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Wer in den zwanziger und dreißiger Jahren in Göttingen studirte, oder sich dort Studirens halber aufhielt, der ist auch im Hause des witzigsten aller Kroneninhaber, Friedrich Bettmann, gewesen, in der Goldenen Krone an der Weenderstraße, in welcher Kaiser und Könige zu öftern malen seitdem ihr Nachtquartier aufgeschlagen haben. Wer dort aber jenerzeit ein- und ausging, der fand allda alltäglich ein altes, kleines, zusammengeschrumpftes Männchen, mit gelber Perrüke, die weniger als Haarschmuck, denn zur Erwärmung des Kopfes diente, abends in der hintern Stube vor der Mutterflasche mit gelbem Lack sitzen, sich und den Stammgästen daraus einschenkend und diese lebhaft unterhaltend. Als die Georgia Augusta ihr funfzigjähriges Jubiläum feierte, da war dieser alte Mann schon wohlbestallter Universitäts-Kupferstecher, und als 1837 Göttingen sein hundertjähriges Jubiläum feierte, da war Riepenhausen neben Brüderchen Heinrich Dietrich, dem Sohne des obenerwähnten Buchhändlers Heinrich Dietrich, dem Pastor Luther u. a. m. einer der wenigen, die noch vom Jahre 1787 erzählen konnten als Festgenossen und Universitätsmitglieder von damals. Riepenhausen, der Freund Lichtenberg's, Blumenbach's, Wrisberg's, der Hauswirth Bürger's in seiner schwersten Lebenszeit, der geniale Mann, der Hogarth's Meisterwerke mit seinem Griffel für Deutschland zugänglich, ja mit Lichtenberg's Erklärungen zum Nationaleigenthum gemacht hat, war zu der Zeit nach 1830 nichts mehr als ein alter schwacher Mann und Vater zweier berühmter Söhne, der Gebrüder Riepenhausen, Maler in Rom, während ein jüngerer Sohn bummelnd und nichtsthuend ihm das Mark des Lebens aus dem Beutel sog, und eine Tochter, Präsidentin eines 1822 gestifteten Ypsilanticlubs, nach dem Einen wahren Zukünftigen schmachtete. Riepenhausen war, sobald es dunkelte, Sommer und Winter der erste Gast in der Krone. Er wußte viel zu erzählen, der alte Herr, und er hat mir Dinge berichtet, von denen in unzähligen Büchern, die über Göttingen geschrieben sind, kein Wort steht, und hätte sich Otto Müller von ihm eine Stunde über Bürger erzählen lassen, er würde einen bessern Roman als den uns vorliegenden geschrieben und Novalis nicht mit dem Vetter des Fürsten von Hardenberg verwechselt haben.
In der andern Gaststube hingen damals noch einige alte vergilbte Kupferstiche, theils mit dem Namen von Riepenhausen, theils mit dem seines Schülers Grape bezeichnet. Das eine war ein Nachtstück mit der Unterschrift: Landesvater der Studenten im Kerstlingeröder Felde in der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 1790. Da lagen sie herum, die Studiosen der damaligen Zeit, mit ihren dreieckigen Hütchen, ihren Zöpfen, den langen bis auf die Hacken reichenden Röcken, Fracks darf man wol nicht sagen, zum Theil in Kniehosen mit seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, zum Theil mit Stulpenstiefeln, im großen Kreise auf der dunkeln Waldwiese. In der Mitte brennt ein großes Feuer. Neben dem Feuer sitzt der Präsident, den Degen (nicht den Schläger) in der Hand mit daraufgespießten Hüten. Einige dieser Degen, ganz voll von Hüten, liegen schon zu seinen Füßen. Neben ihm stehen zwei Eimer mit Wein und liegen eine Anzahl Becher auf der Erde. Der Studiosus, der, den Hut auf den Degen stoßend, vor ihm steht und singt:
Ich durchbohr' den Hut und schwöre,
Halten will ich stets auf Ehre,
Stets ein treuer Bursche sein –
nähert sich offenbar moderner Richtung. Er hat eine kurze Jacke, lange Beinkleider, der Hut, den er in der Hand hält, ist rund, wie ihn von den Hunderten der umherlagernden Studenten nur ein Zehntel trägt. An der Seite hat er den Degen, das Pistol im Gürtel. Das Haar ist üppig und hinten mit Mühe zu einem dicken Zopf zusammengebunden. Man sieht es der Figur, so klein sie auf dem Bilde ist, an, daß das ein Geist ist, der gewirkt und geschafft hat in der Welt.
Riepenhausen hat mir das Bild oft erklärt. »Sudelarbeit, Sudelarbeit!« pflegte er zu sagen, »Jugendsünden von Grape, mein Name steht unschuldig darunter, habe nur die Zeichnung gemacht, war dabei, hatten mich meine Freunde mitgeschleppt; der dort singt, war mein Herzensfreund, ein prächtiger Junge, Justus Erich Bollmann, wissen Sie, wissen Sie, der den Lafayette in Olmütz befreite. Hier an dieser Ecke lagerten Karl Haus, Heinrich Schulz und ich. Schulz erhebt sich schon, er muß nach Bollmann in den Kreis und vor den Präsidenten treten. Es fehlte an Bechern, mußte der Stiefelwuchs die Becher den in den Kreis Tretenden gefüllt überreichen.
»O ich kann Ihnen noch ein paar Dutzend von denen nennen, die da liegen. Sehen Sie, der Präsident da in der Mitte, dem Feuer nahe, er hält den Degen mit den Hüten in der linken Hand, in der rechten hält er die lange Thonpfeife, von denen der Stiefelwuchs rechts des Feuers einige Dutzend mit gelbem Knaster stopft, das war der Graf Schlottheim, die eigentliche Seele des Auszugs. Hier im Vordergrunde lagert der Graf Saint-Simon, der seit zehn Jahren die Ihnen bekannte Sekte gestiftet hat. Auch der Metternich ist auf dem Bilde, aber wo? Ach meine Augen, meine alten Augen, sie wollen nicht mehr.
»Hier auf dem zweiten Bilde, das Tagsleben in Kerstlingerode darstellend, sitzt wieder Schlottheim als Bacchus ohne Rock auf dem Faß. Sehen Sie dort unter den Bäumen rechts. Da war die Friseurwerkstatt aufgeschlagen, sämmtliche Friseure Göttingens waren dem Auszuge gefolgt und verrichteten hier unter freiem Gotteshimmel das Aufbinden der Zöpfe und Pudern. Das da, links in dem Baumgange, sind die witzenhäuser Obstweiber, die gleichfalls nachgefolgt waren. Ja wären wir noch acht Tage dort oben geblieben, die gesammten göttinger Philister und viele Hofräthe und Professoren wären nachgezogen. Aber wir litten schon am dritten Tage Hunger, denn die Freitische und die Traiteurweiber zogen nicht mit.
»Sehen Sie hier das dritte Bild, der Einzug der Studenten ins Albanithor. Das da ist der von Sehlen'sche Garten, damals Wacker's Garten. Alle Senioren und Consenioren der Verbindungen sind zu Pferde, voran wieder Graf Schlottheim.
»Will Ihnen sagen, will Ihnen sagen, junger Freund, war eigentlich großer Unsinn die ganze Geschichte. Kommt ein Tischlergesell nach Göttingen und redet den auf der Weenderstraße wie gewöhnlich bummelnden Grafen Schlottheim an: »Kann Er nicht sagen, wo die Tischlerherberge ist?« »Verdammter Kerl!« erwidert dieser und schlägt ihn hinter die Ohren, »wie kann Er mich Er nennen?« Das haben aber einige Gesellen in einer nahen Herberge gesehen. Sie springen dem Bruder Tischler zu Hülfe, und Graf Schlottheim bekommt eine tüchtige Tracht Schläge. Dieser ruft: »Bursche heraus!« Der Ruf durchtönt die Stadt und bald sind sechshundert Burschen, mit Säbeln, Degen, Rappieren bewaffnet, auf den Straßen. Aber die Gesellen sind verschwunden, man findet keinen Gegner, mit dem man sich schlagen kann. Da kommt dem Grafen Schlottheim ein großer Gedanke. »Die Füchse sollen hinter der Mauer her eine Feuerleiter holen!« befiehlt er. Dies geschieht. Man setzt die Leiter an die Tischlerherberge, holt das Schild herunter, trägt es in feierlicher Procession nach der Leine und wirft es bei der Alleebrücke in den Kanal.
»Nun aber fühlt sich der ganze Handwerkerstand, Meister wie Gesellen, an ihrer Ehre gekränkt, und da man von dem ›Akademischen‹ vergeblich Genugtuung fordert, rottet man sich zusammen, überfällt zunächst das Corps, dem Schlottheim als Senior vorsteht, als es seine Kneipe verläßt, und prügelt jeden Studenten, den man trifft. Abermals heißt es: ›Bursche heraus.‹ und jetzt kommt es zu einem förmlichen Treffen, wobei die Flederwische der Rappiere und Degen gegen Ziegenhainer und Besenstiele unterliegen. Dragoner werden von Nordheim requirirt, die Ruhe herzustellen. Sie hauen nicht nur auf die Philister und Knoten ein, sondern auch auf die Studenten.
»Das nehmen diese übel, und so heißt es Auszug. Auszug, in Ver . . . . . . wer nicht mit auszieht! . . . So kam es. Habe mich immer zu der Jugend gehalten und bin deshalb auch jung geblieben, im Herzen wenigstens. Folgte meinem Freund Bollmann, den ich ins Herz geschlossen. Aber der Graf Schlottheim!
»Ein schlimmer Knabe das, viel Lärm und Unruhe gemacht in meinem Hause, könnte schöne Geschichten von ihm erzählen. Bürger hat seine Frau seinethalben fortgejagt und mit Recht.«
Der Alte trank ein Glas aus der Mutterflasche, andere Gäste traten herein, Philipp Otto von Münchhausen kam aus dem Theater und ergriff das Wort, und nun kam der Alte nicht mehr zur Rede.
Also waren unsere jungen Freunde in so großer ernster Zeit in kleinlichen Studententhorheiten verkommen? Wir freuen uns, das verneinen zu können; aber dem Auszuge konnte sich kein Bursche entziehen, ohne in Verruf zu kommen. Justus Erich, der Mediciner, Karl, der Jurist, und Heinrich, der Theologe, setzten in Göttingen das im Rathskeller zu Bremen angeknüpfte Freundschaftsbündniß fort, sie wohnten in Einem Hause an der Marsch, führten in manchen Dingen Einen Haushalt, liebten sich und schwelgten in Natur- und Poesiegenüssen, in Träumen der Vergangenheit und Zukunft.
Bollmann war der praktischste von ihnen, der das Leben nahm und genoß, wie es sich ihm gab, ohne die Zukunft von einer sehr idealen Seite anzusehen. Ein Arzt in Hoya, vielleicht ein Physikus mit dem Titel Leibmedicus und einer Einnahme von 1000 Thalern, wenn das Ding gut ging. Ein liebes, sorgsames Weibchen, vielleicht seine süße Nachtigall aus Heustedt, das war seine Zukunft, wie er sie sich früher gedacht hatte. Sie genügte ihm nicht, ein unbestimmter Drang wollte mehr vom Leben. Jetzt, wo die Franzosen erwacht waren, die Ketten von sich abgeschleudert hatten, wo die Bastille zertrümmert lag, Freiheit und Gleichheit das neue Evangelium geworden war, und auf dem Marsfelde Herzogin und Tagelöhner, Nähterin und Marquis gearbeitet hatten, die Karren zu füllen, um den Festplatz herzustellen, war Hoya für seine Zukunft zu klein. Er hätte Volkstribun sein mögen, in der Constituirenden Versammlung sitzen, die Rechte des bedrückten dritten Standes, der ja für die Zukunft alles sein sollte, zu vertheidigen.
Heinrich Schulz war eine mehr träumerische Natur. Ihm war in Göttingen erst ein Verständniß dessen, was wir mit dem Gesammtnamen Bibel bezeichnen, erschlossen. Michaelis, der kühne Orientalist, hatte nicht umsonst die erste kritische Hand an die heiligen Bücher gelegt, die Deisten in England hatten ihm nicht umsonst vorgearbeitet.
Heinrich saß halbe Nächte hindurch im Winter, und war früh morgens auf im Sommer, um Kant's »Kritik der reinen Vernunft« zu studiren, und sich in eine Gedanken- und Kategorienwelt zu vertiefen, die weder Justus Erich noch Karl begreifen konnte.
Karl hatte sich ursprünglich leidenschaftlich auf Institutionen und Pandekten geworfen. Das Studium war damals noch ein schwierigeres, man folgte der Anordnung der Compilation, man studirte nach den Legalpandekten. Dann hatte er sich zwei Lieblingsstudien und Lieblingslehrer angeschafft, freilich in Charakter und Gesinnung wie im Ziel des Lehrens grundverschieden; Spittler, den vorurtheilsfreien, denkenden Historiker, den Fortschrittsmann, und Pütter, den grundgelehrten Repräsentanten des Zopf- und Geheimen Hofrathsthums, den Ausbildner der Diplomaten und des Fürstendienerthums in Göttingen. Spittler glaubte an eine Zukunft der Menschheit, und wußte diesen Glauben seinen Zuhörern einzuimpfen, sie für alles Menschlichgroße zu begeistern, wie er selbst dafür begeistert war. Spittler war einer der wenigen, die für die Ideen der Französischen Revolution schwärmten, die Altflickerei haßten und es für nöthig hielten, daß die Völker fortan nach einem neuen System, nach Principien des allgemeinen Rechts und nach allgemeinen Ideen von der menschlichen Natur, selbst die Geschichte künstlerisch machten, und sich nicht blos durch Fürsten, Maitressen, Günstlinge und intriguante Diplomaten Geschichte machen ließen. Er hielt es für nöthig, daß sich die bestehenden Staaten von Grund aus regenerirten. Aber er durfte diese seine Gesinnung nicht äußern. Georg III. war der schlimmste Gegner der Französischen Revolution und der entschiedenste Hasser jeder Neuerung. In Hannover war der hohe Adel selbstverständlich ebenso gesinnt als der König, und die arbeitende bürgerliche Büreaukratie hielt mit Rehberg dafür, daß es die Erbkrankheit der Deutschen sei, das Hirngespinst von einer über alle Mängel und Unvollkommenheiten erhabenen Menschheit, ein Ideal der Menschheit zu haben. Ob Ernst Brandes eine Zeit hatte, wo er die entwürdigende Stellung der Geheimen Justiz, Hof- und Kanzleiräthe und der Geheimen Kanzleisecretäre, denen er selbst angehörte, zu den Geheimräthen fühlte, eine Zeit, wo er einen Anflug von einem Demokraten hatte? Wir würden es nicht glauben, wenn es sein Schwager, der ehrliche Heyne, nicht selbst seinem eigenen Schwiegersohn, Georg Forster, geschrieben hätte. Als Ernst Brandes aber von Burke die Aussicht auf eine Unterstaatssecretariatsstelle in London eröffnet war, da war es vorbei mit solchen Hirngespinsten, da ging die Ordre nach Göttingen, über die Französische Revolution nicht in anderer Weise zu denken, keinenfalls in anderer Weise zu reden und zu schreiben, als Burke in seinen Betrachtungen es gethan hatte. Das Höchste, was man erlaubte, war die Lehre: »Bessert bei zeiten, damit nicht eingerissen werde.« Um dem Campe'schen »Genealogischen Almanach« entgegenzuarbeiten, den man für eine versteckte »Ermahnung der Völker zum gottgefälligen Aufruhr« ansah, mußte in Göttingen ein Revolutionsalmanach herausgegeben werden, der in das Schwarze malte. Die Censur wurde verschärft, das Censuredict von 1707 schien kaum noch zu genügen. Man sah es gar nicht ungern, daß der Studentenexceß von 1790 entstand, war das doch der beste Beweis, daß die Jugend noch nicht von revolutionären Ideen angesteckt war.
Pütter, mit seinem zweiundzwanzigsten Jahre schon Professor in Göttingen, war die lebendige Reichsgeschichte, der größte Kenner des verwickeltsten aller Rechte, des deutschen Staats- und Fürstenrechts und des Reichskammergerichts- und Reichshofrathsprocesses. Er hatte in seiner Jugend, nachdem er in Wetzlar und Wien die Erbärmlichkeiten der beiden höchsten Reichsgerichte kennen gelernt, eine »patriotische Ausbildung des heutigen Zustandes der beiden höchsten Reichsgerichte« geschrieben und darin den Verfall des Reichsjustizwesens sammt dem daraus entstehenden Unheil für das ganze Reich erörtert. Allein er hatte damit, wie ihm Adolf von Münchhausen, der Stifter der Georgia Augusta, schrieb, »zu Wien das Kalb in die Augen geschlagen«.
»Damit nun der kaiserliche Hof nicht enragire«, schrieb der Minister von Münchhausen selbst eine Recension für die »Göttinger gelehrten Anzeigen«, welche vertuschte, beschönigte, versüßte, verkleisterte. Pütter legte seitdem solche, nicht nutzenbringende Schreibereien beiseite, die unzähligen Gutachten, welche er für Fürsten, reichsunmittelbare Städte und Ritter anfertigen mußte, brachten klingende Goldstücke in den Seckel. Pütter sah nicht, daß das Heilige Deutsche Reich, schon aus allen Fugen gerissen, nur noch ein Gespenst war, er lehrte deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, repräsentirte Hannover neben den eigentlichen Gesandten bei deutschen Kaiserwahlen und bildete sich ein, ein deutsches Reich reconstruiren zu können, wenn es zerstört würde. Als 1796 der König von Preußen und der Kronprinz von Dänemark, der älteste Sohn unserer Karoline Mathilde, von einem Besuch bei dem Landgrafen von Kassel zurückkehrend, auf dem Hardenberg übernachteten, vermaß sich Pütter: »Wenn er den Umsturz des Deutschen Reichs erlebe, aus den Ruinen des alten ein neues Staatsrecht zu bilden.« Im nächsten Jahr war schon Rastadt da, und bis zur formellen Auflösung des Reichs dauerte es nur wenige Jahre. Ob der Pütter, der ein neues Reich erbauen könnte, uns in Bismark erstanden ist? Die Siebzehn und die Professoren von 1848/49 sammt allen Mitgliedern des Parlaments wie Vorparlaments haben es nicht gekonnt.
Reichsgeschichte und Reichsstaatsrecht gehörten nicht zu den juristischen Brotstudien, sie waren eigentlich nur Sache der vornehmern Studirenden, die sich auf Fürstendienst oder für diplomatische Carrière ausbilden wollten. Karl hatte aber, wie zur Geschichte überhaupt, einen ungemeinen Drang, gerade in diesen Fächern sich auszubilden; er war einer der fleißigsten Zuhörer Pütter's, was ihm denn auch eine Einladung des Geheimen Justizraths zuzog, eine Ehre, die eigentlich nur Grafen und Freiherren zutheil wurde.
Pütter wohnte in dem jetzigen Krämer'schen (Rüte'schen) Hause an der Allee- und obern Maschstraße, und ihm standen, mehr wie beinahe sämmtlichen Professoren und Hofräthen, die größten Räume damals zur Verfügung. Er pflegte jeden zweiten Sonntag zu einer Partie einzuladen. Es wurde in drei, vier Zimmern von Herren und Damen eine Partie Whist gespielt, Thee getrunken, Kuchen und Butterbrot, später für die Herren ein Glas sauern Weins verabreicht. In den Jahren 1788 und 1789 waren die englischen Prinzen (später die Herzoge von Cumberland, Sussex und Cambridge) jedesmalige Gäste. Die nichtspielenden Herren sammelten sich in einem Rauchzimmer, im Sommer auch wol in dem Garten und Gartensalon, mit blauen Fliesen ausgelegt, in den später Goethe vor dem Tuten der göttinger Nachtwächter flüchtete. Der Geheime Hofrath nahm Karl, als dieser erschien, beiseite.
»Mit Freuden, Herr Haus, habe ich bemerkt, daß Sie nie eine Stunde meines Collegiums versäumt haben, und ich zweifle nicht, daß Sie zu Hause fleißig nachstudiren. Der Herr Geheimrath Graf von Schlottheim hat mich beauftragt, einen jungen Mann in Vorschlag zu bringen, der mit seinem Sohn deutsche Reichsgeschichte und Staatsrecht repetire. Sie würden für vier Stunden wöchentlich das Semester ein Honorar von 10 Louisdor bekommen, und außerdem würde Se. Excellenz gewiß bei späterer Carrière förderlich sein. Darf ich Sie vorschlagen?« Karl nahm mit vielem Dank das Anerbieten an, das ihm die Gelegenheit gab, seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen und in den Ferien eine Rheinreise zu machen, zu der er auch schon von dem Stipendium des bremer Onkels zurücklegte.
Man hatte mit Bollmann und einem Schweizer Girtanner schon den Harz nach allen Richtungen durchstreift, Fußtouren nach Kassel waren an jedem Pfingstfest unternommen, der Rhein, das war die Sehnsucht der Heustedter, die Bollmann durch seine Erzählungen von dort immer mehr anfrischte.
Nachdem der Student zugesagt, verfehlte Pütter nicht, den künftigen Repetenten dem anwesenden Studiosus Grafen Schlottheim vorzustellen. Es wurde eine Zeit und der Anfang des Repetitoriums verabredet. Der Herr Graf war aber kein fleißiger Schüler, er schwänzte das Repetitorium, so oft es ihm einfiel, und vom Repetiren konnte eigentlich nicht die Rede sein, da Schlottheim absolut gar nichts aus dem Collegium heimgebracht hatte. Wozu soll ich mich mit Lernen plagen? habe ich als künftiger Geheimrath nicht meine Arbeitsesel, die Geheimen Secretarien und die Geheimen Hofräthe? dachte er durchaus folgerecht.
Karl lehnte die ihm gebotene Karte ab, er begab sich in das Rauchzimmer, wo Lichtenberg, sein Lehrer in der Physik, mehrere jüngere Professoren und Privatdocenten, auch einige Studenten sich unterhielten. Eigentlich trug nur Lichtenberg die Kosten der Unterhaltung, indem er, wie seine große Elektrisirmaschine, wenn sie in Schwung gesetzt war, Witzfunken auf Witzfunken entströmen ließ. Er behandelte in Gegenwart der meist Bezopften eben das Thema von den Schwänzen, zu dem er Zeichnungen von Chodowiecki vorlegte.
»Hier, meine Herren, sehen Sie zuerst zwei Musterbilder heroischer kraftvoller Schwänze, zuerst einen Sauschwanz . . . man sieht den Teufel der Sauheit, man fühlt instinctmäßig den Schrecken Israels. Der Inhaber oder vielmehr die Inhaberin dieses Schwanzes war ein Urgenie, lungerte Tage lang im Schlamm hin, vergiftete ganze Straßen mit unausstehlichem Pestgeruch, brach in eine Synagoge bei Nacht und entweihte sie scheußlich. Sie ward, nachdem sie mit unerhörter Grausamkeit drei ihrer Jungen lebendig gefressen, und nun ihre kannibalische Wuth an einem armen Kinde auslassen wollte, von Betteljungen erschlagen und von ihren Henkersknechten halb gar gegessen.«
Man lachte unbändig, weil man in dem zusammengerollten Schwanz den Zopf eines in der akademischen Welt wohlbekannten Mannes, des Commandanten der Schnurren (akademischen Polizeisoldaten) zu erkennen glaubte.
»Hier ein neues Bild, der Schwanz einer englischen Dogge. Betrachten Sie diesen Hundeschwanz und bekennen Sie offen, ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, sich eines solchen hätte schämen dürfen. Durchaus nichts weichlich hundselndes, nichts damenschösichtes, zuckernes, mausknapperndes, winziges Wesen. Ueberall Mannheit, Drangdruck, hoher erhabener Bug und ruhiges, bedächtiges, kraftherbergendes Hinstarren. Wer fühlt nicht hohe, an menschliche Idealität angrenzende Hundheit in dieser Krümmung. Dieser Schwanz gehörte Heinrich's VIII. Lieblingshunde zu, er hieß und war Cäsar.
»Hier ein drittes Bild, acht Silhouetten von Burschenschwänzen. Nr. 1 ist fast Schwanzideal! Germanischer eiserner Elater im Schaft; Adel in der Fahne; offensiv liebende Zärtlichkeit in der Rose. Durchaus mehr Kraft als Besonnenheit! Nr. 2. Ueberall mehr Besonnenheit als Kraft. Aengstlich gerade, nichts Hohes, nichts Aufbrausendes, süßes Stutzerpeitschchen, zartes Marzipanherz ohne Feuerpuls. Nr. 3. Eingezwängter Fülldrang, studirt Medicin! Nr. 4. Satyrmäßig verdrehte Meerrettichform. Der Kahlköpfigkeit letzter Tribut an Schwanzheit bezahlt. Alte Feldmarschallskraft zu Fähnrichs Natur aufpommadet, aufgekämmt und aufaffectirt. Nr. 5. An Schneidergesellheit und Lade grenzende schöne Literatur. Nr. 6. Junger Kater oder junger Tiger. Nr. 7. Abscheulich! Elendes Werk nicht der Natur, sondern des Seilwinders. Nr. 8. Heil dir und ewiger Sonnenschein, glückseliges Haupt, das dich trägt. Stünde Lohn bei Verdienst, so müßtest du Kopf sein, vortrefflicher Zopf und du zopfbeglückter Kopf!
»Aber meine Herren, zerreißen Sie mir das Bild nicht, bemühen Sie sich vielmehr, folgende Fragen zu lösen:
»Welches ist der Jurist, der Mediciner, der Theologe, der Weltweise, der Taugenichts, der Lügner?
»Welcher ist der verliebteste?
»Welcher hat den Freitisch?
»Welchen könnte Goethe getragen haben?
»Welchen würde Homer wählen, wenn er wiederkäme?«
Man lachte so laut, daß die neugierigsten Damen aus den benachbarten Spielzimmern kamen, um zu sehen, was es gäbe; . . . jeder der Herren prüfte und betrachtete den Zopf des andern, um eine Aehnlichkeit zu finden. Alle waren der übereinstimmenden Meinung, daß es sich zu Thieren machen heiße, einen solchen Schwanz am Kopfe zu tragen, und doch mochte keiner wagen, den eigenen Zopf zuerst wegzuschneiden.
Aber Lichtenberg konnte auch ernsthaft sein; als das Gespräch auf die neuesten Begebenheiten in Frankreich kam, sagte er manches scharfe Wort für die junge Aristokratie aus ganz Deutschland, die sich nach und nach um den Zopftisch gesammelt hatte. »Die Französische Revolution«, sagte er unter anderm, »wird nicht nur die Reise um die Welt machen, wie mein Freund Mirabeau schon gesagt hat, sie wird auch die Welt umwandeln, und unsere Enkel werden es erleben, wie der aus Nichts zu Etwas gewordene dritte Stand sich, wenn er glaubt auf der Stufe der Herrschaft zu stehen, ebenso gegen den heute noch nicht existirenden vierten Stand vertheidigen muß, wie jetzt das Königthum, der Adel und die Geistlichkeit gegen den dritten Stand.«
Karl dachte die ganze Nacht hindurch an diese Worte.
In Göttingen wurden die Eindrücke, welche die Französische Revolution auf die ganze Welt machte, für Studiosen auf jede Weise abgeschwächt und abgedämpft. An einer journalistischen Presse fehlte es in Hannover, das unter einem unerhört harten Censuredict seufzte, gänzlich; auswärtige Zeitungen waren nur dann erlaubt, wenn sie alles schlecht machten, was von den Freiheitsdranges in Frankreich geschah; französische Originalblätter kamen nur in die Hände der wenigen Professoren, welche sich von Berufs wegen oder aus eigenem Sinn auch mit dem beschäftigten, was in der Gegenwart geschah. Es war für jedermann schwer, die Wahrheit zu erfahren, da die Facta auch in den französischen Blättern immer nur im Licht der einen oder andern der kämpfenden Parteien erschienen.
Wie anders, als im Herbst 1790 die Freunde mit dem schon genannten kleinen Girtanner nach dem Rhein kamen. Dort hatte die Bevölkerung bis auf die Straßenbuben sich schon entschieden, man war Aristokrat oder Jakobiner, und man mochte hinkommen, wohin man wollte, in öffentliche oder Privatgesellschaften, überall entweder Enthusiasmus für die neu heraufbrechende Zeit oder Feindschaft und Haß gegen sie. Dort wimmelte es schon von Emigranten, die, königlicher als der König, Complote über Complote schmiedeten, Ludwig XVI. und Marie Antoinette aus den Händen des Mob zu befreien, wie man sich ausdrückte.
Es kam über unsere jungen Freunde zum ersten mal das Gefühl der Freude, in einer Zeit zu leben, wo die Menschheit so thätig sich rührte, sie hörten hier zuerst von dem eigentlichen Inhalt der parlamentarischen Kämpfe in Frankreich wie von den leidenschaftlichen Verhandlungen der Clubs.
Sie sahen, wie die Discussionen der Nationalversammlung das ganze Gewebe der politischen Verhältnisse offen legten. Alle staatsrechtlichen, bürgerlichen, sittlichen, volkswirtschaftlichen Fragen wurden zu gleicher Zeit erörtert, und die jungen Köpfe wurden ganz verwirrt von der Mannhaftigkeit der vielen neuen, plötzlich auf sie einstürzenden Ideen.
Dazu kam der überwältigende Eindruck, den der Rhein auf jeden macht, der ihn zuerst sieht. Eine Fußreise von Heidelberg bis Köln, und dann wieder hinauf nach Mainz erquickte die Studiosen an Leib und Seele; wie den jungen Wein trank man die Ideen der Französischen Revolution von Menschenrechten, ureigenen und urheiligen, von Freiheit und Gleichheit. Girtanner, der Schweizer und Republikaner, war ganz Feuer und Flamme und mehr als einmal mußte ihn die norddeutsche Ruhe und Kraft Karl's und Heinrich's aus Conflicten mit aristokratisch gesinnten jungen Leuten ziehen, mit denen er an öffentlichen Orten aneinandergerieth.
Drei junge Schwärmer für Freiheit und Gleichheit zogen Mitte October wieder in Göttingens Thore ein, das sie mit ziemlich indifferenten politischen Ansichten verlassen hatten. Von nun an waren Politik und die mannichfachen kleinen Ereignisse der Rheinreise der Gesprächsstoff der Freunde, denen der ältere Riepenhausen, der wenig von Deutschland gesehen hatte, eifrig zuhorchte, während er rührig Grabstichel und Radirnadel führte.
Wenn man von der kurz vor dieser Zeit also getauften Prinzenstraße in Göttingen über den Collegienplatz nach der Paulinerstraße ging, so hatte man damals wie jetzt rechts die Bibliothek, links eine Mauer von Kalksteinen, hinter der Bäume auf das Vorhandensein von Gärten deuteten. War man durch den sogenannten Bibliotheksbogen, in welchem an schwarzen Bretern allerlei Anschläge von zu haltenden und nur pro forma angekündigten Vorlesungen, Relegationen, consiliis abeundi der Georgia Augusta und anderer Universitäten, hinter Gitterwand angeschlagen waren, auf die Paulinerstraße gelangt und wandte sich nach Osten, so kam man links einbiegend durch einen Thorweg im Meister'schen Hause zu einem der Gärten hinter jener Mauer, der dann an den Garten hinter der Dietrich'schen Buchdruckerei und dem Prinzenhause stieß. In diesem Garten stand ein von Bäumen eingeschattetes Haus, das des Kupferstechers Riepenhausen. Dieser, damals etwa vierunddreißig Jahre alt, beschäftigte sich, jene beiden Bilder Hogarth's in Kupfer zu stechen, welche einen Ausspruch des Aristoteles in Beziehung auf alle lebenden Creaturen versinnlichen sollten, der auch von Blumenbach als wahr anerkannt wurde, jedoch » excepto passere et studioso«, wie er unter Beifall seiner zahlreichen Zuhörer ein halbes Jahrhundert hindurch explicirte.
Es war Winter und Riepenhausen hatte seine jungen Freunde zu einer Bowle eingeladen, damit der Abzug der ersten Platte avant la lettre, der ein äußerst gelungener war, gefeiert würde. Eine Bowle Punsch machte man damals auf einfachere Art als heutzutage; Schiller gibt das Recept. Bollmann braute das Getränk aus Rum, Citronen und Zucker. Girtanner stopfte die thönernen Pfeifen, Karl hatte Riepenhausen's Zeichenmappe vor sich, Heinrich saß am dickleibigen eisernen Ofen und träumte vom neuen Schlosse in Heustedt und seinem Ideal Anna. Ein ordentliches Gespräch wollte nicht zu Stande kommen, denn Riepenhausen wohnte zu ebener Erde, über ihm wohnte als sein Miethsmann der Dichter Bürger, und dessen junge Gattin hatte »ihren Abend«.
Gottfried Bürger hatte sich wenig Monate früher aus Stuttgart jenes Schwabenmädchen als dritte Frau geholt, die sich öffentlich ihm selbst angeboten, die übernommen hatte, Molly's Stelle auszufüllen.
Bürger hatte ihr die Beichte eines Mannes geschickt, der ein ehrliches Mädchen nicht hintergehen will. Er hatte ihr sein Aeußeres wie Inneres wahrheitsgetreu geschildert, sie hatte ihm geantwortet, sie werbe nicht um Fleisch und Bein und Kleid, und stelle er als Aga der Philistergilde sich dar, sie wisse besser, was an ihm sei:
Getreu wird's (das Schwabenmädchen nämlich)
unter Himmelssegen
Des einzig lieben Mannes pflegen
Bis zu dem höchsten Stufenjahr,
Und Deutschland soll's zu rühmen haben,
Daß dieses Jungferlein aus Schwaben
Einst Bürger's Gattin war.
So war Elise Hahn als Bürger's Gattin in Göttingen eingezogen und hatte schnell in der jungen Studentenwelt Eroberungen gemacht. Um die pecuniären Verhältnisse Bürger's aufzubessern, hatte man acht bis zehn Kostgänger aus der Zahl der vornehmern und reichern Studirenden angenommen, welche mittags wie abends an Bürger's Tafel aßen. Das Schwabenmädchen ließ die Küche durch eine Köchin besorgen, machte am Morgen die Toilette und empfing oder machte Visiten, ging nachmittags spazieren oder empfing zum Kaffee, ging abends in Concerte, Bälle, Pickenicks. Man war damals in der ganzen Welt nicht sehr prüde, wie man es heute wenigstens zu sein scheint; auch in dem Hause manches steifleinenen Hofraths ging es in Abwesenheit desselben oder nachts, wenn er schlief, sehr lustig zu. Man fand aber bald, daß Elise Bürger es etwas zu weit treibe, sie nahm den bisher begünstigten Damen ihre Liebhaber. Das verzeiht man in der Frauenwelt nicht. Heute empfing die Frau Professorin. Ein nicht sehr großes Zimmer nahm fünfzehn Personen auf, darunter sechs Herren und neun Damen; man trank Thee und aß Kuchen und Butterbrot dazu. Man scherzte und lachte, klatschte und skandalisirte über Abwesende. Die Damen waren jung, die Herren nur Studiosen, zum Tanzen war kein Platz. Elise schlug ein Pfänderspiel vor.
Die Strafen dictirte Amor, sie bestanden regelmäßig in Küssen, bei denen nur die Zahl, die Art und Weise, ob die ganze Gesellschaft durchgeküßt wurde oder ob einzelne Personen sich küssen mußten, ob dies öffentlich oder in dem dunkeln Nebenzimmer geschah, wechselte. Eine scheinbare Sprödigkeit, die zu entfliehen suchte, sich aber doch haschen oder fangen ließ, erhöhte den Reiz des Spiels. Nach dem Pfänderspiel kam Blindekuh an die Reihe. Man tanzte im Kreise um die Blindekuh, die dann plötzlich zwischen die Tanzenden sprang, um eine Person zu haschen und zu benennen. Der Kreis zerstob dann; der oder die Gefaßte suchte zu entfliehen; es entspann sich oft ein Kampf, bei dem der Blinde sich erlauben durfte, was dem Sehenden unerlaubt gewesen wäre. Man riß und zerrte sich, fiel zu Boden, wälzte sich auf demselben herum, wie die Kinder es zu thun pflegen. Die Toiletten der Damen kamen in Unordnung, die gepuderten Seitenlocken der Jünglinge zeigten sich widerspenstig, die Zöpfe wurden auch wol zum Schabernack aufgebunden, kurz es war ein Leben und Treiben, von dem wir heutzutage einen Begriff gar nicht haben, und zu dessen Schilderung ein Hogarth'scher Pinsel gehörte.
»Mach, daß du fertig wirst«, sagte Riepenhausen zu Bollmann, der noch immer an seinem Punsche braute, »diesen Höllenlärm ertrag' ich nicht mehr. Auf die Gefahr hin, daß ihr mir mein Staatszimmer zurechtschmökert, daß Lichtenberg, der morgen meinen ersten Abdruck sehen will, wenn er den Knaster riecht, zu schimpfen anfängt, führe ich euch dorthin. Da sind wir unter Bürger's Schlafgemach und haben diese wilde Jagd nicht über uns.«
»Ich bin gleich fertig«, sagte Bollmann, die letzte Citrone ausdrückend, »aber sag' einmal um aller Welt willen, wie kann der Bürger so blind sein?«
»Der arme Kerl hat angebissen, das Schwabenmädchen trägt seinen Ehering, was soll er machen.«
»Mein Zögling«, frug Karl, »Graf Schlottheim, steht wol in erster Reihe unter den Liebhabern?«
»Nicht doch, Graf Hardenberg scheint mir zur Zeit der Begünstigte zu sein. Ich fürchte, es wird nächstens zwischen beiden zum Conflict kommen. Gestern Morgen ging Schlottheim die Treppe hinauf, um der Angebeteten einen Blumenstrauß zu bringen, während Graf Hardenberg herunterkam. Graf Hardenberg sah gegen die Behauptung des Aristoteles da«, er wies auf seine Kupferplatten, »ganz glücklich und fidel aus. Obgleich meine Treppe nun breit genug ist, carambolirten die Herren doch. Und ob nun, wie ich deutlich sah, Schlottheim stieß, entschuldigte sich doch Hardenberg ganz höflich und bemerkte höhnisch, er bedaure, daß der Herr Graf zu spät komme, der Herr Professor habe seine Vorlesung schon beendigt und genieße bei seiner Frau eine Tasse Chocolade.«
»Nun still mit dem Klatsch«, rief der Punschbereiter dazwischen, »sind wir denn Frauenzimmer? Hier, der Trank ist gut, ich folge dir in dein Staatszimmer, vorausgesetzt, daß du Bürger, der in seinem Collegiensaal gegenüber sich auf morgen zu präpariren scheint, einladest.«
»Soll geschehen, soll geschehen«, sagte Riepenhausen und trippelte aus dem Atelier, während die Gesellschaft, Heinrich mit Lichtern voran, Bollmann mit der Punschbowle, Girtanner mit den gestopften Pfeifen und dem Taback, Karl mit dem Präsentirteller voll Gläser in das Staatszimmer wanderten. Dieses würde heutigentags für ein solches nicht haben gelten können, außer einigen vorzüglichen alten Stichen, die an der Wand hingen, war es einfach mit einem Sofa von Rohr geflochten, mit Rohrstühlen und einigen Tischen und Kommoden möblirt.
Riepenhausen, der schon damals mehr trippelte als ging, erschien nun mit Gottfried Bürger, der wie ein Riese neben dem schwächlich gebauten Hauswirth aussah. Bürger entschuldigte sich, daß er in Schlafrock und Pantoffeln komme, sein Hauswirth habe ihn aber mit Gewalt vom Studium Kant's fortgeführt. Bürger rauchte aus seiner langen Pfeife . . . »seinem Hausprügel«, wie er sie nannte; er wurde in das Sofa genöthigt, und bald kreisten die Punschgläser und vertrieben die finstern Wolken von Bürger's Stirn, die sich in der Regel dort schon lagerten. Man sang eins der damals beliebten, aus dem Kreise des göttinger Dichterbundes stammenden Punschlieder, man sprach über Kant und die Widerwärtigkeiten, die Bürger als Lehrer seiner Philosophie hier zu bestehen habe, stritt, ob Lessing's »Nathan« oder Schiller's »Don Carlos« oder Goethe's »Egmont« das berühmteste deutsche Drama werden würde, machte Muthmaßungen, wer das neue Talent wol sei, das ein Jahr früher seine Auswahl aus des Teufels Papieren in die Welt geschleudert, man kam auch des öftern auf die beiden Platten zurück, welche Riepenhausen zur Zeit in Kupfer stach, um an die Situation allerlei Späße zu knüpfen, denen Bürger nicht abhold war, die aber für unsere heutigen Leser zu derb sein möchten.
Bollmann braute schon an der zweiten Bowle, als ein kleiner, feingepuderter Herr in braunem Frack und eleganten Spitzenmanschetten, gleicher Chemisette und weißem Halstuch in die Stube trat.
»Willkommen, willkommen! Brüderchen!« schallte es von allen Seiten. Es war Heinrich Dietrich, der Jüngere, der Buchhändler.
»Das trifft sich ja, wie von Gott gegeben, wollte eben meinem Freund Bürger dort einen heute hier angekommenen Schatz bringen, und da treff' ich die ganze saubere Gesellschaft wie in Auerbach's Keller. Kinder! Kinder! wenn ihr wüßtet, was ich hier in der Hand trage! . . . Doch welcher sauersüße Duft weht mir dort aus euerer Suppenterrine entgegen? Welcher vernünftige Mensch kann solch Zeug saufen? Riepenkerl! ich will verdammt sein, wenn ich je wieder einen Stich von Euch in meine Almanachs nehme, dafern Ihr mir nicht sofort Papier und Feder und einen dienstbaren Geist schafft. Schüttet das Zeug da zum Fenster hinaus, wenn ich Euch rathen darf, oder schickt es den Burschen hinauf, die bei Frau Professorin oben lärmen, wie ich schon im Garten gehört, das ist ja höchstens Burschengesöff! Mein Schatz kommt nicht aus den Händen, bis dieses unreine Getränk vom Tisch ist.«
Riepenhausen war indeß mit einem Talgstumpf schon in sein Atelier gestürzt, um Tinte und Papier zu holen und um sein Factotum Puddelmeier, der in der Küche Wasser zur dritten Bowle kochte, herbeizurufen.
Bürger rief aber: »Brüderchen, Gevatter und Verleger, hochgeehrtester Gönner und Freund, woher auf einmal diese Verachtung gegen einen Trank, den die Götter selbst uns gegeben? Wie viele Abende und Nächte haben wir uns an diesem Göttertrank gelabt? Nektar und Ambrosia sind uns nichts dagegen gewesen.«
Heinrich Dietrich hatte indeß einige flüchtige Zeilen auf die Rückseite eines verunglückten Abdrucks der Platte I geschrieben und übergab sie Puddelmeier.
»Sklave, geh' sofort zu meiner Wohnung . . . die Gartenpforte steht dir offen, und laß dir von meinem Bedienten und Kellermeister das Getränk geben, das hier verzeichnet ist.«
Währenddeß hatte Bollmann die Gläser vollgeschenkt und brachte dem »Brüderchen«, dem Schutzgeist aller Theologen, die das Unglück hatten, vom Apfel Eva's genascht zu haben und die Quarre zu kriegen vor der Pfarre, »dem Vater aller Theologenkinder«, ein Hoch, in das die Gesellschaft einstimmte.
Die neue Bowle war leer, ehe der Famulus zurück war, und Riepenhausen ging, gefolgt von Heinrich, in die Küche, um eigenhändig die Punschgläser zu spülen, er besaß andere nicht und wußte, daß Brüderchen Dietrich edlern Stoff anfahren ließ, als bisher getrunken war.
Endlich kam Puddelmeier mit dem Bedienten, Kellermeister, Friseur und Inhaber sonstiger geheimen Functionen seines Herrn, mit Hahnmeier zurück, jener einen vollen Korb, dieser vier Flaschen Champagner unter dem Arme.
»Du bleibst hier und schenkst ein«, sagte Heinrich zu seinem Hahnmeier; »Puddelmeier kann sich in die Ecke bei dem Tabackskasten setzen und die Pfeifen stopfen, wer von euch beiden aber das Maul aufthut und ein Wort spricht, schmeckt meine Reitpeitsche«, und er schwenkte diese mit einem Pfiff durch die Stube, der keine Lust zum Ungehorsam zu erzeugen geeignet war.
Die Gläser waren indeß voll Burgunder geschenkt.
»Meine Brüder«, sagte Heinrich Dietrich, »diese Perle des Weins auf die größte Perle deutscher Dichtkunst, Bürger, du und ihr alle, die ihr euch Perlen nennt, seid Schofel und Quark gegen das!« Dabei zog er ein Buch aus der Tasche und reichte es Bürger: »Da lies und ihr andern schweigt.«
Bürger entfaltete das in Broschürenform, ohne Goldschnitt und den reizenden Einband der verschiedenen Dietrich'schen Almanachs, auf schlechtem Papier schlecht gedruckte, vom ersten Leser beim Aufschneiden zerfetzte Buch und las den Titel: »Faust. Ein Fragment.« Den Haupttitel: »Goethe's Werke«, hatte Dietrich herausgeschnitten.
»Brüderchen will einen schlechten Witz machen«, äußerte Bollmann, indem er sich von neuem einschenkte und auch seinen Nachbarn, die ausgetrunken hatten.
»Ruhig«, donnerte Dietrich.
Als nun Bürger mit seiner schönen Stimme den Monolog Faust's . . . (das Vorspiel auf dem Theater und der Prolog im Himmel existirten damals noch nicht) . . . zu lesen anfing, wurde es ruhig, so still und ruhig, daß man von oben das Toben der Gäste der Frau Professorin vernahm, das glücklicherweise dem Leser selbst entging. Und als nun Bürger den Dialog mit dem Geiste schloß mit den Worten:
Ich, Ebenbild der Gottheit?
Und nicht einmal dir!
winkte Brüderchen Dietrich seinem Hahnmeier, um die Gläser zu füllen, sie wurden geleert und wieder gefüllt. Und nun fing Bürger, der während des Trinkens die beiden folgenden Seiten flüchtig überblickt hatte, zu lesen an, mit Ton und Geberde, die vielleicht kein Mime, selbst nicht Ludwig, Emil und Karl Devrient oder wie die Herren Künstler unsers Jahrhunderts sonst heißen mögen, je erreicht hat.
Als er endete:
Der letzte Trunk sei nun mit ganzer Seele
Als festlich hoher Gruß dem Morgen zugebracht
und tief athmend nach dem Glase griff, war es, als ob die ganze Gesellschaft, Puddelmeier und Hahnmeier ausgenommen, die von dem Vorgelesenen kein Wort verstanden, sondern ihre Aufmerksamkeit ganz nach außen lenkten, aus einer geistigen Erstarrung erwachte.
Kaum war Bürger aber so weit gekommen, daß er las:
Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton,
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde!
als draußen tiefes Summen und heller Lachklang in einer so lauten Weise erscholl, daß der Vorleser sich unterbrach, Riepenhausen zur Thür eilte und Hahnmeier unter seinen Händen zu der geöffneten Thür verschwand, um bald darauf mit der Meldung hereinzutreten, daß die Bedienten und Mädchen der Herrschaften, welche bei der Frau Professorin zum Thee seien, sich versammelten, da es elf Uhr abends sei. Das Gelärm draußen wurde immer größer, namentlich als nun der eine oder andere Studiosus herabkam und bei den weiblichen Dienstboten Entschädigung suchte für das, was ihm die Herrin vielleicht verweigert hatte. Da das Staatszimmer an der Hausflur lag, wurde das Lesen freilich unmöglich und man hielt sich an das Getränk.
Endlich wurde es ruhiger. »Hast du keinen Pokal?« fragte Dietrich den ganz unruhig gewordenen und aus dem Häuschen gekommenen Riepenhausen. Dieser brachte einen alten mit der Kunstfertigkeit des Mittelalters in Glasmalerei, Schneide- und Schleifkunst gefertigten Pokal herbei. . . . »Hahn«, so war die gewöhnliche Anrede an das Factotum, » öffne eine Flasche Champagner . . . schenke den Pokal voll und bring' ihn der Frau Professorin hinauf mit einer Empfehlung von mir, und ihr Herr Gemahl wäre in guter Gesellschaft bei seinem Hauswirth, wünschte, daß sie seinetwegen nicht aufbliebe, sondern sich schlafen legte, um von ihm zu träumen. Hast du verstanden, Hahn? Aber Kerl, wenn du dich länger als eine Minute bei der Köchin Elisabeth aufhältst, holt dich der Teufel, so wahr ich Heinrich heiße.«
Nun wurde weiter gelesen. Bürger hatte seine Pfeife längst ausgehen lassen, er ließ das volle Glas vor sich stehen, was selten geschehen war, er hörte nicht auf das, was um ihn gesprochen wurde, er verschlang das Fragment, das er weiter vorlesen sollte.
So war abermals eine Stunde wol vergangen. Man hatte bei mehr als Einer Scene Pause gemacht, bei mehr als Einem Kraftwort des Mephistopheles das Glas geleert, man war in der Gartenscene, als Bürger offenbar zerstreuter las, dann plötzlich das Buch zur Seite warf, von seinem Platz aufsprang, durch den Kreis der Freunde eilte und zur Treppe, der dunkeln, hinaufsprang.
»Was ist das?« sagte Dietrich.
»Was wird es sein«, antwortete Bollmann, »als daß dein Champagner in Mephistopheles' Gestalt dort oben Spuk anrichtet.«
Indessen hörte man oben bald großen Lärm, laute Stimmen, dann Geräusch, welches ein Mensch zu machen pflegt, der eine Treppe hinuntergeworfen wird. Hahnmeier hatte durch den Augenwink seines Herrn die Erlaubniß bekommen, zu sehen, was draußen geschehe. Er kam mit der Nachricht in die Stube, daß Graf Schlottheim, der sich bei der Köchin Elisabeth wahrscheinlich verspätet, bei der plötzlichen Rückkehr des Herrn Professors sich habe still davonschleichen wollen und die Treppe hinabgestürzt sei. Derselbe sei aber bis auf die Frisur unverletzt.
Jeder dachte das Seine, das Fragment wurde nicht zu Ende gelesen, aber der Wein zu Ende getrunken. Elise wußte ihren Mann zu überzeugen, daß Schlottheim nicht ihrethalben, sondern Elisabeth's wegen zurückgeblieben sei, welche die Frechheit gehabt habe, während sie an ihre Freundin, die Frau von Münchhausen in Braunschweig, geschrieben, dem Grafen in ihrer, der Frau, Schlafkammer, ein Rendezvous zu geben. Bürger bat wegen seiner ungerechtfertigten Eifersucht um Verzeihung, die ihm gnädigst gewährt wurde.
Ja, so war es in der guten alten Zeit.