Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die erste steife halbe Stunde des Liebesmahls war glücklich überstanden. Die lange Festtafel, durch eine Reihe von Gästen und eingezogenen Reserveoffizieren reich an Gedecken, prangte im Glanz feingeschliffener Bowlengefäße und blumengeschmückter, schwersilberner Tafelaufsätze, Geschenke fürstlicher Chefs, gesinnungstüchtiger Reserveoffiziere oder reicher scheidender Kameraden; und dieser behagliche Luxus hatte im Verein mit den immer zahlreicher auffahrenden Flaschenbatterien eine frohe Feststimmung erzeugt; und als mit dem Braten der übliche kurze Toast auf die Damen kam, erfolgte ein desto längeres Zutrinken und Anklinken, dessen froher Lärm im Tusch der Musik ertrank. Die Ordonnanzen sprangen als Liebesboten von Stuhl zu Stuhl, um die Toaste und Ulkworte von Mund zu Mund zu befördern; die Junggesellen gedachten der Ehehälften ihrer verheirateten Kameraden, die heute ohne Sekt ihr einsames Mahl einnahmen, und mancher Ehemann freute sich wieder einmal der kurzen Strohwitwerschaft und dachte, nicht ohne Neid auf die noch Ungebundenen, an seine eigene Junggesellenzeit zurück.
Der junge Leutnant von Brieg saß am unteren Tafelende zwischen dem Reserveleutnant Werdeck und dem nur bei großen Gelegenheiten mitspeisenden Oberstabsarzt. Er war bisher versonnen und einsilbig gewesen, aber jetzt ließ auch er die Ordonnanzen springen, um seinem Rittmeister und dem verheirateten Oberleutnant der Schwadron ein Wohl auf ihre Damen zu bestellen, während die andern Junggesellen bereits mit zweideutigem Schmunzeln auf ihre Liebschaften anstießen oder dem ganz zu unterst sitzenden Fahnenjunker zuprosteten, der jedesmal automatisch auf und ab wippte und den Kelch vorschriftsmäßig bis zur Neige leerte.
Leutnant von Brieg wandte sich dann mit seinem Glase verschiedenen älteren Kameraden zu, voran dem Leutnant von Waldburg, der ihn stets ein wenig bemutterte und ihm jetzt mit einem großen Sektglase Bescheid gab, in dem ein mit Gabelstichen durchbohrter Pfirsich auf und ab tanzte. Dann nahm er den Oberleutnant von Meyring, den etwas gefürchteten Adjutanten, aufs Korn, der gerade zum Kommandeur herüberhorchte und ihn kaum beachtete. Durch diesen Mißerfolg nicht entmutigt, trank er auch noch dem Leutnant von Schmitt zu, dem vierschrötigen Sohn eines pommerschen Gutsbesitzers, dessen kupferrotes Gesicht da, wo die Tschapka anfängt, mit scharfem Schnitt in die weiße Stirn überging. Auch Briegs blasse Züge röteten sich durch das Zutrinken rasch; sein verschleierter und verträumter Blick flackerte unstet auf, und wie in plötzlichem Entschluß begann er sich in die Unterhaltung einzumischen.
Zuerst waren es ernste Gespräche, in die er sich mit seinem Nachbar, den Reserveleutnant Werdeck, vertiefte; aber die andern Herren, die sonst nicht viel auf ihn hörten, begannen ihn bald damit aufzuziehen, und Herr von Brieg ging deshalb zu gekünstelten Scherzen über, die ihm in der Weinlaune bisweilen gelangen. Er fand damit sogar leichten Anklang bei den Kameraden und senkte den Blick, halb beschämt, halb erfreut über diesen Erfolg, auf seine linke Hand, die er auf dem Tische liegen hatte. Es war eine feingeschnittene, weiße Aristokratenhand, unter deren Haut das rosige Fleisch und das bläuliche Geäst der Adern hervorschimmerte, während ein dünner Goldreif mit einem altmodisch gefaßten Wappenstein sich um den vierten Finger wand.
Allmählich nahm die Unterhaltung einen etwas stürmischen Charakter an, besonders als die Mahlzeit zu Ende ging. Die Ordonnanzen räumten die Gläser mit dem eingeschliffenen Namenszug des Regiments, das feine Porzellan mit dem aufgemalten Monogramm und das schwere, wappengeschmückte Tafelsilber ab und setzten hohe silberne Spiritusleuchter auf. Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Obersten, der schließlich einen der schweren Spitzenabschneider aus Silber und Ebenholz ergriff und seine Zigarre in Brand steckte; und sobald die ersten blauen Rauchringel in die schwüle Sommerluft hinaufquirlten, folgte die ganze Tafelrunde wie auf Kommando seinem Vorbild. Auch Herr von Brieg senkte seine Hand in eine der von den Ordonnanzen herumservierten Zigarettenschachteln und legte ein ganzes Häufchen der kleinen Tabaksrollen neben sich. Dann bestellte er sich noch eine Flasche guten Mosel, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, zu sparen, d. h. seine hohe Kasinorechnung auf dem alten Stand zu erhalten. Aber das Beispiel der andern steckte an; der prickelnde Zigarettenrauch, die fröhlichen Weisen der Kapelle, das Lachen und Stimmengewirr ließen das Eis seiner Vorsätze schmelzen, wie die schwüle Wärme die Eisstücke der schwitzenden Sektkühler; und als die Ordonnanz prompt die bestellte Flasche hinstellte, schenkte er sich hastig ein und trank ohne eigentlichen Genuß noch einmal dem Adjudanten zu, der sich aus Tischwein und Soda einen billigen Sekt bereitet hatte. Staub und Verdruß spülen sich ja am besten mit Wein hinunter, und gerade Brieg hatte so viele trübe Gedanken wie Blässe auf der Stirn. Um so tiefer beglückte ihn die zeitweilige Erlösung von ihrem dumpfen Druck; ein weltentrücktes Lächeln schwebte auf seinen Lippen, während er, den Kopf wiegend, dem Takt der Musik lauschte und dichte Rauchwolken vor sich hinblies. Er dachte an nichts mehr; er grämte sich nicht mehr, daß seine Kameraden ihn so links liegen ließen; er plauderte im Gegenteil darauf los, als hätte er ganze Koffer von Neuigkeiten auszupacken. Das unwillkürliche Frösteln, womit er sonst das Kasino betrat, die Ängstlichkeit etwas zu sagen oder zu tun, wodurch er Anstoß erregen konnte, war jetzt verflogen, und bald verstieg er sich aus der Sphäre der Kalauer, in der er sich doch nicht recht heimisch fühlte, in höhere Regionen, obwohl die Zunge schon nicht mehr recht mitwollte und das Gedächtnis zu stocken begann. Einige der Umsitzenden stießen sich bereits mit vielsagendem Lächeln an, und Waldburg, der erst nach der soliden Grundlage des Bratens zu zechen begann, nötigte ihn durch Austrinken des Restes, sein volles Glas hinunterzustürzen. So ging er bald seiner klaren Besinnung ganz verlustig; die flirrenden Lichter im Rauch wurden zu tanzenden Punkten und die sprechenden Lippen bewegten sich lautlos; er hörte nichts mehr ...
Plötzlich stand alles auf und wünschte sich Gesegnete Mahlzeit. Brieg schrak empor und vertraute sich gleichfalls seinen Beinen an. Die ersten Gläser Bier wurden herumgereicht und er griff hastig nach einem, um sich durch den kühlen Trunk wieder aufzufrischen.
»Na, alter Stacheligel, haben Sie sich mal aufgerollt,« nickte ihm der Leutnant von Schmitt zu, und als er vergnügt auf ihn zutrat, schlug er ihm mit einem »Prost, mein Junge!« etwas rüde auf die Schulter und stieß mit ihm an, daß die vollen Gläser überschwappten.
»Aber Sie müssen austrinken; kneifen gilt nicht!« ermahnte er Brieg und goß den braunen Gerstensaft in einem Zuge herunter, daß nur der braune Schaum im Glase kleben blieb. Der junge Herr tat ihm Bescheid, obwohl sein Glas ungleich größer war, und griff dann zu einem neuen, das eine Ordonnanz auf einem großen silbernen Tablett soeben präsentierte.
»Na, Brieg,« mischte sich der Adjutant ein, der sich einen Kognak erwürfelt hatte und mit seinem Raub auf sie zutrat, »was macht denn Ihr Training zum Distanzritt?« Herr von Meyring interessierte sich lebhaft für alle Offizierspferde und ihre Preise. Da er arm war, pflegte er junge Pferde billig aufzukaufen, sie notdürftig anzureiten und dann an einen Infanterieoffizier, einen Reserveleutnant oder einen jungen Kameraden, der sein erstes Pferd brauchte, zu verkaufen.
Brieg gab ihm sehr bereitwillig Auskunft über den Fortschritt des »Training«, wie er nicht ohne Stolz sagte. Diese Distanzritte einzelner Offiziere waren damals gerade in Mode gekommen, und Brieg hatte sich sofort dazu gemeldet, um wenigstens hierin Ehre einzulegen, als Surrogat für das Rennenreiten, das an seiner schmalen Zulage und dem hartnäckigen Nein seines Vaters bisher gescheitert war. Dieser, ein alter Infanterist, hielt Rennen, Spiel und Sektgelage für unzertrennlich, und wünschte vielmehr, daß sein Sohn ein tüchtiger Pflichtmensch würde, als ein lüderlicher Rennreiter.
Heute hatte Brieg seine Rappstute allerdings nicht reiten können. Vormittags war Exerzieren gewesen, und nachmittags hatte er die städtischen Futtermagazine und die Feldbäckerei revidiert.
»Ach so, Sie haben ja Regimentsdienst,« bemerkte der Adjutant mit kaltem Dienstgesicht. »Übrigens,« schloß er wohlwollend, »können Sie Ihr Pferd ja im Stall durchprügeln, wenn Sie's mal nicht reiten können. Ich tue das immer; es ist ein recht guter Ersatz ...«
»Meinen Sie wirklich?« fragte treuherzig der Reserveleutnant Janitschek, der sich etwas unsicher der Gruppe näherte. Die Antwort war ein schallendes Gelächter.
Herr Janitschek war ein etwas ängstlicher Mann, der in seinem Zivilverhältnis Bankier war und wie so viele seinen Stolz darein setzte, sechs Wochen im Jahre für teures Geld die Ulanka zu tragen.
»Sie Bleisoldat,« lachte Schmitt, »wir wollen Sie doch mal taufen.« Damit tat er, als wolle er dessen spärliches Haupthaar mit Bier benetzen.
»Lassen Sie das, Herr von Schmitt,« wehrte er die Neckerei halb scherzend, halb beleidigt ab. »Mit einem alten verheirateten Manne macht man nicht solchen Unsinn.«
»Verheiratet?« platzte Schmitt heraus. »Das ist ja eben das Unkameradschaftliche. Friedrich der Große hat gesagt: Der Soldat soll durch den Säbel und nicht durch die Scheide sein Glück machen!«
Meyring wiegte fein lächelnd den Kopf. »Heiraten ist heute sehr nützlich,« entgegnete er; »'n armer Offizier bringt's zu nichts. Man kann heute das größte Kamel sein, wenn man nur das nötige Kleingeld hat ... Was macht denn übrigens Ihr Gaul?« fragte er Janitschek, dem er kürzlich eine Stute verkauft hatte. »Sie behandeln das Tier doch hoffentlich nach Verdienst?« Janitschek war nicht so begeistert von den Tugenden des Pferdes. Nach seiner Aussage stieg es wie eine Lerche und klebte wie eine Briefmarke, aber Meyring schob die ganze Schuld auf den schlechten Reiter. »Es ist ein lammfrommer Bock und kennt alle Signale auswendig.«
»Bitte, keine Fachsimpelei,« unterbrach ihn Schmitt; »wir haben noch genug von heute vormittag.« Er liebte den Dienst nicht, zumal er bei dem gefürchteten Rittmeister von Degenhart stand, den keiner der Herren ausstehen konnte.
»Am liebsten,« kam Brieg wieder auf seinen »Training« zurück, »ritt' ich heute abend noch nach Grävenitz zu den Dragonern; das wär' doch ein Witz ...«
»So,« sagte der Adjutant gedehnt, »und wenn heute nacht Feuer ausbricht und der Offizier vom Dienst fehlt? ...« Damit wandte er sich ab und trat zu der Gruppe des Kommandeurs, der mit dem Major und dem ältesten Rittmeister gerade über die Nachteile des neuen Armeesattels debattierte.
»Wetten, daß ich heute nach Grävenitz reite und morgen zum Dienst zurück bin?« fragte Brieg unbeirrt und streckte Schmitt die Rechte entgegen.
Aber Schmitt lachte ihn einfach aus: »In dem Zustand kommen sie nicht bis zum Chausseehaus.«
»Wetten,« wiederholte Brieg mit dem leichtfertigen Eigensinn junger Menschen.
»Nein, ich wette nicht.«
»Dann reite ich so.« Damit wollte er zur Tür steuern, obwohl er nicht mehr auf der Ritze gehen konnte. Aber Schmitt sprang hinter ihm her und hielt ihn am Rockzipfel zurück.
»Wenn Sie fortgehen, sage ich es auf der Stelle Meyring, damit der Kommandeur sie zurückhält,« erklärte er barsch.
In diesem Augenblick wurden sie durch Ordonnanzen auseinander gedrängt, welche die lange Tafel zerlegten und fortschafften, die eichenen Stühle mit den wappengeschmückten Stuhllehnen und ledernen Sitzen an die Wand schoben und die Bahn frei machten zum Tanzen. Schon brüllten einige Stimmen zu der versteckten Musikempore »Galopp!« »Polka!« hinauf, und der Regimentstrompeter intonierte flott den ersten Walzer. Ein Reigen schwankender Gestalten walzte alsbald sporenklirrend durch den verräucherten Saal, darunter auch ein paar eingeseifte Gäste, ein Reitlehrer von der Kriegsschule und ein Infanterieoffizier der Garnison, ein alter Gardist, der in die Provinz verschlagen war und sich für seinen früheren feudalen Umgang durch Verkehr mit dem adligen Reiterregiment schadlos hielt.
Denn abgesehen von irgendeinem bürgerlichen Major oder Rittmeister aus einem Dragonerregiment, den die Schicksalslaunen des Militärkabinetts zu den Ulanen versetzte, rollte in den Adern der Herren fast nur blaues Blut, und deß zum Zeichen prangte an den Wänden des Kasinos ein Fries großer Wappenschilde, zu dem auch die Bürgerlichen ihren Beitrag lieferten, selbst wenn ihnen eigens ein Wappen erfunden werden mußte. Gegenwärtig standen drei solcher Konzessionsschulzen im Regiment, ein reicher, verheirateter Oberleutnant Schumann, ein Rittmeister, der, wie man hoffte, nicht lange bleiben würde, übrigens ein guter Diensttuer und ein einfacher, bescheidener Mann, und schließlich der Major beim Stabe, ein gewesener Kommandeur der Lehrschmiede, der bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten sein Wissen auskramte und den Feldschmieden und Roßärzten Konkurrenz machte, wogegen es mit seinen Reitkünsten schwach bestellt war. Die Offiziere machten denn auch gern ihre schnöden Glossen über die Art, wie er die Offiziersreitstunden abhielt oder seine eigenen Pferde in der Reitbahn »arbeitete«, indem er mit verkehrten Hilfen und immer höher steigenden Fäusten Seitengänge ritt, dem Pferde zuredend oder mit der Reitgerte drohend und schließlich in das Eigenlob ausbrechend: »So, nun gehst du mit einem Male!« Augenblicklich hatte er sich etwas angeheitert unter die Tänzer gemischt, und der Oberleutnant Schumann schoß aus den Rauchwolken, die er von sich blies, die Bolzen seines Witzes gegen ihn ab. Er war ein jovialer, lebhafter Rheinländer mit ausgeprägtem Wirklichkeitssinn und anschaulicher Redegabe, deren Treffsicherheit alle belachten. Durch sein selbstsicheres Auftreten hatte er sich vom ersten Tage an Achtung verschafft, und der Bürgerliche ward nicht allein als völlig gleichstehend betrachtet, sondern wegen seiner Energie und seiner losen Zunge noch besonders respektiert, zumal ja ein altes Kaufmannsvermögen und gute Diners dahinterstanden. Er hatte seinen Kameraden sogar einen gewissen Respekt vor dem Berufe des Großkaufmanns beigebracht, indem er ihnen klar machte, daß da oft hunderttausende und Millionen auf dem Spiele stünden, ohne daß der Kaufherr seine Waren selbst zu Gesicht bekäme; gerade dieser Umstand hatte sie überzeugt, daß der Großkaufmann doch ein ganz anständiger Mensch wäre. Übrigens war seine Stellung zu den Vorgesetzten der strikte Beweis dafür, was Meyring von dem Reichtum der Offiziere gesagt hatte; bei ihm wußten die Vorgesetzten: ärgern ließ der sich nicht, dann quittierte er lieber den Dienst; und so war er nicht nur gewissermaßen gefeit, sondern sie hörten auch gern auf das, was der klugblickende Mann ihnen mit verbindlichem Lächeln ins Gesicht sagte, etwas, das kein andrer sich ungestraft herausgenommen hätte.
Ein tanzendes Paar rämpelte eben gegen das Biertablett einer Ordonnanz, so daß eine große Sintflut und Panik entstand, während die Musik droben ruhig weiterspielte. Leutnant von Brieg hatte eine Weile den Tänzern zugeschaut, und der ganze Saal mit Wappenfries, Stuhlreihen und springenden Paaren begann sich im Kreise zu drehen. Das Bierunglück rüttelte ihn wieder auf. Er warf jäh den feinen Langschädel zurück, schloß den halb geöffneten Überrock und murmelte vor sich hin: »Nein, nichts sagen. Aber reiten, reiten!«
Unbemerkt schlüpfte er hinaus, griff nach Mütze und Säbel und eilte in größter Hast die Treppe herunter, denn er hörte ein paar Stimmen sich hinter ihm nahen. Dann strebte er an der Kasernenmauer entlang, hinter der er das Stampfen und Kettenklirren der Pferde wie im Traume vernahm, in leichten Kurven nach dem gegenüberliegenden Eckpavillon des Gebäudes, wo seine Dienstwohnung lag. Die Ulanen waren zum Glück aus oder auf Stallwache: nur auf der schmutzigen Steintreppe huschten in der trüben Petroleumbeleuchtung ein paar Gestalten in der Stalljacke wie Gespenster an ihm vorüber. Er fand richtig seine wie gewöhnlich unverschlossene Tür, ging stracks ins Schlafzimmer und steckte den weinschweren Kopf ins Waschbecken, griff nach Mütze und Reitpeitsche und wollte nach dem Stall hinunter, wo er den Burschen beim Abfuttern glaubte, als dieser gerade eintrat und nach seinen Befehlen fragte. Höchst erstaunt über Briegs Absicht, wagte er eine bescheidene Einwendung. Aber Brieg beharrte: »Betty heute noch nicht trainiert«, und so mußte er schließlich dem Dienstbefehl Folge leisten.
Brieg folgte ihm nach. Trotz der geöffneten Stallfenster herrschte im Stall eine erstickende Schwüle. Die Pferde scharrten unruhig oder webten kettenklirrend vor den Futterkrippen auf und ab; als sie die schweren Wellblechtüren rasseln hörten, drehten alle die Hälse um oder sprangen aus ihrem Strohlager erschrocken auf. Briegs Rappe futterte noch. Der Bursche, der seinen Herrn im Kasino wußte, hatte sich mit dem Futterschütten Zeit genommen und wagte daraufhin noch einmal eine schüchterne Einwendung.
Aber da kam er bei Brieg an den Falschen. »Warum futtern Sie so spät? Vorwärts! Satteln!« stieß er hervor. Er nannte seinen Burschen immer Sie.
Dieser murrte halblaut etwas vor sich hin, nahm aber dem Rappen die weißleuchtende Stallhalfter ab, hob Sattel und Zaumzeug vom Sattelbaum und blickte dabei mehrfach nach seinem Herrn, ob dieser seinen Sinn noch nicht geändert hätte. Da jedoch nichts erfolgte, sagte er schließlich ganz patzig: »Wenn Herr Leutnant die Betty heute niederreiten, können wir keinen Distanzritt machen.« Er betonte das wir, obwohl er natürlich nicht mitreiten sollte.
»Unsinn,« entschied Brieg, mit der Reitpeitsche auf seinen Schenkel klopfend, »Vorwärts zum Teufel!«
»Wo wollen Herr Leutnant denn noch hin?« fragte der Bursche sorgenvoll.
»Nach Grävenitz,« entgegnete Brieg abweisend.
»Nach ... Heute nacht?«
»Ja, was ist dabei?« fragte der Leutnant gelangweilt und nestelte an seiner Uhrkette, um nach der Uhr zu sehen. »Machen Sie nur zu,« befahl er. »Es ist schon nach neun. Ich muß morgen zum Dienst wieder zurück sein.«
Da zog der brave Thüringer das Pferd an den Nüstern von der Krippe fort, zwängte ihm das Gebiß zwischen die kauenden Kiefer, zog mit Händen und Zähnen den Gurt fest, las das Stroh aus den Hufen und zerrte das widerstrebende Tier vor die Stalltür. Hier half er seinem Herrn in den Sattel, drückte ihm die Zügel in die Hand, führte den trägen Rappen ein paar Schritte an und gab ihm schließlich einen Abschiedsklaps auf die Kruppe.
Die zurückgelassenen Gefährten im Stall, durch das Hufgetrappel erschreckt, begannen hinterdrein zu wiehern; die Stute gab Antwort, bäumte auf, daß die Funken stoben, und wollte nicht vom Fleck. Da gab Brieg ihr die Sporen, gottlob stumpfe Gesellschaftssporen, und das Pferd machte einen Satz, so daß er beide Bügel verlor und beinahe herunterflog. »Beim nächsten Mal liegt er unten,« dachte der Bursche im stillen; »dann ist das arme Tier erlöst.« Aber er irrte sich. Brieg hatte die Zähne aufeinandergebissen und drängte das Pferd an den Zügel heran; so fand er seinen Weg durch das offene Kasernentor. Der Posten salutierte verdutzt, und er grüßte vorschriftsmäßig. Die Abendluft strich ihm kühlend über die heißen Schläfen, und er ward sich bewußt, daß er unbemerkt am Kasino vorbeikommen mußte. Der Hufschlag schallte auf dem Pflaster der stillen Straße, aber zum Glück herrschte in dem Festsaal ein solcher Freudenlärm, daß niemand das mindeste merkte. Nur vereinzelte Passanten blickten erstaunt dem späten Reiter nach, um sich dann gaffend vor die halboffenen Kasinofenster zu postieren, aus denen laute Tanzmusik und Stimmenlärm ins Freie drang.
Droben war das angesteckte Fäßchen bereits versiegt, und die Herren mußten sich fluchend mit Flaschenbier weiter behelfen. Schmitt hatte Brieg aus den Augen verloren und sah sich nach einer Weile wieder nach ihm um, da er ihm doch zutraute, er mochte geritten sein. Als er ihn nirgends erblickte, fragte er die Ordonnanzen, ob der Herr Leutnant schon fortgegangen sei, aber keiner hatte ihn gesehen. Sein Säbel und seine Mütze waren bei der Fülle der angehängten Garderobe nicht ausfindig zu machen. Schmitt ging nach den hinteren Kasinoräumen, wo die älteren Herren rauchend beim Bier saßen und die neue Anbringung des Säbels am Sattel und ihre Gefahren bemängelten. An einem Spieltisch wurde unter den Augen des Obersten ein billiger Skat gedroschen, während in dem Billardzimmer die Kugeln knallten. Aber niemand hatte Brieg gesehen. Schmitt bekam es mit der Angst. Daß er fortgeritten wäre, schien ihm zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht war er auf die Straße gelaufen und womöglich in irgend einer Spelunke geendigt! Oder rabiaten Arbeitern in die Finger gelaufen, verprügelt und verhöhnt worden, wie das schon einmal einem angekneipten Infanterieoffizier passiert war ... Herrgott, welche Blamage fürs Regiment! ... Er mußte es Meyring sagen, und dieser suchte gleichfalls. Auf seine Erkundigungen bekam er zur Antwort nur die Gegenfrage, wann »Fritzchen« denn eigentlich »Leine zöge?« Das war nämlich der Spitzname des Obersten, weil seine Gattin ihn so zu rufen pflegte. Als dieser schließlich aufbrach, schnallten Schmitt und Waldburg um und klapperten durch die stillen Straßen nach der Ulanenkneipe. Brieg war nicht da. Auch nicht dagewesen. Sie tranken einen Schnitt und zogen in die nächste Kneipe, wo Infanterie und Artillerie verkehrte. Das gleiche Ergebnis. Sie tranken wieder einen Schnitt und zogen fluchend in ein Weinrestaurant, obwohl Waldburg höhnisch erklärte, Brieg wäre in seinem Leben gewiß noch nicht hiergewesen. Schließlich vollendeten sie ihre Wirtshauspatrouille mit einem Schnitt in der vierten Kneipe, und so erfuhr denn noch am Abend die ganze Garnison, daß der Leutnant von Brieg vom Ulanenregiment verschwunden sei. Schließlich kehrten sie schimpfend nach dem Kasino zurück, wo die Ordonnanzen bereits mit dem Schlaf kämpften und nur noch ein kleiner Kreis um den Spieltisch ausharrte.
Beim Anblick der Karten zog Waldburg sofort ein paar Lappen heraus und hatte binnen kurzem die Bank gesprengt. Dann erklärte er sich bereit, die Bank zu halten, worauf ein paar Herren »kalte Beine kriegten«, wie der Kunstausdruck lautet, und sich empfahlen, während der Rest sich noch enger um den Spieltisch scharte und mit unsteten Blicken die Schläge verfolgte. Bald knallten wieder die Sektpfropfen, und Waldburg strich mit eiserner Ruhe die Scheine und Goldstücke ein; nur ein Zucken um die Mundwinkel verriet seine innere Anspannung. Namentlich der Reserveleutnant Janitschek verlor reißend, während Meyring aufmerksam in alle Karten lugte, um zu sehen, wen Fortuna heute besonders bevorzugte. Dann begann er vorsichtig und mit Unterbrechungen ein paar Goldstücke zu setzen und heimste dabei kleine, aber sichere Gewinne ein.