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Erstes Kapitel.
Der blinde König.

Zu dem nämlichen Tage, an welchem Ernst August aus dem Leben schied, trat der blinde am 27. Mai 1819 geborene König, ohne daß irgendein Bedenken gegen seine Regierungsfähigkeit laut geworden, den Thron durch ein Patent an, in welchem er bei seinem königlichen Worte versicherte, die Verfassung unverbrüchlich zu halten, und das Staatsministerium wie die sämmtliche Dienerschaft (der »Staat« war weggelassen, der König war schon der Staat) in ihren Aemtern bestätigte.

Schon nach vier Tagen war das Ministerium Münchhausen entlassen, Bruno auf Wartegeld gesetzt, Schele glänzte als Ministerpräsident, Herr von Brandis als Kriegsminister, zum Justizminister hatte sich der frühere Advocat Windthorst, der erste Katholik in einem hannoverischen Ministerium, aufgeschwungen. Oberstaatsanwalt Bacmeister wurde Cultusminister, der Regierungsrath von Borries Minister des Innern, später trat noch der Ritterschaftspräsident von der Decken ein, einer der eifrigsten Förderer der ritterschaftlichen Beschwerden bei dem Bunde.

Georg zählte die drei englischen George als seine Vorgänger und nannte sich statt Georg II. Georg V.

Die am 2. December zusammentretenden Stände nahmen die Thronbesteigung des Blinden als ein unabänderliches Factum. Kein Wort wurde laut von Regierungsunfähigkeit und Regentschaft. Es war ein verhängnißvoller Tag, dieser 2. December, denn nachdem die Sitzung kaum begonnen, brachte der Draht die Nachricht von dem Staatsstreiche in Paris, der Rettung der Gesellschaft durch einen Napoleon.

Die Ritter jauchzten; glaubten sie doch an Stahl, der vorhersagte: jetzt, nachdem das parlamentarische Regiment in Frankreich einen Stoß bekommen, werde die Reihe auch an England kommen.

Bruno zog nach seiner Dienstentlassung nach Göttingen zu seinem Oheim Gottfried Schulz. Dieser hatte sich dort am Eingange des Leinekanals in die Stadt eine freundliche Villa erbaut, von deren Thurm man eine Rundschau bis zum Meißner hatte, die Ruinen des Hansteins wie der Gleichen sah und einen Blick in die stundenweite grüne Leinemarsch that. Er war zum außerordentlichen Professor ernannt, hielt Vorlesungen über Naturrecht und Staatsphilosophie, malte viel in Aquarell, unterrichtete seine Töchter und lebte mit seiner kleinen niedlichen Jeannette ein schönes Eheleben. Bruno, schon ein ältlicher, oft mürrischer und unzufriedener Junggesell, hatte Hannover deshalb so schnell verlassen, weil ihm dort zu oft zwei ihm widerliche Gesichter begegneten, die des Grafen Guido von Schlottheim und des von ihm flügellahm geschossenen Justus Victor Haus von Finkenstein, die, von Georg V. zurückgerufen, bald die Seele der Camarilla bildeten, welche zum Verfassungsbruche drängte. Ihm fehlte ein Beruf, und so gab er sich Arbeiten hin, deren Erfolglosigkeit er voraussehen mußte.

Er hatte in der Zweiten Kammer noch manche Freunde von 1848 her, wenn er auch von den Parlamentsmitgliedern mehr getrennt war. An diese richtete er eine Denkschrift, in welcher er die Frage über die Regierungsunfähigkeit des Königs anregte, welche er selbst 1839–41 oft genug erörtert hatte und die später 1844 von seinem Freunde, dem heidelberger Privatdocenten Oppenheim, wissenschaftlich in einer Druckschrift behandelt war, und er empfahl der Opposition, womöglich mit dem Herzoge von Cambridge Verhandlungen anzuknüpfen, um dessen Geneigtheit, eine Regentschaft anzunehmen, zu erforschen, dann aber die Frage in der auswärtigen Presse anzuregen.

Allein man antwortete ihm, die Sache sei 1848 verpfuscht; es sei eine von den Bedingungen gewesen, unter denen das Ministerium zu Stande gekommen sei, den §. 17 der Verfassung nicht anzutasten. Da nun die Verfassung nichts von dem Eintreten einer Regentschaft bei Blindheit sage, so fehle jede Handhabe, ja es werde durch das Gesetz die Regierungsfähigkeit des Blinden stillschweigend anerkannt. Diese anzutasten, könne als Hoch- und Landesverrat angesehen werden. Wenn die Agnaten, namentlich der zur Regentschaft berufene Herzog von Cambridge, die Regierungsfähigkeit Georg's nicht zu bezweifeln schienen, wenn die Fürsten Europas ohne Ausnahme Georg als Regent betrachteten, was sollten die Stände da ausrichten? Außerdem sei durch die bevorstehende Inslebenführung der Organisation die Majorität Zweiter Kammer dem Ministerium zugefallen, und würde ein Versuch der Minorität den offenen Widerwillen des jungen Königs gegen Constitutionalismus und parlamentarisches Regiment nur verstärken und die von den Rittern intendirten Verfassungsänderungen beschleunigen.

Endlich seien die Meinungen in Erster und Zweiter Kammer in Betreff des Vertrags mit Preußen schon so auseinandergehend, daß es dahin führen würde, jeden Parteiverband zu zerreißen, wollte man jetzt die Regentschaftsfrage noch auf die Tagesordnung setzen; denn hamburger Freihändler, kurzsichtige Weinhändler, beziehungsweise Weinfabrikanten, Tabacksfabrikanten und Cigarrenmacher vereint mit sonstigen Schutzzöllnern und Personen vom Hofe, unterstützt durch die österreichische Gesandtschaft, machten Complot gegen den Zollanschluß.

Bruno selbst wußte aus guter Quelle, daß Georg den Vertrag vom 3. September nicht liebe, wie er den preußischen Vetter nicht liebe und die Dynastie der Welfen hoch über die der Zollern setze, und er sah ein, daß seine ständischen Freunde triftige Gründe hätten, seine Vorschläge als inopportun zurückzuweisen.

Seit einem Jahre war er von Heloise von Barrò beauftragt, ihr väterliches und mütterliches Erbtheil herauszuklagen. Der Proceß war in Wolfenbüttel bei dem höchsten Landesgerichte anhängig; er benutzte nunmehr seine Muße, denselben nach Kräften zu fördern, und führte auch ein glückliches Ende herbei. Ihm selbst war die Advocatur zuwider geworden. So war es ihm denn angenehm, als er nach Inslebenführung der Organisation, wodurch viele Plätze in der Kammer erledigt wurden, von seiner alten Wahlcorporation wieder zum Deputirten gewählt wurde. Er schloß sich aus alter Anhänglichkeit der gemäßigten Opposition an, welche von Stüve geleitet wurde, und die es für Pflicht hielt, das Ministerium Schele, solange es bestrebt sei, die Einmischung des Bundes fern zu halten, nach Möglichkeit zu unterstützen. Dies war aber die ernste Absicht Schele's. Er wußte in Georg V., der auf nichts eifersüchtiger war als darauf, seine volle Souveränetät zu bewahren, den Gedanken wach zu rufen, daß eine Einmischung des Bundes ein Eingriff in seine königlichen Rechte sei, während die Camarilla und die Minister von Borries und von der Decken predigten: wenn die Einmischung auf Wunsch des Königs geschehe, so sei das kein Eingriff in die Selbständigkeit Hannovers und auch kein Bruch des königlichen Wortes, wenn der Bundestag eine Revision anordne. Schele versuchte das Möglichste, die Ritter zu versöhnen, deren Prätensionen sich jedoch fortwährend steigerten. Die zehn Gebote, welche das Ministerium 1852 den Ständen behufs einer Revision der Verfassung vorlegte, gingen zu weit, und als dasselbe im nächsten Jahre mit gemäßigtern Vorschlagen kam, auf welche hin ein verfassungsmäßiger Auftrag hätte gefunden werden können, war der König durch seine Umgebung schon zum Verfassungsbruche bestimmt, und das Ministerium ohne Halt. Gänzlich unberechtigte Einflüsse von Predigern, einem Friseur, dem Polizeidirector Wermuth machten sich geltend, die Minister konnten wochenlang keine Audienz bei dem Könige erhalten, und als gerade die wichtigsten Entscheidungen bevorstanden, im Juni, reiste der König mit seiner Gemahlin nach London. Hier waren um Prinz Albert mehrere deutsche Fürsten versammelt, der jetzige König von Preußen und Prinz Adalbert, der Großherzog von Mecklenburg, der Herzog von Sachsen-Koburg. Vielleicht wollte man in England versuchen, diesen Fürsten selbst klar zu machen, daß die Pflicht der Selbsterhaltung dem Deutschen Bunde gebiete, gegen den russischen Koloß, der die Türkei zu verschlingen drohte, Front zu machen.

Bruno und andere Hannoveraner hofften, daß der Aufenthalt in England die Feindschaft des Königs gegen den Constitutionalismus mäßigen, und daß Prinz Albert den Rath wiederholen würde, auf verfassungsmäßigem Wege zu bleiben und sein Königswort zu halten.

Allein Georg war auf der abschüssigen Bahn zu weit vorgegangen, er ertheilte von London aus Befehl zur Auflösung der Zweiten Kammer und beharrte auch in England bei der Verstellung, sehen zu können. So besuchte er in hannoverischer Artillerieuniform am 2. Juli Woolwich, und er, der notorisch Blinde, gab sich vor Europa die Blöße, sich die Stückgießerei daselbst, das Laboratorium und Wagendepot zeigen zu lassen, die Dinge zu besehen und zu beloben. Auf dem am Abend stattfindenden Hofballe wagte er jedoch nicht, die Königin Victoria oder seine Marie zu Tanze zu führen. Während letztere sich der Prinzessin Auguste von Preußen eng anschloß, vermied Georg die preußischen Vettern, ließ sogar seine Feindschaft gegen dieselben hervortreten.

Am 4. Juli in die Heimat zurückgekehrt, begab er sich nach Norderney – hier wußten die Ritter seine schwache Seite zu finden; der Köder der Domänen lockte über alle Bedenken hinweg, die dem Bruche des königlichen Worts entgegenstanden. Schele war in der Schweiz, sein persönlicher Einfluß hörte auf.

Die Hauptintrigue wurde aber erst in Schloß Rotenkirchen abgespielt, und sie verdient unsern Lesern mitgetheilt zu werden, weil sie dadurch ein richtiges Bild von dem blinden Könige bekommen.

Die alte freie Hansestadt Eimbeck, berühmt durch ihr Bier und die verpfändeten Welfenhosen, liegt in einem nach allen Seiten, außer nach dem Leinethale hin, von Bergen eingeschlossenen Thale. Nach Norden ist sie durch die Hohe Hube und den Braunschweiger Hils, nach Nordwesten durch den sargartigen Hundsrück, nach Südwesten durch die Vorhügel des Sollings wie nach Osten durch die Vorberge des Harzes geschützt. Nach Südwesten liegt am Fuße eines bewaldeten Berges, der einst die Burg der Herren von Gruben auf seinem Rücken trug, ein alter Thurm als Ueberrest. Die Herren von Gruben, wie die Besitzer der nach Osten oberhalb des Fleckens Salzderhelden liegenden Heldburg, waren Raubritter, welche das Ilme- und Leinethal unsicher machten, und als um das Jahr 1270 Herzog Albrecht von Grubenhagen sich dort festsetzte, wurde von den Welfen das Räuberthum lustig weiter fortgesetzt bis in das funfzehnte Jahrhundert hinein. Die Herzoge von Grubenhagen trieben jedoch die Sache großartiger, sie zogen über die Weser hinüber und raubten aus dem Kattenlande Vieh und alle Habe, die sie fortschleppen konnten. So vereinigten sich denn 1448 der Landgraf Ludwig der Friedsame mit den Vettern des Grubenhageners, Heinrich dem Friedfertigen und Wilhelm dem Aeltern von Braunschweig, und den Söhnen des letztgenannten, sowie mit den Städten Braunschweig, Hannover, Göttingen, selbst mit dem Erzbischofe von Mainz, dessen Besitzungen im Eichsfelde gleichfalls von der Raubburg aus unsicher gemacht wurden, um dem räuberischen Herzoge das Handwerk zu legen. Dürfte man den Chronikschreibern trauen, so wäre die Feste Grubenhagen damals von 20000 Mann belagert gewesen. Wol schleuderten die beiden größten und berühmtesten Geschütze der Göttinger, der Makefrede und die Scharpe Grete, viele hundert Steinkugeln gegen die Thürme und Mauern der Grubenburg, schossen aber keine Bresche. Der göttinger Friedensmacher barst, und unter den Verbündeten brach die übliche deutsche Uneinigkeit aus. Der Landgraf von Hessen wollte die Burg für sich haben und behalten, wenn sie erobert wäre; das wollten die Braunschweiger nicht leiden; die Städter aber wollten die Burg brechen, das wollten wieder die Herren nicht, und so wurde Grubenhagen gerettet. Aber schon 1521 war die Burg dem Zahn der Zeit erlegen. Philipp der Aeltere fing an am Fuße des Berges Rotenkirchen aufzubauen, sein Sohn erbaute dort ein Ablagerhaus und eine Kirche. Als aber 1596 die Herzoge von Grubenhagen ausgestorben waren und die wolfenbüttelsche Linie Besitz ergriffen hatte, blieb das schöne Besitztum länger als zwei Jahrhunderte hindurch unbesucht von den Fürsten, die es besaßen. Auch der Reichsgraf Daru, dem es Napoleon schenkte, hat es nie gesehen. Erst als der Herzog von Cambridge Hannover namens seines Vaters, des irrsinnigen Georg III., beherrschte, oder richtiger namens seines Bruders Georg, des Prinz-Regenten, ließ dieser die frühere erste Beamtenwohnung zu einem Jagdschlosse umbauen und machte häufig auf großen Hofjagden den Solling unsicher, ohne dem übermäßigen Wildstande erklecklichen Schaden zu thun.

Dem Könige Ernst August wurde Rotenkirchen ein Lieblingsaufenthalt; wir haben im Laufe unserer Erzählung schon einmal diesen Ort eine Rolle spielen sehen, und das hat denn den Verfasser bewogen, kurz bevor er dieses Kapitel schrieb, sich die Oertlichkeit näher zu betrachten.

Ernst August ließ die Kirche zu einem Absteigequartier für seine Cavaliere einrichten, ebenso die zweite Beamtenwohnung, auch wurde auf Landeskosten eine Chaussee dorthin gebaut. Als ich auf dem etwa eine Meile langen Wege von Eimbeck diese Chaussee fuhr, kam mir derselbe Gedanke, der dem alten König, wie ich erst später hörte, in höchstem Zorne entfuhr, als er den neuen Weg zum ersten mal befuhr – er kreischte in der Fistel seiner Umgebung zu: »Welches verdammte Schweinehund hat diese Chaussee gebaut?« Und in der That, man findet hier, obgleich die Natur nicht das geringste Hinderniß zu einem schnurgeraden Wege bietet, viel mehr Schlangenkrümmungen, als die Chaussee von Burg Klam zum Semmeringkogel beschreibt. Mein Kutscher war glücklicher im Verständniß der Erklärung dieses Umstandes als der unglückliche Erbauer, welcher sich damals im Gefolge Ernst August's befand. Der König wollte es nicht als Entschuldigung dienen lassen, daß es damals noch kein Expropriationsgesetz im Lande Hannover gab, und daß die Grundeigenthümer, welche zwischen königlicher und Landeskasse nicht unterschieden, glaubten, die Chaussee würde aus königlichem Beutel bezahlt, und unverschämte Entschädigungen forderten.

Das Volk aber ist mit dieser einfachen Erklärung, warum man die alten Wege, die sich nach Lage der Grundstücke krümmten, beibehielt, nicht zufrieden; es erzählt, der Baumeister habe eine schöne Wirthstochter im Dorfe Edemissen zur Geliebten gehabt, und um diese öfter zu sehen, habe er den Weg über dieses Dorf eingeschlagen.

Rotenkirchen besteht, wenn man die Gastwirthschaft vor der Domäne, die Schweizerei im Holze, die Wohnung des Fasanenmeisters und Gehegereuters ausnimmt, aus einem Complex von etwa einem Dutzend Gebäuden, die einen sehr großen viereckigen Hofraum einschließen. Das sogenannte Schloß ist ein im vorigen Jahrhundert erbautes Haus mit Souterrain, Erdgeschoß und einem Stockwerk, neun Fenster breit, mit der Fronte nach Süden. Eine breite Freitreppe führt zu dem durch einen runden Windfang von der Hausflur gesonderten Eingange. Zwei Candelaber mit goldenen Kronen auf eisernem Untergestell zieren die Treppe. Georg pflegte die Zimmer des Erdgeschosses zu rechter Hand zu bewohnen, aus den Fenstern derselben hat er zu verschiedenen Zeiten zu der Bevölkerung, die ihm Ovationen brachte, zu den Harzern, die nach Rotenkirchen befohlen waren, zu der Schuljugend von Eimbeck und ihren Ludi-Magistern christlich-welfische Reden gehalten. Hinter diesem Empfangs- und Audienzsalon befindet sich der Speisesaal, der Parkseite zu. Im Stockwerk ist der Tanzsalon nebst verschiedenen Zimmern und Schlafgemächern; die Königin Marie pflegte in den letzten Zimmern nach Nordosten zu wohnen, mit der Aussicht auf den im schönen englischen Geschmack angelegten vierzig Morgen großen Park. Die Aussicht auf einen Teich, von herrlichen Baumgruppen umgeben, auf dem weiße Schwäne sich wiegten, war für das romantisch-fromme Gemüth der Königin ein wahres Labsal, wie sie sagte.

Das Schloß war geräumig genug, um außer der nächsten Umgebung der Majestäten auch noch Besuch bergen zu können; für Cavaliere war aber durch Ernst August die Kirche zum Ablager und Logirhause bestimmt, das Schiff der Kirche zu Pferdeställen, darüber Kutscherwohnungen, über diesen eine Reihe Wohn- und Schlafzimmer, blaue, grüne, rothe Kammern, ein Musiksalon, Billard und Spielzimmer, mit einfachen weißgoldenen Tapeten geschmückt. Da man den Cavalieren nicht zumuthen konnte, durch die alte ausgetretene steinerne Wendeltreppe, welche zum Thurme führte, die obern Gemächer zu betreten, so hatte man das Schloß mit der Kirche durch eine bedeckte Galerie verbunden, von der eine hölzerne Freitreppe über die Kutscherwohnungen hinweg in die obern Räume führte.

Der König und seine Gemahlin, nebst dem achtjährigen Kronprinzen und den fünf- und vierjährigen Prinzessinnen Friederike und Marie, weilten seit Mitte September in Rotenkirchen. Dahin wurden dann die Minister häufig befohlen und namentlich der Ministerpräsident von Schele. Seine Revisionsvorschläge hatten die Billigung der Märzminister und der besonnenern Oppositionsmitglieder, und Schele konnte die Erwartung hegen, daß bei einer Neuwahl Zweiter Kammer die jüngern Elemente der Opposition, welche auf die vertragsmäßige Entstehung der Verfassung, auf das königliche Wort und das Recht sich steiften und nichts von einer Aenderung wissen wollten, die über dreitausend Wählern zur Ersten Kammer das Wahlrecht entzog, schwerlich wiedergewählt würden. Der Ministerpräsident hatte nach seiner Zurückkunft aus der Schweiz seine Erwartung, bei Neuwahlen auf die Majorität rechnen zu können, dem Könige gegenüber ausgesprochen; dieser hatte ihm aber verschwiegen, daß er wegen des Deficits in seiner Kasse daran denke, auch das Finanzkapitel zu ändern, die Domänen in Selbstverwaltung zu nehmen, und daß er es nicht mehr für einen Bruch seines königlichen Wortes halte, wenn auf seine Anträge der Bund die Verfassungsrevision besorge. Während noch am 13. October Schele und Windthorst mit dem Könige auf Grund des ursprünglichen Ministerprogramms, den verfassungsmäßigen Weg innezuhalten, unterhandelten, ward schon am 15. von Lütcken nach Rotenkirchen berufen und mit ihm über die Bildung eines dem Willen des Königs gänzlich unterthänigen Ministeriums verhandelt.

Die Vorbereitungen zu dem auf Neujahr bevorstehenden Zollanschluß erheischten mancherlei Besprechungen der Minister mit dem Könige, und so verging denn keine Woche, ohne daß der eine oder andere von ihnen nach Rotenkirchen berufen wäre. Die Südbahn war damals erst bis Alfeld vollendet, und das Reisen war beschwerlich. Schele, Windthorst und der Cultusminister von Reiche waren auf den 20. October nach Rotenkirchen beschieden. Als sie in Eimbeck ankamen, erkundigte sich Windthorst bei dem Löwenwirth, wann der Landdrost von Lütcken zurückgereist sei. Herr Eicke jedoch hatte den Herrn von Lütcken zwar nach Rotenkirchen abfahren, aber nicht zurückkommen sehen. Auf dem Wege nach dem Jagdschlosse erörterten die drei Staatsminister die Frage, zu welchem Zwecke Herr von Lütcken wohl in Rotenkirchen gewesen sei, ob freiwillig oder befohlen, und ob derselbe noch dort sei und bei Tafel erscheinen werde?

»Ich glaube, daß Lütcken noch beim Könige ist«, sagte Windthorst, der von jeher ein guter Diplomat war, »und bin überzeugt, daß er mit Bildung eines Ministeriums beauftragt ist, wenn man seine Anwesenheit vor uns verheimlicht.«

Die Minister kamen noch vor Mittag in Rotenkirchen an, und es war noch keine halbe Stunde verflossen, als Windthorst wußte, daß Herr von Lütcken heimlich im Cavalierflügel weile, und zwar in den Zimmern, die in spätern Jahren für den Kronprinzen reservirt waren, neben dem Musik- und Billardsaale.

Der König befahl die Angekommenen zu Tisch. Hier erschien Lütcken nicht, derselbe wurde auch mit keinem Worte erwähnt. Windthorst wußte nun, woher der Wind wehte. Georg war außerordentlich freundlich, namentlich gegen Schele, er sendete demselben wiederholt seine Schnupftabacksdose, ließ sich von der Schweizerreise erzählen, erzählte selbst einige Anekdoten aus seinem londoner und norderneyer Aufenthalte, wie er den Emdenern den Standpunkt klar gemacht und ihnen gesagt habe, daß an eine Erweiterung der Emsschleuse und Verlegung des Fahrwassers nicht gedacht werden könne, solange die Stadt Emden Deputirte sende wie diesen Stadtrichter Buren, und Leer Leute wie den Amtsassessor Groß.

»Ueberhaupt, mein Herr Justizminister, und Sie, Excellenz von Reiche, lassen Sie es sich gesagt sein, daß es zweckmäßig ist, die Justizbeamten sowol als die Geistlichen wissen zu lassen, daß wir entschlossen sind, landesväterliche Milde und Nachsicht unsern Dienern in Justiz, Verwaltung und im geistlichen Stande – ich denke da beispielsweise an die Pastoren Pfaff und Rese in Zweiter Kammer – nicht mehr zukommen zu lassen, wenn sie offen gegen unsere königliche Regierung Partei ergreifen. Wir dürfen von allen unsern Dienern erwarten, daß sie unsern landesväterlichen Bestrebungen entgegenkommen, nicht aber unserer Regierung in den Ständen, bei den Wahlen, in Zeitungen und Druckschriften entgegentreten. Dem constitutionellen Schwindel muß ein Ende gemacht werden. Ich kann mir keine Monarchie denken ohne Theilnahme der Ritterschaften an der Gesetzgebung.«

»Ew. Majestät wissen«, fiel Herr von Schele ein, »daß Ew. Majestät getreues Gesammtministerium seit längerer Zeit darauf Bedacht genommen hat, den Ritterschaften wiederum einen größern Antheil an der Gesetzgebung zu gewähren, daß es aber, um auf gesetzlichem und verfassungsmäßigem Wege vorschreiten zu können, nicht auf die jüngsten Forderungen des Rittertags zu Celle eingehen kann, den Rittern die ausschließliche Vertretung des großen Grundbesitzes in Erster Kammer zu übertragen. Das widerspricht der Statistik und würde dazu unter keiner Bedingung die Zustimmung der Stände zu erlangen sein.«

»Versparen wir dies Thema spätern Erörterungen«, sagte Georg, »ich würde vorschlagen, den Kaffee im Freien einzunehmen, wenn ich (er drehte den Kopf nach der Parkseite des Speisesalons) nicht sähe und hörte daß ein starker Nordwind durch die Blätter rauscht; begeben wir uns deshalb nach dem Musiksalon.«

Damit war das Zeichen zur Aufhebung der Tafel gegeben. Der König und seine Gesellschaft erhoben sich und schritten durch die Galerie zu der Freitreppe. Excellenz Windthorst, der sehr kurzsichtig ist, hatte beim Abwischen der Brille eins der Gläser herausgedrückt und blieb etwas zurück, um das Glas wieder einzuklemmen. Ein königlicher Bediensteter kam ihm dabei zu Hülfe und flüsterte ihm einige Worte zu. Der Justizminister eilte dann den Voraufgegangenen nach, ohne Brille, und so verfehlte er den Eingang in den Musiksaal und traf unglücklicherweise das unverschlossene Zimmer, in welchem Herr von Lütcken bei einer Flasche Champagner allein dinirte.

Das Gerücht sagt, daß bei diesem unvermutheten Zusammentreffen Excellenz Windthorst seine ganze Fassung behalten, der künftige Ministerpräsident aber sehr erschrocken sich gezeigt habe.

Dennoch vergingen nach dieser Scene vier Wochen, ehe Georg V. dem Mohr Schele bedeutete, er könne gehen, er habe seine Schuldigkeit gethan. Der Macher unter Schele dem Vater, Lütcken, hatte Schele den Sohn verdrängt.

Als der König bei seiner Abreise von Rotenkirchen am 1. November die Worte sprach: »Ich bete täglich zu dem Herrn für das Wohl meiner Unterthanen und hoffe, daß das Band, welches nun schon tausend Jahre zwischen den hiesigen Einwohnern und meinem Geschlecht bestanden hat, auch ferner noch lange fortbestehen möge«, da hatte er schon selbst Hand angelegt, dieses Band (das freilich viel später geschlungen war, da 855 noch kein Welfe einen Fuß nach Norddeutschland gesetzt hatte und die Gegend zwischen Weser und Leine von Raugrafen von Dassel und den Grafen von Nordheim beherrscht wurde, ja Grubenhagen nachweislich erst 1250 als eine welfische Besitzung erwähnt wird) zu zerschneiden. Denn ein König, der sein königliches Wort bricht, der verscherzt jede Liebe und jede Achtung seines Volkes; er hat es sich selbst beizumessen, wenn ihn das Volk vom Throne verjagt oder seiner Verjagung ruhig zusieht.


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