu begleiten, und Karl hatte seine Mutter schriftlich davon benachrichtigt, daß er einen Studiosen aus Göttingen mitbringe, der sich seiner dort annehmen werde.

Man verlebte in Heustedt einige höchst vergnügte Tage, machte täglich Ausfahrten auf der Weser, bei denen Klara und Marianne Schulz nicht fehlen durften, welche erstere durch ihre reizende Stimme Justus Erich am ersten Tage schon gefesselt hatte. Dieser gehörte nicht zu den blöden Schäfern, er hielt es mit dem Goethe'schen: »Und wer keck ist und verwegen«, ehe Goethe dieses Wort nur noch ausgesprochen. Er machte der schönen Klara in so unbefangener und dabei liebenswürdiger Weise die Cour, daß diese ihr Herz am ersten Tage verlor. Nachdem sie ihr musikalisches Talent vor ihm entfaltet, nannte er sie nur seine süße Nachtigall.

Die beiden Heustedter hatten halbe Andeutungen von ihrer Liebe, wenn man die Sache so nennen darf, gemacht, und Bollmann war begierig, den Gegenstand der Anbetung seiner Leibfüchse von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Man machte deshalb häufig Promenaden im Schloßpark, und es machte sich wol nicht ganz ohne Veranlassung Anna's, daß man sich traf. Diese hatte nämlich die Ankunft der alten Spielgenossen längst erfahren und wußte auch, daß sie einen Studiosus mitgebracht hatten. Sie redete deshalb der Comtesse am Abende vorher beständig vor, daß sie, koste es was es wolle, den Studenten sehen müsse, sie habe noch keinen Studenten gesehen, sie klagte die Spielgenossen an, daß sie den schuldigen Respect hintansetzten, indem sie noch keine Visite gemacht hätten. Das Verbot der Gräfin wegen des Umgangs mit Heustedtern beziehe sich weder auf den Lebensretter Olga's, den Stipendiaten der Gräfin, noch auf ihren ersten Lehrer, den Kindheitsgenossen der lieben Schwester.

Am andern Morgen war es Olga, welche die Milchschwester zu einem Spaziergange im öffentlichen Park aufforderte, während man bis dahin nur den reservirten Park zu solchen Gängen benutzt hatte.

So traf man denn zusammen, die angehenden Studiosen und der Brandfuchs hatten schon seit drei Morgen längere Spaziergänge im Park gemacht. Als die Herren gegrüßt hatten und vorüberzugehen im Begriffe waren, redete Anna ihren unvergeßlichen Lehrer, wie sie ihn nannte, an. Nun mußte Bollmann vorgestellt werden und begann sich keck in einigen humoristischen Floskeln zu ergehen. Die Comteß trat zu Heinrich, erkundigte sich teilnehmend nach seinem Ergehen und dem des Bruders Friedrich, man kam ins Gespräch und wandelte in den Kastanienalleen wol eine Stunde auf und ab, bis die kleine Heloise gelaufen kam, zum Lunch zu mahnen.

»Füchse«, sagte Bollmann, als die Damen geschieden waren, »euer Geschmack ist gut, aber die Trauben hängen zu hoch für euch. Laßt das Hinaufstarren, wenn ich euch rathen soll, es leben der schönen Mädchen noch viele in der Welt. Vor allem werft eure Oden und Sonette ins Feuer und denkt an weiter nichts, als mir Ehre zu machen in Göttingen. Vivat academia!«

Es war Zeit, daß Bollmann am andern Tage schied, sonst hätte er das Köpfchen der schönen Klara ganz verrückt, und das der Anna, die acht Tage von nichts als dem schönen Studenten redete, noch dazu.

 


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