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Der Stabsarzt hatte Isonsky nicht entlassen – natürlich war der Mann krank, aber wer blieb übrig, wenn man die Kranken nach Haus schickte? Eine Weile konnte er halten, sein bißchen Kraft einsetzen – zum Nachhauseschicken war Zeit, wenn er ganz auseinander fiel.
»Einstweilen beobacht' ich Sie, und Sie machen Ihren Dienst.«
Der Stabsarzt war Jäger, schoß morgens einen Bullen, abends drei Stücklein Antilopen, wenn's ging nachts einen Mähnen-Löwen. Während der Revierbehandlung jagte er Fliegen.
»Sie brauchen mir gar nichts zu sagen, ich kenn' das alles« – da hatte er den kapitalen Einzelbrummer gestreckt, auf den er schon lange pirschte. »In Gottes Namen, kommen Sie morgen wieder.«
Die Kompagnie, Cumpanei, die geschlossene Bande entschlossener Gesellen, nahm und saugte Isonsky auf. Hier durfte er reden, was er wollte, ohne heiligste Gefühle zu bespucken.
»Wahnsinn, der Krieg in den Kolonien! Studenten-Komment: mein Herr, ich wünsche mit Ihnen zu hängen – hängt!« 212
»Aber natürlich, wissen wir längst! Deshalb reden wir nicht davon.«
»Schwarze auf Weiße hetzen, das heißt doch die Grundlage aller Kolonialarbeit systematisch vernichten.«
»Natürlich werden die Kerle frech, wenn sie seh'n, wie unsereins aus einem Bwana mkuba Truppenschwein wird.«
Isonskys Wut verglühte, denn sie fand keine Abwehr. Man gönnte sie ihm, teilte sie sogar. Nur waren die meisten klüger als er: sie dachten nicht mehr nach, dienten, spielten Karten, betranken sich, kämpften, tranken abermals und noch mehr als das letztemal, fielen – weil's schien, als müßte all' das sein.
Er hatte seit vielen Tagen keine Nachricht aus Mikatera, wußte nicht, ob der Schuppen repariert war, die Ernte geborgen, das Fohlen geworfen hatte. Die anderen hatten auch eine Schamba und wußten auch nichts.
»Und meine Frau, meine Kinder!«
»Halten Sie's! . . . Wenn man daran denkt . . .«
»Seit acht Tagen kein Wort gehört? Bei mir sind's zweimal acht Monate! Gott verhüte, daß ich was höre –«
»Wer heulen will, soll kurz und militärisch aufheulen!« dekretierte Herr Pfisch, der geläutert aus dem Genesungsheim zurückkommandiert war und von seinen Ausfalls-Erscheinungen Gräßliches berichtete.
»Am dritten Tag' hab' ich aufgegeben. Harter Leichenschweiß, Blutleere im Gefäß, 213 Milchdrüsenentzündung. Da hab' ich an Pirnstiel telegraphiert, na, und danach hatte die ganze Sache keinen Zweck mehr.«
Hüssen war am »Schwarzen Stein« angekratzt worden. Eine Kugel hatte ihm die rechte Lunge durchbohrt, glatt rein und raus. Der Transport ins Lager war höllisch gewesen, dann wurde es wunderschön. Er lag da und gehörte sich wie in jener einsamen Nacht in der Steppe. –
Am achten Tage nach seiner Verwundung brach ein Nashorn aus dem Urwald, preschte durchs Lager, spießte ein Zelt auf und schwang es durch die Luft. Hüssen hörte Fauchen, Schießen, Brüllen, sprang aus dem Bett, kam auf dreißig Schritt Abstand zum Schuß. Das Nashorn war durchsiebt, aber der beste Schuß wurde Hüssen gutgeschrieben. Isonsky war unter den Schützen gewesen, war unter den Gratulanten.
»Ihr erster Schuß in diesem Krieg!« lächelte Hüssen, den die Wunde schmerzte. »Das Eis scheint gebrochen.«
Eines Tages wurde Isonsky auf Patrouille kommandiert. Er sollte mit ein paar Soldaten, ein paar Trägern durch die feindliche Linie schleichen, irgendwo die englische Bahn sprengen. Es war nichts Schwieriges, ein ganz alltäglicher Auftrag – vierzehn Tage konnte die Geschichte im ganzen dauern. Wenn er zurück war, bekam er eine Woche Urlaub! Herr Pfisch war zu ihm kommandiert als bester, findigster Mann der Truppe, eine Art Mentor für den Neuling, den die Schwarzen »Offizier-Junges« nannten. 214
»Herr Leutnant, das Ding dreh'n wir so, daß kein Haar dabei naß wird! Auf dem Rückweg knallen wir noch ein oder zwei Elefanten und bringen die Zähne nach Haus. Für die gibt's bei Meißner und Gelpark zwei Schachteln lebendigen Sekt.«
Isonsky räsonnierte, packte, studierte Karten. »Wenn ich mal Urlaub hab', seht ihr mich nicht wieder! Was man da sprengt, ist am anderen Tag wieder geflickt. Wenn ich acht Tage auf einem Bein steh', schadet's dem Feind genau so viel.«
Beim Abmarsch wurde er fast wehmütig, als trennte er sich aus einem Kreis alter Freunde. Durch Jahre und Jahre hatte er sich von all' denen ferngehalten, verleumdet, verfolgt geglaubt. Jetzt winkte man, warf ihm albern-herzliche Worte nach.
»Verlieren Sie Ihre Retour-Fahrkarte nicht, sonst kost' es doppelt!« rief Beenike, verschlafen und verkatert.
»Ich sammle Ansichtskarten, Herr Leutnant!« meldete sich in seiner herzlichen Blödigkeit Edelmann Wallosch. »An der englischen Bahn soll ein Briefkasten sein.«
All das war ja abstoßend, zynisch und trivial. Aber doch . . .
Hannes Timm hatte ganz militärisch Honneur gemacht:
»Darf ich Herrn Leutnant guten Erfolg wünschen?«
Hüssen war herzlich, als Leutnant Isonsky Abschied nahm. »Wenn Sie zurück sind, bin ich auch so weit, denk' ich.« Er lag noch blaß und schwach, elend in seinem Feldbett. »Dann bekomm' ich auch 215 Urlaub. Vielleicht reisen wir zusammen. Na, machen Sie sich die Sache bequem, Isonsky.« Lächerlich und dumm, wie all' das wirkte.
* * *
Herr Pfisch war anfangs nicht ganz zuverlässig auf den Beinen, trottelte nur lässig mit. Seine Tüchtigkeit bewährte sich nie vor dem zweiten Tage. Der Marsch ging durch eine Tsetse-Gegend, mußte zu Fuß gemacht werden. Die beiden ersten Tage ging's glatt, dann hatte man die Richtung verloren, beriet, ging ein paar Stunden weit auf den eigenen Spuren zurück, setzte neu an. Es handelte sich darum, am Abend eine Trinkwasserstelle zu erreichen. Der Abend kam, ohne Wasser . . .
Wieder ging es zurück. Wieder wurde gepeilt, wurden Fährten studiert, Richtpunkte genommen. Wieder kam eine Nacht ohne das Ziel: Wasser.
Am vierten Marschtage mußten Isonsky und Herr Pfisch sich gestehen, daß die Orientierung unwiderruflich verloren war. Der Himmel hatte sich bewölkt, keine Bergspitze gab einen Haltepunkt. Seit achtundvierzig Stunden kein Wasserloch! Nicht einmal Wildspuren mehr – sie waren in die elendeste Trockensteppe geraten. Von jetzt ab gab es kein anderes Ziel mehr als Wasser! Wasser in Feindes- oder Freundeshand – das galt gleich.
Isonskys eigene Feldflasche war noch halb voll, auch die des unermüdlichen Pfisch, und ein paar Tropfen trug sein Boy noch für ihn. Aber die Träger konnten nicht einen Tag länger verpflegt werden.
Wenn man zufällig den Viadukt erreichte, mochte 216 er gesprengt werden, und man ergab sich dann. Einstweilen galt nur eins: ums Leben zu laufen, einstweilen gab es nur Durst und Sonne, keinen Feind mehr. Unverrichteter Sache zurückzukommen, war der günstigste Ausgang.
Wieder ging es einen Tag lang durch glutende Steppe. Isonsky hatte die Spitze. Er litt wieder einmal an Dysenterie, mußte unzählbar oft den Marsch aushalten. Dann warfen die Träger ihre Lasten ab, fielen in sich zusammen wie leere Kleider, wühlten ihre Gesichter ins Gras und bissen in die trockenen Halme. Aus ein paar Schritten Entfernung sahen sie nicht aus wie lebende Menschen: übelriechendes Gebündel von Kleidern lag am Boden, nur endloses Röcheln, manchmal ein Gestammel und Wimmern in hohen Tönen verriet, daß lebende Wesen sich hier zu Tode quälten.
Erst wenn der Befehl kam: Lasten aufnehmen, marsch! – wurde aus dem unartikulierten Jammer hier und da ein Wort, manchmal ein Satz: »Laß uns hier sterben, Bwana! Warum laufen! Wir sterben doch!«
Dann kommandierte Pfisch: »Ombascha, Kiboko!«
Es gab kein anderes Mittel, diesen Todbereiten neuen Lebenswillen einzuzwingen.
Der schwarze Gefreite trat mit seiner Nilpferdpeitsche an. Auch ihm strahlte Fieber aus glasigen Augen, aber er war ein Sudanese voll Fanatismus und Disziplin. Isonsky geizte mit dem Wort, denn jeder Laut strengte an, trug frisches Feuer in seine zerrissene Kehle. Auch genügte ein kurzer Blick, den der Ombascha auffing, mit einem 217 grausamen, beinahe tierisch-verzweifelten Ausdruck beantwortete. Dann wanderte der Offizier weiter ins Endlose der schwelenden Steppe, in seinem Rücken klatschten Hiebe. Nein, sie klatschten nicht, es klapperte nur, als schlüge Holz auf Holz. Von den Geprügelten hatte keiner mehr Kraft, zu schreien. Nur der Ombascha brachte es noch zu einem heiseren Fluch, halb Deutsch, halb Suaheli: »Auf, ihr Buschneger, verrückte Tiere, Hundsaffen aus dem Urwald!«
Herr Pfisch aber, der den Zug schloß, krakeelte manchmal, und manchmal sang er, als sei er noch immer betrunken oder plötzlich verrückt geworden: »Laß sie tanzen, Ombascha, die schwarzen Balleteusen! Das merkt wieder keiner, wie lustig die Promenade ist!« Und dann kam mit gläsern klirrender, morscher Stimme ein Vers aus dem sentimentalen Müllermädchen.
Isonsky taumelte mehr, als er ging, schloß manchmal die Augen, blutige Wirbel drehten sich um ihn. Solang er die Stimme des Herrn Pfisch hörte, sah er die Fleischmasse seines Gesichts mit dem schwarzen Loch von Maul wie eine Maske vor sich hängen, die Augen verklebt, das Gesicht fahl, aber das Maul immer größer, manchmal wie ein Abgrund, aus dem schwefelige Dämpfe steigen. Dann, wenn die Karawane in Gang war – der Offizier sah sich nicht um, fragte nicht, wie viele ihm folgten, ob das Leben eines Trägers in den Boden der gefräßigen Steppe verröchelt war – dann verschwand das Gesicht, verschwanden manchmal sogar die Kreise aus blutigem Rot.
Gewölbe türmten sich um ihn, wuchsen empor 218 wie das Schiff einer gotischen Kirche, nicht aus Steinwänden, sondern aus weichen Stoffen oder Wolken, die blitzschnell Farbe wechselten, erst mit sanftem Grün ineinander wogten, sich dann rot färbten und endlich in sattem Karmoisin glühten. Diese Vision gab für halbe Stunden ein Gefühl unendlich wohligen Daseins. Es war, als läge man in einem Bett, unter einem Katafalk, und brauchte nicht zu wissen, daß draußen Tag war. Ein schwarzer Diener stand plötzlich, als hätte er sich aus den Falten des Vorhangs gelöst, vor einem, trug ein Brett mit Kristallgläsern, schimmernden Kannen, voll von eisgekühlten Limonaden, Sorbet, perlendem Champagner.
Darüber spürte Isonsky nicht mehr, daß ihm Krämpfe durchs Eingeweide zuckten, sein ganzer Leib voll Glut und sägender Messer war. Er spürte nicht mehr, daß hinter ihm gedurstet und gestorben wurde, wußte nicht mehr, daß Geier und Marabus seinem Zug folgten, bis eine neue furchtbare Wehe von Schmerz ihn abermals zwang, den Marsch zu unterbrechen.
So verging der Tag, kam der jähe Abend, ohne Wasserstelle! Isonsky torkelte ins Halbdunkel hinein, seine Beine liefen automatisch, er dachte nicht mehr nach. Aller Lebenswille war ihm in den einen Begriff: Laufen! konzentriert. Minutenlang wurde in seinem Rücken gepeitscht, daß es wie Dreschen auf der Tenne klang. Er nahm keine Notiz. Dann hörte er die ausgedörrte Stimme des Ombascha: »Die Träger fallen um, Bwana! Der Kiboko nützt nichts mehr!« 219
In diesem Augenblick stieß die Wirklichkeit in seine Welt aus Fieber und Gesichten, prallte so hart an, daß es gegen Durst und Krankheit plötzlich keinen Widerstand mehr gab. Sein Gewehr, diese unerträglich brennende Last aus nutzlosem Stahl, fiel zu Boden. Er wankte und lag plötzlich ausgestreckt in der Steppe.
»Lagern!« Dann ließ er die Augen zufallen.
Sein Boy Abdullah, der besser genährt war als die Träger, eine geringere Last trug und viel mehr Lebenswillen besaß, brachte seinen Herrn mit ein paar Tropfen Wasser ins Bewußtsein zurück, formte aus seiner Decke ein Kopfkissen, baute ihn auf wie zum Paradeschlaf. Dann erschien Herr Pfisch, immer noch Grotesk-Komiker, das versoffen-ausgedurstete, vermagerte und bartumstandene Gesicht von lächerlichen Rissen durchzogen.
»Die kleine Abendunterhaltung, so jetzt am Platze wäre, darf ich wohl arrangieren, Herr Leutnant? Mehr im Stil einer Familienfeier? Keine rechte Stimmung heut abend bei unsern Gästen!«
Die letzte halbe Wasserlast, deren Träger steif unter Pfischs Augen marschierte, wurde aufgestellt. Zum Trunk reichte es nicht mehr, aber ein Rest Hirse konnte ausgekocht werden, und ein paar Tropfen wurden jedem Manne, wie Medizin, zwischen die Lippen geträufelt. Wachen aufzustellen, das Lager zu sichern, fiel keinem mehr ein. Löwen mieden dies wildlose Gebiet. Ein menschliches Wesen aber, wenn es zehnmal der Feind war, konnte nur noch Hilfe bringen: vom Elend befreien oder es endigen. Von den schwarzen Soldaten waren zwei 220 noch willensstark genug, ein paar Steine zur Feuerstelle zu richten, ein bißchen Holz zu brechen, den Kessel aufs Feuer zu setzen. Von den Trägern rührte sich niemand mehr. Die zähesten Askari auf Jagd oder Wassersuche zu schicken, hatte keinen Sinn: zu lange, seit man die letzte Wildspur gekreuzt hatte. Aber während unter dem Kessel gelbe Flammen zuckten, Reisig prasselte, vertraute Herr Pfisch erst seinem Leutnant, dann Soldaten und Trägern wie ein Geheimnis an: gerad' noch, im letzten Abendrot, hatte er ganz nah einen blauen Schatten gesehn, so etwas wie den Rand einer Hügelkette. Morgen früh gab es noch eine kleine Promenade, einen Morgenspaziergang, dann kamen die Hügel, Wasser, ein Massai-Kraal, in dem alle Wände von Milch troffen. »Und Bibis haben die englischen Massai! Jüngste Auslese, im ganzen Land zusammengestohlen – jeder, der kriechen kann, bekommt drei! Wer heut krepiert, muß Tinte gesoffen haben!«
Dann kleisterten sich zwei Weiße, vier Soldaten und zwölf Träger – vier Träger waren schon zurückgeblieben, hinter dem Leben zurückgeblieben – ein paar Löffel steifen Brei ein, mit Widerwillen, fast in einer Art Pflichtgefühl, als sei es irgendwie Gesetz, daß man so lange wie möglich sein Dasein erhielt. Es kamen die Kälteschauer tropischer Nacht. Ums Feuer, das irgendein Schlafloser gelegentlich fütterte, warfen sich, Leib an Leib gepreßt, die frierenden Neger. Die ganze Nacht hindurch war das Lager voll von angstvollem Stöhnen und leisem Wimmern. Krank waren alle, alle halb 221 verdurstet, halb verhungert, alle in Fieber. Dazu hatte der Ombascha vielen blutige Striemen geschlagen, die nachbrannten.
Isonsky wachte häufig mit einem plötzlichen Nervenschock auf und erkannte mit jedesmal neuem Schreck seine Umgebung. Er hatte lebhaft geträumt, aber seltsamerweise nicht von diesem Marsch, auch nicht von seiner Pflanzung, seinen Kindern, seiner Frau. In dieser Nacht, die seine letzte werden mochte, war er weit zurückgetaucht in schöne, vergangene Jahre. Einmal wußte er deutlich, daß er sich wieder als Gymnasiast auf das Onkelgut in Schottland geträumt, ja, daß er im Traum deutsch und englisch durcheinander gesprochen hatte. Ueber dieser Feststellung war er ganz wach geworden, hatte gehört, wie Herr Pfisch im Schlaf eine erschütternde Serie kompliziertester Flüche hauchte. Der Unzerstörbare, der ausgebeizt, bis zur Empfindungslosigkeit präpariert schien, mußte irgendwelche Schmerzen leiden, die selbst über seine Kraft gingen. In sein kunstvolles Fluchen mischte sich manchmal ein Geheul, wie er es sonst nur im Stadium der letzten Betrunkenheit ausstoßen konnte.
Bei Sonnenaufgang kam Herr Pfisch dann auf allen Vieren an, mit zerrissenen Lippen, in die Faust gekrampften Nägeln. Er hatte Grashalme in der Klaue, von denen er Tau leckte, dalberte immer noch.
»Halben Tautropfen aufs Spezielle, Herr Leutnant.«
Die armselige Feuchtigkeit erquickte ihn, gab Atem. Sein Beruf war es, Gram zu zerstreuen, Stimmung zu machen. Er blieb sich treu. 222
»Der frische, fröhliche Krieg ist bei mir nicht mehr populär, Herr Leutnant! Herr Leutnant waren anscheinend so liebenswürdig, Ihre Dysenterie mit mir zu teilen. Malaria hatte ich sowieso schon. Jetzt handelt es sich nur noch darum, ob ich von der Malaria im Liegen oder von der Dysenterie in der Hocke zu meinen Vätern versammelt werde. Auf unsere Väter, Herr Leutnant!« Dabei rupfte er eine Handvoll neuer Gräser und überstreifte sie mit fiebriger Zunge. Isonsky fühlte sich frischer als am Tage zuvor, beschloß, letzte Energie in diesen Zug Verwesender zu pressen, noch einen Marschtag zu erzwingen.
»Können Sie noch ein paar Stunden laufen, Pfisch? Oder muß ich Sie tragen lassen?«
Pfisch machte Gehversuche, erklärte endlich, er wolle sich von zwei der besten Kerle ziehn und schleppen lassen, solange er eben vorwärts kam.
»Wenn's aber nicht geht, Herr Leutnant, den Kiboko-Kola-Ersatz schenk' ich mir!«
»Das Dynamit?«
Pfisch, der vor Erschöpfung und Schmerz kaum atmen konnte, hatte einen Anfall von verzweifelter Heiterkeit:
»Wahrhaftig, jetzt schleppen wir Dynamit und Schaufeln mit uns herum! Wahrscheinlich, um das englische Hauptquartier im Himmel zu sprengen. Wundervoll, unsere germanische Pflichttreue! – Verdammt, jetzt wat' ich schon in Heldenblut!«
Bis auf ein paar Gewehre und eine Handvoll Patronen für jeden Schützen blieb dann alles zurück, was die Expedition an Vernichtungswerkzeugen mit sich führte. 223
Mitten in der Steppe, vielleicht auf jungfräulichem Boden, sicher auf Boden, den nie zuvor ein Weißer betreten, lag jetzt um ein verglimmendes Feuer das ganze Arsenal schon ausgewählter Höllenmaschinen. Waffen, raffiniert wirksamer Sprengstoffe. Als hätte die europäische Kultur der Vernichtung mitten in den Busch hinein ihre Visitenkarte geworfen. Auf zwei brüchige, ausgemergelte, in diesem Gespensterchor aber stattliche Burschen gestützt, kroch Isonsky voran, und ebenso eskortiert machte Pfisch den Schluß der Karawane. In seinem Pflichteifer hatte der Ombascha, der selbst kaum marschieren konnte, mit dem Kiboko wieder einigen Lebenswillen an Verzweifelte abgegeben. Ein Mann brach zehn Schritte hinter dem Lager zusammen, reagierte nicht mehr auf Prügel. Rückwärts blickend, sah Isonsky zufällig, wie die Geier sich über ihm sammelten.
Es war ein besonders braver Kerl, ein alter Jamwesi, der an dieser Expedition freiwillig teilnahm. Eigentlich war er urlaubsberechtigt – Isonsky wußte, daß er Weib und Kinder hatte. Mit Jammer faßte er dies Bild eines noch lebenden Menschen, über dem Geier kreisten.
Er beugte sich über den Mann, dem Fieber, Durst und Dysenterie den Rest gaben, atmete gräßlichen Verwesungsgeruch, winkte der geschwungenen Peitsche des Ombascha ab.
»Moïka!«
Der Alte zeigte nur noch das Weiß seiner Augen. Er hatte Krämpfe, die ihm den Bauch wölbten, aus jedem Muskel einen Angstknollen machten. 224
»Moïka, du sollst deine Bibi wiedersehen! Willst du ihr kein Kind mehr machen? Willst du nicht für sie einkaufen auf dem Markt in der großen Stadt Tabora, wenn du heimkommst mit vielen harten Rupies?«
»Bin tot, hoher Herr!«
»Auf Moïka! Heiaheia, Safari!«
Der Ruf drang dem Alten noch ins Bewußtsein, ließ ihn die Knie anziehen, morsche Finger in die Steppe bohren. Sein armes Maul mit großen Lücken im verwelkten Gesicht tat sich auf, er sah tot aus wie ein weggeworfenes Stück häßliches Kinderspielzeug, tot und hölzern.
Zum erstenmal gab Isonsky aus seinem Browning einen Gnadenschuß. Dann nahm er wieder die Spitze. – – –
Um Mittag, als die Sonne trostvernichtend hochstand, die Karawane weiter zerschmolzen war, stieß Isonsky auf einen verlassenen Lagerplatz. Eine Sekunde lang glaubte er: »Rettung!« Da war ein ausgebrannter Feuerplatz, Spur vieler Füße, niedergewälztes Gras! . . . Aber dann fand er die blutige Losung Dysenterie-Kranker, den weggeworfenen Karabiner eines seiner Askari.
War es sein Lager von gestern, von vorgestern, war es viele Tage alt? Wie lange hatte er seinen Gespensterzug im Kreise rund durch den Tod geschleppt, um ihn wieder dahin zu bringen, wo er schon einmal verzweifelt war?
Er warf sich hin, gab auf.
Herr Pfisch röchelte an seiner Seite, faßte sich plötzlich, kam wieder so hoch, daß er sich auf den 225 Arm stützen konnte. Isonsky beobachtete ihn, starrte den wunderbar Genesenen an, der an seiner Pistole hantierte, ernst und geschäftig aussah.
»Bwana Leutnant!« Seit Tagen hatte in diesem Zug kein Wort so hart und hell geklungen »Unatangulia wä?«
»Gehst du voran?« hatte Herr Pfisch gefragt. Isonsky sah die Pistole auf sich gerichtet, nichts fiel ihm ein, was ihn am Leben hielt, und doch fühlte er siedende Angst. Lisa, Kandy, Beatrice, seine Schamba, nichts fiel ihm ein, nur daß er nicht sterben wollte.
»Bombafu wä!« Das hieß: »Sie Narr!« Es war eine gewisse Schamlosigkeit darin, wie die beiden jetzt unbewußt miteinander Kisuaheli sprachen. Isonsky hielt die Augen zugepreßt, während Herr Pfisch sich erschoß. Hielt sie lange zugepreßt, lag in Blut und Ohnmacht, erlebte vieles, wußte nichts davon. Wußte später nicht, wer ihn auf ein Feldbett in eine Grasbude gebracht, getränkt, gepflegt hatte. Ganz plötzlich waren seine Ohren wieder geöffnet, hörte er Gespräche.
»Ten hours duty and no bloody beer.«
»Is the chap there still dying?«
»You'll have your blooming beer after that bloody blooming war.« Wallosch! Der hinkende Mann, der dem anderen riet, sein Bier nach dem Krieg zu trinken, war Wallosch! Sein Pfleger Beenike, dieser Riesenbengel im Bart! Das Lager neben ihm hatte ein siecher, blonder Bub inne, kehrte ihm den Rücken, rund der Schädel, rund das Hinterteil, die kleine Rieke! 226
Isonsky ahnte nicht, daß er englisch sprach, als er verlangte.
»Want to see Hüssen! Captain Hüssen!«
Er war gerettet, im Lager, herrlich krank! So herrlich krank, dies wußte er, daß er für immer der Kriegsplage ledig war.
»Wants to see somebody.«
»Nonsense. Do'nt mention!«
»Hüssen! I want to see him!«
Dann wehrte sich schmerzhaft Isonskys Herz. Er lag im Arm eines Mannes, den er für Hüssen hielt.
»Old chap!« sagte der. »Have a drink, old chap!«
So sprach Hüssen nicht! Und plötzlich wußte Isonsky, daß »Feinde« ihn umgaben. Sie waren sich ja so ähnlich, die hier, die dort, schossen, kreuz und quer über den Aequator, einander tot und hatten die gleichen Gesichter, gleichen Gedanken, fluchten nur ein bißchen verschieden.
»Wahnsinn, den Krieg in die Kolonien zu tragen!« war Isonskys letzter Gedanke. Er wollte es mutig und unverdrossen hinausgellen, da überkam ihn lähmend das Ende.
»Wahn . . .«
* * *
»Ehre dem Andenken eines braven deutschen Offiziers!« sprach der englische Hauptmann an seinem Sarge. Schüsse hallten vom Erock wider, ihm ward ein militärisches Begängnis.
An seinem Grabe heulte Abdullah, sein Boy, dem er das Leben nicht leicht gemacht hatte. Die andern waren voraus gestorben. 227