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Es war elf Uhr vormittags; trüb und neblig war der Morgen; die Sonne schien nicht im stande, den Tag herauszuführen. In dem kleinen Salon des zweiten Stockwerkes, so weit als möglich von dem Zimmer der alten Frau Hérault, saßen Helene und Emilie angstvoll wartend. Schon seit zwei Stunden hatte Louis das Haus verlassen – der Zweikampf mit Thauziat sollte in Bagatelle stattfinden. Der Gatte, dem alle Rechte des Beleidigten zugestanden worden, hatte als Waffe gezogene Pistolen gewählt und fünfundzwanzig Schritte Distanz mit Feuer ohne Kommando zur Bedingung gemacht. Die Zeugen, sehr vertrauenswürdige, ehrenwerte und in allen Regeln der Ehrenhändel bewanderte Männer, waren von Thauziats Seite der Baron Trésorier und der Marquis de Beaulieu; Hérault hatte seinen Vetter, den Obersten Gandon, und Pierre Delarue um diesen Dienst gebeten. Nach ernstlichen, aber vergeblichen Bemühungen, die Gegner zu einem Duell mit Kommando zu überreden, hatten sich die beiderseitigen Sekundanten Louis' und Thauziats beschieden und waren auf Louis' Bedingungen eingegangen.
Die wahre Ursache des Streites war keinem von ihnen bekannt. Louis hatte seinen Freunden einfach mitgeteilt, daß Clement ihn schwer beleidigt habe. Clement hatte den seinigen den Auftrag gegeben, sich vollkommen den Bedingungen des Gegners zu fügen. Da indessen Thauziat ein außerordentlicher Pistolenschütze war, so hatten die Zeugen nicht in seinem Interesse eine Milderung der Bedingungen zu erlangen versucht, sondern zu gunsten dessen, der sich seiner Pistole stellen mußte. Bei dem Duell auf Kommando war Louis die Möglichkeit geboten, davonzukommen, bei dem Feuern ohne Kommando war er von vornherein verloren. Diese Ansicht wurde allgemein ausgesprochen, und Emilie war, nachdem sie dieselbe auch von ihrem Vater hatte bestätigen hören, in größter Bestürzung zu Helene geeilt. Die junge Frau hatte ihr in kurzen Worten die Veranlassung des Duells mitgeteilt und dabei eine schreckenerregende Ruhe an den Tag gelegt. Wenn ihr Gatte mit einer undurchdringlichen Rüstung in den Kampf gezogen wäre, hätte ihre Zuversicht, ihn wiederzusehen, nicht größer sein können.
Am Vorabend des Zweikampfes hatte sie sich mit Emilie auf ihr Zimmer zurückgezogen und hatte alle Besorgnisse der Freundin durch ihre fast unnatürliche Siegesgewißheit zum Schweigen gebracht.
»Gott ist gerecht,« sagte sie, »und er kann mich so hart nicht treffen wollen. Zwei Jahre hindurch habe ich ihn jeden Morgen und jeden Abend angefleht, mir den geliebten Mann wiederzugeben. Sollte er mein Flehen nur erhört haben, um mir meinen Gatten in dem Augenblick, wo er bereuend und gebessert zu mir zurückkehrt, wieder zu entreißen? Nein, er verläßt die nicht, welche auf ihn vertrauen. Er hat das Opfer meiner Leiden angenommen, er hat meine Ergebenheit gesehen. Zum Entgelt für das, was ich gelitten, schuldet er mir das Leben meines Gatten, und er wird es mir schenken.«
Sie sprach mit ruhiger Stimme, ohne jede Aufregung, mit einer Überzeugung, die Furcht für ihren Verstand einflößen mußte, wenn die Sache für Louis einen schlechten Ausgang nahm. Um Mitternacht bat die junge Frau ihre Freundin, nach Hause zu gehen, am nächsten Morgen aber wiederzukommen. Der Aufbruch Louis' war für neun Uhr festgesetzt.
Als sie allein war, ließ sie sich in einem Gemache zwischen dem Zimmer ihres Gatten und dem ihres Sohnes nieder, indem sie die Thüren geöffnet hielt, als hoffe sie, durch den Zauber der Unschuld, der ihr Kind umgab, den Vater unverletzlich zu machen.
In stiller Sammlung verharrte sie bis Tagesanbruch im Gebet. Als sie das Geräusch von Schritten in Louis' Zimmer hörte, trat sie ein. Sie sprach in ruhig heiterer Weise mit ihm, die dem Unglücklichen etwas von ihrer Zuversicht einflößte, ihn mit ihrem Mute beseelte und mit ihrem Stolze wappnete. Er sah sie mit demütiger Bewunderung an, er empfand ein heißes Verlangen, ihr das Wort zuzurufen, das in dieser Entscheidungsstunde sein Innerstes erfüllte, das Wort: »Vergebung«. Er wagte es nicht, er fühlte sich zu schuldig. Sie aber fand in ihrer heldenmütigen Entschlossenheit, ihre Todesangst zu verbergen, selbst die Kraft, zu lächeln. Sie wußte, daß, wenn sie ihre Nerven nur einen Augenblick Herr über sich werden ließ, sie sich Verzweiflungsausbrüchen hingeben würde, die ihren Gatten weich machen und ihm verhängnisvoll werden könnten. Ruhig und fest, Herr seiner selbst sollte er sein und bleiben, und wie immer, ging sie ihm auch jetzt mit ihrem Beispiel voran.
Als Louis' Zeugen ihn abzuholen kamen, nahm sie den kleinen Pierre, der soeben aus seinem Schlummer aufgewacht war, aus seinem Bettchen. Sie legte ihn in die Arme seines Vaters, und beide mit einem Blicke zärtlichster Liebe umfassend, schien sie Vater und Sohn unlöslich verbinden zu wollen.
»Küsse deinen Papa und sage ihm auf Wiedersehen!« sagte sie zu dem Kinde.
Das sanfte, helle Kinderstimmchen wiederholte: »Auf Wiedersehen!« während die runden Händchen den Vater streichelten. Eine tiefe Bewegung durchzuckte Louis, und seinen Augen entquollen Thränen. Helene nahm darauf das Kind wieder aus seinen Armen, drückte ihren Gatten mit leidenschaftlicher Innigkeit an sich und sagte zu ihm: »Geh jetzt!«
Ohne einen Seufzer auszustoßen, ohne eine Schwäche zu verraten, sah sie ihn sich entfernen. Vom Fenster aus folgte sie ihm mit den Blicken, sah, wie er in den Wagen stieg, und erst, als das Rollen der Räder sich in dem Straßenlärm verlor, eilte sie in ihr Zimmer und brach dort, unfähig sich länger zu beherrschen, in krampfhaftes Schluchzen aus. Einen Augenblick später traf Emilie ein und vereinigte ihre Thränen mit denen der Freundin. Sie verharrten eine Stunde hindurch, ohne zu sprechen, schweigend dem Ticken der Uhr lauschend, die wahrscheinlich die letzten Sekunden eines der beiden Gegner anzeigte. Emilies Herz war von den verschiedenartigsten Gefühlen zerrissen; sie wollte den Ausgang des Kampfes nicht voraussehen, sie wollte keine Wahl treffen zwischen dem Jugendfreund und jenem, den sie von allen auserkoren, weil ihr zu Mut war, als ob ihr noch so verschwiegenes Empfinden das Schicksal dessen beeinflussen könnte, dem sie im Geiste den Vorzug gab.
Die Uhr zeigte in gewichtigen Schlägen die zehnte Stunde an. Helene stieß einen schmerzlichen Seufzer aus und murmelte: »Jetzt stehen sie einander gegenüber!« Sie sank auf die Kniee. Emilie blieb unbeweglich mit angstverzerrten Zügen sitzen, auf das geringste Geräusch lauschend, während ihr Herz so heftig schlug, daß sie zu ersticken glaubte. Die Stunde, die daraus verfloß, war für die beiden Frauen namenlos qualvoll, der Würfel war gefallen, das Urteil vollzogen und sie wußten nicht, wie es gelautet. Um halb elf Uhr vermochte Helene ihre Aufregung nicht mehr zu bemeistern, sie begab sich ins Erdgeschoß, öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. In ihrer Ungeduld, alles zu erfahren, hätte sie auf die Straße laufen mögen, um die Nachrichten vorweg abzufassen. Und dabei empfand sie gleichzeitig ein solches Todesbangen, daß sie gewünscht hätte, sich im Dunkeln einzuschließen, um nichts zu hören und nichts zu sehen. Um elf Uhr stürzte Emilie, die bisher stumm sitzen geblieben war, außer sich herein und rief: »Was geht vor, mein Gott? Es ist furchtbar, uns so lange in Unkenntnis über das Geschehene zu erhalten. Es muß ja alles längst beendet sein!«
Sie war halb ohnmächtig, aber Helene hatte keine Augen für die Freundin; ihr Blick haftete, wie durch magnetische Kraft festgebannt, an dem Eingangsthor, von wo die Entscheidung zwischen Leben und Tod kommen mußte. Endlich stieß sie einen Schrei aus, der Emilie bis in ihr Innerstes erzittern ließ, so triumphierend und gleichzeitig grausam erklang er: »Er ist's! Er ist's! Er lebt! Gott hat entschieden.«
Helene hatte nicht die Kraft, einen Schritt zu thun, noch ein Wort mehr auszusprechen. Sie klammerte sich an den Fenstervorhängen fest, um nicht zu fallen, und sah auf ihren Gatten, der bleich und langsam von seinen Sekundanten und dem Baron von Trésorier aufrecht gehalten, über den Hof daherschritt. Eine furchtbare Hoffnung blitzte im Herzen Emilies auf. Hérault war verwundet – Thauziat mußte gerettet sein! Die vier Männer näherten sich, und man konnte Louis' Gesicht erkennen, dessen Züge bleich und verzerrt waren, während seine Lippen sich zusammenkniffen und seine Augen starr blickten. Sein rechter Arm hing kraftlos in einer breiten schwarzen Binde, und sein umgeworfener Paletot verbarg das Blut, mit dem sein Anzug befleckt war. Mühsam stieg er die Stufen des Vestibüls empor, fast getragen vom Oberst Gandon und Pierre Delarue. Als er eintrat, wäre er ohnmächtig hingesunken, wenn Helene ihn nicht in ihren Armen aufgefangen hätte.
»Mein Gott! Welch eine Unvorsichtigkeit,« rief sie. »Weshalb denn gehen? Weshalb ist der Wagen nicht in den Hof gefahren?«
»Ihr Herr Gemahl hat sich dagegen gesträubt, gnädige Frau,« sagte Delarue, »in der Furcht, Sie zu erschrecken. Er wollte, daß Sie ihn aufrecht sähen!«
Louis versuchte zu sprechen; aber Helene schloß ihm sanft mit ihrer Hand den Mund.
Trésorier fügte leiser hinzu: »Wir dürfen keine Minute zaudern, ihn hinaufzutragen. . . . Er ist gefährlich verwundet . . . die Kugel hat das Schulterblatt zerschmettert. Rameau de Ferrières wird ihm sofort einen neuen Verband anlegen.«
Helene trat ein paar Schritte von ihrem Gatten weg und fragte den jungen Mann mit zitternder Stimme: »Und sein Gegner?«
Trésorier senkte den Kopf: »Tot!« war das einzige Wort, das er erwiderte.
Ein schmerzliches, halb ersticktes Stöhnen ließ sich bei dieser unheilvollen Kunde vernehmen; bleicher als der Verwundete stand Emilie vor dem Ueberbringer der Schreckensnachricht. Der Baron trat zu ihr und sagte, sich verbeugend: »Ich war im Begriff, mich zu Ihnen zu begeben, gnädiges Fräulein. Mein Freund, Herr von Thauziat, hat mir vor dem Zweikampf einen Brief eingehändigt, den ich ihm, wenn das Schicksal ihm günstig wäre, zurückstellen, im andern Falle aber Ihnen übergeben sollte. . . . Es schmerzt mich tief, gnädiges Fräulein, meinen Auftrag in letztgenannter Weise ausführen zu müssen.«
Er reichte Emilie das Schreiben. Sie nahm dasselbe, ohne eine Wort zu erwidern, entschwand wie ein Schatten vor den Anwesenden, trat in den Salon und dort, endlich allein und frei, ihrem Schmerz Ausdruck geben zu können, sank sie ohnmächtig nieder. Als sie wieder zu sich gekommen, fielen ihre halbgeöffneten Augen auf den Brief, den sie festgekrampft in der Hand hielt. Sie riß das Couvert auf, entfaltete das verhängnisvolle Blatt und konnte ihre Thränen nicht zurückhalten, als sie die festen klaren Züge jener Hand erkannte, deren Kraft nunmehr der Tod gebrochen. Sie trocknete die Thränen und, begierig zu erfahren, was der, den sie so zärtlich geliebt, ihr über seinen Tod hinaus anzuvertrauen hatte, las sie: »Ich habe die Nacht mit inneren und äußeren Vorbereitungen für den Zweikampf, dem ich entgegengehe, und der ein ernster sein wird und sein muß, hingebracht, Emilie; meine Angelegenheiten habe ich geordnet und mein Gewissen einer ernsten Prüfung unterzogen. Die erste Aufgabe war rascher erledigt, als die zweite, und es war mir leichter, Verfügungen über mein Vermögen zu treffen, als mir Rechenschaft über meine Seele abzulegen. Der Kampf, den ich gegen mich selbst gekämpft, war lang und qualvoll. Der Richter war streng, aber der Angeklagte verteidigte sich energisch, und nur mit Mühe kam der Wahrspruch zu stande, der auf ›schuldig‹ lautet. Ich habe schlecht gehandelt, und Sie hatten recht, als Sie mir dies sagten, aber die Leidenschaft riß mich fort und ihr Rat ist von jeher vom Uebel gewesen. Dreimal fühlte ich den Geist des Bösen sich meiner bemächtigen und meine Gedanken sich umnachten. Ich habe versucht, ihn mit Gewalt von mir zu weisen, ich habe gerungen in der Finsternis, ich habe mich zum Licht, zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit hindurcharbeiten wollen. Eine Kraft mächtiger, als mein Wille: meine am Gemeinen haftende Natur hat mich ins Dunkel zurückgezerrt, und ich habe mich dreier ehrlosen und schändlichen Handlungen schuldig gemacht. Die erste war, daß ich meine Hand in die des Mannes gelegt, den ich haßte, die zweite, daß ich in sein Haus trat, um seine Ehre zu stehlen, und endlich – habe ich feige Gewalt gegen eine Frau anzuwenden versucht. Ich wußte jedesmal, daß ich ein Verbrechen beging, und trotzdem that ich es. Der Reiz des Bösen war stärker als der Widerspruch meines empörten Gewissens, und ich habe die doppelte Qual ausstehen müssen, vor einem Verbrechen zurückzuschaudern und es doch zu begehen. Ja selbst an der Schwelle des Todes, wo ich Abrechnung halte über das, was geschehen, und das, was die Zukunft mir hätte bringen können, habe ich zwar die Kraft, mich zu verurteilen, aber nicht die, zu bereuen. Selbst in dem Augenblick, wo ich vielleicht für ewig dahingehen werde, überläuft mich ein Wonneschauer bei dem Gedanken, daß die, welche ich angebetet, um den Preis eines Verbrechens hätte mein sein können. Ich fluche meinem Geschick, das mich dieser Frau in den Weg geführt und mir nicht vergönnt hat, sie zu besitzen und in ihr das Glück meines Lebens zu finden. O, wie habe ich sie geliebt, und wie liebe ich sie in diesem Augenblick! Sie hat meine unermeßliche Zärtlichkeit für sie nicht würdigen können, und da ich sie ihr im Leben nicht habe beweisen dürfen, will ich versuchen, sie durch meinen Tod von der Wahrhaftigkeit derselben zu überzeugen. Nicht das Geschick, sie allein entscheidet in dem Kampf zwischen ihrem Gatten und mir – die Liebe, die sie für ihn empfindet, trägt den Sieg über meine Liebe zu ihr davon. Sie hatten es mir vorausgesagt, Sie, die Sie so wunderbar klug und gut sind: in dem Kampfe, den ich gegen die Treue und die Tugend unternommen, mußte ich unterliegen. Es bleibt mir nun nichts mehr zu thun, als meine Zeche zu bezahlen, und ich werde sie königlich bezahlen, indem ich dem Nebenbuhler mein Leben, und der, die ihn liebt, das Glück gebe. In dem Kampfe, der morgen ausgefochten wird, liegt Louis' Geschick in meiner Hand, ich bin entschlossen, ihn zu schonen. Nicht eine Thräne mehr will ich ihr erpressen, die schon so namenlos gelitten hat. Ich werde ihr Märtyrertum enden und mich zu ihrem Verbündeten machen. Leider kenne ich Louis zu gut, um nicht zu wissen, daß er von seiner thörichten Leidenschaft allein geheilt werden kann, wenn er Lady Olifaunt fern bleiben muß. Eine Kugel in die Schulter, drei Wochen Wundfieber, ein bißchen Blutverlust – und er wird nicht mehr an Diana denken. Ich werde ihm diesen Dienst erweisen. Der Verwundete wird noch mehr Sympathie erwecken, und das Wort ›Verzeihung‹ wird ihr noch leichter vom Herzen auf die Lippen steigen, ihr, die er so thörichterweise verlassen. Jetzt bin ich fertig; ich scheide aus der Welt, ohne jemand das geringste zu schulden. Ich habe ans Ende dieses furchtbaren Contos, das ich eröffnet, das Wort ›quitt‹ gesetzt. Und jetzt will ich nur noch an Sie denken, an Sie, die Sie meine aufrichtige, ergebene und weise Freundin gewesen sind, die mich betrauern wird, obgleich ich ihr viel Herzeleid bereitet. Sie haben mir eines Tages den größten Beweis der Achtung, den eine Frau einem Manne gewähren kann, gegeben, indem Sie mir Ihre Hand reichten und mich fragten: ›Wollen Sie mich zu Ihrer Gattin haben?‹ Ach – ich war Ihrer nicht würdig, und ich habe Ihnen das nur zu deutlich bewiesen. Verzeihen Sie mir den Gram, den ich Ihnen bereitet, und seien Sie versichert, daß Ihr Name das letzte Wort sein wird, das mein Mund auf dieser Welt spricht. Wenn ich nicht mehr sein werde, dann suchen Sie mich einigemal dort auf, wo ich in Schweigen und ewiger Ruhe schlafen werde. Ich habe die Blumen so sehr geliebt, schmücken Sie mit ihnen meine letzte Ruhestätte; nichts ist so traurig, wie ein verwahrlostes Grab. Wenn etwas von mir meine irdische Hülle unter dem Stein überleben sollte, so werde ich das Flüstern Ihrer Stimme erkennen – und meine Nacht wird weniger dunkel, mein Grab weniger eisig sein. Da bricht der Tag an. Lebewohl! Ich küsse Dich von ganzem Herzen.«
Emilie faltete den Brief mit zitternder Hand und barg ihn in ihrem Busen. Ihre Augen waren trocken, nicht eine Thräne glitt über ihre Wangen. Sie erhob sich, klingelte, verlangte nach ihrem Mantel und ihrem Hut und ging, ohne von Helene Abschied zu nehmen, fort. Eine Viertelstunde später hielt ihr Wagen vor Thauziat's Hause. Die Thür stand weit offen, das Vestibül lag totenstill da, das junge Mädchen stieß die Treppe hinauf und trat in den Salon des ersten Stockwertes. Dort saß der Marquis von Beaulieu vor einen Tische und gab dem Kammerdiener Clements verschiedene Befehle. Als er Fräulein Lereboulley eintreten sah, erhob er sich ehrfurchtsvoll.
»Sie wollen ihn sehen?« fragte er mit leiser Stimme.
»Ja,« antwortete sie.
Er trat einige Schritte vor, schob eine Portiere beiseite, und zog sich achtungsvoll zurück, nachdem er Emilie vorübergelassen. Der schwere Stoff fiel zurück, und das junge Mädchen stand allein in dem Zimmer. Thauziat lag vollkommen angekleidet ausgestreckt auf seinem Bette. Die rote Seide der Decke ließ die Blässe seines Gesichtes doppelt hervortreten. Seine Augen waren geschlossen, ein Lächeln schwebte um seine Lippen, als ob er dem Leben ein letztes Mal hätte trotzbieten wollen. Alles deutete darauf hin, daß er ohne Kampf, ohne Erschütterung unterlegen, daß er selbst dem Tode zu Hilfe gekommen. Seine Hände ruhten ausgestreckt und nicht im Todeskampfe zusammengeballt auf der Decke, Ein sechsarmiger silberner Leuchter, der neben dem Bette stand, beleuchtete seine stolzen und vornehmen Züge. Keine Blutspur, kein Flecken war an seinem Anzug zu bemerken. Er war gefallen, wie er gelebt, elegant und korrekt. Emilie trat zu ihm und sah ihn lange an, um dieses letzte Bild des geliebten Mannes unverlöschlich im Gedächtnis zu behalten. Dann beugte sie sich zu ihm nieder und berührte mit den Lippen diese Stirn, in der sich kein Gedanke mehr regte. Mit Mühe hielt sie einen Schrei zurück. Es war ihr, als ob die Lider Clements gezuckt hätten und eine fast unbemerkliche Bewegung über seine Wangen geglitten wäre – als ob der Kuß, den sie ihm gegeben, noch einmal den letzten Lebensfunken in ihm hätte aufsprühen lassen. Aber ein bläulicher Schatten zog an seinen Schläfen empor und umgab sie mit einer Trauerkrone. Da sank das junge Mädchen schluchzend auf die Kniee und betete.
Wie Emilie es vorausgesagt hatte, bedurfte es heißer Eisen, um das Bild Dianas aus Louis' Gedächtnis zu tilgen. Hingestreckt auf seinem Schmerzenslager, von furchtbarer Unruhe gepeinigt, wagte der unglückliche Hérault weder seiner Frau, deren Sanftmut, Ruhe und Festigkeit sich auch jetzt nicht verleugnete, noch seiner Großmutter, deren kummervolle Zärtlichkeit ihn tief erschütterte, zu befragen, und er litt unter dieser moralischen Pein mehr als unter den körperlichen Qualen. Seine Wunde war unter der liebevollen Pflege und der guten Behandlung bald auf dem Wege der Heilung. Aber wann, fragte er sich, wird meine Herzenswunde vernarben?
Er hatte die Schätze verschleudert, die ihm das Glück so reichlich zugemessen; er hatte das Vertrauen seiner Großmutter getäuscht, die Liebe seiner Frau verraten und das von seinem Vater erworbene Vermögen, das er auf seinen Sohn hätte vererben müssen, leichtsinnig vergeudet. Alles hatte er seiner wahnwitzigen Leidenschaft geopfert, und trotzdem richtete niemand ein Wort des Vorwurfes an ihn, die Großmutter ging leis und sachte mit behutsamen Schritten im Zimmer hin und her und flüsterte mit der jungen Frau, das Kind spielte auf dem Teppich lachend und jubelnd. Man hatte dem Schuldigen keins seiner Privilegien und keins seiner Rechte genommen; er war geliebt und geachtet wie zuvor. Aber erwies man nicht vielleicht alle diese Huld nur dem Verwundeten? Und hatte diese Güte und diese Sanftmut einen andern Beweggrund als das Mitleid?
Während er die langen Nächte schlaflos dalag und sich nicht zu rühren wagte, um seine Frau nicht aufzuwecken, die im Nebenzimmer schlummerte, dachte er über alles, was er gethan, nach, und die Vergangenheit lastete wie ein Alp auf seiner Seele. War er denn wahnsinnig gewesen? War es denn möglich, daß er für ein elendes Weib, dessen Lasterhaftigkeit er gekannt, diese schändlichen und feigen Handlungen begangen? Wenn er sein Verhalten mit dem Thauziats verglich, gelangte er dahin, jenen unschuldig zu finden. Oft erschien ihm in der Nacht das bleiche Gesicht seines Freundes, aber nicht drohend und schrecklich, sondern traurig und sanft! Die Vision war so deutlich, daß er Clement vor sich stehen zu sehen glaubte. Er brannte vor Verlangen, ihn anzureden, aber er wagte es nicht; Fieberschauer ergriffen ihn, und am andern Morgen fand man ihn dann elend und totenbleich. Eines Nachts aber sah er Clement, beim Schein der Nachtlampe, wie er sich über ihn beugte, ihn mit angstvoller Miene betrachtend, als ob er den Verlauf seiner Genesung beobachten wollte und als ob dieselbe ihm zu langsam vorschritte. Unter furchtbaren Anstrengungen richtete sich Louis in die Höhe, um ihn zu fassen, aber seine Hände griffen ins Leere. Da flüsterte der Verwundete im Schweigen der Nacht fast unhörbar: »Clement, verzeih mir!«
Der Schatten legte seine eisige Hand auf die fieberglühende Stirn seines Mörders und sagte: »Ich habe dir nichts zu vergeben. . . . Nicht du hast mich getötet, sondern sie.«
»Warum verfolgst du mich dann, sobald die Dunkelheit hereinbricht?«
»Wenn dich mein Blick aufregt, so werde ich mich nicht mehr zeigen. Aber ich werde euch stets umschweben, euch unsichtbar beschützend, denn ich bleibe auch nach dem Tode der einzigen Liebe meines Lebens treu. Liebe sie, du, den sie liebt, und sei glücklich! Noch kannst du es werden.«
Er verschwand, und Louis sah ihn nie wieder; aber von dieser Stunde an besserte sich sein Zustand zusehends, und nach sechs Wochen war er im stande, das Bett zu verlassen. Am Nachmittag des Tages, wo Rameau de Ferrières seinem Patienten gesagt hatte: »Jetzt können Sie ausgehen und Ihre Geschäfte wieder aufnehmen,« befahl Helene anzuspannen. Sie bestieg mit ihrem Gatten und Frau Hérault den Wagen und befahl dem Kutscher, nach den Werkstätten von Saint Denis zu fahren. Als sie dort vor einem reizenden, von einem hübschen Garten umgebenen Häuschen angekommen, das der Direktor der Fabrik bisher bewohnt hatte, stiegen sie aus. In dem Arbeitszimmer, das dicht neben der Eingangsthür des Hauses gelegen war, fanden sie ihren Notar, Herrn Talamon, ihrer wartend. Erst jetzt nahm Helene ernst das Wort: »Mein lieber Louis,« sagte sie, »während du durch deine Wunde verhindert, warst, dich mit deinen Angelegenheiten zu beschäftigen, haben die Großmutter und ich die nötigen Maßregeln treffen müssen, um den von dir eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen. Boissise und das Haus im Faubourg Poissonnière sind verkauft; mit dem Ergebnis dieser Verkäufe und mit der Mitgift, die du mir einst bewilligt, kannst du alles berichtigen. Die Fabrik, welche die Quelle des Vermögens deines Großvaters und deines Vaters gewesen, bleibt dir schuldenfrei erhalten. Du hast nur die Schriftstücke zu unterzeichnen, die Talamon so gütig war mitzubringen, und alles ist im reinen.«
Louis erbleichte, nahm seine Frau bei der Hand und zog sie ans Fenster: »Also dieses Haus . . .« stammelte er.
»Werden wir von nun an bewohnen.«
»Und die Summe, die ich dir bei unsrer Verheiratung zuschreiben ließ?«
»Habe ich zurückerstattet. Arm bin ich in dein Haus eingezogen, und arm wollte ich es wieder verlassen.«
»Aber das Vermögen, das ich dir ausgesetzt, war das Erbteil deines Sohnes.«
»Mein Sohn kann kein kostbareres Erbteil erhalten, als den unbefleckten Namen seines Vaters.«
Louis blickte mit Thränen in den Augen auf diese so tapfere, so edelmütige, so stolze Frau und sagte: »Wie kann ich dir das vergelten?«
Ruhig sah sie ihn an und erwiderte: »Dadurch, daß du ein guter, arbeitsamer und ehrenwerter Mann wirst!«
Sie wies mit der Hand auf die Werkstätten, von denen das Geräusch der Hämmer herüberdrang, und sagte: »Dort ist die Rettung! Du hast das Gebäude zerstört, richte es wieder auf! Ich werde dir zur Seite stehen.«
»Aber wird uns das gelingen?«
»Man kann alles, wenn man will!«
Sie führte ihn an den Tisch zurück. Er nahm die Feder, und ohne zu zögern, schloß er, voll Vertrauen auf eine Zukunft, die sie ihm versprach, die Rechnung der Vergangenheit ab.
Ende.