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Zwölftes Kapitel.
Anfang neuer Dinge.

Im Monat August des Jahres 1868 las man in den deutschen Zeitungen nachstehenden Artikel:

»Der erste Zug der Central-Pacificeisenbahn über die Sierra-Nevada.

»Die Eisenbahn nach dem Stillen Ocean wird die merkwürdigste der Welt bilden. Es gibt keine andere, deren Anlage mit solchen Naturschwierigkeiten zu kämpfen gehabt hat, und keine, die so reich an den großartigsten Naturschönheiten und Contrasten ist. Vor einiger Zeit wurde gemeldet, daß die Schienen die höchste Spitze der Felsengebirge erreicht haben, jetzt liegt uns die Schilderung der ersten Fahrt eines Eisenbahnzuges über die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel der Sierra-Nevada vor, welche Californien von den weiten Ebenen des silberreichen Nevada trennt.

»Die Schwierigkeiten, welche überwunden werden mußten, um jene Gebirge zu vereinen, werden aus der Beschreibung der Fahrt selbst am besten erhellen, die wir in der › Alta-California‹ von San Francisco finden, der wir im wesentlichen folgen. Die Fahrt begann von Sacramento City am 17. Juni. Duftiger, tropischer Sommer herrschte in der Hauptstadt des Goldstaates. Oleanderbäume mit ihren glänzendrothen Blüten, Rosen von allen Farben, oft die Wohnungen halb verdeckend, riesenhafte Fuchsien, welche an den Mauern emporrankten, erfreuen überall das Auge, man glaubt sich nach Neu-Orleans versetzt mit seinen immergrünen Bäumen und den schimmernden Kelchen der Magnoliablüten.

»Der Eisenbahnzug, George Wood ist sein historischer Führer, bewegt sich über das Nicholson-Pflaster vorbei an den noch nicht vollendeten Riesenmaschinenwerkstätten der Central-Pacificbahn, das Thal des Sacramento entlang. Am östlichen Horizont heben sich die Kolosse der Sierra-Nevada ab, in blauen Duft gehüllt, gegen welchen die schneebedeckten Kuppen prächtig abstechen. Die Strahlen der Sonne werden von ihnen in den mannigfachsten Farben zurückgeworfen, die eine fernere Spitze funkelt wie ein Eisberg in allen Farben des Opals, die andere gleicht einer im feinsten Roth durchscheinenden Riesenmuschel, eine dritte blinkt glänzendweiß wie getriebenes Silber. Die Gegend am Fuße der Gebirgskette ist offen, nur wenige Bäume und Hütten sind sichtbar.

»Der Zug eilt weiter, die Bergspitzen verschwinden, die Hitze wird drückender, die erquickenden Erdbeeren, Birnen, Kirschen und andere Sommerfrüchte, welche zum Verkauf in den Waggons angeboten werden, finden zahlreiche Käufer.

»Kürzer und schärfer stöhnt das Dampfroß; man fühlt beim Zurücklehnen im Sitz, daß man aufwärts gezogen wird. Es geht steil und immer steiler hinan, vorbei an kleinen Minendörfern und Händlerposten, immer höher und höher, bis um 9 50 vormittags Colfax erreicht ist, das 54 Meilen von Sacramento, 2448 Fuß hoch im Gebirge liegt. Auf mächtigen Erdwerken bewegt sich der Zug weiter um Cap Horn herum, ängstlich blicken nervenschwache Passagiere ins Thal hinab, an dessen abschüssiger Felsenwand die Bahn hinläuft, und aus dessen Tiefen der American-River nur noch wie ein gelbes Band heraufleuchtet. Acht Meilen von Colfax überschreiten wir das Goldgräberlager von Secrettown, und blicken aus einer Höhe von 2958 Fuß in das Thal zurück. Vorwärts und aufwärts braust die Locomotive; zwischen den Gebirgen hindurch tauchen im Hintergrunde neue Gebirge auf, die heiße Luft des Thales erreicht uns nicht mehr, die Schneefelder senden uns aus den obern Gegenden ihren kühl fächelnden Gruß. Die Luft wirkt wunderbar erheiternd, unsere Stimmung steigt höher mit jeder neuen Station der Himmelfahrt.

»Siebenundsechzig Meilen von Sacramento blicken wir auf die erschöpften Minen von Dutch Flat hinaus, das uns flach genug vorkommt. Zwei Meilen weiter berühren wir Alta, dessen Dächer bereits jene steile Form der Alpenwohnungen annehmen, welche die Schneemassen des Winters notwendig machen. Die Abhänge des Gebirges zieren stattliche Tannenwälder, deren Stämme immer höher emporsteigen mit der steigenden Bahn. Wir sind 3625 Fuß über dem Meere. Der Strom fern unten im Felsenthale erscheint uns wie ein safrangelber Faden, die Wagenreihe klammert sich ans Gebirge, wie die Schwalbe an die Klippe im Meere. Schnee erscheint nicht weit über uns an den Seiten, und an der Bahn bemerken wir von Zeit zu Zeit mächtige Balkenwehren über dem Gleise zur Abwehr der Schneemassen. Hinter Shady-Run-Station treffen wir den ersten Tunnel. Er ist 500 Fuß lang und 4500 Fuß über dem Meere. Rauher wird das Gebirge, die Schneefelder nähern sich mehr und mehr dem Gleise.

»Höher und höher stürmen wir fort in das Herz des Gebirges, niedriger werden die Bäume, Cedern und Kiefern treten an die Stelle der stattlichen Tannen, wir sehen die rothe Erde des Goldgürtels unten nicht mehr. Graue Granitfelsen werden häufiger, die kleinen Gebirgsspitzen auf beiden Seiten der Bahn zeigen kahle Häupter. Oede und einsam ist ringsum die Gegend. Ein neuer Tunnel von 300 Fuß Länge wird durchschossen, Crystallake liegt hinter uns, wir halten in Cisco, einem aus Shanties bestehenden Ort, lange Zeit das Ende der Bahn, 5900 Fuß über dem Meere, und immer noch steigt die Bahn. Verschwunden sind Fichten und selbst die Kiefern. Der Weg führt durch Granitfelsen, durch welche Pulver die Oeffnung gesprengt hat. Ueberall, soweit das Auge reicht, unermeßliche Schneefelder, durch welche die Schaufel der Fahrt vorangegangen. Wir glauben uns in eine Wintergebirgsgegend Neuenglands versetzt. Die steilen Abgründe herab toben Flüsse und Bäche, kalt wie das Wasser des schmelzenden Schnees. Der Bahn entlang zeigen sich Massen chinesischer Arbeiter, welche die Strecke vor uns frei geschaufelt, oder welche sich vorbereiten, in das große Becken Nordamerikas hinabzusteigen, um dort weiter an der Riesenbahn des Continents zu schaffen, deren westliches Ende sie vollendet. Einhundertzwei Meilen von Sacramento erreichen wir Summit Valley, 6800 Fuß über dem Meere. Höher erheben sich an beiden Seiten des Gleises die Schneewälle. Zwei Meilen weiter und der große Tunnel, 1959 Fuß lang, schaut uns mit seinem Cyklopenauge an. Wir haben endlich den Gipfel des ungeheuern Alpenstocks erstiegen und können das ›Nicht darüber hinaus!‹ auf die Granitwände des Tunnels schreiben. Wir stehen 7043 Fuß über der Meeresfläche, die Luft ist kalt und feucht, jedoch nicht drückend, wie man von der verdünnten Luft in dieser Gebirgshöhe erwarten sollte. An der andern Seite des Tunnels schaufeln chinesische Arbeiter den Schnee fort, der in ganzen Schichten von den mächtigen Granitblöcken auf das Gleise gestürzt ist. Aus zahllosen Spalten des Tunnels strömt das Wasser, wir waten zu Fuß durch und erkundigen uns sehnsüchtig nach den Aussichten der Weiterfahrt. Mehrere Stunden Pause, ehe die brave Locomotive Antilope, die uns so weit gebracht, zum Einsteigen die schrille Pfeife ertönen läßt.

»Ein neuer Schneesturz hält uns auf, dann wieder vorwärts, um bald wieder zu halten und so fort. Die Schneewälle treten so dicht heran, daß die Wagen auf beiden Seiten sie streifen. Sechs Tunnel von je 100 bis 863 Fuß Länge sind zu durchfahren. Bläuliche Eismassen hängen an ihren Wänden herab, wie die Tropfsteingebilde der Mammutshöhle Kentuckys. Wir sind bereits 600 Fuß abwärts gelangt, wir tauchen aus dem letzten Tunnel auf, der Schaffner ruft, sich umsehend, aus: ›Beim Himmel, wir sind über das Gebirge, wir werden keinen Schneesturz mehr vorfinden!‹ So ist denn das Riesenwerk vollendet! Worte können das Gefühl nicht beschreiben, das uns beim Rückblicke auf die zurückgelegte Fahrt erfüllt.

»Rascher bewegt sich jetzt der Zug thalabwärts. Der Dampf ist abgeschlossen, die Bremsen sind angelassen; wie der Adler mit gefalteten Flügeln geräuschlos ins Thal fliegt, so bewegt sich der Zug aus dem Reiche der Luft das Gebirge herab in die große Niederung Nevadas. Um Abgründe zieht sich der Weg, unten im Thale erglänzt Donner-Lake zwischen den Fichtenhügeln. Nach einer Fahrt von sieben Meilen erreichen wir die Mündung des klaren Sees, ein rasch dahinstürzender Strom bläulichen kalten Wassers; noch neun und eine halbe Meile, und wir sind bereits 783 Fuß vom Gipfel der Sierra abwärts. Rascher geht es von da in das romantische Thal des Trackee, Bergströme stürzen sich aus den Gebirgen von Süden her, in denen der lieblichste See der Erde verborgen liegt, der See Trahoe. Die Waldungen sind hier von ungeheurem Umfange, sie liefern das Holz für die Bahn nach Osten zu. Der schäumende Fluß treibt eine Menge von Sägemühlen; die Hügel sind von Arbeitern aller Nationen und Rassen erfüllt (die Chinesen herrschen vor), sie fällen die Bäume und richten sie zu Eisenbahnzwecken her.

»Der Chinese sieht den ersten Zug von der Sierra-Nevada herabbrausen; er begreift die ungeheuere Wichtigkeit des Ereignisses, sein unerschütterlicher Gesichtsausdruck weicht, und er begrüßt mit schwingendem Hut und lautem Rufen das Dampfroß und die Reisenden, die es führt. Für ihn ist das Ereigniß von besonderer Bedeutung: es öffnet ihm den amerikanischen Continent.

»Schrill tönt die Pfeife, Trackee Station ist erreicht, 119 Meilen von Sacramento, 5850 Fuß über See. Freudig betroffen erblicken den Zug die Postpferde, die bis dahin den Verkehr zwischen diesem Punkte und dem Gipfel des Gebirges besorgt; ihre Arbeit ist vorüber, eine gewaltigere Kraft ruft ihnen für immer ›Abgelöst!‹ zu.

»Bald werden die Treiber ihre Zelte zusammenlegen, wie der Araber, und in der Ferne verschwinden. Breiter und breiter wird bei der Hinabfahrt das Thal des Trackee, das Gehölz wird spärlicher, Salbeibüsche treten auf, hier und da ein Stück bebautes Ackerfeld. Das Getreide sprießt kaum aus dem Boden heraus, während es auf dem westlichen Abhange der Sierra bereits reif und meistens schon eingebracht ist. Auf jener Seite warmer üppiger Mittsommer, auf dem Gipfel eisiger Winter, auf dem östlichen Abhange Frühlingsanfang. Noch zwei Tunnel nehmen uns auf, wir setzen wiederholt über den Fluß und treten zuletzt in die offene, baumlose Fläche von Nevada, am Horizont die schneebedeckten Höhen der Washoegebirge und das wunderbare Land des Silbers vor uns. Gerade im Augenblicke, wo der letzte Schimmer des Tages den Gipfel der Sierra verläßt, verkündigt das fröhliche Pfeifen der Locomotive das Ende der Reise, wir sind in Reno, einer Stadt von Kaufläden, Hotels, Salons, Spielhöllen und Leihställen, die innerhalb eines Monats wie durch Zauber aus dem Boden hervorgesprungen ist. Die ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, stürzt heraus, uns zu bewillkommnen. So endigte die Fahrt des ersten Passagierzuges über die Sierra Nevada.«

Was aber die Zeitungen nicht erzählten, war dies, daß zu derselben Zeit ein mächtiger Dampfer, welcher von San Francisco den Sacramento hinaufgesteuert war, am Bahnhofe sonderbar aussehende Eisenwerke auslud, mit denen ein ganzer Güterzug angefüllt wurde. Das waren keine Kanonen, keine Zündnadelgewehre oder Schwerter, das waren Dinge des Friedens und der Wohlfahrt, eine ganze Stadt, gegossen und geschmiedet in Pittsburg, die, um die Südspitze Amerikas herumgefahren, hier landete, um nach wenigen Wochen in Hellungen auferbaut zu sein. Diese Stadt selbst war nicht mehr ein Ort blos auf dem Papiere, um den See standen schon eine Reihe stattlicher Häuser von Stein und Holz. Dort wohnte seit drei Jahren unsere Freundin, die Frau des Ingenieurs, der jetzt auf der von ihm erbauten Bahn den ersten Zug über die Sierra-Nevada führte und dessen Sohn, der Revolutionär, ein zwanzigjähriger Baumeister, bereits ein Dutzend Häuser daselbst erbaut hatte und nun mit Ungeduld den ersten Güterzug erwartete, der die eiserne Stadt nebst Ingenieuren und Arbeitern nach Colfax bringen sollte.

Ebendort in dem Vorgarten eines prächtigen Gebäudes nach Schweizerbauart sehen wir eine junge Frau, deren Züge uns bekannt vorkommen, mit zwei Kindern spielen. Treten wir näher, so erkennen wir unsere Creolin Hermine Amaria, jetzt unschöner Frau Schulz genannt, und ihre Erstgeborenen. Der Mann, welcher unter der weinlaubumkränzten Veranda sitzt und Netze ausbessert, ist gleichfalls ein Bekannter, es ist der Kapitän des Elefanten, im Kriege mit dem Süden durch eine Verwundung am Beine Invalide geworden; er hat in Hermine seine Tochter erkannt und will bei ihr sein Leben beschließen; zur Zeit versteht es niemand besser als er, im See Lachsforellen und andere Fische zu fangen. Der Name Evasee, den Hellung dem See zur Erinnerung an das Paradies geben wollte, hat keinen Anklang gefunden, man nennt ihn den Hellen oder Blanken See. An dem daraus entströmenden Bache sehen wir schon drei größere Sägemühlen, roh nach Blockhäuserart, auch eine Blankschmiede und ein Paar Kornmühlen. Unser Proviantmeister, der Kentuckier, hat die letztern, andere Genossen Hellung's haben die erstern erbaut.

Die beiden Winzer aus Meißen, die unser Freund dort fand und welche zu der Entdeckung des Wunderlandes Veranlassung gaben, haben ihre in der Nähe der Eisenbahn und am Eingange vor den Minen belegenen Farmen verkauft und sich auf den Grundstücken niedergelassen, die Hellung ihnen schenkte. Die Erdbeeren, Kirschen und andern Früchte, die an der Station Colfax den Reisenden im Eisenbahnzuge geboten werden, sind größtenteils Erzeugnisse des Fleißes unserer deutschen Winzer, die für den Ertrag der verkauften drei Farmen sämmtliche Verwandte und Freunde von der Elbe Strande herangezogen haben. Die meißener Colonie hat sich des Wein- und Obstbaues angenommen und in den Kellern ihrer schmucken Häuser liegen viele Fässer blanken, rothen, gelben, braunen Rheinweins, Burgunderwein, Samos Konstantin und ähnliche Weine, sämmtlich edlere Getränke, als sie Donau, Elbe, Rhein hervorzubringen im Stande sind.

Nach Westen, in einem üppigen Weidestrich, hat sich eine Ansiedelung aus der Umgegend Heustedts gesammelt, von Hellung's Schwager Dummeier angeworben, die hier Rindvieh und Pferdezucht nach niedersächsischer Weise betreibt, ihre Häuser nach niedersächsischer Art, wohnlich für Mann, Frau und Kind, Knecht, Pferd, Rind baut, die Ortsgenossenschaft mit Milch, Butter und Käse versorgt.

An dem Nordabhange des Evaberges – dieser Name hat sich durchsetzen lassen – sieht man Garten- und Parkanlagen, durch welche der Evabach vom Berge nach wissenschaftlich-künstlerischer Theilung hindurchrauscht. Die Baustätten sind mit Dielen, Balken, Steinen wohlgefüllt, welche der eisernen Gerippe aus Pittsburg warten. Hier will nicht nur Hellung seine Wohnung bauen und daneben das Gemeindehaus, sondern auch der ältere Bruder Ibrahim hat sich entschlossen, das Ende seines Lebens, das er im Paradiese von Zuwan empfangen, im Paradiese Californiens hinzubringen. Das schöne Dresden und seine Elbvilla scheinen ihm durch die preußischen Schanzen verunziert. Er will lieber in seinen alten Tagen die weite Reise wagen und in dem See vor seiner Wohnung die Schneeberge der Sierra-Nevada sich abspiegeln sehen.

Auch eine Niggercolonie aus der Pflanzung des Vicomte du Plessis, die geschicktesten frühern Arbeiter, Künstler, Bildhauer, Maler, Uhrmacher, Schlosser, Tischler, hatten sich übergesiedelt, seitdem sie von ihrem vormaligen Herrn gehört, daß er selbst in Hellungen seinen Wohnsitz aufschlagen wollte. Der Vicomte hatte die Frist, welche ihm sein Erblasser gesetzt, nicht abzuwarten brauchen, die Sklaverei war schon vor deren Ablauf durch das Gesetz aufgehoben und er konnte nun den freien Schwarzen die ererbte wie die angekaufte Pflanzung als Eigenthum übergeben. Er hatte die Bedingungen, unter denen er die Haupterbschaft antreten sollte, erfüllt, und war mit Frau und Kind nach Paris gereist, nicht um dort sein Leben hinzubringen, sondern nur um die Erbschaft zu erheben. Der Vicomte war kein Freund jener Freiheit und Civilisation, mit der das Imperatorenthum Frankreich beglückt und an die Spitze aller Erdvölker gehoben haben wollte, und sein Frauchen war keine so unverbesserliche Pariserin, daß sie geglaubt hätte, ihr Leben nirgends als in der Straße Saint-Honoré beschließen zu können. Die Schilderungen des Paradieses, die Vetter Schulz noch in die Pflanzungen am Red-River sendete, bewogen den Vicomte zu dem Entschlusse, sich dort niederzulassen, und er theilte diesen den Niggern mit, um diejenigen, die ihn als freie Männer dahin begleiten wollten, mit Reisegeld zu versehen. Der Golf von Mexico war mit Red-River und Mississippidampfern leicht zu erreichen und die Bahn über die Meerenge von Panama schon eröffnet. Mehrere entschlossen sich zur Uebersiedelung, und der Vicomte ersuchte einen Architekten, ihm eine einfache Villa am See zu erbauen, damit er eine Wohnung vorfinde, wenn er aus Europa zurückkehre, und gab ihm die Mittel zum Bau. Dies brachte die Schwarzen auf den Gedanken, ihrem Wohlthäter eine Ueberraschung zu bereiten. Jeder trug nach seinen Kräften dazu bei, und dem Architekten wurde eine große Summe Geldes eingehändigt, um in Hellungen für den Vicomte ein Haus ähnlich seinem am Red-River, aber prachtvoller, und einen Garten und Park gleich dem dortigen anzulegen. Der Holzschnitzler fertigte das Modell an, und während der Vicomte nach Europa reiste, fuhren die Nigger im Stillen Ocean nach Norden hinauf.

Wo sich im Leben der Natur und Menschheit Krystallisationspunkte bilden, da vollzieht sich der Proceß selbst desto schneller und leichter, je mehr Naturbedingungen ihn begünstigen. Im Paradiese Californiens fehlte nichts, was die Natur zu einem Krystallisationspunkte der Cultur zu bieten hat, nur tüchtige, reine, fleißige Menschen fehlten, und solche herbeizuschaffen war die nächste Aufgabe menschlicher Geistesthätigkeit. Indeß auch hierbei kam die Natur den Gründern der neuen Ortsgenossenschaft auf eine überraschende Weise entgegen.

Der Revolutionär hatte sich in Philadelphia nicht nur zum Architekten ausgebildet, er hatte auch Geologie mit besonderer Vorneigung betrieben. Als er nun mit der Mutter nach Californien übersiedelte – die Schwestern waren im Osten verheirathet – war es sein Erstes gewesen, die Umgegend nach allen Richtungen zu durchforschen. Da hatte er denn das Glück, einen warmen Schwefelquell am westlichen Fuße des gegen Norden belegenen Evaberges zu entdecken.

Eine nähere Untersuchung ergab, daß das Wasser außerdem Natron, Kali, Jod, Brom enthielt, also Bestandtheile, die von den Aerzten sehr gesucht sind. Der junge Hellungen ließ die Quelle zu einem Bassin ausgraben und dieses mit einem Blockhause überbauen Es hatten sich in der Nähe schon einige Minenarbeiter angesiedelt, die sich in den Gruben außer vielem Gold auch Gicht und Lähmung geholt hatten. Unser Freund veranlaßt die Gelähmten, jene Quelle zum Baden zu gebrauchen, und erzielte dadurch den glänzendsten Erfolg. Der Ruhm des Gesundbrunnens verbreitete sich bald und lockte eine Menge Arbeiter herbei, die dort für rheumatische und ähnliche Uebel Heilung suchten. Nach kurzer Zeit mußte ein zweiter Badeteich ausgegraben werden, um dem Andrange zu genügen, und der junge Baumeister beschäftigte sich schon mit dem Gedanken zur Anlage großer Thermen, wie er sie aus dem Alterthume kannte.

Der Ruf der Heilquelle trug nicht wenig dazu bei, um neue Ansiedler heranzuziehen, und wer das Paradies einmal sah, der suchte die Mittel, dort zu bleiben.

Indeß war auch der Gründer der neuen Stadt nicht müßig, Menschen, wie er sie wünschte, heranzuziehen. Im August und September des Jahres 1868 circulirte in Sachsen, in Nord- und Süddeutschland, in liberalen Kreisen ein lithographirtes Schreiben, das also lautete:

»Freunde in der Heimat! Gesinnungsgenossen! Kampfgenossen für die Freiheit und Einheit Deutschlands!

»Ein deutscher Landsmann bietet euch in einem fernen Erdtheile eine Heimstätte, wie sie schöner belegen, von der Natur in jeder Beziehung mehr begünstigt, gesunder und fruchtbarer und außerdem mit kräftigen Heilquellen so reich versehen, vielleicht auf dem ganzen Erdboden nicht wieder gefunden wird.

»Als Wegebahner und Mitbauer der Pacificbahnen habe ich von den 25 Millionen Acres Staatsländereien, welche die Regierung den beiden an dem Unternehmen betheiligten Compagnien zusicherte, 50000 für mich erhalten. Davon habe ich 25000 in Nebraska, am Platteflusse belegen, wieder veräußert (den Acre für 3 Dollars), um in Californien, wo mir die andere Hälfte meiner Dotation nach meinem Wunsche angewiesen worden ist, von der Central Pacific Railway Compagny dafür das Doppelte zu erwerben.

»Meine sechzehn Mitarbeiter, die unter meiner speciellen Führung standen, sind auf ihren Wunsch am letztern Orte mit 50000 Acres belohnt worden. Hier, am westlichen Fuße der Sierra Nevada, zwischen dem 39. bis 40. Grad nördlicher Breite, habe ich in Gemeinschaft mit meinen Feldmessern, Kartenzeichnern, Proviantmeistern und sonstigen Gehülfen eine Ortsgenossenschaft gegründet, der man den Namen ›Hellungen‹ gegeben hat, nicht nur weil ich, der zufällige Entdecker dieses bisher unbekannten Landstrichs, so heiße, sondern weil die Ansiedelung sich um einen See anbaut, so hell wie Silber, wo die Luft so rein und heiter ist wie die des blauen Himmels in Neapel, und weil in dieser Ortsgenossenschaft alles hell und klar, offen und durchsichtig sein soll, nicht nur nach Zirkel und Winkelmaß, sondern auch nach Vernunft und Recht.

»Nach den Grundsätzen der neu reconstituirten Union:

Freier Boden,
Freie Arbeit,
Freie Rede,
Freie Menschen!

ist der Bau begründet und auf dieser Grundlage soll er fortgeführt werden.

»Wer daran im rein menschlichen Geiste helfen will, wem jene Worte aus der Seele gesprochen sind, der soll mir willkommen sein. Allen ist ein freies Feld der vielseitigsten Ausbildung und Berufsthätigkeit dargeboten.

»Wir wollen gemeinsam versuchen, was unter den denkbar günstigsten Verhältnissen, welche die Natur bietet, und bei völliger Freiheit von jeder Bevormundung, die den Genossen gewährt wird, bei gesellschaftlichen Einrichtungen, die nach strengem Rechte die Wohlfahrt aller bezwecken, aus einer Gemeinde werden kann, die auf ihr Banner den Wahlspruch ›Reine Humanität‹ geschrieben hat.

»Die Ortsgenossenschaft Hellungen wird auf dem allgemeinmenschlichen Boden der Sittlichkeit errichtet; Sittlichkeit ist nicht ohne Menschenliebe, Gerechtigkeit und Fleiß, auch soll sie, so Gott will, nicht ohne Religion sein. Allein die Religion ist als solche nicht die Sache der Gemeindeverwaltung, wie sie in Amerika nicht Sache des Staats ist. Sie bleibt eine freie Angelegenheit der Einzelnen, der Familien und der auf Grund gemeinsamer Ueberzeugungen sich zu Religionsverbänden Vereinigenden. Wohl aber hat die Gemeinde die Ortsgenossen zu schützen vor Uebergriffen und Unduldsamkeit der Religionsgenossenschaft, sie verwehrt alle unter dem Schilde der Religion auftretenden Vorschriften und Gebräuche, welche die Sittlichkeit, die Ehre und Integrität des Menschen, die Freiheit und die allgemeinen persönlichen und geselligen Menschenrechte kränken. In Hellungen werden keine priesterlichen Sklavenzüchter des Geistes geduldet werden, es wird dort widernatürlicher Gelübdezwang nie Eingang haben, jedermann soll dort in der That nach seiner Façon selig werden können, oder, was besser ist, er soll schon hier im Himmel zu leben das Seine thun können.

»Ich habe Platz zu einer Stadt von 80000 Hauseigenthümern und aus dem Eigenthum meiner Mitarbeiter ist außerdem für 25000 Raum, für jeden Hausplatz, Hof, Wirtschaftsgebäude etwa einen deutschen Morgen gerechnet.

»Bisjetzt sind etwa 500 Bauplätze vergeben, über 100 sind vollständig bebaut, andere im Bau begriffen.

»Die neue Stadt liegt an einem See, der den Genfersee an Schönheit bei weitem übertrifft. Wenn sich auch die Schneeberge der Sierra-Nevada in seinen silbernen Wassern spiegeln, so streift doch niemals eine kalte Luftschicht von dort über den See und seine Ufer hin. Obgleich 3000 Fuß über dem Spiegel des Stillen Oceans, kennen wir keinen Winter, kein Aufhören der Vegetation.

»Wir sind glücklicher daran als alle Europäer und Asiaten, welche mit den Ruinen und dem Schutt der Vergangenheit zum Erdrücken beladen sind, welche mit schlechten Gebräuchen, Sitten, Vorurtheilen, mit überlebten Einrichtungen zweier Jahrtausende zu kämpfen haben; wir haben einen jungfräulichen Boden frisch anzubauen.

»Uns steht kein altes historisches Gerümpel, keine Gerichtslauben, kein römisches, noch kaiserlich und königlich peinliches, noch das sogenannte Recht (d. h. Unrecht) des Krieges im Wege, keine Dinge, die auf das Recht ihrer Existenz pochen, weil sie ein Jahrtausend lang da gewesen, vielleicht durch Gewalt, Unrecht oder Zufall entstanden sind. Wir können unsere Städteordnung aufbauen und ausdehnen ohne königliche, polizeiliche, militärische oder sonstige Genehmigung.

»Wir brauchen uns nicht zu vereinigen, um die Mächte des Menschengeistes und der Menschenkraft gegen die Ungunst und Kargheit der Natur, oder gegen andere feindselige Gewalten geltend zu machen; wir haben keinen eroberungssüchtigen Nachbar zu fürchten. Die Natur ist unsere Freundin, deren Gaben wir durch die Mittel der Kunst höher zu gestalten haben.

»Unsere Aufgabe im Vereinsleben wird sein und bleiben, unsere menschlichen Gesinnungen, unser Wissen und Können durch Thätigkeit zum Besten aller an den Tag zu legen, durch Bruderliebe und Duldsamkeit uns gegenseitig zu fördern und zu stärken, die unbedingte Achtung der Freiheit und Würde eines jeden Menschen, die Anerkennung seiner Eigenthümlichkeit und des Rechte zu der Entwickelung seiner Fähigkeiten durch gutes Beispiel in immer weitern Kreisen zu verbreiten, durch Gemeinsinn und Hülfeleistung das Band der Gemeinde immer inniger zu schlingen.

»Wir kennen keinen Standesunterschied, keine durch Geburt oder Laune des Glücks bedingte Bevorzugung, keine gesellschaftliche Stellung, die auf Raub und Knechtung beruht, keine Ausnahmen von Gesetz und Recht, keine privilegirten Herren und Müßiggänger. Jeder wird bei uns nach seinen Werken gemessen, einem jeden wird seinen Leistungen gemäß nach einer auf Privateigenthum gestützten Wirthschaftsordnung der Lohn für seine Arbeit gewährt. Müßiggang gilt als ein entehrendes Laster, Standeseitelkeit als Narrheit. Wir füttern keine Mumien, weder dynastische noch klerikale. Altersschwache, Kranke, Gebrechliche, Witwen und Waisen fallen der Pflege der Ortsgenossenschaft zu. Das Gemeinwesen übt im weitesten Maße die wirksamste Solidarität aus; gegen Verluste findet nach Möglichkeit Versicherung statt. Wir schützen alle einander; um stark zu sein, haben wir weder Kasernen noch Citadellen, aber alle Männer sollen das Herz am rechten Flecke haben, das hilft mehr als der Kriegsstand im Frieden, der Europa mit galopirender Schwindsucht bedroht.

»Der Unterricht in den Volksschulen wird von der Gemeinde in Gemäßheit der einzigen Steuer, die wir kennen, einer selbsteingeschätzten Einkommensteuer, getragen. Es kann demselben kein Kind bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre entzogen werden, obgleich es jeder Familie freisteht, ihren Kindern daneben Privatunterricht zu ertheilen oder ertheilen zu lassen; indeß auch die aus der Schule Entlassenen sind zur weitern Fortbildung verpflichtet. Die Erziehung ist die heiligste Angelegenheit; wir gewähren die Mittel zur Gründung von Erziehungs- und Lehranstalten für alle Altersstufen nach den Grundsätzen von Krause und F. Fröbel.

»Ich habe für deutsche Gesinnungsgenossen vorläufig 500 Bauplätze, jeden mit etwa anderthalb deutschen Morgen Grundbesitz, zur unentgeltlichen Disposition reservirt; 5000 Baustellen habe ich der Stadt geschenkt, um durch Verkauf derselben die ersten Mittel zu gemeinsamen Einrichtungen zu schaffen, wie ich selbstverständlich das Grundeigenthum zur Anlegung von Straßen, öffentlichen Plätzen, Schulen und Akademien unentgeltlich abgebe. Das Baumaterial ist billig, die Arbeit wird gut bezahlt, ist aber des Preises werth. Die Chinesen sind nüchterne, fleißige, solide Arbeiter und die Ortsgenossenschaft ist schon jetzt im Stande, jeden, der einen Neubau unternimmt, mit Vorschüssen und Darlehnen zu unterstützen.

»Eiserne Häuser stellen sich bisjetzt am schnellsten und wohlfeilsten her, obgleich sie für jetzt noch aus Pittsburg bezogen werden. Meine 500 Wohnstätten, die ich für Landsleute vorbehalte, sind aber nicht allein für Wohlhabende und Arbeitskräftige bestimmt, vorläufig habe ich auch Raum für 50 Gebrechliche, Alte, Schwache. Mein Bruder, der Maler Franz Ibrahim Hellung, der im April zu mir (über die Meerenge von Panama) reist, wird denselben bis zu dem künftigen Aufenthaltsorte freie Ueberfahrt und Unterhaltungskosten gewähren.

»Daß ich Ansiedler verlange, die zu meinem Unternehmen taugen, versteht sich von selbst. Es sei ein jeder, der sich uns anschließt, integer vitae scelerisque purus, wie der alte Horaz sagt, und dabei ein rüstiger Arbeiter mit Kopf und Hand. In Hellungen können Schwelger und Schlemmer, Raufbolde, Bettler, Renommisten, Gaukler, gemeine und vornehme Strolche, Wucherer, Spieler und Nichtsthuer keine Herberge finden; wir dulden nicht Leihhäuser und Häuser der Unzucht, noch Kneipwirthe, die solchen Lastern dienen, nicht Clubs und Salons der Verführung, noch Spielhöllen; wir wollen nicht Criminalnovellenschreiber, literarische Lohndiener, feile Poeten, Pfaffen, Rechtsverdreher, Proceßkrämer, politische und kirchliche Hetzer, so wenig wie Taschendiebe, Börsenlügner und Falschmünzer, in unserer Mitte sehen.

»Möge Deutschland, das an Kräften jeder Art so überreich ist, uns eine tüchtige Zahl wackerer Männer und Frauen senden; wir werden sie als Glieder der großen Familie der Menschheit willkommen heißen.

Theodor Hellung,

früher in der Direction der Leipzig-Dresdener Eisenbahn, Vorstand der Stadtverordneten in Dresden, frankfurter Parlamentsmitglied, sächsischer Abgeordneter, später Maigefangener und Flüchtling.«

Es ist ein erhebend wohlthuendes Gefühl, das uns ergreift, wenn wir ein großes gemeinnütziges Unternehmen gelungen sehen. Wie vieles Wunderwürdige der Art ist vor den Augen der gegenwärtigen Generation erstanden, wie rasch folgen Erfindungen und Thaten für die Verbesserung der menschlichen Zustände, welche reiche Hoffnungen bietet die Zukunft! Die großartigen Fortschritte für die Hebung und Verbreitung des materiellen Wohlseins werden nicht verfehlen, auch der sittlichen und gesellschaftlichen Vervollkommnung, dem höchsten Ziele aller Culturarbeit, zu statten zu kommen. Bei dem Anschauen solcher Werke, wie jene Weltstraßen, deren Eisenstränge ganze Erdtheile umfangen und zusammenhalten, fallen vor dem denkenden Geiste alle die feindlichen und hemmenden Schranken, welche die Völker und Stämme, Stände und Staaten, Glauben, Gebräuche und Meinungen scheiden und widereinander treiben. Und sie werden einst auch in Wirklichkeit verschwinden, so gewiß wie die Wälle und Thürme der alten Grenzwehr des Römerreichs in Trümmer gesunken sind, sobald der Lebenshauch einer neuen höher begabten Zeit über sie hinstürmte. Nicht Haß und Streit, nicht Selbstsucht und Krieg kennen das Ziel, die schaffende, alles Gute pflegende Thätigkeit ist es, der das volle Recht gebührt und die den Sieg erringen wird. Wie schön eröffnet sich die Fernschau über die kommenden Geschlechter! Wie viele Millionen werden sich dessen freuen, was die Gegenwart bereitet, wie viele werden dankbar auf das zurückblicken, was die Vorfahren erarbeitet haben!

Doch nicht in Betrachtungen wollen wir uns jetzt ergehen, vielmehr wollen wir einfach die Sache selbst zu dem Leser reden lassen.

Am 10. Mai. 1869 harrten viele Millionen Nordamerikaner, Menschen aus allen Nationen der Welt, jedes Alters und Geschlechts, auf drei Hammerschläge, die Zeugniß davon ablegen sollten, was der Menschengeist des 19. Jahrhunderts Großes zu vollbringen vermocht.

Zwei Tage zuvor hatte Hellung in Gemeinschaft mit dem Oberingenieur Z. D. Judahs die letzten Schienen auf dem von Californien her geführten Central Pacific Railway gelegt, heute sollte die letzte Schiene auf dem von Omaha her erbauten Union Pacific Railway gelegt, und beide Bahnen verbunden werden. Von Sacramento, bis wohin vom Meere vorläufig Dampfer fuhren, war man 730 englische Meilen nach Osten vorgerückt, von dort hatte man eine größere Strecke, nämlich 1030 Meilen herstellen können, da die Rocky-Mountains der Locomotive viel weniger Schwierigkeiten entgegensetzten als die Sägegebirge Californiens. Dazu kam der ältere Schienenweg von Omaha bis Neuyork mit 1450 Meilen.

Man hatte am Vortage des für die Vereinigung der Bahnen bestimmten Tages von Ort und Stelle telegraphirt, daß der Zusammenschluß der Riesenstraße etwa mittags geschehen würde. In allen Städten und Wohnorten, selbst in einsamen Landhäusern, sofern sie nicht gänzlich abgelegen von Eisenbahn- und Telegraphenverkehr waren, fand man daher um die Mittagszeit alle Welt auf den Beinen, voll Unruhe und gespannter Erwartung, aber auch von einem stolzen Hochgefühl durchdrungen, denn der freie Bürger eines großen Staatsverbandes stellte sich mit begründetem Bewußtsein in die Mitte des großartigsten Weltverkehrs, den bis dahin die Menschheit gesehen. Wol nur wenige hatten den Unterschied der Zeit berechnet. Als daher in der Capitolstadt schon zwei Uhr nachmittags vorüber war, wurde man hier, in Neuyork und andern Orten des Ostens ungeduldig, und es kamen nach Omaha, wohin alle Drähte des Ostens zusammenliefen, von verschiedenen Stellen die Anfragen, worauf die Verzögerung beruhe?

Von dort antwortete der Draht: »Berechnet die Zeit!«

Gegen halb drei Uhr washingtoner Zeit kam auf jeder Eisenbahnstation der Union, diesseit und jenseit der Felsengebirge, die Mahnung an: »Macht euch bereit!« und die Direction der Telegraphen in Washington setzte den Draht von Omaha mit der großen Glocke, dem Weißen Hause, dem Capitol und dem Geschützstande in Verbindung, in Neuyork verbindet man den Draht mit dem Glockenspiel des Trinitythurms, mit den Hafenbatterien, dem höchsten Thurm Brocklyns. Jede Stadt hat ihre besondere Einrichtung, wodurch die Gesammtbevölkerung gleichzeitig Kenntniß des Ereignisses haben soll. Das war das erste Festwort, das Millionen von Herzen in Bewegung setzte.

Jetzt sprach der Draht: »Hüte ab! man betet; thut desgleichen!« und Millionen von Menschen fielen je nach ihren verschiedenen Religionsgebräuchen auf die Knie, falteten die Hände, sprachen ihr Gebet in den Hut, riefen zu Allah in mohammedanischer Weise, die im Mittelreich Geborenen flehten ihren Herrscher und Himmelssohn an, wenn sie den Glauben an ihn nicht etwa verloren hatten. Feierliche Stille herrschte in einem Gebiete von mehr als drei Millionen englischer Geviertmeilen.

Als es in Washington zwei Uhr fünfundvierzig Minuten war, meldete man von Promontory Summit: »Fertig!« Fünf Minuten später dröhnten die drei Hammerschläge, welche durch goldene Bolzen das Eisenband festigten, und Nordamerika war von Meer zu Meer verbunden.

In Washington schlug gleichzeitig mit den Hammerschlägen am Promontory Point die große Glocke: eins, zwei, drei! Das Sternenbanner entfaltete sich auf dem Capitol, dem Weißen Hause, auf andern öffentlichen Gebäuden und auf Tausenden von Privathäusern, Kanonendonner verkündete in hundert Schüssen das große Ereigniß.

In Neuyork ließ das Glockenspiel vom Trinitythurme, um den sich mehrere hunderttausend Menschen gesammelt hatten, die Weise »Nun danket alle Gott!« erklingen. Die Hafenbatterien feuerten ihre hundert Schüsse, und vom Hafen und auf der Rhede donnerten Tausende von Schüssen den Gegengruß, darunter über zweihundert Schiffe mit der Flagge des Norddeutschen Bundes, schwarz-weiß-roth.

Hunderttausende von Kanonenschüssen antworteten ungehört von andern Häfen am Atlantischen Ocean, am Stillen Meere und Mexicanischen Golf, von den Riesenströmen des Innern, von den Robbenfängereien Neufundlands!

Welche Zeit war es aber am Orte der That, als in der Centralstadt die Uhr zwei Uhr und funfzig Minuten zeigte?

In der Mormonenstadt, welche mit Promontory Point etwa die gleiche Zeit hat, war es 12 U. 30 M.. in Saint-Johns 4 U. 28 M. nachmittags, in Neuyork 3 U. 2 M., in San Francisco dagegen erst 11 U. 48 M., in Saint-Louis 1 U. 38 M., in Neuorleans 1 U. 58 M., in Santa-Fé 12 U. 53 M., in Pittsburg 2 U. 18 M. Die Handelskammern von Neuyork und San Francisco, die am heutigen Tage die Aussicht gewonnen, den Welthandel Londons zu sich herüberzuziehen, begrüßten sich telegraphisch.

Welch ungeheueres Reicht Welch herrlicher Boden dem Wetteifer wohlthätiger Arbeit, dem Kunstfleiß, der freien gesellschaftlichen Entwickelung geöffnet! – Kaiser Karl V. rühmte sich, daß in seinen Staaten die Sonne nicht untergehe. Aber er sah noch bei seinen Lebzeiten die Sonne des Ruhmes und Glanzes untersinken, der Koloß seines Weltreichs ging in Stücken durch den Fluch des Geistesdrucks, womit er die göttliche Macht der Geschichte auszulöschen trachtete. Die Riesenmacht des corsischen Soldaten fiel auseinander, weil sie durch Gewalt die Völker dienstbar machen und zusammenketten wollte. Aber das Reich der Freiheit und des friedlichen Schaffens, bespült von den beiden größten Weltmeeren, über die es seine Hand streckt, wird es auch dahin fließen und schwinden, wie eine Welle in den Wogen der Geschichte?

Nein, das wird nicht geschehen! Ihm winkt eine große Zukunft, es wird der Mittelpunkt werden, von welchem dem abgelebten Osten Asiens wie dem gealterten Europa Licht, Luft, Freiheit zugeweht wird!

Das neueröffnete Verkehrsgebiet, telegraphisch mit Europa an mehrern Punkten verknüpft, ebenso auf der Seite nach Asien der Telegraphenleitung zugänglich, wird mit seinen großartigen Küstenstrichen durch die Flottenheere des Dampfes und Segels die alte, nun auch über Suez durchbrochene Welt, nach allen Seiten, über beide Weltmeere, die es bespülen, berühren, und durch die Stationen des Stillen Oceans ein herrliches Inselreich in seinen Kreis ziehen. Naturschätze und Erzeugnisse des Kunstfleißes werden auf dem Universalmarkte der Menschheit ausgetauscht; noch mehr: die Gedanken, Kenntnisse, Erfindungen und Bestrebungen werden bald Gemeingut in allen Fernen sein, Gesittung durch Arbeit gehoben und verbreitet, die Völker aller Zonen untereinander verbrüdert werden.

Der denkwürdige Tag versammelte auch die Freunde, welche unsere Erzählung bis zuletzt begleitet hat. Die pittsburger Nachkommen von Melusine von Wildhausen, von Oskar Baumgarten und Agnese von Kitzow, soweit sie noch am Leben, feierten, mit Ausnahme des Mannes im Weißen Hause, diesen Tag in Omaha, um nachmittags vier Uhr mit dem ersten ordentlichen Zuge über die Felsengebirge zu fahren, die Verwandten und Freunde, die Nachkommen von Georg Schulz und der schönen Mainzerin, des Malers Hassan, der Filler-Marthe in der Stadt Hellungen zu begrüßen, und daselbst die Ankunft Franz Ibrahim's mit funfzig Deutschen zu erwarten.

Von Heustedt herüber sendeten Hans Dummeier und seine Frau telegraphische Grüße, ebenso von Wien und aus Ungarn Hermann Baumgarten und Bruno Baumann.

Der einstige Redacteur des »Gänseblümchens und Katzenpötchens«, Professor Gottfried Schulz, hatte aus Göttingen den Entwurf einer Städteordnung für Hellungen eingesandt, wobei er die philosophischen Lehren seines Meisters Krause zu Grunde gelegt hatte, wie sie in dessen »Urbilde der Menschheit« dargelegt sind und in den sich daran schließenden Rechtsphilosophien seiner Freunde Ahrens (des Schriftführers im Gemeinderath Göttingens von 1831) und Röder in Heidelberg entwickelt waren.

Er hatte die dem Denker selten sich darbietende Gelegenheit, seine Ideen ins praktische Leben einzuführen, mit Lust und Liebe ergriffen. Aber weit entfernt, in trüben Nebelbildern zu schwärmen, war die Verfassung, welche er dem neuen Gemeinwesen gab, in allen Stücken den vorhandenen Verhältnissen, den Naturbedingnissen, der Weltlage desselben angemessen und er fand Verständniß für seine Ideen und Bereitwilligkeit bei seinen Freunden, sie zu verwirklichen. Ihn hätte Plato um die schöne Aufgabe eines Gesetzgebers beneiden mögen.

In klarer Einsicht der verschiedenen gleich wesentlichen Aufgaben der Gesellschaft, für Recht, Sittlichkeit, Religion, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, zeichnete er einer jeden ihre eigenthümliche und autonome Wirksamkeit vor, und setzte sie zugleich in allseitige Wechselwirkung. Der politischen Behörde wies er ihre bestimmte Sphäre an, die Wahrung und Verwaltung des Rechts, und verwehrte jeden Uebergriff von jeglicher Seite; denn die Rechtsgesellschaft hat nur die Bedingungen für die Erreichung sämmtlicher Lebensaufgaben der Menschen herzustellen, nicht aber selbst das ganze gesellschaftliche Leben in die Hand zu nehmen und zu bestimmen. Er entwarf ein durchaus organisches Gemeindewesen, errichtet auf dem Grundsatze freier Vergesellschaftung für sämmtliche Lebensaufgaben der Menschheit, weit entfernt von dem Unheil der Omnipotenz des Staats oder der Kirche oder des Industrialismus und der Geldherrschaft.

Ja, wer Prophet wäre, wer erschauen könnte, ob nach hundert Jahren, wenn das Fideicommiß der Witwe Claasing ihren amerikanischen Ur-Urenkeln ausgehändigt werden wird, ob dann um den Krystallisationspunkt Hellungen sich ein Leben gebildet hat im Sinn der neuen Gesellschaftslehre?

Aber auch ohne Prophet zu sein, kann man wahrsagen, daß, wenn man 2070 schreiben wird, in Europa und Amerika wenigstens stehende Heere nicht mehr zu finden sein werden, ebenso wenig bureaukratische Polizeistaaten und unduldsame Priestergewalt. Ob der ewige Friede dann gekommen sein wird? Ob die Völker sich wie Brüder die Hand reichen werden? Ob Europa und Amerika dann, gleich Aerzten des Menschengeschlechts, die erstarrten asiatischen und die unmündigen und verwahrlosten afrikanischen Völker unter eine aufrichtige civilisatorische Vormundschaft und Erziehung genommen haben?

Ob das Völkerrecht allgemein geworden und das Menschheitsrecht anerkannt sein wird?

Hoffen wir mit Maß, aber mit Zuversicht!

Die Völker werden begreifen, daß sie alle gewinnen an Macht und Wohlfahrt, wenn sie sich als Freunde ansehen. Leise, aber mit fester Hand, wird der allwaltende Genius der Menschheit sein Band der Versöhnung, des Friedens, der Liebe und Gerechtigkeit um alle Völker und Rassen schlingen, und jene erhabene Idee des Menschheitsbundes, d. i. eines das ganze Menschengeschlecht dieses Planeten umspannenden wohlgegliederten Gemeinwesens, wie es zuerst in der Loge zu den drei Schwertern unsern Freunden vorgestellt wurde, wird eine lebendige Wahrheit werden, das Licht dieser Wahrheit, welches jetzt nur wie aus der Ferne winkende Sterne im Geiste einzelner Denker und Menschenfreunde leuchtet, wird mit Tageshelle das schöne Rund der Erde umstrahlen.

Dir aber, mein deutsches Vatervolk, ist die größte und schönste Aufgabe gestellt für die Herbeischaffung besserer Zeiten! Gedenke deiner Pflicht, der Wahrheit und dem Rechte, der reinen Menschenbildung Bahn zu brechen! An deiner Freiheit und Erstarkung, an deiner thatkräftigen Ermannung hängt das Schicksal unsers Erdtheils. Und sollte ein feindseliger Dämon der Gewaltherrschaft, der Knechtung der Geister, der Lähmung der Arbeit, der Zwietracht und Lüge dein altes Haus in Europa zerstören, so wird der bessere Geist und das echte Leben in dir sich hinüberretten zu den verwandten Brüdern jenseit des Weltmeeres, um mit frischer Kraft von dort aus das europäische Erbland neu zu beleben.


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