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Viertes Kapitel.

Es war ein Uhr nachmittags. Helene Graville hatte sich, nachdem sie gefrühstückt, wieder an ihre Arbeit begeben, als ein leises Klingeln sie an die Flurthür rief. Sie öffnete und fuhr einen Schritt zurück, als sie in der vor ihr stehenden kleinen, alten, sehr reichgekleideten Dame, die ein Spitzentuch über den Kopf geworfen hatte, Frau Hérault erkannte. Die Großmutter lächelte ihrer jugendlich frischen, anmutigen Mieterin zu, trat näher und sagte: »Entschuldigen Sie, mein Kind, wenn ich störe. ... Ich bin, wie Sie sehen, als Nachbarin gekommen. Man hat mir erzählt, daß Sie eine außerordentlich geschickte Stickerin sind, und ich habe da eine sehr feine Arbeit, die ich Ihnen anvertrauen möchte.«

»Darf ich bitten, einzutreten, gnädige Frau?« sagte das junge Mädchen zuvorkommend. »Verzeihen Sie, daß ich Sie in solchem Durcheinander empfange!«

Sie zeigte dabei auf die auf Tisch und Stühlen herumliegenden Stoffe, auf die eben benützte Nähmaschine, auf die aus den Kartons entnommenen Jettbesätze und Perlpassementerieen und auf den Arbeitstisch am Fenster, auf dem ein prächtiger Seidenstoff mit halbfertiger Stickerei ausgebreitet lag, jenem Fenster, durch welches sie so oft Louis beobachtet hatte.

»Schon gut,« sagte Frau Hérault und setzte sich auf einen Strohstuhl, »ich weiß, was die Arbeit mit sich bringt; habe ich doch vierzig Jahre meines Lebens selbst gearbeitet und beschäftige mich noch jeden Tag mit Gärtnerei. Aber es scheint ja, daß Sie mir darin Konkurrenz machen, mein liebes Kind,«

Sie hatte sich erhoben, trat ans Fenster und betrachtete die verschiedenfarbigen Hyacinthen, die zwischen rankenden Winden in einem auf der Fensterbank befindlichen Kasten gezogen wurden.

»Dieses schöne Grün erspart mir im Sommer die Gardinen,« erwiderte fröhlich das junge Mädchen, »und da ich wenig ausgehe, ersetzen meine Blumen mir das Land. Ich habe meine ganze Kindheit in frischer Luft und in der freien Natur zugebracht, und was mir am schwersten geworden, als ich nach Paris kam, war das Stubenleben. ... Aber,« setzte sie mit lieblichem Lächeln hinzu, »man gewöhnt sich an alles.«

»Sie sind Philosophin.«

»Ich muß es sein. Wollte ich mir nicht Mühe geben, bei allen Dingen die gute Seite herauszufinden, so wäre ich wohl bitter geworden und würde mich vielleicht für ein bemitleidenswertes Geschöpf halten,«

»Und das sind Sie nicht?«

»Nein, gnädige Frau, äußerlich wenigstens nicht, ich verdiene reichlich mein Brot. Innerlich dagegen freilich, ich habe vor einem Jahre einen großen Verlust erlitten, den ich mein ganzes Lebenlang betrauern werde.«

Als Frau Hérault einen fragenden Blick auf sie richtete, fuhr sie mit zitternder Stimme fort: »Ich habe meine Mutter verloren und stehe nun ganz allein in der Welt.«

Helene trocknete eine Thräne, dann sah sie ihre Besucherin an und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädige Frau, daß ich Sie mit meinem Schmerze belästige. Wollen Sie mir vielleicht sagen, womit ich Ihnen dienen kann?«

Frau Hérault öffnete das sorgfältig mit rosa Band zugebundene Paket, welches sie in der Hand hatte, und reichte Helene eine prachtvolle, in verschiedenen Farben gestickte Crêpe de chine-Schärpe.

»Mit diesem Stoff ist ein kleines Unglück passiert. Mein Kammermädchen hat dummerweise einen Streifen dieser Stickerei, die auf einem Tische in meinem Schlafzimmer lag, verbrannt. Mir liegt viel an dieser Schärpe, da sie ein Andenken ist. ... Man hat mir erzählt, daß Sie wie eine Fee sticken. ... Das Muster ist außerordentlich schwierig ... es ist die reine Malerei. Es sind, wie Sie sehen, Vögel und Blumen in den verschiedensten und feinsten Schattierungen. Würden Sie es übernehmen, das Zerstörte wiederherzustellen?«

Helene beugte sich über den kostbaren Stoff und griff mit einem gewissen Wohlbehagen in das weiche schimmernde Gewebe. Ihr aristokratisches Blut sprach sich in ihrem Geschmack sehr deutlich aus, und ein feiner Beobachter hätte aus der Art, wie die zierlichen Finger über die Seide hinglitten, wohl den Sprößling eines Geschlechtes erraten, das stets das Schönste und Glänzendste der jeweiligen Kulturepoche sich zu eigen gemacht. Während sie ihre Untersuchung stillschweigend fortsetzte, nahm Frau Hérault die bescheidene Wohnung des jungen Mädchens in Augenschein. Trotz der Unordnung, wegen deren sich Helene entschuldigt hatte, war alles von einer wunderbaren Sauberkeit. Das äußerst einfache, aber spiegelblank gehaltene Mobiliar zeugte von der ihm täglich zu teil werdenden Sorgfalt. Alles war geschmackvoll und hübsch geordnet, ein kleiner, künstlerisch mit Plüsch drapierter Spiegel, ein Tisch mit Nippsachen, die zwar ohne Wert, aber geschickt aufgestellt waren, eine Bettdecke aus broschierter Seide, eine Etagere, auf der sich gebundene und mit einer Chiffre gestempelte Bücher befanden, alles Trümmer und Reliquien eines verschwundenen Wohlstandes, bewiesen, daß die Bewohnerin dieser ärmlichen Wohnung an Bildung und Erziehung weit über ihren Verhältnissen stand. Neben dem Kamin blickte aus einem schwarzen Rahmen das Bild eines eleganten jungen Mannes; ein frisches Veilchenbouquet für zwei Sous war an demselben wie ein frommes Angebinde befestigt. Die Großmutter betrachtete das Bild einige Augenblicke. Sie konnte sich nicht erinnern, je dieses Gesicht gesehen zu haben. Sie kehrte sich um und wandte sich an die Nähterin mit der Frage: »Ist dies Ihr Vater?«

»Ja, gnädige Frau,« erwiderte Helene so leise, als ob sie in einer Kirche spräche.

»Man hat mir gesagt, daß Sie Helene Graville heißen,« fuhr Frau Hérault fort. »Ich habe in der Normandie ein Dorf dieses Namens in der Nähe von St. Aubin gekannt, sind Sie vielleicht aus diesem Orte?«

»Ich bin im Schloß Graville geboren,« sagte Helene ernst.

Beide Frauen versanken in Schweigen, vor jeder stieg in wunderbarer Klarheit ein Bild aus längst vergangenen Tagen auf. Das junge Mädchen sah den großen Park vor sich, mit den dunklen, hochstämmigen Buchen, mit seinen grünen Wiesen, den Obstgarten voller Apfelbäume, die der Frühling puderte, wie die Marquisen aus der Zeit Ludwigs XV., und die sich im Herbst unter der Last ihrer gelben und roten Flüchte bogen. Sie atmete wieder den frischen Seewind, der seine salzgeschwängerten Düfte über die Wiesengründe ergoß, und dem man es zuschrieb, daß Gras und Kraut besonders würzig gedieh und die Milch der wohlgenährten, reinlichen Kühe so fett und schmackhaft war. Auf der Anhöhe stand das Schloß mit seinem von einer Steinbalustrade umgebenen Balkon, und zwischen den Flieder- und Lorbeerbäumen wandelten ein Herr und eine Dame im Sonnenschein auf und ab. Der Herr war schlank und glich dem Bilde in dem kleinen Pariser Mansardenstübchen, die blonde blasse Frau lächelte glückselig. Helene folgte beiden mit den Augen, dann verschwanden sie hinter einem Boskett, und die Terrasse blieb traurig und leer, wie ihr Leben jetzt.

Vor Großmutter Héraults Augen aber stand das geschwärzte, räucherige Hüttenwerk mit dem Getöse der Schmiedehämmer, und inmitten der roten Glut der Oefen sah sie Hérault mit nackten Armen, das Haar von Feilenstaub leuchtend; ein hübscher Bursche mit seinem blonden Schnurrbart und der klaren Hautfarbe des Vollblutnormannen. Sie folgte ihm wieder des Abends auf die Wiesen, an die Ufer des kleinen Baches, wo sie von dem jungen Frühling, dem Duft der blühenden Weißdornhecken berauscht, die ersten Küsse getauscht hatten. Ach, wie viel heiße Thränen waren dann gefolgt, wie entsetzlich war der Zorn des Vaters gewesen, wie viel kummervolle Nächte hatte sie durchwacht bis zu dem Tage, wo die Schloßherrin den pflichtvergessenen Hérault veranlaßte, die Hand Fifines von ihrem Vater zu verlangen. Daraus war dann alles entstanden, Glück und Wohlstand, alles verdankte sie dem Zuge des Herzens einer edlen Frau, deren Enkelin heute vor ihr stand, einsamer und mittelloser, als die Tochter des Schenkwirts es jemals gewesen.

»Auf Schloß Graville sind Sie also geboren?« fragte Frau Hérault. »Ihr Herr Vater hieß Henri?«

»Ja, gnädige Frau,« sagte Helene erstaunt, »aber woher wissen Sie das?«

»Mein Fräulein,« erwiderte die alte Frau freundlich-stolz, »als ich noch eine arme Dorfnähterin war, habe ich häufig auf dem Schlosse bei Ihrer Großmutter gearbeitet, und Ihr Vater hat oft auf meinem Schoß gesessen. Wenn ich Sie nun in einer so mißlichen Lage sehe und denken muß, daß Sie und die Ihrigen vielleicht Not gelitten haben, mache ich mir die bittersten Vorwürfe, daß ich in schwarzem Undank es dem Zufall überlassen, mich zu Ihnen zu führen.«

»Gnädige Frau,« unterbrach sie Helene, »sorgen Sie sich nicht um mich. Ich versichere Sie, daß ich in keiner Weise mit Mangel zu kämpfen habe und daß ich, Gott sei Dank, auch im stande gewesen bin, meine geliebte Mutter vor jeder Not zu bewahren,«

»Ich bin glücklich, Sie so tapfer und mutig zu finden. Ich danke Ihrer Familie alles, und das wenige, was ich bin, bin ich durch die Güte und den Edelmut derselben geworden. Ihre Großmutter hat die Mitgift hergegeben, die mir gestattet hat, Hérault zu heiraten, und mit diesem Gelde hat er mühsam das Gebäude unsers Wohlstandes aufgeführt. Wenn wir reich sind, so sind wir es durch Frau von Graville. Ohne sie würde Hérault seiner Lebtage als Arbeiter in einer Provinzfabrik vegetiert haben, ich wäre bei meinem Vater geblieben, unsre Kräfte hätten sich nicht zu gemeinsamer Thätigkeit vereinen können, und nichts von alledem, was uns geglückt ist, wäre auch nur versucht worden. Sie sehen also, mein Fräulein, wie sehr ich den Ihren und folglich auch Ihnen verpflichtet bin, und wenn Sie mir gestatten, Ihnen einen Teil dieser Schuld abzutragen, so wird mein Glück groß sein.«

Fräulein von Graville errötete und trat einen Schritt zurück. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, was Frau Hérault im Sinn hatte, und fürchtete ein Geldanerbieten, das die tüchtige Arbeiterin auf die Stufe einer Bettlerin herabgedrückt hätte, und das sie schon im voraus verletzte und demütigte.

»Gnädige Frau, ich freue mich von Herzen, daß meine Familie einst im stande gewesen ist, Ihnen Dienste zu leisten, aber ich kann nicht einsehen, daß dieser Umstand Ihnen irgend welche Verpflichtungen mir gegenüber auferlegte – wenden Sie Ihre Wohlthätigkeit wirklich Bedürftigen zu. Solange ich Arbeit finde, bin ich im stande, reichlich für mich zu sorgen.«

Die alte Frau Hérault erkannte mit ihrer angeborenen Feinfühligkeit sofort, was in dem Geiste Helenes vorging. Sie begriff sehr wohl den peinlichen Eindruck, den ihr Vorschlag hervorgebracht, trat auf das junge Mädchen zu, nahm zärtlich ihre Hand und sagte sanft: »Mein Kind, Sie müssen ein wenig Geduld haben mit einer alten Frau, die, ohne viel zu klügeln, den Eingebungen ihres Herzens gehorcht. Seien Sie unbesorgt, ich biete Ihnen kein Geld an; ich weiß, mit wem ich es zu thun habe. Sie sind aus einem Geschlecht, das gibt und nicht nimmt. Aber ich bin sehr alt und habe nur einen Enkel, der mich oft allein läßt, nicht weil er mich nicht liebt, sondern weil er, in der Welt stehend, dort oft von seinen Vergnügungen gefesselt wird. Ich bin fast immer allein und habe so oft schon bedauert, keine Enkelin zu haben. O! sie würde bei ihrer Großmutter geblieben sein, und ich würde das traurige Gefühl des Alleinstehens nicht kennen. Als ich Sie sah, war es mir, als ob der Zufall mir das ersehnte Kind schickte, und als ob es ganz selbstverständlich wäre, daß Sie zu mir kommen und die letzten Jahre eines Lebens mit Licht und Sonnenschein erfüllen würden, das all sein Glück den Ihrigen verdankt.«

Bei diesen aus dem Herzen kommenden Worten erbleichte Helene, Thränen entströmten ihren Augen, und als sie Frau Hérault die Arme ausbreiten sah, konnte sie nicht widerstehen und fiel ihr um den Hals.

»Sie nehmen also an?« rief die Großmutter voll Freude.

Helene entwand sich der Umarmung, die sie schon zur Gefangenen gemacht zu haben schien, und leise den Kopf schüttelnd, sagte sie: »Ich vermag Ihnen noch nicht zu antworten, gnädige Frau, obwohl mein Herz voll Dank ist für Ihre große Güte! Ich fühle das Bedürfnis, über Ihren Vorschlag reiflich nachzudenken und nicht der ersten Gefühlsregung zu gehorchen, was wir beide eines Tages bereuen könnten. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich offen und ehrlich rede, aber ich bin seit langer Zeit gewöhnt, mein Leben selbständig zu gestalten, und vielleicht habe ich mir dadurch ein höheres Maß von Bestimmtheit und Festigkeit angeeignet, als einem Mädchen geziemt. Was Sie in diesem Augenblick von mir verlangen, heißt meiner Freiheit entsagen, auf eine sorgenlose, wenn auch bescheidene Existenz verzichten, um an der Seite einer Frau zu leben, deren Herzensgüte mich zwar mit wärmstem Dank erfüllt, die ich aber doch noch nicht kenne; um in eine Welt zu treten, die mir voll Wirrsal und Täuschungen zu sein scheint. Eine Rückkehr in meine jetzigen Verhältnisse würde schwer durchzuführen sein, wenn ich eine Zeitlang in Ihrem Hause gelebt hätte. Die neuen Gewohnheiten, die ich angenommen, würden mir meine Armut nur empfindlicher machen, und aus einer Veränderung meiner Lage, die ich mit gutem Recht für glücklich gehalten, würde für mich nur Entmutigung und Trostlosigkeit entstehen. Ich muß daher mit mir zu Rate gehen und das Für und Wider mit Ruhe abwägen. Habe ich aber erst einmal einen Entschluß gefaßt, so vermag nichts denselben zu ändern.«

»Ich sehe,« sagte Frau Hérault, indem sie Helene aufmerksam prüfte, »daß Sie ein charaktervolles Mädchen sind. Das überrascht und entzückt mich, da ich selbst niemals einen festen Willen besessen und stets nur gethan habe, was die andern gewollt. Hérault befahl im Hause, und ich sorgte dafür, daß seine Befehle ausgeführt wurden. Später nahm mein Sohn, wenn auch schon etwas weniger fest, das Heft in die Hand, und ich gehorchte wieder. Heute ist Louis der Herr, und sehen Sie, mein Kind, der braucht nur zu lächeln, um seine Großmama um den Finger zu wickeln. Ich habe unrecht, ich weiß es wohl, aber was soll ich thun? Man müßte diesen schwachen und leichtfertigen Burschen leiten, anstatt zu allem, was er thut, immer zu sagen: ›Vortrefflich!‹ Es ist ein Verhängnis, daß der Sohn fast nie so viel taugt, wie der Vater, und daß das vom Großvater angesammelte Vermögen sehr oft vom Enkel verschwendet wird. Unser früher so blühendes Geschäft kränkelt, weil es ihm an einer treibenden Kraft fehlt. Mein Mann hat aber oft gesagt, jedes Vermögen, welches nicht wächst, geht zurück. Solange mein Enkel unverheiratet bleibt, werde ich keine ruhige Stunde haben. Das Junggesellenleben ist allzu reich an Gefahren für sein Herz und für sein Vermögen, ist er aber einmal verheiratet, so wird er, davon bin ich überzeugt, vernünftig werden, denn er ist ein guter und braver Mensch. Er wird seine Frau auf Händen tragen, seine Kinder lieben und die Leitung der Geschäfte selbst übernehmen, anstatt sie einem dummen Verwaltungsrat zu überlassen. Wie will ich jene Stunde segnen, die mir meinen Seelenfrieden wiederbringen wird! Um aber dieses Ziel zu erreichen, brauche ich jemand, der mir mit Rat und That beisteht. Ich bin sehr alt und es gibt so viele Dinge, die mir fremd und unverständlich sind, und die ich mir nicht mehr aneignen kann – helfen Sie mir mit Ihrer Freundlichkeit und Ihrem Takt. ... Sie sehen, wie viel Gutes Sie stiften können, und müssen doch begreifen, daß Sie die Gebende und nicht die Empfangende sein sollen.«

Helene antwortete nicht. Am Fenster stehend, beobachtete sie nachdenklich einen goldnen Sonnenstrahl, der auf ihren Winden hin und her gaukelte, und sie mußte denken, wie düster und morsch die altersgraue Mauer aussehen würde, wenn das rankende Grün, mit dem ihre Hand sie geschmückt, ihr nicht frohe Farbe und Heiterkeit verliehe. Unwillkürlich stellte sie einen Vergleich zwischen sich und der von ihr gepflegten Pflanze an. Sollte nicht ihre frohe und frische Jugend der Schmuck der alten Frau werden? Das Schicksal schien dieselbe eigens in ihre Nähe gebracht zu haben, so daß sie nur ihre Arme auszustrecken brauchte, um sie fest an sich zu schließen und ihr Schutz und ihre Freude zu werden.

Und plötzlich trat dann die schlanke und elegante Gestalt Louis' vor ihren inneren Blick: sie sah ihn, wie er in jenen Zeiten der Trauer regelmäßig zur bestimmten Stunde über den Hof kam und als Musterenkel an der Seite der alten Großmutter lebte. Wäre es denn möglich, daß sie, wie Frau Hérault sagte, einen wohlthätigen Einfluß auf das Leben dieses jungen Mannes auszuüben vermöchte, daß sie der Großmutter helfen könnte, ihn dem schlechten Umgange zu entreißen, der ihn dem Heim und der Familie entzog? Welche Beziehung bestand zwischen dem frechen Narren mit dem braunen und stolzen Gesichte, der ihr am Abend vorher, in Begleitung seines Freundes gefolgt, und dem sanften träumerischen, verwaisten jungen Manne, den sie so manchen Tag von ihrem Fenster beobachtet hatte? War dieser Begleiter vielleicht sein böser Dämon, konnte sie ihn demselben nicht entreißen, ihn zur Vernunft, zur Pflicht zurückführen und aus einem blasierten und unnützen Lebemann einen nützlichen und tüchtigen Arbeiter machen? Und wem würde diese Heilsarbeit zu Gute kommen? Eines Tages würde ein junges Mädchen erscheinen, die Braut Louis', die dann seine Frau werden würde. Die Großmutter hatte es gesagt, sobald er einmal verheiratet wäre, würde sie frei aufatmen können. Wer konnte die sein, die eines Tages Frau Hérault genannt werden und die Zukunft der ganzen Familie sicherstellen würde?

Eine geheimnisvolle Stimme flüsterte ihr zu: Das bist du! Du brauchst nur zu wollen, und dein Geschick wird ein andres werden. Vielleicht würdest du glücklicher sein, wenn du in deiner bescheidenen Lage bliebest, aber der Kampf des Lebens ruft dich, und du darfst dich demselben nicht versagen. Du wirst der gute Engel dieses Hauses werden, wirst es schützen, vielleicht retten. Ohne großes Leid und viel Bitterkeit wirst du nicht zum Ziele gelangen. Das ist die Aufgabe, die das Schicksal dir bestimmt; sie mutig zu ergreifen, ist deine Pflicht, sie zu vollführen, wird dein Stolz sein. Helene erbebte. Ein Unsichtbares schien sie zu umschweben, das ihr Rat erteilte und sie ermutigte: deutlich vernahm sie die Worte, die ihr Wahlspruch waren: Wolle nur! Wolle nur! Verwirrt, mit Thränen in den Augen blickte sie um sich; sie war allein, allein mit Frau Hérault, und sie erkannte, daß es nur ihr Herz gewesen, welches zu ihr gesprochen.

»Nun, meine liebe Tochter,« sagte die Großmutter liebevoll, »Sie gehen schon seit fünf Minuten mit sich zu Rate und waren mit Ihren Gedanken gewiß weit von hier. Ich will Sie nicht beeinflussen und Ihnen durch meine Gegenwart nicht lästig werden, aber lassen Sie mich nicht ohne alle Hoffnung scheiden.«

Die lieblichen Züge Helenes hellten sich zu einem frohen Lächeln auf, sie reichte Frau Hérault die Hand und sagte: »Lassen Sie mir die Arbeit, die Sie mir gebracht! Von heute an lege ich sie nicht aus der Hand. Meine Gedanken werden meine Nadel begleiten, und jeder Stich wird mich Ihnen näher bringen. Während ich es mir überlege, besprechen Sie sich mit den Ihrigen, denn wenn ich Ihr Haus betrete, darf ich nicht als Eindringling kommen. Ich will dort nur mit freundlichen Blicken und offnen Armen empfangen werden. ... So wie diese Arbeit vollendet, bringe ich Sie Ihnen zurück. Wenn Sie dann noch derselben Meinung sind, und meine Entschlüsse mit den Ihren im Einklang stehen, werden wir über die Zukunft entscheiden.«

Frau Hérault nickte zustimmend, zog das junge Mädchen an sich, küßte sie liebevoll und sagte bewegt: »Arbeiten Sie fleißig und lassen Sie mich nicht zu lange warten!«

Sie wandte sich zum Gehen, und Helene begleitete sie bis zur Thür ihrer bescheidenen Wohnung.

Als Louis später etwas bleich und übernächtig sich zur Großmutter gesellte, erzählte ihm diese voller Begeisterung von ihrem Besuche. Er hörte ihr stillschweigend zu, vielleicht achtete er nicht einmal auf das, was sie sagte. Seine Gedanken wanderten weit entfernt vom Faubourg Poissonnière zu einem Hause der Avenue Gabriel und seine geschäftige Einbildungskraft malte ihm zu namenloser Qual immer wieder die Frau, die so viel Glut und Leidenschaft in ihm entflammt, in den Armen eines andern.

Frau Hérault, welche die Zerstreutheit ihres Enkels für Aufmerksamkeit hielt, fuhr in ihrer Erzählung fort: »Ich habe sie gebeten, zu mir zu ziehen, um mich nie wieder zu verlassen.... Wenn sie annimmt, hoffe ich, daß du nichts einzuwenden hast.«

Er legte dieser Frage nicht mehr Bedeutung bei, als wenn es sich um das Engagement einer beliebigen Gesellschafterin gehandelt hätte, und antwortete: »Wie sollte ich, wenn es dir Freude macht, Großmutter!«

Frau Hérault umarmte Louis lebhaft.

»Es ist wirklich hübsch von dir; ich fürchtete, daß die Aufnahme einer Fremden dir ungelegen sein würde.«

Er schüttelte verneinend den Kopf und verfiel wieder in seine alten Grübeleien. Bald darauf zog er sich in seine Wohnung, die das ganze zweite Stockwerk des Hauses einnahm, zurück, und dort in seinem Rauchzimmer auf eine Chaiselongue ausgestreckt, versuchte er sich zwei Stunden lang mit opiumhaltigen Cigaretten zu betäuben, ohne damit etwas andres zu erreichen, als seine Phantasie noch mehr zu überreizen. Immer stand vor seinen Augen die entzückende Frau mit dem Goldhaar, und er schäumte vor Zorn und Eifersucht gegen Lereboulley. Die wahnwitzigsten Gedanken durchkreuzten sein Hirn, er sagte sich: Bin ich nicht ebenso reich, wie er, bin ich nicht jung? Warum sollte sie nicht mir angehören, und wenn sie mein ist, dann wird sie wahrscheinlich mit irgend einem andern die Komödie spielen, in der ich heute nacht eine Rolle spielte. »Sie wird Lereboulley meinetwegen, und mich eines andern wegen betrügen,« rief er zornig lachend aus, wobei er mit der Faust auf ein Nipptischchen schlug, daß es zerbrach. »Nein, hundertmal nein, ich mag sie nicht, ich werde mich nicht von ihr narren lassen. Sie soll sich über mich mit keinem andern lustig machen können!«

Voll Unruhe ging er im Zimmer auf und ab, blieb dann vor dem Kamin stehen und sah, daß es vier Uhr war. Er klingelte seinem Diener, befahl anzuspannen, und zog sich an, um sich nach dem Kaiserklub fahren zu lassen. Er war ziemlich sicher, dort Lereboulley und Thauziat zu treffen; auch war er dort nur zweihundert Schritte vom Hotel Olifaunt entfernt. Obwohl er sich vorgenommen, nicht an Diana zu denken, suchte er doch die Gesellschaft ihres Liebhabers und hielt sich so viel wie möglich in der Nähe ihres Hauses auf.

Das Wetter war herrlich. Der heiße Sommertag hatte eine unabsehbare Menschenmenge in die Champs Elysées gelockt, und durch die Rue Royale wogten die Spaziergänger, die den schönen Abend genießen wollten, hin und her. Die Zimmer des Klubs waren fast leer, der Baccarat-Tisch verlassen; der größte Teil der Klubmitglieder befand sich im Garten auf der Terrasse, welche die ganze Place de la Concorde beherrscht und diese trauliche Ecke zu einem der angenehmsten Beobachtungspunkte von Paris macht. Unter einem weiß und rot gestreiften Zelte, gegen die Strahlen der untergehenden Sonne geschützt, saßen die Herren in behaglichen Lehnstühlen, plauderten und rauchten. Ein frischer Duft von Grün und Blumen erfüllte die Luft und wirkte beruhigend auf die Nerven; hier konnte der Geist in köstlichem Behagen rasten. Louis durchschritt die Gruppen, drückte zerstreut hier und dort einigen Bekannten die Hand, tauschte Grüße aus und blieb an dem Steingeländer, welches den Platz einrahmte, die Arme darauf stützend, stehen. Er starrte auf die Equipagen, die dem Bois zufuhren, ohne sie eigentlich zu sehen, rauchte hastig, warf eine Cigarette nach der andern weg, um sich sofort wieder eine neue anzustecken; der Kopf schien ihm leer, und sein Herz war von tiefer Bitterkeit erfüllt. Seit etwa einer halben Stunde schon stand er da, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und sah Lereboulley vor sich, der ihn heiter anlächelte. Ein Diener brachte dem Senator einen bequemen Gartenstuhl; der dicke Herr ließ sich schwer hineinfallen und trocknete sich die Stirn, auf der große Schweißtropfen standen.

»Es ist ja unglaublich heiß,« sagte er. »Um meinem Arzt zu gehorchen, ging ich zu Fuß, und bin nun trotz meines leichten Anzuges wie aus dem Wasser gezogen.«

Louis betrachtete Lereboulley. Emilies Vater war mit einer Sorgfalt gekleidet, die den Damenmann verriet; unter dem enganschließenden Jackett trug er eine weiße Weste; ein hellgraues Beinkleid umschloß seine umfangreichen Beine; aus den tief ausgeschnittenen Lackschuhen sahen mit Blümchen bestickte seidene Socken hervor; eine blaue, weißgetupfte Krawatte war nachlässig um sein dreifaches Kinn geschlungen und ein grauer Filzhut mit breitem schwarzen Bande bedeckte seinen Kopf. Seine Hände stützte er auf einen prächtigen Rohrstock mit fein ciseliertem Goldknopf.

»Haben Sie Thauziat heute schon gesehen?« fragte er, sich eine Cigarre ansteckend.

»Nein,« erwiderte Louis.

»Ich hatte heute morgen eine lange Unterredung mit ihm,« fuhr der Senator fort; »es handelt sich um ein bedeutendes Geschäft, an dem teilzunehmen man mich ersucht, und über welches ich seine Meinung hören wollte. Sie wissen ja, welch richtigen Blick er hat. ... Hat er einmal ein Projekt durchgearbeitet und es annehmbar befunden, dann kann man sich ruhig darauf einlassen. Nie bin ich einem Menschen begegnet, der eine solch seine Nase hat, wie er. ... Da es sich aber um eine große, komplizierte Spekulation handelt ...«

»Welches Interesse hätte ich dabei?« unterbrach ihn Louis kurz, nicht länger im stande, den Mann, den er am liebsten erwürgt hätte, so ruhig über Geschäfte sprechen zu hören.

»Welches Interesse? Na, zum Kuckuck, das allergrößte! Wir haben gemeinsame Interessen, lieber Freund, und diese Interessen sind ernstlich engagiert. Ich kann ohne Sie überhaupt keine Entscheidung treffen.«

»Ich bin augenblicklich durchaus nicht aufgelegt, mich mit ernsten Dingen zu beschäftigen,« sagte Louis fast grob.

»Sie werden dennoch die Güte haben, mich anzuhören, denke ich. ... Es ist eine wahre Goldmine, die auszubeuten ist; in kurzer Zeit könnten Sie dadurch mit Leichtigkeit die Lücken Ihres Vermögens wieder ausfüllen. Es handelt sich um nichts Geringeres als die Legung eines transatlantischen Kabels zwischen Frankreich und Amerika, damit wir den Engländern nicht mehr zinspflichtig zu sein brauchen. ... Zu diesem Zwecke tritt gegenwärtig eine große amerikanische Gesellschaft zusammen, wir bilden die französische Gesellschaft, schaffen das Kapital für den Betrieb und liefern das Kabel. Hier haben Sie nun mit Ihren Werken in St. Denis einzugreifen, mein lieber Freund, und sich so an der materiellen Seite des Unternehmens zu beteiligen. Vorwärts also mit den Walzwerken und der Drahtzieherei. ... Es ist Arbeit in Sicht.«

»Schon gut, ich werde das Projekt durch meine Techniker prüfen lassen.«

Lereboulley hob den Kopf und sah den jungen Mann mit stechendem Blick aufmerksam an.

»Was ist Ihnen?« fragte er, »Sie sind schlechter Laune wie mir scheint!«

»Ein wenig Kopfschmerzen.«

»So, so, wohl die Folgen des gestrigen Festes? Wir sind doch aber zu gleicher Zeit fortgegangen, Sie sehen mich frisch und munter ... und ich bin doch ein Alter!«

Dabei blickte er wohlgefällig auf eine Rose, die er im Knopfloch trug.

»Sie haben wahrscheinlich eine angenehmere Nacht verbracht, als ich,« sagte Louis bitter.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Lereboulley mit einem Anflug von Unruhe.

»Nichts Unwahrscheinliches,« erwiderte Louis. »Man kennt Sie ja. ... Ich möchte hoch wetten, daß Sie, als Sie uns verließen, nicht nach Hause gegangen sind.«

»Ich werde mich hüten, diese Wette einzugehen,« sagte Lereboulley mit selbstgefälligem Lächeln. »Sie könnten gewinnen. ...«

»Natürlich eine Dame der Gesellschaft?« fragte Louis.

»Und der besten Gesellschaft! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ebenso geht, wie mir ... früher verliebte ich mich in jedes hübsche Lärvchen, ohne Standesunterschied. Daß eine Frau hübsch war, genügte mir. Später verlangte ich schon mehr; um mir zu gefallen, mußte man ein gewisses Etwas haben, wenigstens den Anschein einer Weltdame. ... Ich nahm es mit der Echtheit nicht so genau. ... Jetzt hingegen muß dieselbe beglaubigt, und ich muß überzeugt sein, daß nichts falsch ist: weder der Name noch der Stand. ... Das ist mein drittes Stadium.«

»Nehmen Sie sich in acht, mein Lieber. Es gibt eine Legierung, welche dem Silber täuschend ähnlich ist.«

Lereboulley lachte und sagte stolz: »O, ich bin meiner Sache sicher; ich habe die Probe gemacht,«

Plötzlich schwieg er. Ein mit hochfeinen Rassepferden bespannter Viktoriawagen kam die Rue Boissy d'Anglais dahergefahren. Die roten Kokarden der Pferde, die Stahlketten, welche bei jedem Schritt klirrten, die weiße Livree der Diener, alles war von vollendetster Eleganz. Halb zurückgelehnt lag Lady Olifaunt in einer reizenden schwarzen Toilette, die ihren frischen Teint und ihr glänzendes Haar vorteilhaft hervorhob, im Wagen und lächelte. Wie durch einen glücklichen Zufall mäßigte der Kutscher die schnelle Gangart der Pferde gerade in dem Augenblick, als der Wagen an der Terrasse vorbeifuhr, auf welcher die beiden Herren sich befanden. Louis erblaßte, als er plötzlich diejenige vor sich sah, mit der sich seine Gedanken unablässig beschäftigten, für die sein Herz blutete. Er runzelte die Stirn und strich sich mit zitternder Hand den blonden Schnurrbart. Ruhig blieb er an der Steinbalustrade stehen, und doch wogte das Blut aufrührerisch in seinen Adern, der Atem stockte ihm und er wurde von einer unbeschreiblichen Lust erfaßt, Diana zu beschimpfen.

Lereboulley hatte sich strahlend erhoben, und ein Schimmer befriedigten Stolzes überflog sein Gesicht. Es gewährte ihm eine ungeheure Genugthuung, daß die schöne Frau, auf die er so stolz war, hier vorbei kam, um ihrem Herrn und Gebieter eine geheime Huldigung darzubringen. All der dort unten zur Schau getragene Luxus gehörte ihm; er brauchte nur zu winken, und der Wagen hielt, er konnte einsteigen, sich an die Seite Dianas setzen und ganz Paris zeigen, wie er mit ihr stand, sobald er nur wollte; allein das Geheimnis, welches über dieses Verhältnis gebreitet war, sagte ihm unendlich mehr zu, als solch öffentliches Glück. Seine Stellung als Jupiter, der heimlich zu dieser modernen Danae herabsteigt, entzückte ihn; die Komödie, die er spielte, verlieh der ganzen Suche einen besondern Reiz. Jedesmal, wenn er zu ungewöhnlicher Stunde zu Lady Olifaunt ging, trat ihm der kalte Angstschweiß auf die Stirn, fürchtete er doch immer hinter einer Thür Sir James auftauchen zu sehen, der mit dem Revolver in der Hand Rechenschaft von ihm forderte. Er wußte freilich recht gut, daß der würdige Mann mit einem Luxus auftrat, dessen Quelle für ihn nicht zweifelhaft sein konnte, aber was half das? Diana hatte ihm gesagt, daß ihr Mann sehr blutdürstig sei, er floh ihn also wie das Feuer. Für den Augenblick aber hatte er nichts zu befürchten und konnte in Frieden sein Glück genießen.

Den Blick der Straße zugewandt, den grauen Filzhut in der Hand, war er von dem Anblick, der sich ihm darbot, so geblendet, daß er nicht einmal bemerkte, wie Louis, nachdem er leicht mit der Hand seinen Hut berührt, sich abgewandt hatte und sich das Ansehen gab, als suche er etwas am andern Ende des Gartens. Lady Olifaunt berührte den Arm des Kutschers mit ihrem Sonnenschirm und befahl ihm kurz, zu halten.

Anscheinend kühl und gleichmütig an die Balustrade gelehnt, beobachtete Louis verstohlen jede Bewegung der jungen Frau. Er wußte nur zu gut, daß sie seinetwegen hatte halten lassen, und nicht, um den frohlockenden Lereboulley zu beglücken. Ihm war die Freude auf Dianas Zügen nicht entgangen, als sie ihn in Begleitung des Senators erblickt hatte, noch ihr Staunen, als er sie kaum gegrüßt, und schließlich ihr Zorn, als sie ihn entschlossen sah, auf keine Weise Notiz von ihr zu nehmen. Hochaufgerichtet, mit gerunzelter Stirn, sah sie ihn starr mit bösem Blick an und sagte gebieterisch: »Warum haben Sie mich heute nicht besucht?«

Louis rührte sich nicht und schwieg. Lereboulley warf einen raschen Blick auf seinen unbeweglich und stumm dastehenden Freund, nahm dann an, die Frage gelte ihm, und antwortete erstaunt: »Aber, verehrte Frau, war denn verabredet, daß Sie mich erwarten sollten? Verzeihen Sie mir, es war mir dies entfallen.«

»Ich spreche ja gar nicht mit Ihnen,« erwiderte Diana mit unglaublicher Ungezogenheit, »sondern mit Herrn Hérault.«

Dem Senator war es, als ob den wolkenlosen Himmel plötzlich bleifarbiges Grau überzöge, und er meinte den Boden unter seinen Füßen wanken zu fühlen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er bald auf Diana, bald auf den Freund und hörte nur undeutlich, da es ihm entsetzlich vor den Ohren sauste, folgendes kurze Gespräch zwischen Louis und Lady Olifaunt: »Es war mir unmöglich, Sie zu besuchen,« sagte der junge Mann, der doch nicht wohl länger eine Antwort verweigern konnte, mit sichtlicher Anstrengung. »Ich war beschäftigt.«

»Eine sehr wichtige Beschäftigung wohl? Sieht man Sie heute abend?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Und morgen?«

»Ebensowenig.«

»Also niemals?«

»Niemals!«

»Sie werden mir erklären, was das bedeutet!«

»Nein, gnädige Frau, das ist nicht nötig.«

Er verbeugte sich, trat ein paar Schritte zurück und entzog sich ihren Blicken. Er hörte noch einen Zornesausruf Dianas, dann sagte sie dem Kutscher: »Weiter jetzt, ins Bois!«

Der Wagen bog um die Ecke der Avenue und rollte davon, während Lereboulley wie festgewurzelt auf dem nämlichen Fleck stehen blieb. Die widersprechendsten Möglichkeiten tauchten vor ihm auf und blitzartig durchzuckten ihn die quälendsten Vorstellungen. Erst sagte er sich, Hérault müsse ein Verhältnis mit Diana gehabt haben, das in seiner Gegenwart zu lösen, die beiden schamlos genug gewesen seien. In Gedanken überflog er die jüngste Vergangenheit und forschte angstvoll in seinen Erinnerungen nach Anzeichen eines solchen Einverständnisses – vergebens – er entdeckte nicht das geringste. – Dann war es also Lady Olifaunt, die sich dem jungen Manne an den Hals warf? Und dieser wies das Glück zurück, das sich ihm bot. ... Warum aber geschah das alles so öffentlich? Hatten sie diese Unterredung nicht im geheimen abmachen können? Diana hatte am Abend vorher beim Feste des Grafen Woroseff sich lange mit Louis unterhalten. Warum diese plötzliche Auseinandersetzung, bei der sie so gebieterisch, er so rücksichtslos aufgetreten war? Warum vor allem in seiner Gegenwart? Wenn Diana einen Bruch mit ihm herbeiführen und ihm die Handhabe hierfür bieten wollte, hätte sie es nicht besser angreifen können. Dieser weitsehende Politiker und tüchtige Geschäftsmann war schwach wie ein Kind der Frau gegenüber, die er liebte.

Er wendete sich zu Louis, der schweigend dasaß und rauchte. Mit flehenden Blicken und Worten begann er: »Mein lieber Freund, ich beschwöre Sie, erklären Sie mir doch, was vorgeht. Woher dieser plötzliche Streit zwischen Lady Olifaunt und Ihnen? Weshalb diese Aufregung von seiten der Dame und diese – Schroffheit Ihrerseits?«

Louis' Zorn war verflogen, er hob den Kopf und sagte mit großer Ruhe: »Verzeihen Sie, lieber Freund, aber mit welchem Rechte verlangen Sie von mir derartige Erklärungen? Lady Olifaunts Geheimnisse, scheint mir, gehen Sie doch nichts an. Sie sind, soviel ich weiß, nicht ihr Gatte ... und wenn Sie ihr nicht in andrer Weise nahe stehen ...«

»Louis,« rief Lereboulley, die Hände wie beschwörend vorstreckend, »sprechen Sie nicht leichtfertig von der Ehre einer Frau.«

»Aber ich spreche ja über gar nichts,« sagte Hérault. »Sie sind es, der mich ausfragt, und noch dazu über so heikle Dinge. Ich bin bereit, Ihnen Rede zu stehen, aber nur unter der Bedingung, daß Ihnen irgend ein Recht zusteht. Sie sind weder der Gatte, noch der Liebhaber. In welchem Verhältnis stehen Sie also zu der Dame und weshalb stellen Sie dieses Verhör an?«

Einen Augenblick blieb der Senator unschlüssig. Dann nahm er seinen Mut zusammen und sagte stockend mit vielen Umschweifen: »Ich interessiere mich ganz besonders für die Frau, mit der Sie soeben diesen seltsamen Wortwechsel gehabt. Ich habe die Verpflichtung, über ihr Dasein zu wachen, und ich erfülle diese Pflicht mit liebevoller und treuer Sorge. ... Machen Sie sich darüber weiter keine Gedanken, ziehen Sie keine unrichtigen Schlüsse! Nehmen Sie zum Beispiel an, sie sei mein Mündel! Habe ich da nicht das Recht zu fragen, weshalb Sie sich weigerten, sie zu besuchen, als sie Sie darum bat? Welche geheimnisvolle Beziehungen bestehen zwischen Ihnen? Antworten Sie mir, ich bitte Sie. Thun Sie es, selbst wenn Sie von meiner Berechtigung, diese Fragen zu stellen – nicht überzeugt sind. ... Antworten Sie mir, um unsrer langjährigen Freundschaft willen!«

Louis konnte sich eines gewissen Mitleids nicht erwehren, als er den Senator so angsterfüllt, mit schweißbedeckter Stirn und zitternden Händen stammeln hörte. Er sagte sich: Da sieht man, was dieses Geschöpf aus den energischsten und bedeutendsten Männern machen kann. Wohin wäre es da mit mir gekommen? Hatte sie nicht auch schon von mir Besitz ergriffen, wie sie sich der andern bemächtigt hat? Es ist, weiß Gott, ein glücklicher Zufall, durch den ich sie losgeworden bin. Schon war ich durch sie fast sinn- und herzverbrannt. Was wäre aus mir geworden, wenn sie mein gewesen und die volle Herrschaft über mich erlangt hätte?

»Ganz recht, mein lieber Lereboulley,« sagte er ruhig, »zwischen Lady Olifaunt und mir herrscht ganz einfach eine kleine Verstimmung. Ohne jeden Grund hat sie mich gestern auf dem Fest des Grafen Woroseff mit einer Rücksichtslosigkeit behandelt, die mir nicht paßte, ich habe sie das merken lassen, sie wurde böse und befahl mir im Herrschertone, ihr heute meine Aufwartung zu machen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Da ich fand, daß hierfür durchaus kein Grund vorhanden, habe ich ihr nicht gehorcht; daher ihr Groll.«

Der Senator schien nur halb beruhigt. »Ist das alles? sagte er. »Täuschen Sie mich auch nicht? Lady Olifaunt ist eine sehr schöne und sehr verführerische Frau. Alle Männer, die irgend welche Rolle in der Gesellschaft spielen, sind oder werden in ihren Anziehungskreis gezogen. Ich habe die Schliche aller beobachtet. ... Aber nie war Diana so aufgeregt. ... Heute zum erstenmal habe ich ein Gesicht, ein Benehmen, einen Ton an ihr wahrgenommen, wie ich es bisher für undenkbar gehalten. Können Sie mir Ihr Wort geben, Louis, daß Sie in keinem näheren Verhältnis zu ihr stehen?«

Beim Aufzählen dieser bedenklichen Symptome hatte ihn aufs neue namenlose Angst erfaßt, und sein Ton war der einer leidenschaftlichen, demütigen Bitte. Der junge Mann suchte ihn nun vollständig zu beruhigen.

»Auf Ehre, ich war und bin nicht ihr Liebhaber.«

»Mein Herzensjunge!« Mit diesen Worten umarmte ihn der Senator und drückte ihn in einem Anflug von Dankbarkeit an sein Herz. Louis machte sich lachend los und fragte den alten Herrn: »Sagen Sie doch, Lereboulley, können Sie denselben Eid leisten?«

Die Frage kam so unerwartet, daß sie den Senator außer Fassung brachte. Er zuckte mit den Achseln und setzte ein andres Gesicht auf. Nachdem er sich überzeugt, daß ihn niemand hören konnte, beteuerte er mit entrüsteter Miene: »Aber lieber Freund, wo denken Sie hin? Wie, Sie könnten nach dem, was ich Ihnen gesagt, vermuten? ...«

»Gerade nach dem, was Sie mir gesagt haben ...«

»Nein, nein! Bilden Sie sich nichts ein ... ich wäre trostlos. ... Zum Teufel ... man muß den Ruf einer Frau achten.«

»Und das thun Sie, indem Sie morgens um drei Uhr durch ein geheimes Gartenpförtchen bei ihr eintreten.«

Lereboulley war einen Augenblick wie niedergedonnert, dann stotterte er leise: »Ich? Wie ich?«

»Gewiß, Sie und kein andrer, diese Nacht ... nachdem Sie das Fest des Grafen Woroseff verlassen. ... Thauziat und ich kamen zu Fuß die Champs Elysées herunter. Sie wandelten vor uns her, wie ein Triumphator, und mit eignen Augen sahen wir Sie die Avenue ...«

»Pst!« unterbrach ihn der Senator, »Sie irren aber dennoch, wenn Sie denken ...«

»Wenn ich ›was‹ denke? Haben Sie sich vielleicht mit Sir James unterhalten wollen?«

»Teufelsjunge ... keinen Namen ... ich bitte ... bedenken Sie doch den Ernst der Angelegenheit. Wenn man vermuten könnte ...«

»Nur halb Paris vermutet, und die andre Hälfte ist ihrer Sache sicher!« Lereboulley schaute mißgestimmt drein.

»Ich glaube nicht, was Sie mir da erzählen. Ich wäre untröstlich, wenn das wahr wäre. Da Sie mich aber in flagranti ertappt haben, muß ich wohl oder übel beichten; Thauziat wußte es schon lange. Sie sehen aber, wie verschwiegen ich bin. Die Dame gehört den ersten Gesellschaftskreisen an, sie wird überall gefeiert und aufgesucht, und ist in der That reizend. Ich habe viele Frauen gekannt, aber keine, die ihr gleich käme. Sie sehen, daß ich mein Glück zu würdigen verstehe. Ich habe der Frau Minne von der Picke auf gedient und Diana ist mein Marschallsstab.«

»Der Ihnen teuer zu stehen kommt.«

»Sie hat Vermögen, lieber Freund,« warf Lereboulley ein. »Sie besitzt Ländereien in Amerika, die von ihrem Vater herstammen. In diesen Besitzungen liegen sogar bedeutende Minen.«

»Ja, wie sagt doch Ihre Tochter? Daß die schöne Diana ihre Minen hat, ist zweifellos, nur ...«

Das Gesicht des Senators verfinsterte sich.

»Sie berühren da einen wunden Punkt, mein Lieber. Meine Tochter verabscheut Lady Olifaunt und begegnet ihr in einer Weise, die mir großen Kummer macht. Sie wissen, wie ich Emilie liebe, daß ich einzig ihr zuliebe Witwer geblieben bin, wofür sie mir wohl dankbar sein und sich meinen Wünschen fügen sollte.«

»Nun besonders herzliche Gefühle für die schöne Frau konnten Sie doch nicht von ihr erwarten.«

»Allerdings nicht, aber ihre fortgesetzten Sticheleien und Angriffe auf Diana sind mir unerträglich. Ich habe schon lange nicht mehr den Mut, Lady Olifaunt oder ihren Gatten bei mir zu sehen; denn meine Tochter jagt mir jeden Augenblick eine Gänsehaut über den Rücken. Sir James ist nämlich kein bequemer Herr und läßt in Ehrensachen nicht mit sich spaßen. ... Er ist ein Pistolenschütze ersten Ranges.«

Louis lachte.

»Ich schieße besser als er. Wenn er mit Ihnen Händel sucht, schicken Sie ihn nur mir.«

»Was denken Sie,« rief Lereboulley, »das wäre eine schöne Geschichte, dann müßte ich ja seine Witwe heiraten!«

Die beiden Herren hatten ihren Humor wiedergewonnen. Der Senator war im Grunde nur zu froh, mit seinem Glück prahlen zu können, ohne sich einer Indiskretion schuldig zu machen, und unbeständig, wie Louis war, freute er sich, so leichten Kaufs einer Intrigue entronnen zu sein, deren Unbequemlichkeiten und Gefahren er voraussah. Die untergehende Sonne warf ihre letzten Pupurstrahlen auf die Avenue. In langen Reihen kehrten die Wagen nach Paris zurück: der Klub leerte sich allmählich; die Terrasse ward menschenleer. Arm in Arm traten Lereboulley und Louis in den Salon zurück, den Thauziat in demselben Augenblick betrat. Etwas überrascht von der Vertraulichkeit der beiden, warf er einen fragenden Blick auf Louis. Es schien fast, als wollte Lereboulley selbst Thauziats Neugierde befriedigen, denn er sagte zu Louis: »Da Clement auch hier ist, wollen wir doch alle drei Lady Olifaunt um einen Teller Suppe bitten. Sie wird entzückt sein, und ich versöhne euch. Es würde mir wirklich sehr leid thun, wenn diese Entzweiung andauerte; mit einer hübschen Frau muß man stets gut Freund bleiben. Nach Tisch reden wir dann von dem großen Kabelunternehmen. Nun, einverstanden?«

»Nein, es ist unmöglich. Thauziat und ich sind nicht frei. Wir haben den Abend bereits vergeben.«

»Das ist nicht hübsch von Ihnen, Louis,« sagte der Senator, den Kopf schüttelnd, drückte beiden jungen Leuten die Hand und entfernte sich.

»Warum hast du dich nicht erweichen lassen, wenn ihm doch so sehr daran lag?« fragte Thauziat seinen Freund.

»Weil das, was ich seit gestern erlebt, mich vollkommen verwandelt hat, und ich von Diana kein Wort mehr hören will.«

Clement betrachtete Louis einen Augenblick und überzeugte sich, daß es ihm Ernst war.

»Nun gut, um so besser,« sagte er, »sie war keine Frau für dich.«

Sie aßen zusammen, machten dann ein paar Rundgänge durch die Gärten des Ambassadeurs, hörten vergnügt einige alberne Gesangsnummern an und begaben sich gegen Mitternacht in den Klub, wo eben ein sehr hohes Spiel begann. Um ein Uhr morgens ging Thauziat schlafen und ließ Louis am Spieltisch zurück, wo ihm das Glück in auffallender Weise hold war. Zwei Stunden darauf hatte sich aber das Blatt gründlich gewendet, und der Erbe des Hauses Hérault hatte einen Spielverlust von zweitausend Napoleons zu verzeichnen, als er morgens um drei Uhr mit schwerem Kopf und leerem Herzen in das Faubourg Poissonière zurückkehrte.

Das Leben, welches er in der nun folgenden Woche führte, war einzig darauf berechnet, seine Gedanken von der Engländerin abzulenken, jedes Alleinsein zu vermeiden und selbst den Träumen zu wehren, die ihm eine Frau zeigten, von welcher er nicht sicher war, ob er sie haßte oder liebte. Er stand spät auf, frühstückte mit Thauziat, ging zu den Rennen, aß im Klub, spielte die Nacht durch und ging nicht eher heim, bis ihn ein dumpfer Schlaf überfiel, in dem die Einbildungskraft keinen Spielraum mehr hatte. Acht Tage lang lebte er auf diese Weise vollständig außer dem Hause, und seine Großmutter bekam ihn gar nicht zu Gesicht. Erst am Ende der Woche fühlte er endlich etwas wie Gewissensbisse, und es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er die arme Frau so ganz und gar vernachlässigte. Am Montag – an diesem Tage speiste Emilie nie bei Frau Hérault, weil ihr Vater Empfangsabend hatte, und er konnte daher sicher sein, daß nicht von Diana die Rede sein würde – trat er unangemeldet in den Salon. Die großen Lampen waren noch nicht angezündet, und da die dicken Vorhänge das Einfallen des Lichtes verhinderten, war der mächtige Raum in ein Halbdunkel gehüllt. Halb von einem Wandschirm verdeckt, saß eine Dame an Frau Héraults kleinem Arbeitstischchen, und ohne dieselbe genauer anzusehen, trat er auf sie zu und rief heiter und herzlich: »Guten Abend, Großmutter!«

Ein Ruf der Überraschung entfuhr ihm, als die Dame sich in reizender Verwirrung erhob, und er ein junges Gesicht und eine schlanke Figur, statt des gebeugten runzligen Großmütterchens zu sehen bekam.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, sich tief verbeugend, »erweisen Sie mir die Gnade, sich nicht stören zu lassen und meinen Überfall zu entschuldigen.«

Die also Angeredete machte ein Zeichen mit der Hand, wie um ihn zu bitten, sich nicht weiter zu beunruhigen, grüßte mit ernstem Kopfneigen und wollte sich eben entfernen, als Frau Hérault, dem Diener, welcher die Lampe brachte, voranschreitend, die Thür öffnete.

»Ah, du bist es, mein lieber Junge, das ist aber nett von dir!« sagte sie und ging auf ihren Enkel zu.

Nicht ein Wort des Vorwurfs über seine lange Abwesenheit, nur Küsse und Blicke, aus denen das Glück sprach, ihn wieder zu haben. Nachdem die Überraschung vorüber, die Louis' Ankunft ihr bereitet, fiel ihr erst ein, daß die beiden jungen Leute sich unbekannt gegenüberstanden, und fröhlich in die Hände klatschend, rief sie: »Was bin ich doch einfältig, ich habe ja ganz vergessen, du kennst Fräulein Helene noch nicht, und Sie, mein Liebling, kennen meinen Enkel nicht.«

Die alte Dame richtete sich mit komischer Würde in die Höhe und stellte höchst feierlich vor: »Mein Fräulein, mein Enkel Louis Hérault-Gandon! – mein lieber Sohn, Fräulein Helene von Graville.«

Sofort erinnerte sich Louis des kleinen Erlebnisses der vorigen Woche und seiner Folgen. Er sah das junge Mädchen von Thauziat bis zur Thür des Hauses verfolgt, gedachte des Verhörs, das er mit dem alten Portier angestellt, und der Erregung, in welche der Name Graville, der eine ganze Vergangenheit in ihr wachgerufen, die Großmutter versetzt hatte. Jetzt fiel ihm auch ein, daß Frau Hérault ihm von ihrem Besuch bei Helene erzählt und, glücklich über ihre Entdeckung, ihn um die Erlaubnis gebeten hatte, die Enkelin ihrer Wohlthäter in ihr Haus aufzunehmen. In dem Strudel seines tollen Lebens hatte er dann das harmlose Abenteuer vergessen, dessen Heldin er plötzlich vor sich sah. Was ihn in ihrer Erscheinung zuerst ansprach, war der offene, ehrliche Blick, der feste, entschlossene Zug um den Mund und die bedeutende Stirn. Der ein wenig dunkle Teint ihres Gesichtes verlieh diesem den Ausdruck melancholischen Ernstes. Alles an ihr bildete einen entschiedenen Gegensatz zu der Zierlichkeit und Zartheit, zu der blendenden Weiße Dianas, und gerade diese herbe Anmut nahm ihn sofort für sie ein. Er hatte das Gefühl, ein verständiges, ruhiges und zuverlässiges Wesen vor sich zu haben, mit dem ein häufiger Verkehr nur angenehm und wohlthätig sein konnte. Er trat einen Schritt auf sie zu und reichte ihr herzlich die Hand: »Seien Sie willkommen, mein Fräulein,« sagte er, »und erlauben Sie mir, Ihnen für die Bereitwilligkeit, mit welcher Sie die Bitte meiner Großmutter erfüllt haben, meinen Dank auszusprechen. Möge Ihnen dies Haus bald zur Heimat werden!«

Helene neigte das Haupt mit einem Lächeln, welches ihre prächtigen Zähne sehen ließ, legte ihre Hand in die des jungen Mannes, und zum ersten Male hörte Louis den Klang ihrer tiefen Stimme, die ihm von besondrer Weichheit und Fülle zu sein schien, als sie einfach erwiderte: »Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufnahme und verspreche Ihnen, Ihre Großmutter zu lieben, als ob sie die meinige wäre!«

Kein Wort wurde weiter gewechselt; beide waren plötzlich von einer Verlegenheit befangen, in der sie sich mieden, so daß die Mahlzeit fast schweigend und ungewöhnlich rasch abgemacht wurde. Die drei Tischgenossen beobachteten sich gegenseitig. Frau Hérault suchte auf dem Gesichte ihres Enkels den Eindruck zu lesen, den Helene auf ihn hervorgebracht, dieser selbst studierte Fräulein von Graville, die die ruhigste und korrekteste Haltung von der Welt bewahrte. Nicht ein Wort kam von ihren Lippen, das nicht natürlich und voller Takt war. Leicht und selbstverständlich hatte das junge Mädchen sich in den vierundzwanzig Stunden ihres Hierseins in die Stellung einer Tochter des Hauses, wie sie dieselbe einst im elterlichen Daheim ausgefüllt, einzuleben gewußt. Ihre Erziehung verlieh ihr vollkommene Sicherheit und schützte sie vor jedem höhnischen Wort oder jeder unliebsamen Begegnung; sie fühlte sich an ihrem Platze und war durchaus unbefangen.

Mit Bedauern bemerkte sie, wie schlecht Louis aussah. Seine von den durchwachten Nächten entzündeten Augenlider, die matte, zusammengesunkene Haltung konnte sie sich nur durch einen tiefen Kummer erklären und sie ahnte nicht, daß sie allein es war, die in diesem Augenblick die Gedanken des zerstreut Dasitzenden erfüllte, der alle eben noch so wichtigen und bedeutsamen Kümmernisse angesichts dieses neuen Interesses mit gewohnter Leichtigkeit beiseite geworfen hatte.

Ohne besondre Aufforderung bereitete Helene dann im Salon den Kaffee und reichte die Tassen herum, während das Großmütterchen glückselig an der Seite des Enkels sitzen blieb und sich der langentbehrten töchterlichen Fürsorge und Aufmerksamkeit erfreute, die ihr nun plötzlich in so reichem Maße zu teil wurde. Sie war stolz, das anmutige junge Mädchen entdeckt und an sich gefesselt zu haben, und hatte das Gefühl, daß etwas von ihrem Reiz auf die ganze Umgebung und auch auf sie selbst übergehen müsse. Sie hob alles hervor, um Helene im glänzendsten Lichte vor Louis erscheinen zu lassen. Von einem Ecktischchen nahm sie das Stück Crêpe de chine, das sie als Vorwand benützt, um sich bei Fräulein von Graville einzuführen, und zeigte ihm den meisterhaft ausgebesserten Stoff triumphierend mit den Worten: »Sie stickt wie eine Fee, spielt Klavier und singt mit außerordentlichem Geschmack, und wenn du sie vorlesen hörtest...«

»So würde ich sie für die Krone ihres Geschlechtes erklären, vorausgesetzt nämlich, daß sie kein Vorurteil gegen Tabak hat.«

Die alte Frau Hérault wandte sich an Fräulein von Graville, die sich bescheiden abseits hielt und in einer illustrierten Zeitung blätterte.

»Wollen wir diesem schlimmen Patron dort eine ganz kleine Cigarette erlauben, liebe Helene? Man muß seine Untugenden mit in Kauf nehmen, sonst kriegt man ihn vor einer Woche nicht wieder zu sehen.«

Helene erhob sich rasch und brachte den kleinen silbernen Cigarrenanzünder, der sich auf dem Kaffeebrett befand.

»Ich bin von einem Vater erzogen, der ein starker Raucher war, und fürchte mich gar nicht davor!«

Mit diesen Worten setzte sie sich wieder und sprach nur noch, wenn Frau Hérault sie fragte. Der Abend verstrich mit überraschender Schnelligkeit, und Louis war sehr erstaunt, als es schon elf Uhr war, ihm schien, als ob er eben erst von Tisch aufgestanden. Er empfahl sich Fräulein von Graville, küßte seine Großmutter, stieg, ohne daß ihm auch nur der Gedanke gekommen wäre, in den Klub zu gehen, in seine Wohnung hinauf, legte sich nieder und schlief gleich ein, was ihm seit langer Zeit nicht vorgekommen war. Am nächsten Morgen frühstückte er mit den beiden Damen und kam auch zum Diner nach Hause. Das dauerte so die ganze Woche, und überglücklich glaubten Frau Hérault und Helene schon, daß nun alles wieder im alten Geleise sei.


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