Georges Ohnet
Der rote Kurs. Zweiter Band
Georges Ohnet

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Zehntes Kapitel.

Noch am gleichen Abend flüchtete sich Hortense Tournemarie, Didelods Aufforderung folgend, nach Badonviller. Die Dienerschaft hatte gerade ihr Abendessen beendigt, als das junge Mädchen im Schloß ankam. Allein Laurences Jungfer hatte eine entsprechende Weisung bekommen und Hortense stillschweigend in ein für sie bereit gehaltenes Zimmer geführt. Dadurch ersparte sie ihr ein Zusammentreffen mit den übrigen Dienstboten des Hauses, die sehr aufgebracht gegen die Ausständigen waren, da eine Art Klassengeist diese Leute, die sich als zum Hause gehörend betrachteten, antrieb, die Arbeiter von Grund aus zu verachten. Während des ganzen Mahles hatten sie die Ereignisse des Tages besprochen und die heftigsten Schmähungen gegen den Mörder des Leutnants Maubrun ausgestoßen. Im Grunde empfanden sie zwar eine gewisse Schadenfreude über das Mißgeschick, das ihr Herr mit seinen Arbeitern hatte. Da sie aber ihr persönliches Wohlbehagen durch den Streik, der möglicherweise Störungen im Didelodschen Haushalt mit sich bringen konnte, bedroht sahen, so sprachen sie sich energisch gegen die Bewegung aus.

Der Haushofmeister, ein hübscher Mann mit wohlgepflegtem Vollbart, hatte diktatorisch erklärt, diese Kerls gehörten alle zum niedrigsten Gesindel, dessen Existenz mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar sei, und wenn er die Regierung wäre, würde er solche Niederträchtigkeiten, wie sie soeben begangen worden seien, keinen Augenblick dulden, übrigens dürfe angenommen werden, daß dieser üble Kunde von Tournemarie demnächst hinter Schloß und Riegel kommen und nach Cayenne transportiert werde, um dort in aller Ruhe über die soziale Frage nachzudenken. Durch Hortenses Erscheinen war diesen Herzensergüssen nun allerdings ein gewisser Zwang auferlegt worden; allein die von Fräulein Didelod getroffene Vorsichtsmaßregel, wodurch eine Berührung mit dem Dienstpersonal und dem armen Mädchen vermieden wurde, hatte wenigstens eine Kundgebung verhindert.

Am nächsten Morgen in aller Frühe, nach einer schlaflosen Nacht, bat Hortense die Kammerjungfer, die für sie die Autorität der Herrschaft verkörperte, um die Erlaubnis, in die Stadt zu gehen. Sie wollte einen Kreppschleier kaufen, ehe sie den Weg nach dem Vorstadthäuschen einschlug, wo die durch die Präfektur stark eingeschränkte Trauerfeier stattfinden sollte. Die Kammerjungfer antwortete ihr, daß sie kommen und gehen könne, wie sie wolle, und übergab ihr zugleich in Laurences Auftrag eine Summe Geld. Tränen standen dem jungen Mädchen in den Augen, als sie sich bedankte, und ohne mit irgend jemand ein Wort zu wechseln, schlug sie den Weg nach Lehrange ein. Als sie dort ankam, wurden eben die ersten Läden geöffnet. Sie trat in ein Modewarengeschäft, wo sie gut bekannt war. Der Prinzipal saß mit seinen Kommis beim Kaffee, und alle waren offenbar in bester Stimmung, denn Hortense hatte schon von der Straße aus ihr Schwatzen und Lachen gehört. Bei ihrem Anblick verstummten sie indes sofort und wurden ernsthaft. Der Kontrast zwischen dem jetzigen Benehmen dieser Männer und ihrer vorherigen Lustigkeit war so auffallend, daß Hortense darüber erschrak. Erstaunt schaute sie diese Leute an, von denen sie mit verlegenen Blicken gemustert wurde, und sie fragte sich dabei, ob denn auch Fernstehende ihr den Schmerz, der sie niederdrückte, ansehen könnten, oder ob ihre Beziehungen zu dem Opfer des Streiks schon allgemein bekannt seien. Nachdem sie einen Kreppschleier und schwarze Handschuhe gekauft hatte, entfernte sie sich wieder, ohne den Mut gefunden zu haben, eine Frage zu stellen. In dem schon schwarz dekorierten Sterbehaus sperrte eine Abteilung Dragoner zwar die Zugänge ab, aber der Bursche Chauvin ließ Hortense doch hinein. Dort konnte sie, vor neugierigen Blicken geschützt, in einer dunkeln Ecke an einem in den Garten gehenden Fenster, dessen Jalousie jedoch heruntergelassen war, ungehindert weinen und beten. Gegen zehn Uhr vernahm sie die schweren Schritte der Männer, die den Sarg aus dem Hause trugen, dann hörte sie Stimmengemurmel, ein Hin- und Hergehen auf dem Kies, das Geräusch einer sich ansammelnden Menschenmenge, das ankündigte, daß die Leidtragenden eingetroffen waren. Schließlich drangen aus der Ferne etwas lauter gesprochene, zusammenhängende Worte an Hortenses Ohr, von denen sie einige verstand, und aus denen sie schloß, daß am Sarge des Offiziers Ansprachen gehalten wurden. Sie erkannte Herrn Didelods Stimme, der die Disziplin rühmte, der zu Ehren Maubrun gefallen war. Dann trat Stille ein und eintönige Trauergesänge folgten den Reden. Allein ein Teil der Anwesenden schien dem Gesang weniger andächtig zu lauschen als vorhin den Ansprachen, denn unter dem Fenster, an dem Hortense zitternd und fassungslos saß, entspann sich jetzt eine Unterhaltung, deren Gesumme ziemlich verworren zu dem jungen Mädchen drang. Ganz in ihren Schmerz versunken, schenkte sie indes dem, was gesprochen wurde, keinerlei Aufmerksamkeit, bis plötzlich der zweimal ausgesprochene Name Tournemarie sie aus ihrer Versunkenheit riß. Sie horchte und verstand folgendes Bruchstück eines Gesprächs: »Er hatte ja schon einmal den Versuch gemacht, Maubrun zu ermorden, und wenn der Krawall vor der Dragonerkaserne, der den Sturm auf das Polizeikommissariat zur Folge gehabt hat, nicht ausgebrochen wäre, so hätte Tournemarie bereits im Loch gesessen. Aber seine Kameraden hatten ihn befreit, und es liegt außer allem Zweifel, daß er den Revolverschuß auf den armen Maubrun abgefeuert hat.«

Hortense stand das Herz still. Ihr Mund öffnete sich, um einen Schrei des Entsetzens auszustoßen, als sie hörte, daß man ihren Vater beschuldigte, ihren Liebhaber ermordet zu haben. Aber sie brachte keinen Laut hervor. Sie wollte aufstehen, hinausgehen, fragen, sehen, wer die waren, die diesen fürchterlichen Ausspruch getan hatten, doch die Kräfte versagten ihr. Erschöpft durch die fortwährenden Seelenqualen und diesen neuen Schlag, fuhr sie mit den Armen in der Luft herum. Es wurde Nacht vor ihren Augen. Sie sank auf ihren Stuhl zurück und verlor das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kam, herrschte tiefe Stille im Garten. Der Leichenzug war soeben nach dem Bahnhof abgegangen. Einsam und verlassen lag das Haus da. Sie stand auf, ging in den Flur, erblickte das schwarze Gestell, auf dem der Sarg geruht hatte, und das sich grausig von dem Grün und den Blumen abhob. Auf einen Schrei, den sie ausstieß, kam der Bursche Chauvin, der als Wächter zurückgeblieben war, teilnehmend herbeigeeilt.

»Wie, was, Fräulein Hortense, Sie sind noch hier? Ich glaubte, Sie seien mit dem Leichenzuge auf den Bahnhof gegangen. Hatten Sie denn nicht die Absicht, meinen armen Herrn bis Paris zu begleiten?«

Mit einem Ausdruck der Qual schaute Hortense den Burschen an, und leise sagte sie: »Doch, ich wollte es, aber jetzt . . . jetzt habe ich, glaube ich, kein Recht mehr dazu.«

»Warum denn?«

»Chauvin, haben Sie nicht davon sprechen hören, wer Ihren Herrn erschossen hat?«

»Ach, was wird nicht alles gefaselt!«

»Es handelt sich um kein Geschwätz, sondern um, eine direkte Anklage. Haben Sie nicht gehört, daß man meinen Vater beschuldigt, den Revolverschuß . . .«

Unfähig zu vollenden, ließ sie sich schluchzend auf einen Sitz niederfallen, während der gute Chauvin sich tröstend um sie bemühte.

»Ach, Fräulein Hortense, wenn man alles glauben müßte, was die Leute sagen . . . In einem solchen Krawall . . . Wie könnte man da etwas mit Bestimmtheit behaupten? Ich zum Beispiel, ich bin doch dabei gewesen, und ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht wagen würde, Ihren Vater zu beschuldigen. Es ist ja allerdings wahr, daß er schon am Tage vorher einen Versuch gemacht hat, und daß er auf meinen Herrn Leutnant nicht gut zu sprechen war . . .«

»Es sei, so sagt man, nur ein einziger Schuß abgefeuert worden . . . und zwar, wie behauptet wird, von ihm, auch ist das in der Tat höchst wahrscheinlich . . . Und dann, da nun einmal versichert wird, Tournemarie sei Mörder, so ist das doch Grund genug, daß ich mich nicht der Möglichkeit aussetze, erkannt zu werden, während ich den Sarg seines Opfers begleite. Der Bruder des armen Eduard ist ja hier, und vor dem darf ich mich nicht sehen lassen.«

Sie weinte nicht mehr. Schmerzlicher Ernst lag jetzt auf ihrem Gesicht. Im Garten setzte sie sich auf eine Bank, wo sie an linden Sommerabenden so häufig bei dem geweilt, dem sie ihr ganzes Herz geschenkt hatte. »Was soll nun aus mir werden?« dachte sie. »Was für ein Los steht mir bevor? Meinem Vater wieder gegenüberzutreten, wäre mir unmöglich. Und doch habe ich nicht das Recht, die Meinigen zu verlassen. Meine Mutter und meine Schwester sind ja nicht schuld an dem, was geschehen ist, und werden mich um so notwendiger brauchen, weil sie auch den Vater bald nicht mehr haben werden. Wenn er, was wahrscheinlich ist, festgenommen wird, so wird er verurteilt und unser Unglück durch die auf uns lastende Verachtung noch größer. Denn mit den Angehörigen eines Verbrechers kennt man ja keine Nachsicht, und nur zu leicht macht man sie für sein Verbrechen mit verantwortlich. Ohne Grenzen ist die Ungerechtigkeit der Menschen, und nichts als Vorurteile herrschen in der Welt. Ich bin also doppelt schwer getroffen, nicht nur in meiner Liebe, sondern auch in meinem Stolz, in doppelter Hinsicht ein Opfer meines Vaters.«

Sie wurde von Chauvin unterbrochen, der zu ihr sagte: »Sie müssen sich nicht so furchtbar abhärmen, Fräulein Hortense. Der Herr Leutnant wäre sehr unglücklich, wenn er Sie so sehen könnte.«

Ein melancholisches Lächeln huschte bei dieser naiven Äußerung des Soldaten über das Gesicht des jungen Mädchens. Allein Chauvin fügte noch etwas hinzu, das Hortenses Gedanken eine ganz andre Richtung gab.

»Kommen Sie doch lieber mit mir ins Schlafzimmer meines Leutnants. Kein Mensch hat es noch betreten außer mir, und wenn sich unter den Sachen, die er täglich benützt hat, etwas findet, das Ihnen als ein Andenken an ihn Freude machen könnte, so werde ich es auf mich nehmen, es Ihnen zu geben.«

»Ach, guter Chauvin, ja, kommen Sie, wir wollen hinaufgehen.«

Das Zimmer befand sich in tadelloser Ordnung. Auf dem Tisch lagen Zigaretten und ein halb ausgeschnittenes Buch mit einem elfenbeinernen Falzbein, auf dem Kamin standen Photographieen von Maubruns Eltern. Eine altertümliche kleine Standuhr aus Schildpatt mit Kupfer eingelegt, fuhr fort, die Stunden weiter zu schlagen, die der arme Junge nicht mehr durchlebte. Auf dem Nachttisch lag ein silbernes Streichholzbüchschen, auf das die Buchstaben E. M. eingraviert waren. Wie oft hatte Hortense gesehen, daß Eduard dieses Büchschen zur Hand nahm, um sich eine Zigarette anzuzünden. Danach greifend, sagte sie: »Dieses Büchschen möchte ich gerne mitnehmen.«

»Ja, nehmen Sie es doch, Fräulein Hortense; aber das ist ja so geringfügig.«

»Das genügt. Etwas Wertvolles möchte ich nicht haben.«

»Ach, Fräulein,« sagte Chauvin, »der Herr Leutnant hat Sie richtig erkannt! Häufig sagte er von Ihnen: Ein anständigeres, selbstloseres Wesen gibt es nicht.«

Als das junge Mädchen von diesem letzten Liebesbeweis ihres Freundes hörte, zog sie den Schleier übers Gesicht, um ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. Dann steckte sie das Büchschen in die Tasche, und dem Burschen die Hand reichend, sagte sie: »Haben Sie Dank, mein guter Chauvin, und leben Sie wohl.«

»O nein, Fräulein Hortense, kein Lebewohl, wir werden uns doch hoffentlich wiedersehen.«

Ohne zu antworten, ging sie festen Schrittes die Treppe hinunter, dann durch den Garten und auf die Straße hinaus dem Bahnhof zu. Auf dem Rathausplatz wurde sie durch eine Volksansammlung aufgehalten. Um nicht gesehen zu werden, drückte sie sich auf die Seite, aber sie konnte es sich nicht versagen, einen Blick hinüber zu werfen, und da erkannte sie zwischen zwei Geheimpolizisten, denen eine Schar Neugieriger und sämtliches Gesindel der Stadt folgte, ihren Vater. Todesblaß, barhäuptig und mit zerfetzten Kleidern, als habe er einen verzweifelten Kampf mit den Polizisten hinter sich, schritt er dahin. Diese hielten ihn krampfhaft fest, während hinter ihnen die Menge schrie: »Das ist der Mörder! Das ist Tournemarie!« Ein grimmiges Lachen verzerrte die Lippen des Arbeiters; er warf wütende Blicke auf seine Verfolger, ohne jedoch ein Wort zu äußern. Unter dem Portal des Rathauses verschwanden die Schutzleute mit ihrem Gefangenen, während die zusammengerottete Menge, die Festnahme besprechend, auf dem Platz blieb, und Hortense zitternden Herzens ihren Weg weiter verfolgte. Auf der Station waren die Zugänge zum Bahnsteig zwar gesperrt, aber die schwarzgekleidete Frau wollte man doch von der Feierlichkeit nicht ausschließen. Auf dem Bahnsteig stand der General mit seinem ganzen Stabe vor einem offenen Güterwagen, der bereit gestellt war, den Sarg aufzunehmen. Didelod Vater und Sohn sprachen mit einem jungen Mann in Trauer, der Maubrun so ähnlich sah, daß Hortense ihn sofort als den Bruder ihres Geliebten erkannte. Um sie her wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen; das Alltagsleben mit seinen Hoffnungen und Sorgen beherrschte bereits wieder alle diese Männer, die eine gemeinsame gesellschaftliche Verpflichtung zusammengeführt hatte. Der Abgeordnete von Lehrange sagte zum jungen Maubrun: »In fünf Stunden sind Sie in Paris; es wird also noch reichlich Zeit sein, die Leiche nach der Kirche zu bringen.«

»Mein Vater wird auf dem Bahnhof sein, um uns abzuholen . . . eine schwere Aufgabe für ihn, da er sehr leidend ist.«

Der Unterpräfekt trat zu Didelod heran, und mit einer Stimme, aus der man die Bewegung heraushörte, sagte er: »Herr Abgeordneter, der Mörder ist soeben festgenommen worden. Er befindet sich auf dem Rathaus bis zu seiner Überführung ins Gefängnis.«

»Wo hat man ihn denn festgenommen?«

»In seinem eigenen Hause, wohin zurückzukehren er frech genug war, als sei nichts geschehen. Übrigens hat er einen rasenden Widerstand geleistet. Vier Männer hat man gebraucht, um ihn unter dem Jammergeschrei seiner Familie hinunterzuschleppen. Gottlob, daß diese Sache nun im reinen ist! Wie leicht hätte er durch die Ardennen nach Belgien entfliehen können, und uns würde man dann beschuldigt haben, wir hätten ihn absichtlich entwischen lassen.«

Ein Pfiff unterbrach das Gespräch. Langsam kam eine Lokomotive heran, um von den Eisenbahnbediensteten angekuppelt zu werden. Alle Anwesenden traten näher und nahmen die Hüte ab. Vier Schaffner hoben den Sarg, trugen ihn zum Wagen und schoben ihn hinein. Tiefe Stille herrschte, dann wurde die Schiebetür von einem Angestellten zugemacht. Mit hämmernden Schläfen, zuckendem Herzen und trüben Augen stand Hortense vor dem Güterwagen, der alles Glück ihres Lebens in sich schloß. Da packte sie wahnsinnige Verzweiflung. Plötzlich sah sie wie in einer Fata Morgana die furchtbare Zukunft vor sich, die sie erwartete: die geächtete Familie, die unglücklichen Kinder, den Vater hinter Schloß und Riegel, die jammernde, verbitterte Mutter. Die Kraft fehlte ihr, diese Schmerzenslast auf sich zu nehmen, und als beim Abfahrtszeichen alle Anwesenden zurücktraten, sprang sie plötzlich ein paar Schritte vor und warf sich auf die Schienen. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Trauerversammlung. Schon sah man das junge Mädchen von den Rädern zermalmt; aber rascher noch als Hortense war Moritz Didelod vorgestürzt und hatte sie gepackt und zurückgerissen. Der Himmel verdunkelte sich vor ihren Augen, das Bahnhofgebäude drehte sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreise herum, in ihren Ohren tobte und brauste es. Sie fiel in Ohnmacht, während der Zug in rascherem Tempo hinter einer Biegung verschwand.

Als sie wieder zum Bewußtsein ihres Jammers kam, befand sie sich im Bureau des Stationsvorstandes, und Didelod hielt ihr die Hand.

»Aber, liebes Kind,« sagte der Abgeordnete, »was für einen entsetzlichen Schreck haben Sie uns eingejagt! Ei, ei, man muß doch auch ein bißchen vernünftig sein! Zum Henker! Sie sind doch nicht ohne Freunde. Man wird Sie nicht im Stich lassen . . . Ja, ja, ich weiß wohl, Sie haben einen schweren Kummer. Ach, so ist nun mal das Leben! Aber sich auf die Schienen werfen, und dazu noch vor einem solchen Publikum! . . . Nun, nicht wahr, Sie versprechen mir, vernünftig zu sein. Sonst lasse ich Sie ins Krankenhaus bringen und streng bewachen. Man hat doch Pflichten gegen seinen Nächsten, und Sie ganz besonders haben Anspruch auf Teilnahme  . . . Reden Sie . . . seien Sie nicht so starr und stumm. Was kann ich für Sie tun?«

Mit zitternder Stimme antwortete das junge Mädchen: »Versprechen Sie mir, sich meiner Mutter und Schwester anzunehmen, wenn sie in Not kommen.«

»Aber Sie sind ja doch auch da, um ihnen beizustehen, liebes Kind. Im übrigen können Sie auf mich zählen. Ich verpflichte mich sehr gerne dazu.«

»Ich weiß, daß Sie großmütig und gut sind. Versprechen Sie mir auch, daß Sie vor Gericht nicht gegen meinen Vater aussagen, sondern ihn, wenn möglich, zu retten versuchen.«

»Ich werde ihm einen Verteidiger von Paris kommen lassen,« versicherte Didelod, den die schmerzlichen Bitten des jungen Mädchens, das sich nicht mehr zu den Lebenden zu rechnen schien, tief bewegten.

»Gott segne Sie, Herr Didelod. Ich werde von ganzem Herzen für Sie beten, solange ich lebe.«

»Also recht lange, nicht wahr, liebes Kind?« sagte der Abgeordnete mit einem Versuch zu lächeln.

Hortense nickte, ohne zu antworten, und versuchte aufzustehen. Kaum daß die Füße sie trugen.

»Soll ich Sie nicht in meinem Wagen nach Hause bringen lassen?« fragte Didelod, den der Gedanke, daß sie ganz allein durch die Stadt gehen wollte, beunruhigte.

»Nein, ich danke, Herr Didelod. Ich will lieber zu Fuß gehen, das wird mir gut tun.«

»Dann kommen Sie doch mit mir heraus.«

Er öffnete die Türe des Bureaus und führte das junge Mädchen über den Bahnsteig auf den kleinen Hof nebenan. Noch einmal verabschiedete sie sich mit warmen Dankesworten von ihm und entfernte sich dann.

Eine Weile schaute Didelod der schwarzen Gestalt nach, die sich unter den Bäumen verlor, dann ging er auf seinen Wagen zu, bei dem sein Sohn ihn erwartete.

»Dieses arme Mädchen ist in einer traurigen Verfassung! Du hast ihr zwar das Leben gerettet, aber wer weiß, ob du ihr damit einen großen Dienst erwiesen hast. Sie wird von Todesgedanken verfolgt, und früher oder später . . .«

Damit stieg er in seine Viktoria und rief dem Kutscher zu: »Zum Rathaus! Ich werde mal nach dem Halunken von Tournemarie sehen . . . Und dann wollen wir uns noch rasch erkundigen, wie es Gaudin geht, um den Tag wenigstens mit einem wohltuenden Eindruck zu beschließen.«

* * *

Zur selben Stunde hatte sich vor dem Haupttor der Didelodschen Fabrik, auf dem großen, von hundertjährigen Ulmen bestandenen Platze, eine Arbeiterschar mit Frauen und Kindern versammelt. Im Innern des Etablissements war kein einziges menschliches Wesen zu sehen. Nur eine große Ulmer Dogge, die Moritz gehörte, lag in der Sonne ausgestreckt vor der Türe des Verwaltungsgebäudes, sie geruhte jedoch nicht einmal, den Kopf zu erheben. Die hohen, sonst von schwarzen Rauchsäulen gekrönten Schornsteine ragten kahl und kalt zum Himmel empor. Öde Stille ringsumher anstatt des gewohnten regen Lebens und Treibens empfing die streikenden Arbeiter. Stylb und drei Delegierte klingelten am Gittertor. Der Portier erschien und ging auf die Besucher zu. Trotzdem er sie mit Namen kannte, behandelte er sie jedoch wie Fremde.

»Was wünschen die Herren?«

»Herrn Didelod möchten wir sprechen.«

»Er ist nicht hier.«

»Dann den ihn vertretenden Direktor.«

»Der Direktor ist krank und in seiner Wohnung.«

»Ist denn aber gar niemand hier?«

»Einer von den Ingenieuren, Herr Cottereau, arbeitet in seinem Bureau. Soll ich ihn fragen, ob er Sie empfangen kann?«

»Ja.«

Der Portier entfernte sich. Die Menge hatte sich inzwischen an den Böschungen des Platzes unter den hohen Bäumen gruppenweise gelagert und begann die mitgebrachten Vorräte zu verzehren. Es war elf Uhr. Und da in Frankreich jede, auch die stürmischste Kundgebung, einen gewissen Anstrich von derber Fidelität aufweist, so begann auch hier die drohende Manifestation mit einer Art von Picknick. Wartend gingen Stylb und seine beiden Begleiter vor dem noch immer geschlossenen Gittertor auf und ab, während die Dogge friedlich im Staube weiterschlief. Nun kam der Portier zurück, und die kleine Seitentüre öffnend, sagte er: »Ich bitte die Herren, mir zu folgen.«

Die drei Männer traten ein. Jetzt, da sie glücklich im Hofe drin waren, duzten die beiden Arbeiter den Portier.

»Na, Müller, kennst du uns denn nicht mehr?«

»Nein; Leute, die sich so erbärmlich benehmen, kenne ich nicht.«

Dabei deutete er auf die rauchgeschwärzte Mauer des Verwaltungsgebäudes. »Das hätt' ich euch denn doch wahrhaftig nicht zugetraut!«

»Du weißt recht gut, daß die Neumansschen Arbeiter und das Gesindel von Lehrange das Feuer angelegt haben.«

»Trotzdem habt ihr euch heute mit ihnen zusammengetan. Ja, ja, gleich und gleich gesellt sich gern!«

Er öffnete eine Tür, und zum Eintritt auffordernd, sagte er: »Warten Sie hier; ich werde Herrn Cottereau benachrichtigen.« Und er entfernte sich.

»Der hohe Chef entzieht sich, wie es scheint, unsern Blicken.«

»Na, kein Wunder! Ich bitte Sie, Bürger Stylb, nach der gestrigen Sitzung. Herr Didelod ist nicht daran gewöhnt, Püffe zu kriegen.«

»Er wird schon noch mehr zu fühlen bekommen. Die Herren Arbeitgeber treten jetzt in die Ära der Schwierigkeiten.«

»Er wird sich heimlich aus dem Staube machen, wie er uns gedroht hat.«

»Dann bemächtigen wir uns der Werkstätten und setzen eine Kooperativgenossenschaft ein.«

»Wer gibt uns das Betriebskapital?«

»Der Staat.«

»Der hat doch nicht einmal genug, um sein eigenes Budget im Gleichgewicht zu halten!«

»Die Not wird ihn zu großen finanziellen Reformen zwingen.«

»Wissen Sie auch, daß Millionen erforderlich sind, um einen Betrieb wie diesen hier in Gang zu halten?«

»Man wird sie schon auftreiben. Und ihr bekommt dann euren Teil am Gewinn, anstatt euch jahraus jahrein abzuschinden, damit der Chef sich im Golde wälzt.«

»Ja, ja, das wär' allerdings an der Zeit.«

Müller unterbrach das Gespräch.

»Herr Cottereau läßt bitten.«

Sie traten ins Bureau des Ingenieurs, der gerade die letzte Hand an die Zeichnung einer Maschine legte. Er stand auf, machte den Besuchern ein Zeichen, sich zu setzen, und sich an die beiden Arbeiter wendend, fragte er: »Was führt Sie hierher?«

»Wir hätten gerne Herrn Didelod gesprochen.«

»Da müssen Sie nach Badonviller gehen. Aber nicht vor heute abend, denn Herr Didelod ist jetzt auf dem Bahnhof, wo er der Leiche des in unsrer Fabrik erschossenen Offiziers das Geleite gibt.«

Stylb, der sich darüber ärgerte, daß der Ingenieur das Wort an die beiden Arbeiter richtete und ihn selbst absichtlich zu ignorieren schien, mischte sich jetzt mit frecher Miene ein.

»Wir können Herrn Didelod doch nicht auf offener Straße abpassen. Er hat ein Kontor und eine Kanzlei als Abgeordneter.«

»Wo er sich auch aufhalten mag,« entgegnete Cottereau, »für Sie wird er wohl nirgends zu sprechen sein.«

»Warum denn nicht?«

»Er wird vielleicht nichts dagegen haben, mit seinen Arbeitern zusammenzutreffen, die er bis dahin wie Freunde behandelt hat, niemals aber wird er sich dazu hergeben, mit Leuten zu verhandeln, die wie Sie, Herr Stylb, Streikagitatoren, Aufwiegler und Flausenmacher sind!«

»Ei, Herr Ingenieur, Sie sind nicht gerade höflich.«

Cottereau sah Stylb scharf in die Augen.

»Somit hätten wir wohl die Rollen vertauscht, was? Nun ja, warum auch nicht? Überdies habe ich Ihren Besuch jetzt satt. Ihre beiden Begleiter sind brave, nur durch Ihre schlimmen Ratschläge irregeführte Männer. Die werden immer mit Nachsicht aufgenommen werden. Sie dagegen – marsch! Hinaus, und zwar im Trab!«

»Nun hört ihr es, wie eure Fürsprecher behandelt werden!« rief Stylb den beiden Arbeitern zu, die kalt dabeistanden.

»Genug der Worte!« unterbrach ihn Cottereau. »Machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst spediere ich Sie zum Fenster hinaus.«

Dieser Cottereau war ein blonder, robuster Lothringer von dreißig Jahren, der Stylb mit einem Faustschlag hätte niederschmettern können. Der Agitator aber wollte sein Ansehen in einem solch ungleichen Kampfe nicht riskieren. Erblassend stammelte er: »Wir sehen uns wieder!«

»Ja, wenn Sie ein paar tausend Mann zur Deckung hinter sich haben!«

Dabei öffnete er die Tür, stieß Stylb mit einem kräftigen Schubs in den Gang hinaus, und die beiden Arbeiter zurückhaltend, die ihrem Führer folgen wollten, sagte er: »Schämt ihr euch nicht, einem solch hergelaufenen Lumpen zu gehorchen? Für ein solches Gelichter setzt ihr euren guten Ruf, eure Zukunft und das Brot eurer Familien aufs Spiel?«

»Ach, Herr Cottereau, der Chef ist uns aber auch gar nicht entgegengekommen! Nichts von allem, was wir verlangten, hat er uns bewilligt.«

»Sie verlangen das Unmögliche.«

»Aber was will er denn nun tun?«

»Er hat es Ihnen ja gesagt, die Fabrik schließen.«

»Und in Steingel arbeiten lassen?«

»Natürlich. Man muß die Bestellungen doch ausführen. Wenn er mit den Deutschen arbeitet, gewinnt er allein auf die Rohstoffe dreißig Prozent! Ihr seid Narren, ja, Erznarren seid ihr, Herrn Didelod derart in die Enge zu treiben, daß er jenseits der Grenze arbeiten lassen muß.«

»Aber wann wird er die Fabrik denn wieder öffnen?«

»Vielleicht nie mehr. Er ist ganz der Mann dazu. Ihr habt ihn tief beleidigt, euch tätlich an ihm vergriffen.«

»Wenn er nicht wieder öffnet, dann gibt es Kampf bis aufs Messer. Wir gehen nach Steingel und machen dort eine Kundgebung.«

»Tut das nicht!«

»Warum nicht?«

»Tut es nicht! Herr Reismann ist kein Philanthrop wie Herr Didelod. Der versteht keinen Spaß. Mit Kartätschen läßt er auf euch schießen. In Steingel seid ihr nicht mehr in Frankreich. Hütet euch!«

»Nun, wir werden ja sehen. Adieu, Herr Cottereau.«

»Ihr werdet schon noch an meine Warnung denken. Wenn Herr Didelod da wäre, der würde dasselbe sagen. Hütet euch!«

»Guten Abend.«

Und sie entfernten sich. Im Hofe ging Stylb, sie erwartend, in blinder Wut auf und ab.

»Ihr kommt ja recht lange nicht. Was hat euch der Mensch weis gemacht? Er wollte euch wohl einseifen?«

»Er hat uns geraten, nicht nach Steingel zu gehen.«

»Ein Beweis, daß wir unbedingt hingehen müssen.«

»Er behauptet, man werde uns mit Kartätschen heimleuchten.«

»Bah! Dummes Zeug! Unter welchem Vorwand? Glaubt ihr, die deutsche Regierung werde es so gar eilig haben, sich die ganze Arbeiterpartei dadurch zu verfeinden, daß sie es bei einer friedlichen Kundgebung zum Blutvergießen kommen ließe? O nein, ihr setzt euch keiner Gefahr aus. Wenn man in Steingel eure Forderungen ebenfalls zurückweist, dann wird Didelods Lage durch seine Verbindung mit Reismann unmöglich. Politisch ist er dann für immer ein toter Mann.«

»Und Sie setzen sich an seine Stelle.«

»Für euch hoffe ich es.«

Die beiden Arbeiter sahen sich an. Klar durchschauten sie Stylbs Unredlichkeit, und daß sie von ihm am Narrenseil herumgeführt wurden. Sie errieten die selbstsüchtige Intrige, die dieser gewissenlose Politiker angezettelt hatte, um mit Hilfe eines, wenn nötig, blutigen Aufruhrs ein Abgeordnetenmandat für sich zu ergattern. Allein in ihrer gewohnten Schlappheit sprachen sie die Vorwürfe und Anschuldigungen, die ihnen auf den Lippen schwebten, nicht aus.

»Na, machen wir uns jetzt auf den Weg,« sagte Stylb.

Mit gesenkten Köpfen und beunruhigten Gemütern folgten ihm die beiden Genossen.

Am Straßenrain flogen Korke in die Luft, und fettige Papierefetzen lagen auf dem Rasen umher. Die zu einer ernsten Kundgebung ausgezogene Menge vergaß in diesem Augenblick ihre Entschlüsse und freute sich ohne Hintergedanken des Augenblicks. Kein Mensch dachte entfernt mehr an Didelod. Untergegangen waren Zorn und Groll in dem heiteren Genuß des Mahles. Wer weiß, wenn der Chef in diesem Augenblick mit Kaffee, Schnaps und Zigarren erschienen wäre, ob man ihm nicht begeistert zugejubelt hätte. Ist ja doch die wankelmütige Volksseele ebenso leicht zur Versöhnlichkeit wie zum Zorn zu bewegen. Statt seiner aber erschien Stylb, noch ganz erregt von dem soeben erlebten Auftritt, empört über die Beschimpfung, die er sich hatte gefallen lassen müssen, und heimlich beunruhigt durch die sichtliche Abkühlung seiner beiden Genossen. Und da er fühlte, wie notwendig es sei, diese unentschlossene Menschenmasse bis zum Siedepunkt zu erhitzen, stieg er auf die Straßenböschung und begann mit schneidender Stimme: »Nun, meine Freunde, während wir mit unsrer Kundgebung zögern, hat sich der Chef von Lehrange nicht lange besonnen und bereits Befehl gegeben, daß die Aufträge in Steingel ausgeführt werden. Eure Fabrik ist geschlossen, und die Angestellten gestehen unverhohlen ein, es sei sehr möglich, daß Didelod, um euch eine Lehre zu geben, die Fabrik überhaupt nicht mehr öffne.«

Ein anhaltendes Gemurmel erhob sich aus der Menge, und die Gesichter verfinsterten sich.

»Es ist somit notwendiger als je, dafür zu sorgen, daß Steingel euch keine unredliche, verhängnisvolle Konkurrenz machen kann. Die ganze Arbeiterklasse von Frankreich, die an dem zwischen eurem Chef und euch entbrannten Streit lebhaften Anteil nimmt, wird die Wechselfälle dieses Kampfes verfolgen und nicht zögern, Partei für die Arbeiter und gegen deren Ausbeuter zu nehmen. Die Kundgebung, die ihr vorhabt, wird also entscheidend sein. Und selbst wenn ihr das infame Abkommen, das Didelod und Reismann geschlossen haben, mit eurem Blut bespritzen müßtet, so wäret ihr es der Sache des Proletariats schuldig, vor einem solchen Schritte nicht zurückzuschrecken.«

»Auf! Auf! Nach Steingel!«

Alle hatten sich erhoben und eine wütende, drohende Haltung angenommen. Geschrei und Schmähworte erschollen und steigerten die Erregung der ohnehin schon erhitzten Köpfe aufs äußerste.

»So folgt mir!« befahl Stylb.

Sich an die Spitze der Kolonne stellend, schlug er auf der um die Fabrik herumlaufenden Landstraße den Weg nach der schmalen, ebenen Strecke ein, die Frankreich hier von dem Deutschen Reiche trennt. Die Frauen und Kinder hielten sich unter den Bäumen beim Packen der Körbe noch etwas auf, während die Männer, sieben- bis achthundert an der Zahl, voranmarschierten und aus voller Kehle sangen, um sich selbst anzufeuern. In eine Staubwolke gehüllt, gingen sie an der Fabrik vorbei, und schon erhoben sich am Ende der vor ihnen liegenden üppigen Weideplätze, wo fette Kühe friedlich lagerten, die hohen Schornsteine und Ziegeldächer von Steingel. Quer über die Straße, etwa fünfhundert Meter von der Fabrik entfernt, bemerkten die Manifestanten aber auch eine schwarze Linie, die von den geübten Augen solcher, die gedient hatten, als eine Abteilung Kavallerie erkannt wurde. Das Beschläg am Zaumzeug, das Metall an den Kolpaks funkelte. Schweigend, unbeweglich hielt sie am Ende der Straße vor Steingel und erwartete die herankommenden Franzosen, die den annektierten Boden nun betreten hatten.

Ein schwerer Druck legte sich plötzlich auf die Manifestanten und dämpfte ihre Begeisterung. Die Gesänge klangen schwächer, das Tempo verlangsamte sich. Nichtsdestoweniger aber wurde weitermarschiert, und die Haltung war womöglich noch feindseliger, noch herausfordernder. Stylb befand sich jetzt nicht mehr an der Spitze. Er hatte die Ungestümsten an sich vorübergehen lassen und marschierte neben der Kolonne. Als die Streikenden bis auf zweihundert Meter an die Kavallerieabteilung herangekommen waren, konnten sie sich keiner Illusion mehr hingeben. Eine Schwadron der kurhessischen Husaren sperrte die Straße, und einige Schritt vor der Front unterhielten sich einige Zivilisten mit dem Offizier, der die Schwadron kommandierte. Allein auch jetzt gingen die Manifestanten entschlossen vor, nur der Gesang war verstummt. Plötzlich hob der Husarenoffizier den Arm, und ein hinter der Truppe haltender Trompeter ließ ein gellendes Signal ertönen. Zugleich ging, von dem Offizier begleitet, einer der Zivilisten auf die Demonstranten zu, und diese sahen nun, daß es Reismann in eigener Person war. Stolz und entschlossen schritt er auf die Streikenden zu, und sein Gesicht weissagte nichts Gutes. Als er noch etwa zehn Meter von der vordersten Reihe der Demonstranten entfernt war, trat er einige Schritte vor das Pferd des Offiziers, und sich in die Mitte der Straße stellend, fragte er: »Was wollt ihr hier?«

Stylb, diese Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen, verlor bei diesem bedrohlichen Zusammenstoß den Mut nicht. Er bot Julius Reismann unerschrocken die Stirne und antwortete: »Wir kommen, um an die Solidarität der Arbeiter zu appellieren, die . . .«

Allein er konnte nicht vollenden. Reismann schnitt ihm das Wort ab.

»Sie? Tun Sie mir den Gefallen und schweigen Sie! Sie sind gar kein Arbeiter und nicht einmal aus dieser Gegend. Von Ihnen will ich überhaupt nichts hören.«

»Niemand wird sprechen, wenn ich es nicht tue.«

»Gut. Dann spricht eben niemand. Herr Major, wollen Sie, bitte, Ihrer militärischen Pflicht nachkommen.«

Der Kommandant der Husaren, ein junger, kräftiger Kavallerist in knapp anliegendem Dolman, salutierte und sagte auf Französisch, aber mit starkem deutschen Akzent: »Ich fordere Sie hiermit auf, unverzüglich auseinanderzugehen. Wird nach dreimaliger Aufforderung dem Befehl nicht Folge geleistet, so lasse ich von der Waffe Gebrauch machen.«

Damit gab er dem Trompeter ein Zeichen, der hierauf abermals das Signal blies.

»Ihr habt gehört,« sagte Herr Reismann, »es ist blutiger Ernst. Wir sind hier im Deutschen Reich, wo die Disziplin scharf gehandhabt wird. Es ist nicht wie jenseits der Grenze, wo man ungestraft den Soldaten Steine an den Kopf werfen darf. Hier wird sofort mit Säbel und Karabiner geantwortet. Ich bin benachrichtigt worden, daß ihr hierherkommen würdet, um meine Arbeiter durch demagogische Redensarten zum Streik zu verführen, und sofort habe ich mir Kavallerie ausgebeten. Ich hätte es ja zu einer Manifestation kommen lassen und, um meinen Schwager Didelod für die ihm angetanen Beleidigungen und Gewalttaten zu rächen, euch wie Hasen niederknallen lassen können. Aber ich habe das nicht gewollt. Erweist euch also dankbar für meine Nachsicht und mißbraucht meine Geduld nicht. Entfernt euch in Ruhe und Ordnung, und laßt euch nie wieder hier blicken!«

»Freiheit! Arbeiterverbrüderung! Soziale Solidarität!« brüllte Stylb, und der ganze Haufe wiederholte diese schönen, so übel angewandten Worte.

Wieder ertönte die Trompete. Dann gab der Major einen kurzen Befehl, und nach einer raschen Schwenkung deployierten die Husaren. Einen Augenblick lang war die Straße frei, nur Reismann und der Major befanden sich noch dort.

»Vorwärts!« schrie Stylb.

»Vorwärts!« wiederholten hundert wütende Stimmen.

Mit Hurra stürzten die Streikenden Steingel zu und stießen Reismann beiseite, neben dem der Major hielt, der nun mit durchdringender Stimme den Befehl zur Attacke gab. Im Nu griffen die Husaren, blank ziehend, zu beiden Seiten der Straße den Volkshaufen an, und indem sie mit der Brust ihrer Pferde die sich auflösende Menge vor sich her trieben, die nun in wilder Flucht über die Wiesen und Felder jagte, machten sie auch die Straße frei, auf der jetzt nur noch Reismann und die Zivilisten standen, die ihn begleitet hatten. Es war ein tragischer Augenblick, als die deutsche Kavallerie auf die französische Arbeiterschar losstürzte. Der Rassenhaß äußerte sich in einer wütenden Verfolgung. Die Säbel schwingend, schrieen die Husaren hurra, indem sie mit zornroten Gesichtern und zusammengebissenen Zähnen voranstürmten. Selbst die Pferde wurden angesteckt und wieherten aufgeregt. Dagegen leisteten die Arbeiter, die wie Staub von einem heftigen Windstoß hinweggefegt wurden, nicht den geringsten Widerstand. Verzweifeltes Geschrei erhob sich aus der Schar der Flüchtlinge, die auf die Verräter fluchten und die »Mörder« mit Schmähungen überhäuften. Kaltblütig stand Julius Reismann da und zuckte verächtlich die Achseln. Von der Stelle aus, wo er sich befand, bot die in toller Flucht begriffene, von den Husaren verfolgte Bande ein ebenso klägliches als groteskes Schauspiel. Auf dem im Handumdrehen geräumten Platze lag eine ganze Sammlung von Hüten und Mützen umher, die beim hastigen Ausreißen verloren gegangen waren. Selbst Schuhe waren zurückgelassen worden. In weiten Galoppsprüngen waren die Husaren diesem wirren Menschenknäuel dicht auf den Fersen, indem sie dessen Flucht durch flache Säbelhiebe beschleunigten. Wütendes Gebrüll erhob sich aus dieser von der Sonne bestrahlten, in einer Staubwolke dahinjagenden wilden Horde. Kopflos stürzten alle dahin; die Jungen schienen Flügel zu haben, die weniger Flinken wälzten sich außer Atem am Boden hin. Währenddessen ritt der Major, von dem Trompeter begleitet, ruhig, in kurzem Galopp auf der Straße hin. Den Säbel hatte er in der Scheide stecken, die Peitsche unter den Arm geklemmt, und auf seinem Gesicht lag ein verächtlicher Zug.

Am Grenzpfahl angelangt, hielt er sein Pferd an und machte ein Zeichen. Der Trompeter blies zum Sammeln. Und gehorsam, die Verfolgung sofort einstellend, formierten sich die Reiter in Kolonne und sperrten von neuem die Straße ab. Die Flüchtlinge beruhigten sich jedoch auch auf französischem Boden, wo sie nun doch in Sicherheit waren, noch nicht; bis zur Didelodschen Fabrik trieb sie die Panik. Plötzlich sahen die Frauen und Kinder, die nun auch allmählich herangekommen waren, eine angstgepeitschte Schar unter lautem Gebrüll auf sich zu rennen. Denn die Flüchtlinge glaubten noch immer, die Husaren hinter sich her galoppieren und die flachen Säbel auf ihre Rücken niedersausen zu hören. Mit fortgerissen von diesem fürchterlichen Tumult, verloren die Frauen und Kinder, die nicht wußten, vor was für einer Gefahr diese Männer mit einer solchen Raserei flohen, vollständig den Kopf und vermehrten durch ihr Angstgeschrei und ihre eigene Zahl noch die Panik. Unaufhaltsam ergoß sich der Strom der Flüchtlinge über die Ebene bis in die Vorstadt von Lehrange hinein und kam erst vor der Verveillebrücke wieder etwas zur Besinnung. Abgehetzt und atemlos, wie sie waren, vermochten die Demonstranten zuerst weder zu sprechen, noch einen Gedanken zu fassen. Dann aber überkam sie plötzlich ein Gefühl der Scham, als ihnen klar wurde, daß sie ja jetzt zu Hause waren und diese ganze letzte Strecke zurückgelegt hatten, ohne verfolgt worden zu sein. Und nun versuchten sie, ihre Flucht, ihre Angst zu erklären, indem sie den sich ansammelnden Neugierigen zuriefen: »Die Deutschen! Die Husaren! Sie haben die Grenze überschritten, uns mit Säbelhieben traktiert! Rache!«

Sie stürzten auf die Brücke los. Da tauchte plötzlich an deren andrem, der Stadt zu gelegenem Ende eine schwarze Gestalt auf, die näherkam, und die Spitze der Kolonne blieb plötzlich stehen, als sie Hortense Tournemarie erkannte. Barhäuptig, mit todesblassem Gesicht schritt sie auf die Streikenden zu. Kaum war sie in Hörweite, so rief sie ihnen mit drohend erhobener Faust zu: »Ihr habt nur Mut, wenn es gegen Franzosen geht, ihr Feiglinge! Vor den Deutschen seid ihr ausgerissen! Die haben sich wohl zur Wehre gesetzt, was?«

Dumpfes Gemurmel entstand bei diesem beleidigenden Vorwurf unter der Schar. Allein ohne sich anscheinend darum zu kümmern, fuhr das junge Mädchen fort: »Warum habt ihr denn nicht wenigstens versucht, diesen fremden Reitern die Spitze zu bieten? Ihr spart eure wilde Blutgier wohl lieber für eure Landsleute auf? Schämt euch, ihr Tröpfe, ihr Banditen! Heute hat man euch endlich so behandelt, wie ihr es verdient! Unter Angstgeschrei habt ihr das Hasenpanier ergriffen, ohne auch nur an Widerstand zu denken!«

»Schweig!« rief die Menge außer sich. »Schweig!«

»Nein, ich schweige nicht. Glaubt ihr, ich fürchte mich vor euch? Wo ist denn euer Rädelsführer, der Mörder? Wo ist mein Vater? Ihr seid ja gar nicht fähig, jemand den Garaus zu machen ohne ihn!«

»Elende! Wie kannst du es wagen, so zu sprechen! Hüte dich! Du möchtest wohl deinem Schatz nachfolgen?«

»O ja, und wie gerne, wenn ich euch alle vorher niedermetzeln könnte! Ihr aufrührerisches Geschmeiß! Ihr sozialistischer Abschaum! Ihr Gesindel von Dieben und Mördern!«

Geschrei unterbrach sie.

»Genug! Sie ist verrückt! Nein, toll vor Wut ist sie! Stopft ihr das Maul!«

»Warum schlagt ihr mich denn nicht tot? Ich bin ja allein und ohne Waffe! Das wäre ganz die richtige Arbeit für euch; vollständig eurer würdig!«

Und als wolle sie ihre Gegner wirklich zum Äußersten treiben, ging sie mit trotzigen Blicken auf die Arbeiter zu und schleuderte ihnen Schmähworte ins Gesicht. So war sie in der Tat ein schreckenerregender Anblick und gleichsam eine Verkörperung von Haß und Verachtung, wie sie herausfordernder nicht gedacht werden kann. Diese rauhen Proletarier fühlten das wohl, und kaum hatten sie sich etwas von ihrem Schrecken erholt, so gingen sie auf das Mädchen los und schlossen drohend einen Kreis um sie, als wollten sie an dieser Unglücklichen, die sie mit Beschimpfungen überschüttete, ihre schmachvolle Flucht rächen. Keine Spur von Nachsicht für die Tochter ihres Kameraden oder von Mitleid für ihren Schmerz und ihre Trauer regte sich in ihnen. Nur eine Feindin sahen sie vor sich, die sie an ihre Schande erinnerte.

»Genug mit deinem Geschwätz, Jungfer Tournemarie, verstanden! Wenn du dein Maul nicht hältst, dann tunkt man dich zur Abkühlung in die Verveille!«

»Ihr hättet ja doch den Mut nicht dazu!« entgegnete sie höhnisch.

Sie war bei diesen Worten auf eine Steinbank gesprungen, die bis zur halben Höhe der Brüstung reichte, und überragte die Mauer von da aus mit ihrem ganzen Oberkörper.

»Aber ich will euch die Mühe sparen!«

Sie schüttelte den Kopf, dessen Haare sich lösten und ihr verzerrtes Gesicht wie mit einer schwarzen Wolke umhüllten.

»Unter elenden Feiglingen soll ich weiterleben! Als die Tochter eines Mörders erröten müssen! Dann lieber sterben! Mein Blut aber komme über euch!«

Verächtlich spuckte sie vor ihnen aus, hob die Arme wie zu einem letzten Fluch, und auf die Steinbrüstung steigend, sprang sie in den Fluß hinab. Ein Schrei des Entsetzens ertönte, und sofort machte sich unter diesen mehr leidenschaftlichen als bösartigen Menschen der Rückschlag geltend. Schon stürzten die Entschlossensten dem steilen Ufer der Verveille zu. Der halb vom Wasser bespülte Körper der Unglücklichen war an den rauhen Steinen des Brückenpfeilers hängen geblieben, während der Kopf im Strome verschwand. Ein rasch von drei Männern herbeigeschafftes Boot wurde am Fuß des Brückenbogens angelegt und die Unglückliche an ihrem schwarzen Kleide aus der Verveille herausgezogen. Ausrufe des Bedauerns ertönten aus der über die Brüstung gebeugten Menge. Von Hortenses entsetzlich verstümmeltem Kopf floß ein Blutstrom in ihr Haar. Im Sturz hatte sie sich die Hirnschale zerschmettert, und das Boot brachte eine Tote ans Ufer. Die drei Männer improvisierten aus den beiden Rudern eine Tragbahre, und nachdem sie mit ihrer Last die Böschung erstiegen hatten, gingen sie langsam der Stadt zu. Hinter ihnen folgte schweigend, beklommen die Menge, und alle sahen in dem grausigen Tode des armen Mädchens, das ebenso wie ihr Liebhaber und wie ihr Vater ein Opfer des unseligen Streiks war, ein Vorzeichen von Jammer, Leiden und Tod.



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