Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Der Eisschlitten.

Des Forstschreibers Haus neunjähriger Karl war nach der Aussage der Baronin Bardenfleth der schönste Knabe in Heustedt, nach der Meinung seiner Mutter welche zu bescheiden war, über seine Schönheit aburtheilen zu wollen, die ja auf sie zurückfallen mußte, da der Herr Gemahl, wie wir gesehen, nichts weniger als schön war, mindestens der wildeste Knabe. In der That, wenn man dem Knaben das blauschwarze lockige Haar aus der Stirn schütteln und die dunkelschwarzen Augen auf einen Gegenstand heften sah, der ihn interessirte, so konnte man wohl begreifen, wie Karl früher der verzogene Liebling der jungen Frauen und Damen in der Oststadt war.

Gegenwärtig, 1777, war das nicht mehr in gleichem Maße der Fall, er war in die Flegeljahre getreten, wo ihm das Backenstreicheln, das Abküssen, das Confectschenken der Frau von Vogelsang, der Baronin von Bardenfleth, und wie die Schönheiten der Oststadt mehr hießen, keinen Spaß mehr machte, ja als ein seine Würde compromittirendes Attentat erschien, wo er das Anrufen der Baronin nicht hören wollte, sich ungeberdig anstellte, wenn eine Frauenhand durch seine Locken streichen wollte. Die Damen schrieben das aber seiner Freundschaft und der Unzertrennlichkeit mit zwei Knaben aus Klein-Paris zu, den Söhnen unsers Freundes Georg Schulz, von denen Heinrich ein Jahr älter, Friedrich ein Jahr jünger war als Karl. Beide Knaben gingen, wenn auch ärmlich, doch immer rein und sauber angezogen, hatten ein gutes Ansehen, der ältere war blond, mit dunkelblauen Augen, dem andern wallten kastanienbraune Locken im Nacken herab, er hatte schöne braune Augen und lange braune Augenwimpern, und wie seine Mutter ein paar Grübchen in den Wangen. Allein was konnte aus Klein-Paris Gutes kommen?

Die Damen in ihren Kaffeekränzchen hatten es längst weg, daß seit etwa zwei Jahren, wo der Karl mit den Schulzens Jungen umgehe, seine Liebenswürdigkeit abgenommen, er aus einem artigen Knaben ein unartiger geworden sei. Daß er jetzt ganz andere Interessen hatte, daß er seine Schmetterlings- und Käfersammlung, seine Eiersammlung vollständig haben mußte, daß es ihm nicht mehr zusagte, vor den Damen allerlei kleine Gedichte aus dem »Göttinger Musenalmanach«, die er auswendig wußte, namentlich das grausige »Lenore fuhr ums Morgenroth« herzubeten oder zu plappern, wie er als Knabe von fünf Jahren gethan hatte, zu einer Zeit, wo er nicht eine Zeile von dem verstand, was er hersagte. Er, der jetzt in der Rectorschule Mensa decliniren und τυπτω conjugiren mußte, und in beidem wieder seine Freunde aus Klein-Paris unterrichtete, er hatte Wichtigeres zu thun. Das begriffen die gnädigen Herrschaften, die sich um ihn bekümmerten, freilich nicht.

Wenn die eine oder andere der Damen aber Frau Forstschreiberin anging, pflegte diese zu erwidern: »Ich habe Karl's Umgang geprüft und wünsche jedermann so wohlerzogene Kinder zu haben, als die Schulzens sind. Der Umgang mit diesen Knaben ist mir lieber, als wenn Karl mit dem heimtückischen Sohne des Bürgermeisters, oder mit Kornschreibers Otto und Bardeleben's Albert umginge, die nichts wissen als Thiere zu quälen und armen Menschen Schabernack zu spielen.« Und wenn dann die Frau Amtsadvocat mit einem Aber kam, und noch andere Damen mit einem Aber, so strickte die Forstschreiberin ruhig weiter und that, als wenn sie nichts mehr höre.

Der Forstschreiber selbst war vom Landrath von Vogelsang, natürlich auf Antrieb der Frau desselben, einmal freundlich gewarnt, dem Umgange ein Ende zu machen. Er antwortete: »Mein Sohn ist nicht mit einem von vor dem Namen geboren, er hat nie auf Sinecuren und Unterstützungen zu rechnen, er muß sich selbst durchs Leben schlagen. Mag er immerhin früh anfangen, mit dem Volke zu leben, die Zeit des Volks wird auch kommen. Uebrigens ist es am besten, wenn zunächst jeder vor seiner Thür fegt.«

Die Freundschaft zwischen den Knaben war aber also entstanden. Als Karl sieben Jahre alt war, bestand der Forstschreiber darauf, daß er in die Volksschule geschickt werde, denn die Rectorschule nahm nur Knaben von acht Jahren auf. Die Volksschule war in der Weststadt, dort aber waren die Knaben in drei Parteien, je nach den Straßen, gespalten, Deichsträßler, Langensträßler und Klein-Pariser. Diese Parteien hatten ursprünglich die Bedeutung von Spielgenossenschaften, jede hatte ihren besondern Spielplatz, wie einen oder mehrere Führer. Es konnten solche Spielgenossenschaften aber nicht nebeneinander, namentlich auf dem gemeinsamen Schulplatze bestehen, ohne in Conflict miteinander zu gerathen. Zwar hielten Deichsträßler und Langensträßler in der Regel zusammen gegen die Klein-Pariser, eine gefährliche Bande, die nicht verschmähte, mit Steinen, selbst mit scharfem Geschirr, wie man alle Art von Waffen und Messern nannte, dareinzuschlagen, sie befehdeten sich aber trotzdem untereinander, besonders wenn die Führer sich nicht leiden mochten.

Alle weststädter Jungen hatten aber einen gemeinsamen Haß gegen die oststädter Jungen, weil diese ihren Stadttheil für vornehmer hielten. Es kamen auch sehr wenige oststädter zur Volksschule, weil die Beamtensöhne regelmäßig allein in der Rectorschule, die auf der Ostseite lag, unterrichtet wurden. Kam von den auf der Ostseite wohnenden Handwerkern ein Knabe in die Bürgerschule, so mußte er sich sofort einer Partei anschließen, die Schutzgenossenschaft derselben anrufen, wollte er nicht von allen verfolgt werden.

Karl Haus hatte bis dahin Umgang mit Knaben wenig oder gar nicht gehabt, weil auf der Ostseite Kornschreibers Otto und Bardeleben's Albert die Spiele und Vergnügungen anführten und Karl's Mutter von ihren Fenstern den Spielplatz, den Kirchplatz, übersah und das wahrhaft rohe Treiben der Knaben ihr Schrecken und Besorgniß einflößte. Sie hatte Karl an den Alvensleben'schen Park gewöhnt, hier lernte er Gedichte auswendig, las in seinen Märchenbüchern, war Begleiter und Spielgenosse der fünfjährigen Comtesse Olga und ihrer Milchschwester Anna. Die Pflegemutter Anne Marie führte die Kinder beinahe täglich stundenlang in den Park, sie spielten auf dem Rasen oder wurden von einem Bedienten in einem kleinen Wagen herumgefahren. Wenn Karl zugegen war, ließ er sich nicht nehmen, selbst das Pferd zu spielen und die kleinen Mädchen durch alle Gänge des Parks im Trabe herumzuführen. Dem Vater erschien diese Erziehungsart zu weibisch, er drang deshalb darauf, daß der Junge in die Volksschule geschickt würde. Er sollte früh den Kampf des Lebens kennen lernen. Der Forstschreiber wußte zu gut, daß bei der Einrichtung des Staats, wie er in Hannover ausgebildet, alles Wissen und Können nicht hinreiche, um in der Gesellschaft eine dem entsprechende Stellung einzunehmen. Mußte er selbst doch alle Arbeit thun und bezog dafür ein Gehalt von 600 Thalern, während der adeliche Ober-Forstmeister, der nichts verstand und nichts that, 3000 Thaler Gehalt hatte. Es sagte ihm eine gewisse Ahnung, daß das nicht so bleiben könnte, daß eine Zeit kommen würde, wo das Volk dieses Adelsregiment abschüttelte, das alle bürgerlichen Beamten gleichmäßig drückte und ihnen gleich verhaßt war.

Als Karl zum ersten mal die Volksschule besuchte, warteten Deichsträßler und Langensträßler ab, wem er sich anschließen würde, war er doch der Sohn einer einflußreichen Persönlichkeit, und man wagte nicht, sogleich mit Knüffen und Püffen über ihn herzufallen, um ihm eine Schutzgenossenschaft werthvoll erscheinen zu lassen.

Allein als acht Tage und länger vergingen, ohne daß Karl sich einem der Knaben angeschlossen, glaubte der Sohn des Rathsbäckers Kurt, ein großer plumper Lümmel, von Natur feig, aber geneigt, Thiere wie jüngere und schwächere Knaben zu mishandeln, daß es Zeit sei, dem oststädtischen Jungen zu zeigen, was Sitte sei. Er fiel nach beendigter Schule über Karl her, stieß ihm die Rechentafel und Katechismus unter dem Arme heraus, schlug ihm die Mütze vom Kopfe, und als Karl sich bückte, die Sachen aufzunehmen, gab er ihm einen Schlag, daß Karl zur Erde fiel. In diesem Augenblick stürzte aber ein noch kleinerer Knabe als Karl über den großen Bengel her, der sich gebückt hatte, um Karl noch ferner zu schlagen, wühlte sich in dessen Haare und zog seinen Kopf zur Erde; ein größerer sprang, als Kurt den kleinen abschütteln wollte und auf ihn losschlug, hinzu und warf den großen zu Boden. Der zuerst Angegriffene machte sich indeß auf und brauchte seine Tafel als Angriffswaffe gegen Kurt.

Die beiden Knaben, welche Karl zu Hülfe kamen, waren die beiden Schulzens, welche damals noch nicht in Klein-Paris wohnten. Sie begleiteten Karl über die Brücke bis zu seiner Wohnung und kamen ihm fortan jeden Tag bis an die Brücke entgegen, um ihn unter ihren Schutz zu nehmen.

So ward Bekanntschaft und nach wenigen Tagen Freundschaft geschlossen. Heinrich und Friedrich verließen die Spielplätze der Weststadt und zogen sich nach der Oststadt, wo sie sich immer enger an Karl anschlossen.

Der Sohn des Forstschreibers hatte das Lesen spielend erlernt, er hatte eine Menge Bücher, in denen hübsche Geschichten und Gedichte standen. Man las zusammen im »Noth- und Hülfsbüchlein«, in Schreck's »Weltgeschichte« und andern modischen Büchern.

Dagegen hatten Schulzens Knaben Schmetterlingssammlungen, Käfer- und Eiersammlungen und schenkten jenem gern die Anfänge zu solchen.

Im Sommer zog man nun in die Wiesen und Holzungen, um Schmetterlinge zu fangen, Raupen zu suchen, Hirschkäfer und Holzböcke aufzuspüren, Eier auszunehmen; im Herbst und Winter las man in Forstschreibers Mägdestube schöne Geschichten.

Die Comtesse und Anna wurden vernachlässigt, wenigstens mußte Mutter Anne Marie ihren Liebling Karl immer erst heranrufen, wenn sie ihn zum Fahren der Kleinen oder zum Spielen mit denselben haben wollte, und dann kam er nur unter der Bedingung, daß er seine neuen Freunde mitbringen dürfe.

Das Unglück des Holzdrechslers und der Umzug nach Klein-Paris störten die Knabenfreundschaft nicht, sondern verstärkten sie, selbst der Umstand, daß Karl seit Michaelis die Volksschule nicht mehr besuchte, sondern in der Rectorschule Latein und Griechisch lernte, führte zu einem innigern Zusammenhange, indem Karl seinen Freunden das, was er in der Schule lernte, wieder beizubringen suchte.

Es war ein mächtig kalter Winter, der mit Neujahr 1778 begann. Weihnachten hatte es noch geregnet, die Marschen waren unwegsam und weder zu Wagen noch zu Fuß zu passiren. Da drehte sich der Wind nach Nordost, die Weser bedeckte sich im Fahrwasser mit Treibeis. Schon in der Neujahrsnacht aber war die ganze Weser mit Treibeis dicht gedrängt und es staute sich zwischen den Eisbrechern, sich dort gletscherartig zusammendrängend. Dann kam die Weser oberhalb der Brücke zum Stehen. Unterhalb der Brücke fror das Wasser erst nach vierzehn Tagen zu, nachdem es schon stark gefallen, und bildete bis zum Paß Hengstenberg eine so herrliche Schlittschuhbahn, wie man sie in Heustedt in langen Jahren nicht erlebt. Aber die Schlittschuhe waren vergeblich hervorgesucht, die verrosteten vergeblich mit Oel eingeschmiert. Ein paar Tage Nordwest bedeckte die Felder und Weser mit fußhohem Schnee, dann drehte sich der Wind nach Nordost und nahm eine so schneidende Kälte an, daß man den zu Schule gehenden Kindern Ohren und Nasen verband. wenn man sie nicht in Pelze einhüllen konnte.

Das war kein Wetter zum Schlittschuhlaufen. Schon trat man in die letzte Woche des Februars und immer noch derselbe Wind, immer noch dieselbe Kälte. Da plötzlich drehte sich der Wind nach Süden und es trat einer jener Sommertage ein, von denen jeder Winter- und Frühlingsmonat vom Februar an einige haben soll. Man war versucht, sich ins Freie zu setzen und sich von der Sonne bescheinen zu lassen, und vor dem Rathskeller saßen in der Mittagszeit auch einige jüngere Stammgäste im Freien.

Sofort entfaltete sich unterhalb der Weserbrücke auf der Weser ein reges Leben, Hunderte von Besen wurden gerührt, um Bahn zu fegen, denn die gesammte Schuljugend war mit dem Besen in der Hand dabei, bis zum Paß Hengstenberg eine wenn auch schmale Bahn zu fegen. Näher bei der Stadt, wo die Weser am breitesten war, zwischen der Deichmühle und dem großen Schlut, hatte sich die Spekulation der Sache bemächtigt, dort wurde die ganze Breite vom Schnee gesäubert, es wurden Buden und Zelte aufgeschlagen, als wenn dort ein Jahrmarkt gehalten werden sollte. Man arbeitete bis tief in die Nacht, und der Sonntag Morgen sah Buden mit Pfefferkuchen und Hedwigs, Kröppel (berliner Pfannkuchen) und sonstigem Backwerk, Buden, in denen Schnaps geschenkt und Wurst verkauft wurde, Tische mit allerlei gewöhnlichem Gebäck, Tonnen mit Heringen, ein Tanzzelt, ein Zelt, in dem für Honoratioren Wein geschenkt wurde, aufgerichtet. In der Mitte der Weser aber nahm ein Eis- oder Schleuderschlitten einen großen durch Pfähle und Stricke abgesperrten Raum ein. Am Sonntag war es kaum Mittag geworden, als sich diese Räume mit Menschen bedeckten. In der Nachmittagskirche fehlten sogar die drei bis vier alten Mütterchen, welche dort Stammhalterinnen waren. Sie saßen auf dem Eise jede vor einem Tische, um Semmeln und Salzkuchen zu verkaufen. Die armen Confirmanden, welche in der Kirche erscheinen mußten, hatten keine andern Gedanken, als wie schön es auf dem Eise sein müsse, und wie lang, wie schrecklich lang der Gottesdienst heute dauere. Wie glücklich waren Heinrich und Friedrich Schulz, auch Forstschreibers Karl darüber, daß sie noch keinen Confirmationsunterricht genossen. Erstere hatten kaum den letzten Bissen des Mittagsbrotes im Munde, als sie auch schon davoneilten, um Karl abzuholen. Ein Uebelstand störte freilich das ersehnte Vergnügen, die beiden Schulz hatten nur Ein Paar Schlittschuhe, und auch Karl nur Ein Paar. Einer von ihnen mußte daher immer zusehen oder sich mit Glitschen die Zeit vertreiben.

Die Knaben stiegen durch die Weserstraße auf die Weser hinab, wo man zur Erleichterung des Publikums in das steile Ufer Stufen improvisirt hatte, und waren nun bei dem Eisschlitten, ihnen etwas Neues wie vielen der Anwesenden, da eine längere Reihe von Jahren darüber hingegangen war, seitdem eine ähnliche glatte Eisfläche den Fluß bedeckt hatte. Deshalb stand denn auch ein großes Publikum an den Strickbarrieren und sah zu, wie ein starker hölzerner Schlitten, der an einem vierzig bis funfzig Fuß langen Taue befestigt war, das an einem drehbaren Riegel saß, in der Peripherie durch die Drehung in der Mitte herumgeschleudert wurde. Es saß aber niemand in dem Schlitten, das Ding war zu unbekannt, oder die schnelle Bewegung zur Seite schien nicht angenehm.

Der Unternehmer, ein verarmter Zimmermann aus Klein-Paris, der sich von dem Dinge goldene Berge versprochen hatte, schrie vergebens: »Nur herein, meine Herrschaften, hier ist der weltberühmte russische Eisschlitten, steigen Sie ein, nur zwei Grote die Person, nur zwei Grote die lumpige Person.«

Es standen genug Knechte und Mägde an den Barrièren und starrten das Ding an, niemand wollte der erste sein. Da kam Karl mit seinen Freunden. Letztere kannte der Unternehmer, sie waren Nachbarn; er rief die Knaben heran und beredete sie, sich einzusetzen, es sollte ihnen nichts kosten. Diese waren schnell bereit. Die Schlittschuhe wurden von den Schultern genommen und auf die Erde gelegt. Der Kleinste wurde in die Mitte gesetzt und ihm eingeschärft, sich fest an den Bruder und Karl zu halten, wie Karl und Heinrich selbst sich festhalten mußten, wurde ihnen gezeigt, und nun setzte sich der Schlitten erst langsam, dann immer schneller und schneller in Bewegung. Die Personen an den Barrieren verschwammen für die im Schlitten Sitzenden in eine einzige Person mit verschiedenen Köpfen. Aber was that das den Knaben? Sie kannten keinen Schwindel, sie kannten keine Furcht und Angst, sie kannten auch nicht die Gefahr, in der sie schwebten, wenn sie vom Schwindel erfaßt wurden und sich nicht mehr halten konnten. Sie jauchzten laut auf vor Freude und das Publikum stimmte kräftig ein. Das Geschrei zog Hunderte neuer Zuschauer heran, selbst die vornehmen Damen, welche in die kleinen Schlitten steigen wollten, um sich von den beschlittschuhten Cavalieren nach Hengstenberg fahren zu lassen und dort Kaffee zu trinken, sahen sich das Schauspiel in möglichster Nähe an. Welche Angst stand aber die Freifrau von Vogelsang und die Baronin von Bardenfleth aus, als sie die Knaben in einer Schnelligkeit herumschleudern sahen, daß sie dieselben kaum erkannten und nur von andern hörten, daß Forstschreibers Karl dabei sei. Die Damen stellten sich die Gefahr größer vor, als sie war, die Landräthin verlangte sogar von ihrem Manne, er solle das Schleudern inhibiren. Das gehörte indeß nicht zu dessen Kompetenz.

Jetzt rief man von verschiedenen Seiten, daß man schlitten wolle, und der Unternehmer ließ den Schlitten ausschleudern, um denselben, wenn die Hauptkraft gebrochen, ganz anzuhalten.

Es setzten sich zwei Knechte in den Schlitten, während die Knaben darum losten, wer von ihnen die Schlittschuhe in der ersten, zweiten und dritten Stunde gebrauchen könnte. Der jüngste Schulz und Karl waren die Glücklichen, die zuerst nach Hengstenberg hinablaufen durften. Heinrich sah dem Eisschlitten zu. Nachdem der Anfang gemacht, fanden sich immer mehr Nachfolger, zunächst setzten sich ein paar »dralle Deeren«, wahrscheinlich um sich für den Tanz bemerklich zu machen, in den Schlitten. Sie wurden schon mit einem Hoch empfangen. Mochten nun die Männer im Centrum schneller drehen, oder mochten die Mägde sich nicht festhalten, genug, auf einmal ertönte ein Schrei aus dem Schlitten, dieser kippte und die beiden Mägde flogen mit einer rapiden Schnelligkeit auf den eigenen Körperteilen über das Eis, unter den Strickbarrieren hindurch unter die auseinanderstäubende, aber so schnell nicht Platz schaffende Menge. Mehrere Personen, unter andern der dicke Landrath von Vogelsang, wurden zur Erde gerissen.

Ein ungeheuerer Jubel erscholl ob dieses Unfalls, zum Theil veranlaßt durch das wirklich Komische der Scene und die nicht eben sehr decente Art, wie die Mägde ihren Körper als Schlittschuh benutzten; dann durch das Gewirre und das Knäuel der vor den Barrieren Umgeworfenen.

Von jetzt an war das Volk toll auf den Eisschlitten, der Unternehmer brauchte diesen nicht mehr anzupreisen, ja er konnte den Preis bald auf drei Groten für die Person erhöhen.

Von den Zuschauern war der Landrath am schlimmsten gefahren, er hatte sich durch den Fall am Elnbogen verletzt, was ihn zur Rückkehr veranlaßte. Damit war auch der Baronin Bardenfleth die Lust zur Fahrt nach Hengstenberg vergangen, sie wünschte nicht, daß ihr Mann die Landräthin hinabfahre, während der Landrath fehlte, um sie selbst verabredetermaßen zu fahren.

Während sich Publikus immer mehr nach allen Seiten auf dem Eise zerstreute, jeder seiner Sonderneigung nachging, dieser zur Branntweinbude, jener zu den Pfeffernüssen und Honigkuchen, andere zum Tanzzelt, noch andere zu verschiedenen Schurrbahnen, die Mehrzahl auf der Eisbahn hin- und herlief, Schlitten mit Damen und Kindern fahrend, bildeten die beiden mit Schlittschuhen versehenen Freunde und verschiedene Spielgenossen einen langen Zug, der wie die nach Afrika eilenden wilden Gänse, einer hinter dem andern, gleichzeitig nach rechts und links ausschwenkend, nach Hengstenberg sich in Bewegung setzte. Das Vergnügen um den Eisschlitten wurde immer ausgelassener, je mehr sich die Gemüther durch Branntwein und Jubel erhitzten. Dasselbe sollte denn auch nicht ohne Unglück abgehen, das indeß nicht durch Zufall, sondern durch die Bosheit eines Knechts veranlaßt war. Der Bäckerknecht, so nannte man damals die Bäckergesellen, des Rathsbäckermeisters war eifersüchtig, weil Färber Krischen's Magd sich mit dem Knechte des Essigbrauers in den Eisschlitten gesetzt hatte. Er warf diesem einen dicken Stock entgegen, der unglücklicherweise so zu liegen kam, daß der Schlitten ihn nicht beiseiteschleuderte, sondern auf ihn anrannte und umschlug. Ein Beinbruch des Knechts und ein Armbruch der Magd waren die Folge; der Uebelthäter aber wurde auf der Stelle von der Volksjustiz erfaßt und so durchgewalkt, daß der Rathsbäcker sich acht Tage ohne Knecht behelfen mußte. Der Bürgermeister wollte nun dem Schleuderschlitten das Handwerk legen, allein es drohte ein Volksaufstand auszubrechen, und man mußte dem Dinge seinen Lauf lassen.

Karl Haus hatte sich indeß tüchtig herumgetummelt, es war die Zeit gekommen, wo er seine Schlittschuhe zum zweiten mal an Heinrich Schulz abgeben mußte, er fühlte Hunger und eilte nach Hause, um sein Vesperbrot zu verzehren. Hier hatte ihm indeß seine Freundin und Gönnerin, die gnädige Freifrau, einen unerwarteten Empfang bereitet. Der Vater war nicht zu Hause, und die Mutter war durch die Gefahr, der sich Karl im Schleuderschlitten ausgesetzt, der ja Arm- und Beinbruch verursacht, in Angst und Schrecken gesetzt. »Da sehen Sie nun, Frau Forstschreiberin, was schlechter Umgang für Folgen hat, habe ich es nicht immer gesagt?« – hatte die Landräthin der Forstschreiberin, die sich die Sache einmal von der Brücke ansehen wollte, auf der Straße zugerufen.

Nun kam Karl nach Hause, erhitzt, athemlos, voll Eile nach seinem Butterbrote verlangend, um so schnell wie möglich wieder auf das Eis zu gehen. Aber ach, das Vesperbrot war ihm nicht nur entzogen, er erhielt den Befehl, die Kleider auszuziehen, und wurde in einsamer Kammer eingesperrt. Und welch eine Strafpredigt!

Zum ersten mal hatte die Mutter den Umgang mit Heinrich und Friedrich einen schlechten genannt, bei dem ein Sticken gesteckt werden müsse.

Die Thränen flossen reichlich, der Knabe wußte aber nicht, ob er mehr weinte, weil ihm das Vesperbrot entzogen, oder weil ihm die Rückkehr auf das Eis versagt war, oder weil ihm die Trennung von seinen Busenfreunden angedroht war.

Die beiden Genossen hatten indeß vergeblich auf die Rückkehr ihres Freundes gewartet. Als es dämmerte und die Schlittschuhläufer sich mehr und mehr vom Eise verloren, als alles, was zu den Gebildeten gehörte, sich entfernt hatte, dagegen Bauernschwärme von verschiedenen Dörfern, Knechte und Mägde, herbeigezogen waren, als die Branntweins- und andern Buden durch farbige Lampions erhellt wurden, und aus zwei Zelten Pauken und Trompeten, die einzigen Instrumente, die man aus der lärmenden Masse heraushören konnte, eine wilde Tanzmusik ankündigten, machten sich auch die beiden Knaben auf den Weg. Sie gingen vor Karl's Hause vorbei, aber die gewöhnlichen Zeigen ihrer Anwesenheit, der bekannte Pfiff, blieb unbeantwortet. Kein Fenster rührte sich, die Thür blieb zu. Man mußte nach Hause, ohne die Schlittschuhe abgeliefert zu haben.

Während die Schulz'schen Knaben sich auf dem Eise tummelten, spielte daheim im Hause eine von den freilich seltenen, aber nicht angenehmen Ehestandsscenen. Georg war leicht mismüthig, wenn er nicht arbeitete. Am Sonntag nachmittags aber zu arbeiten, war wider die Gewohnheit. Auf das Eis zu gehen schämte er sich, wie er überhaupt keinen öffentlichen Ort mehr besuchte, seitdem ihm sein Haus verkauft war. An eine Unterhaltung durch Lesen war nicht zu denken, Zeitungen gab es nicht, er hätte in der Bibel, dem Gesangbuche, dem Gebetbuche seiner Frau oder dem Katechismus lesen müssen, das waren die einzigen Bücher im Hause.

So saß denn Georg, den Kopf auf den Arm gestützt, und schaute auf den leeren Tisch, mit dem Lieblingsgedanken beschäftigt, warum es einige Menschen so gut hätten auf Erden, daß ihnen die gebratenen Tauben nur so ins Maul flögen, wie die Gräfin da drüben, der Baron Bardenfleth, der Landrath und anderes Volk in der Oststadt, Leute, die nicht wüßten, wo sie mit ihrem Gelde bleiben sollten, während andere sich plagen und schinden müßten ihr ganzes Leben lang, und kaum so viel erübrigten, um nicht Hungers zu sterben oder zu erfrieren. Die Frau ging aus und ein, um die häuslichen Geschäfte zu besorgen, die Mädchen spielten in der Stube, der Säugling lag in der Wiege.

Endlich kam sie zur Ruhe und sagte zu ihrem Manne: »Die Platten auf der Diele sind feucht, ein sicheres Zeichen, daß es bald regnet, nun ist aber unser Torfvorrath bis auf den letzten Korb zu Ende, es würde daher wol zweckmäßig sein, das erste morgen vorbeifahrende Fuder zu kaufen, denn mit nassem Torf ist schlecht kochen und noch schlechter heizen.« »Das ist recht gut gesagt«, erwiderte Georg mürrisch, »aber dann bleibt von meinem ganzen Wochenlohne kein Pfennig, und da die Kuh güste ist, müssen wir in der Woche auch Butter, Schmalz und Brot kaufen, soll ich das Geld dazu aus der Haut schneiden?«

»Haben wir keine Butter, so müssen wir eitel Brot essen, ohne Feuerung dürfen wir nicht sein«, erwiderte jene, nahm den Säugling aus der Wiege und ließ ihn vor den Augen des Vaters auf ihren Händen tanzen, um denselben aus seiner gedrückten Stimmung zu reißen. Aber Georg starrte auf den Tisch und hatte für sein Kind keine Augen.

Die Mutter legte das Kind an die Brust und sagte: »Georg, der Cantor sagte mir gestern, daß Heinrich bei ihm nichts mehr lernen könne, und daß es schade um den Jungen wäre, wenn er nicht Unterricht im Lateinischen und Griechischen bekäme. Seit Forstschreibers Karl in der Rectorschule ist, habe ich Heinrich oft schon im Kämmerlein weinend getroffen, und er hat mir gestanden, daß er sich namenlos unglücklich fühle, nicht in die Rectorschule zu kommen. Sollten sich denn keine Anstalten treffen lassen, diesen Wunsch zu erfüllen? Sieh, Georg, wenn du zum Bürgermeister und Rath gingest und um eine Freischule bätest, oder wenn ich das schöne Spinnrad, dein Meisterstück, das noch immer unverkauft ist, da niemand den theuern Preis, den du forderst, zahlen will, der Rectorin brächte, und sie bäte, bei ihrem Manne ein gutes Wort einzulegen.«

»Sieh das Weib«, fuhr Georg zornig auf, »will noch immer hoch hinaus. Stehen wir nicht tief genug im Kothe und Schlamme! haben nicht das liebe Brot im Hause, keinen Torf im Stalle, kein Schmalz im Topfe. Fleisch habe ich seit drei Wochen nicht gesehen. Aber der Junge soll in die Rectorschule, soll griechisch und lateinisch lernen. Ich soll mich erniedrigen, zu betteln, um eine Freistelle zu betteln? Mag der Junge Schuster werden oder ein verdammter schiefbeiniger Schneider!«

Der Erzürnte würde in diesem Stil noch weiter fortgetobt haben, wenn nicht in diesem Augenblicke an die Thür geklopft wäre. Es war schon dämmerig geworden, und auf das Hereinrufen trat ein schwarz-gelbes Mädchen mit dunkelm, langem, nicht eingeflochtenem Haar und funkelnden schwarzen Augen in die Stube. Das war Halbmeisters Marthe; die Halbmeisterei lag in der Nähe von Klein-Paris etwas abseits. Marthe, erst dreizehn Jahre alt, aber vollkommen ausgewachsen, hegte eine kindische Liebe zu dem blonden Heinrich und suchte sich auf jede Weise Gelegenheit zu verschaffen, sich ihm oder seinen Aeltern nützlich zu erweisen, ohne daß ihre Person dabei hervortrat; – sie fühlte, daß der Makel, der an der Beschäftigung des Vaters klebte, sie ausschloß selbst von Dienstleistungen, wie sie von jeder Theilnahme an öffentlichen Vergnügungen ausgeschlossen war.

Dieses arme Mädchen nun wollte wenigstens in der Dämmerung, wo sie selbst nicht mehr gesehen ward, aufs Eis, um dem Tanze zuzusehen. Sie war in die Langestraße eingebogen, als sie vor dem Rothen Löwen, einem Wirthshause dritten oder vierten Ranges, mehrere Männer versammelt sah, die heftig gesticulirten und laut raisonnirten. Gesprochen wurde von diesen Männern, während Marthe auf der andern Seite der Straße ging, Folgendes: »Nein, das ist unerlaubt, das ist unerhört, daß der Bürgermeister einen solchen Eisschlitten gestattet hat, und nicht einmal das Verbot aufrecht erhält, nachdem solches Unglück geschehen. Wer hat nun den Schaden davon?« sagte der Essigbrauer. »Sollte morgen mein Knecht ein Fuder Holz aus dem Brammergrunde holen, nun liegt er mir da zur Last mit gebrochenem Beine.« »Und wie leicht«, sagte ein zweiter, »hätte das Schulzen, des Drechslers, Jungen und Forstschreibers Karl nicht auch passiren können, die Schlingel sind die ersten im Eisschlitten gewesen und auch herausgeschleudert.« »Ich möchte, die hätten sich Arm und Bein gebrochen«, sagte der dritte, »dann wollten wir einmal gesehen haben.« »Ja das haben wir von der Weisheit des Bürgermeisters«, brummte der Löwenwirth, »selbst Arm- und Beinbruch!«

Marthe verstand nicht alles, was gesprochen wurde, denn als sie den Namen ihres Lieblings mit Arm- und Beinbruch zusammen nennen hörte, stand ihr in ihrer lebhaften Phantasie sofort das ganze Unglück, wie die drei Knaben aus dem Schleuderschlitten hinausgeworfen, vor Augen, daß sie zurück und ohne weiteres Besinnen in Schulz' Haus lief. Sie war noch athemlos, als Herein! gerufen wurde, und konnte nur die Worte herausbringen: »Ach, ein Unglück, Heinrich und Friedrich sind aus dem Schleuderschlitten gefallen und haben Arm und Bein gebrochen.«

So entstehen täglich Mythen, kaum eine halbe Stunde vom Orte der That, und wir sträuben uns des Glaubens an jene alte Mythenbildung?

»Da haben wir die Geschichte«, rief Georg aus, »das Ende des Hochmuths!« – Marie hörte nicht mehr auf seine Worte, sie legte das Kind in die Wiege und flog, wie sie war, auf dem nächsten Wege durch die Gartenstraße der Deichmühle zu.

Georg fing darauf an, Marthe, die noch immer ganz verblüfft in der Stubenthür stand, auszufragen, und kam bald zu der Ueberzeugung, daß sie eigentlich nichts wisse.

Die Knaben waren indeß vergnügt und pfeifend die Langestraße heraufgezogen und traten bald darauf ins Haus. »Vater«, sagte Heinrich, in die Stube tretend, »wir sind hungerig« – »Mutter«, rief Friedrich in die dunkle Küche, »wir sind erschrecklich hungerig.«

»Also hungerig seid ihr und habt im Eisschlitten gesessen, Prügel bekommt ihr statt Brotes«, und ehe die Knaben wußten, was sie eigentlich verbrochen, hatten sie ihre Schläge und wurden oben auf ihre Kammer eingesperrt.

Der Vater hatte seinen Unmuth an den Knaben ausgelassen und war nun der Alte. Er wartete auf Marie, die athemlos zurückkehrte, nachdem sie auf dem Eise die Wahrheit erfahren hatte, sagte ihr, daß er die Knaben ohne Essen ins Bett geschickt habe. Dann sah er lange gen Himmel, besah die Steine auf der Hausflur, nahm ein Paar riesige Wasserstiefel, die, um vor Schimmel geschützt zu sein, in der Kammer unter dem Balken hingen, und ging damit in die Werkstätte. »Hole mir den Thrantopf, Marie«, sagte er, »er steht in der Knabenkammer auf dem Kleiderschranke, werde diese«, er zeigte auf die Stiefel »nächstens brauchen müssen.«

Nichts kam der besorgten Mutter gelegener; während ihr Mann die Wolken betrachtete, hatte sie vor dem Brotschranke zwei tüchtige Stücke Brot abgeschnitten und dieselben unter der Schürze verborgen; jetzt machte sich die Gelegenheit, sie den Jungen zu bringen, von selbst.

Heinrich und Friedrich saßen noch unausgezogen und weinten, sie aßen auch anfangs ihr trockenes Brot mit Thränen gewürzt – aber noch war der letzte Bissen nicht verzehrt, als der jüngste laut zu lachen anfing und zu seinem Bruder sagte: »Aber es war doch gar zu komisch, als Grobschmieds Katharine über das Eis rutschte und den dicken Landrath zur Erde warf.« Glückliche Kindheit!


 << zurück weiter >>