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Hüssen hatte in später Nacht das Lager seiner vorausgesandten Träger erreicht und irgendwo im Pori mit ihnen übernachtet. Dann zog er lang unter den Riesenbergen hin, nachts schlief er auf einer Etappenstation, deren Verwalter strammzustehen versuchte, sich aber vor Fieber und Bezechtheit kaum aufrecht hielt. Als es wiederum Nacht war, näherte er sich dem Lager seiner neuen Kompagnie. Er hatte es so eingerichtet, daß niemand ihn dort erwartete. Ein schwarzer Soldat verlangte Parole und Feldgeschrei, dann erschien der Postenführer, begrüßte Hüssen, der keine Abzeichen trug:
»Mensch, können Sie nicht beizeiten kommen? Grad' war ich so nett eingedachst.«
»Entschuldigen Sie, ich dachte, da doch mal Krieg ist –«
»Naja, wegen so'n paar Jahren Krieg ändert man doch nicht gleich seine liebsten Gewohnheiten.«
»Sehr vernünftig!«
»Kommen Sie 'n Augenblick rein!« bat der Gefreite. »Wach gekitzelt haben Sie mich nu doch mal, 52 und eh' ich wieder einpenne, langweil' ich mich scheckig. Boy, Whisky!«
In der Grashütte des Wachthabenden stand ein Segeltuchstuhl, in den Hüssen fiel, während der Wirt sich auf ein Bettgestell räkelte.
»Eigentlich sollt' ich jetzt Posten revidieren. Aber schließlich hab' ich doch nicht bei der Wach- und Schließgesellschaft gedient! Außerdem, die Engländer greifen nur alle vier Wochen irgendwo an, eine Woche ist noch Zeit.«
Er wälzte sich wie ein Bär, drückte seinem Gast die Flasche in die Hand, »Gsuffa,« und erzählte dann.
»Einen feinen Moment hab'n Sie sich ausgesucht. Die ganze Bande schwer entnüchtert. Hören Sie!«
Hüssen spitzte die Ohren. Es klang, als balgten sich irgendwo Hyänen und Geier um ein Aas. Aber auf die Dauer unterschied man Menschenstimmen, und plötzlich wurde der Lärm ein torkliger Gesang.
»Als wir jüngst in Regensburg waren,
Sind wir über die Donau gefahren.«
Hüssen fuhr es wie Sehnsucht in die Glieder, recht bald bei der großen Tränke zu sein.
Als der Gefreite sich ausgiebig gestärkt hatte, fing er an: »Zur elften oder zur dreiundzwanzigsten?«
»Elfte.«
»Ah, Hinkeldeys wilde, versoffene Jagd. Engste Kameraden mithin, Beenike mein Name.«
»Hüssen.«
»Was, zum Deibel: Hüssen?« 53
»Erschrecken Sie doch nicht –!«
Der große Kerl mit dem schwarzen Fußsack am Kinn kam mühsam hoch und stand stramm.
»Melde Herrn Oberleutnant – – –«
»Quatsch,« sagte Hüssen, »bleiben Sie liegen. Dienstlicher Befehl. Ist Ihr gutes Recht als Postenführer.«
Beenike tat sich nieder, hatte auf den Schreck eine neue Stärkung nötig und erzählte dann:
»Ein Pech hab' ich, Herr Oberleutnant! Draußen auf dem Lenkissai sitz' ich auch mal so, Finger im Mund, wissen Sie, und laß mir von dem Berg Schatten werfen. Kommt so'n alter Herr an, ich weiß der Deubel, wo der herkommt, grünen Hut auf dem Kopf, Spazierstock, etwas abgerissen.
›Kann ich 'n bißchen bei Ihnen sitzen?‹ fragt er. ›Bitte sehr,‹ sag' ich, ›is überall Platz im Pori.‹
Er hat Durst, ich tränke ihn, Marke Stacheldraht Nr. 3 natürlich. Dann fragt er los: ›Was machen Sie eigentlich hier?‹ ›Ja,‹ sag' ich, ›ich bin auf den Muckel da rauf kommandiert.‹ ›Na und?‹ ›Na, die Kerls haben verdammt wenig Glück,‹ sag' ich, ›wenn sie denken, ich klettere in der Hitz' da rauf. Alles in allem penn' ich hier.‹ Gut – da kommt einer an. ›Melde Herrn Oberst gehorsamst – – –‹ Wer war's? Der tolle Mullah! Ausgerechnet der, kein anderer. Und jetzt das mit Ihnen, will sagen, mit Herrn Oberleutnant. Pech, was?«
»Und was hat der tolle Mullah dann gesagt?«
»Na, wie er mich dann so ganz verdalbert sah, klopft er mir die Schulter und sagt, was er außerdienstlich hört, geht ihn dienstlich nichts an. Aber 54 der Erfolg? Daß ich doch auf den verfluchten Muckel 'rauf mußte! Eine Hitze war's, zum Verrecken. Und heut geht's ebenso. Jetzt geh' ich einfach Posten revidieren. Mir ganz einerlei. Dienst ist Dienst.«
Damit brachte Beenike sich wieder hoch, stand groß und breit wie ein Scheunentor vor dem kleinen Hüssen, brüllte ihm ins Gesicht:
»Guten Abend, Herr Oberleutnant!« und stampfte ab wie ein Flußpferd.
Hüssen hörte das Lied: »Ich hab' noch zwei, drei Kreuzer, ist all mein bares Geld« versoffen und lockend herüber schallen. Er rief seinem Boy den Befehl zu, irgendwo in der Nähe sein Zelt aufzuschlagen, ließ sich zwei Flaschen aus der Getränkelast reichen und strebte dem Entnüchterungszentrum seiner neuen Kompagnie zu.
* * *
Irgendwo stampften und schnauften Pferde, mahlten Körner, schnoberten in die mondlose Nacht. Irgendwo schwätzten und sangen Boys von Liebe, blaffte ein Hund aus dem Schlaf, sonst verriet kein Licht, kein Leben, daß hier Kompagnielager war. Dann stolperte Hüssen gegen einen dösenden Askari, der sein Gewehr zwischen den Knien hielt und Wache saß.
»Schläfst du, Lümmel?«
»Nein, Herr, ich bin Posten!« kam's mit Gähnen zurück.
Mechanisch zog Hüssen aus, dem Treuen eine Maulschelle zu geben, wie es im Zweifelsfalle das 55 Gesetz der Tropen verlangt. Aber der Schwarze stellte eine Frage, die seine Hand lahm machte, so nett und selbstverständlich klang sie: »Du bist ja gar nicht betrunken, Herr! Bist du krank?«
Im Hintergrunde des Lagers, vor einer schwarzen Mauer Urwald, flammte jetzt ein Feuer auf, das die Wolken mit Blut und Schwefel färbte und zehn Meilen weit Freund und Feind mitteilen mußte, wo die berittene Elfte ihre Tagung hielt. Jetzt erst fiel es Hüssen auf, daß Chor- und Zecherlärm verstummt waren, denn plötzlich kam es, halb wie Klagesang, halb wie Röhren brünstigen Wildes, aber taktfest, vom neuentfachten Feuer her:
»Schlafe, schlaf wie ein Gerechter!
Schwerbeleibter, Schwerbezechter,
Lorbeermarder, Ordenklauer,
Menschenquäler,
Mädchenstehler,
Ruhe, ruhe, Lügenbauch!
Hirnlos, haltlos, Whiskyschlauch,
Auf dem Haupte Feuerkohlen,
Einmal wird die Pest dich holen!«
Ein Fackelzug! Hüssen versteckte sich hinter einer Grashütte und ließ ihn herankommen.
Ein Kind zog an der Spitze, trug ein Stück lodernden Urwald in winzigen Händen, sah andächtig und klug aus. Wie Mignon den Blinden, zog es einen Mann im Khaki hinter sich, einen kurzen, breiten Glattrasierten, dessen Augen in Schnaps ertrunken schienen. Sein Gesicht war ein breiter Fleischrahmen um ein schwarzes Loch von 56 aufgerissenem Maul, dem metallisch, fast wohllautend, Töne entquollen. Hinter ihm schwankten in zwei Reihen sechzehn europäische Wilde, umgaben eine Gruppe von sechs Athleten, die eine ungeheure menschliche Last schleiften. Flankiert und geschlossen war der Kondukt von halbwüchsigen Negerburschen, Fackelträgern, die voll Wonne die Lippen schürzten, Affengebisse funkeln ließen.
»Halt!« dröhnte jetzt der Vorsänger und stürzte sich wie ein Genius der Berauschtheit auf das Negerkind, dessen Umriß im Fackellicht formlos wurde, fast zu verrinnen schien.
»Schlagt die Leiche andächtiglich dreimal auf die Erde, auf daß ihr drei Tage und drei Nächte lang das Kreuzbein ächze! Ruhelos brenne dasselbe im Grab!«
Wirklich schlug ein menschlicher Körper dröhnend gegen die Erde, aus dem Knäuel der Athleten kam tief verschlafen ein Klagelaut, dann brach die Zeremonie plötzlich ab.
Wie ein Nachtwandler taumelte der Zeremonienmeister, immer noch auf den winzigen Fackelträger gelehnt, der mit goldbraunen Augen strahlte, in den Schatten, der Hüssen verbarg.
»Be welcome, dear Mister syp!« orgelte das klaffende Maul. »I'm the captain at night-time, the corpse there is the captain at light-time!«
Hüssen trat, seine Flaschen unterm Arm, ins Fackellicht.
»Ach, seid Ihr schön bei Heldenmut!« sagte er. Dann verbeugte er sich wie ein Kavalier unter Kavalieren. Der Genius der Berauschtheit wälzte sich auf 57 kurzen, von Gamaschenfetzen umflatterten Beinen vertraulich näher.
»Es kommt nämlich manchmal nachts ein Engländer zu uns und nimmt die Stammrolle auf. Er will nur wissen, wie viel wir sind, scheint's. Er ist aber ehrlich, noch nie hat auch nur der leiseste Maulbock gefehlt. Jetzt hab' ich gedacht, ich hätt' ihn. Und dabei sind Sie nur der neue Kompagnieführer!«
Plötzlich rollten echte Tränen in das schwarze Tor seines Mundes.
»Ich hab' ein Pech, ich werd' vom Unglück verfolgt!«
Bei den Worten »der neue Kompagnieführer« dröhnte zum zweitenmal der unflätig schwere Körper gegen die Erde. Diesmal ohne Feierlichkeit, denn Träger und Geleitsmänner hatten plötzlich versucht, stramm zu stehen. Ein langer Kerl mit Ziegenbart, Tropenfilzhut, Sporen an den Stiefeln, mit nackten, haarigen Unterschenkeln, trat vor, knallte die Absätze aneinander und salutierte:
»Elfte berittene . . .!«
Aber der Captain at night-time wälzte sich gegen ihn:
»Damit er merkt, daß du besoffen bist,« raunte er.
Dann verbeugte er sich vor Hüssen wie ein ungestalter Operettentenor.
»Ich darf Sie wohl ergebenst ins Herrenzimmer bitten? Folgen Sie mir, s'il vous plaît!«
Und prustend, das stämmige Bübchen fast niederquetschend, watschelte er voraus.
»Die Leiche bleibt heut ungewaschen!« brüllte er seinem Gefolge zu. 58
Ein paar Minuten später saß Hüssen im Kreise seiner Soldaten, den verkommensten und verwegensten der Afrika-Truppe. Sie saßen, wohl dreißig Weiße, um einen Scheiterhaufen, in dem ganze Bäume verloderten. Am Urwaldrand wurde Holz geschlagen, irgendein schwarzer Muskelprotz kam immer wieder mit einer zum Aechzen schweren Holzlast und gab sie dem Feuer. Bei dieser Arbeit war er glücklich – glücklich waren auch all' die schwarzen Diener und Köche, die hinter ihren Herren standen, zerlumpt, verdreckt und selbstbewußt. Fast jeder hielt eine Flasche im Arm, aus der er »seinen« Weißen dann und wann wie eine Amme stärkte. Sackte von den Zechern einer ab, daß er wie von einem Schuß getroffen zusammenfiel, aus stöhnendem Rachen spie, den man nicht mehr halten konnte, dann stieg das Glück der Schwarzen zu einer Art Seligkeit. Zwei oder drei von ihnen griffen nach dem Patienten, grinsend, aber voll Zartheit, wischten ihn mit bereitgehaltenen Lappen, an denen nichts zu verderben war, trocken, zogen ihn aus dem Bereich des Flammenzaubers und trugen ihn voll Sanftheit dem Lager, seinem Bett zu. Sie lachten innerlich Beifall, die Unbeteiligten aber blökten und fletschten die Zähne, in offenem Jubel, nicht höhnisch, sondern bewundernd.
Neben der privaten Stärkung, für die jedes Weißen Leibdiener sorgte, ging eine Flasche im Rundgesang von Maul zu Maul. Im Augenblick war das Fest ohne Leitung. Sechs oder acht Zechlieder wurden gegeneinander angestimmt, sechs oder acht Reden zugleich gehalten. Um Hüssen kümmerte sich 59 niemand als sein Diener, der ihm nachgeeilt war, neue Flaschen geöffnet hatte und jetzt dienend hinter ihm stand. Dann aber befahl eine Stimme, die, metallisch, versoffen, gebieterisch, nur die des Zeremonienmeisters sein konnte:
»Bringt mich zum großen Herrn, ihr erzdummen Buschneger ohne Verstand!«
Das Bübchen, das zwergenkleine Bübchen, kommandierte drei schwarze Kolosse:
»Du die Füße! Sakrrrament, elender Dummkopf! Du die Füße! Du den Hals, verstehst du?«
Und her zu Hüssen schwebte der Kerl mit dem immer klaffenden Rachenloch, schwebte in sorgenden Händen heran, ward niedergetan, lächelte, brüllte:
»Herr Pfisch ist nämlich mein werter Name! Sie werden von mir gehört haben? – Herr Pfisch, der trotz Bigamie zum Heldentod beurlaubt worden ist!«
Hüssen kannte seine wüste Geschichte – ein verkommener Pflanzer, der in seinem Leben siebenmal geheiratet, Unzüchte begangen wie ein orientalischer Fürst, den der Krieg vor seinem Transport nach Europa im Untersuchungsgefängnis überrascht hatte, der verlottert, verlastert, inkriminiert, nun den Ruf des vorbildlichen Kameraden, eines Gent im letzten Sinne führte. »Für die Dauer militärischer Aktionen« war er aus der Haft entlassen und zur Truppe beurlaubt worden, hatte seither an nervenlosem Draufgehen, Erfindung, Gleichgültigkeit für sein Leben soviel geleistet, daß er quer und lang durchs deutsche Afrika wirklich sagen durfte:
»Sie werden von mir gehört haben!« 60
Mindestens von seinen genialen Raubzügen in die englischen Reihen – denn für die deutsche Truppe kam es nur darauf an, Pferde, Waffen, Munition, Medizin zu erbeuten – hatte jedermann gehört. Daß er, der vom Scheitel bis zu den Zehen ein Mannsbild von satanischer Häßlichkeit war, bei jedem Urlaub ins Hinterland eine Frau verführte und ruinierte – die Frau eines Kameraden unter allen Umständen – verargte man ihm kaum. Eines der blutwenigen weißen Mädchen, die es im ganzen Lande gab, hatte nach seinem letzten Besuch drei Streichholz-Paketchen von je zehn Schachteln – und auch davon gab's so blutwenig im Land! – zu Tee verkocht, getrunken und war in Krämpfen gestorben. Auch das war ihm nicht weiter verargt worden, obwohl er ganz sicher mit einer Teufelei das dumme Ding in sein Schicksal gejagt hatte. Als er die Schreckenstat erfuhr, hatte er viele »Schachteln« Whisky, Heimfabrikat, Marke »Heldentod«, gekauft und Leichenfeier gehalten; eine Woche lang, im Sattel, auf der Etappe, im Bett, in einer blutigen Schlacht, wieder im Sattel, war er nicht eine Minute lang nüchtern geworden.
Für seine Teilnahme an jener Schlacht war er zur späteren Dekoration vorgeschlagen worden. Er erfuhr es, kurz nachdem seine Leichenfeier geendet hatte, und erfuhr bei dieser Gelegenheit erst, daß er an einer Schlacht teilgenommen.
»Mensch, ich weiß nur noch 'ne Litfaßsäule, hinter die ich gespien hab' wie 'n Reiher. Dann kam einer, ein Blauer, und ich hab' geknallt, oder er hat geknallt – was war da eigentlich los? 61
Auf der Litfaßsäule war so'n Plakat: Bohimbim.«
Ur-Berliner noch nach zehn Jahren Afrika, hatte er sich an diesem schwersten Tage des Landes der Steppen und rauschenden Einsamkeiten in Berlin geglaubt. – – –
Das war so etwa, was Hüssen von Herrn Pfisch gehört hatte. Es mochte nur ein Zehntel wahr sein, vielleicht war die Wahrheit noch zehnmal stärkerer Extrakt des Koloniallebens.
»Von Ihnen gehört? Gartenlaube gelesen, meinen Sie? Rubrik: Aus Kindermund? Wie machen Sie's nur?«
Pfisch war ganz ins Fahrwasser des Varieté-Tenors abgerutscht. In seinem Zorn bedrängte es ihn, daß dieser Fremde ganz jählings, morgen früh schon, sein Vorgesetzter sein würde. In sein whiskygeblendetes Hirn bohrte nur eine Idee: Wie sag' ich dem Kerl, daß ich auf seine Würde pfeife? Und aus diesem Grunde clownte er, kokettierte mit jedem Finger seiner Metzgerhände in ein imaginäres Publikum, sagte mit geziertem Mund wirkungslose Roheiten.
»Wenn ich Sie duzen sollte, darfst du mir das nicht übel nehmen! Herr Hauptmann werden besoffen sein, eh' man sich eine Stunde kennt! Darf ich Sie den Herren hier vor – vor – vor – – –«
Dann lernte Hüssen seine Nachbarn kennen.
Da saß einer mit grauem Bart und den Zügen eines holsteinischen Patriarchen, stocksteif, als stünde er im Glied. In seinen Augen war eine seltsame Milde, aber zugleich ein verborgenes Jagdmannslauern. Er sprach fast nicht, fuhr nur manchmal 62 einem blonden Lockenkopf an seiner Seite übers Haar, oder er wandte sich mit gütiger Grandezza an irgendeinen, der umzufallen drohte, und trank ihm aus der Flasche zu.
Der Lockenkopf konnte kaum siebzehn sein. Um sein Gesicht stand noch kein Barthaar, er hatte Schultern und Hüften eines Kindes. Als der Lärm sekundenlang abdämmte, maulte er:
»Heute ist's langweilig, singt doch!«
»Sing du eins, Rieke,« sagte der Patriarch, »steck dir die Piep an und sing.«
Das Wort »Piep« verstand Riekens Boy, den die Kumpanei sein Kammerkätzchen nannte, ein verhältnismäßig alter und besonders nackter Geselle, der von seinem kindlichen Herrn kein Auge ließ. Der dampfte gleich aus einer wüsten Knasterpfeife, richtete sich mit gekreuzten Beinen auf, sah trotz der glasig verschlafenen Augen wirklich mehr einer vierzehnjährigen Rieke als einem gestählten Krieger gleich und sang mit mutierender Stimme, mit rotem Mund, eine Strophe von einem Müllermädchen, das Sehnsucht hat. Es war die Umdichtung eines Volksliedes, so hanebüchen frech aus dem Sentimentalen ins Geschlechtliche verdreht, so aus der Tiefe allen Empfindens heraus unzüchtig, daß nur Herr Pfisch der Umdichter sein konnte. Die Drehorgelweise – liebesselig, für Näherinnen – klapperte wie eine fadenscheinige Mondscheinnacht durch die naßkalten Worte. – Text, Sänger und Melodie bildeten ein Ganzes, auf das Herr Pfisch mit dem Stolz eines Tierbuden-Impresarios wies:
»Im Urwald, mein Herr, europäische Perversitas! 63 Schule Pfisch! – Volkserzieher, angroß und angdetalch . . .«
»Lassen Sie man Riekchen singen!« mahnte der steife Graubart, »Sie versteht's doch nur halb.«
»Was?« machte Rieke. »Na, Sie hab'n ne Ahnung!« Dann kam's vom Urwaldrand her, gedämpft, anschwellend, zuletzt geheult, und in das Heulen fiel der Chorus am Feuer ein:
»Da wird Schnaps getrunken
Und ein Lied gesunken,
Daß es schaurig, schaurig durch die Wälder hallt.«
Ein paar Versprengte hatten sich zusammengefunden, einander umarmt, kamen mit schlenkernden Beinen die Halde herab. Als sie im Kreise der Zecher niederfielen, geriet Herr Pfisch in wildeste Ekstase, konnte plötzlich auf einem Bein, von Gamaschenfetzen umzüngelt, einen Kriegstanz hüpfen, sank bei den tiefen Takten fast zur Erde herab, schnellte bei den hohen in die Luft. Es wurde, dank seiner messingklaren Stimme, die wunderbarerweise immer biegsamer klang, ein musikalisches Varietéstück aus diesem Tanz, dem Hüssen applaudieren mußte. Danach fiel Herr Pfisch zusammen, röchelte seinem Pagen das eine Wort »Bett« zu und verschwand gleich darauf: die Flasche am Herzen, das flammenüberloderte Fleischstück von Gesicht voll tiefen Friedens in den Armen seiner schwarzen Träger.
Jetzt saß neben Hüssen ein langer Knochenmann mit Hidalgonase, eng zusammenstehenden Augen, nacktem Oberkörper, der fast muskellos, aber drahtig war wie der Leib einer Katze. In düsterem, fast 64 drohendem Tone stellte er sich als Leutnant Friedrich vor.
»Herr Oberleutnant wundern sich vielleicht über manches? Ja, Hinkeldey hat das einreißen lassen, wir waren machtlos. Wenn Herr Oberleutnant meinen – – –«
»Mir gefällt's! Redensarten morgen!«
Hüssen hatte anfangs mehr verlegen als teilnehmend das Bacchanal beobachtet, jetzt strahlte er vor Vergnügtheit. Als das Lied vom Soldatenleben mit vielen gepfefferten Varianten zu Ende ging, rief er hell:
»Jetzt erzähl' ich euch was: wie der Schimpanse Umomuto sich in die Missionarsfrau verliebte, und wie der Missionar dahinter kam.«
Aber er brachte die Geschichte, die mit einer umständlichen Schilderung des Missionarhofes am Kongo anfangen mußte, nicht weit. Mann um Mann ließen seine Hörer den Kopf auf die Brust fallen. Bei der Stelle: »Jetzt kann ich alles, was der Missionar kann, denkt Umumuto . . .« lachte noch düster und mit Pflichteifer Leutnant Friedrich. Dann bläkte Rieke aus halbem Schlaf grell und frühreif ihm nach. Aber schon die nächste Pointe ging verloren. – Die Weißen schliefen alle, die armen Neger aber mit ihren immer grinsenden Gesichtern wußten nicht, bei welcher Stelle man zu lachen hatte. Es wehte jetzt von Schlaf und Schnarchen ums prasselnde Feuer. Leutnant Friedrich hielt, hinten übergekippt, Nase und Pfeife ganz parallel, fast senkrecht in die Luft. Seine Augen schienen in eine gemeinsame Grube versunken, um den Mund lag 65 ein gehetzt böser Ausdruck, der Mitleid und Feindschaft erregte.
Der Graubart lag bewegungslos da, feierlich, wie er beim Suppe-Essen oder im Tode wirken mochte, wie er eben noch aus tiefer Bezechtheit ins Feuer gestarrt hatte. Sein Khakihemd sogar zog sich in anspruchslos tragischen Falten um den langen, hageren Leib. In seine Schulter gepreßt, schlief, die Kniee hochgezogen und in die Flanken des Alten gebohrt, beide Arme vergraben, das runde Hinterteil, den runden Schädel von Flammen überzückt, die kleine Rieke. Schlief und brummelte, als hätte sie einen Schnuller im Munde. Rings im Kreis klafften schwarze, rundoffene Schlünde, schnarchten arme Teufel von Europäern, die sehr viel Schnaps gebraucht hatten, um zu vergessen, daß sie allein waren, nichts von ihrem eigensten Leben mehr wußten, keinen Brief von ihren Frauen, kein Wort von ihren Kindern hatten – seit endlos langer Zeit. Daß hinter ihnen eine verdorrte Pflanzung lag, ein zerstampftes Stück Lebensarbeit, verrottet aller Glaube an die Zukunft. Daß sie sich schießen und hetzen mußten, bis sie fielen oder selbst, im Urwald verhetzt, zusammenbrachen, daß kaum einem von ihnen auf dieser Erde noch ein zärtliches Wort ins Herz fallen würde. Daß sie aus lauter Not Säufer und Helden geworden.
Mann um Mann wurden sie abgeschleppt, ihrer Nacht voll glück- wie schmerzloser Leblosigkeit entgegen.
Hüssen schickte seinen immer regen Muhmadi um ein paar Decken und einen kühlen Trank. Dann bettete er sich ans Feuer. 66
Er hatte eine fast ängstliche Sehnsucht danach, nur eine halbe Stunde lang, ganz einsam, an die rosigen Kinder zu denken, an Beatricens feuchtküssenden Mund und an das blühende Herz ihrer Mutter. Dieses Fest weißer Kannibalen hatte ihm gut getan: Urwald, Flammen, Unflat und Herzensnot. Es hatte nach Mannesbrunst gerochen, wie im Tigerkäfig, einer Brunst, die mit Schnaps gebändigt wurde, wie zugleich alles Weiche, Keusche in einem Mann. – Immerhin war es ein Fest gewesen.
Als Hüssen endlich schlief, hockte Muhmadi zu seinen Füßen. Manchmal fielen ihm die Augen zu, aber stets erwachte er rechtzeitig, das Feuer in Gang zu halten. 67