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Die von den Ausständigen vor der Chevertkaserne in Szene gesetzte Kundgebung, deren hervorstechendste Episoden das Herunterreißen der Fahne und die Mißhandlung des Polizeikommissärs gewesen waren, hatte die Exzedenten bis zum Übermaß erregt. Nach dem Angriff der Dragoner, infolgedessen die Bande sich in die benachbarten Straßen zurückgezogen hatte, war ihnen klar geworden, wie glimpflich man mit ihnen verfuhr, und ihre Umsturzgelüste hatten sich dadurch nur verdoppelt. Auf offener Straße hatte Stylb dann eine Ansprache an sie gehalten. Während des Aufruhrs selbst war der Agitator zwar nicht in Lehrange gewesen, doch hatte er sich nachher wieder dort eingefunden, um das Feuer von neuem zu schüren. In den alten Markthallen, wo es heute nichts zu kaufen gab, gebärdete er sich wie toll unter vier- bis fünfhundert feiernden Arbeitern, die »Rache!« brüllten, ohne zu wissen wofür, und die ihre mit Knütteln bewaffneten Hände drohend schwangen.
»Vom Militär ist nichts zu befürchten,« verkündigte Stylb. »Ihr habt ja selbst gesehen, daß die Vorgesetzten es nicht wagen, den Befehl zum Losschlagen zu geben; denn sie wissen zu gut, daß die Kugeln an die falsche Adresse kommen könnten. Zaudert also nicht, Brüder, sondern geht ohne Furcht vor. Die aus dem Volk hervorgegangenen Soldaten werden nicht auf das Volk schießen. Viel eher ist anzunehmen, daß sie das Gewehr strecken und gemeinsame Sache mit euch machen. Ihr seid doch wahrhaftig nicht dazu da, die Kassenschränke der Protzen zu beschützen, die angesichts eurer gerechten Forderungen vor Furcht zittern. Lernt doch endlich eure wahren Freunde und aufrichtigen Verteidiger kennen! Wo ist er jetzt, jener berühmte Demokrat von Lehrange, der nicht Worte genug findet, um die Interessen der Arbeiter zu unterstützen, und der sie im Grunde ebensosehr, ja noch mehr knechtet als irgend einer. Wo ist der Bürger Didelod, der wütende Sozialist, der sich bei jeder Gelegenheit auf das Proletariat beruft? Im Bureau seiner Fabrik sitzt er und macht seine Berechnungen, um möglichst viel aus der Arbeit herauszuschlagen, die ihr mit euren Unglücksgenossen geliefert habt. Er hatte euch doch versprochen, Neumans zum Nachgeben zu bewegen, wenn ihr ihn, Didelod, als Schiedsrichter aufstelltet? Was hat er erreicht? Nichts. Mit dem Arbeitgeber hat er sich gegen die Arbeitnehmer verständigt, weil die Wölfe sich gegenseitig nicht auffressen; an euch aber ist er zum Verräter geworden, anstatt sich eurer anzunehmen.«
»Nieder mit Didelod!« brüllte die Menge. »Er ist ein Ausbeuter!«
»Was kümmern ihn eure Bedürfnisse und Leiden? Er hat ja vierzig Millionen! Mit dem Kapital, das er unrechtmäßigerweise in seinem Besitz hat, könnte jeder von euch im Wohlstand leben. Während er für sich allein ein Schloß bewohnt, wo ihr alle bequem unterkommen könntet, sind eure Weiber und Kinder in enge, ungesunde Wohnungen zusammengepfercht. Er hat Dienstboten, die aufgedonnert sind wie der Unterpräfekt und grob wie der Steuereinnehmer.«
»Ja, ja!« schrie der Haufen mit gehässigem Hohngelächter.
»Also alles für einen, nichts für die Gesamtheit. Ist das recht, Kameraden? Und glaubt ihr, eine Regierungsform, die sich auf der Basis einer solchen Selbstsucht aufbaut, brauchte von euch gebilligt zu werden? Das Eigentumsrecht, vermöge dessen sich der Reichtum in einer einzigen Hand ansammelt, so daß der Betreffende im Überfluß schwelgt, während es der großen Masse am Notwendigsten gebricht, ist eine soziale Ungeheuerlichkeit. Ist es statthaft, daß die einen im Fett schwimmen, während die andern kaum trockenes Brot haben? Und doch ist das etwas ganz Alltägliches. Was habt ihr von den satten Bourgeois zu erwarten? Zweifelhafte Wohltaten, die nichts weiter als Almosen sind. Wollt ihr denn das?«
»Nein! Nein! Nieder mit den Ausbeutern! Nieder mit den Schmerbäuchen!«
»Die einzigen, die sich mit euch solidarisch machen und bereit sind, euch beizustehen, sind die Genossen eurer Mühsal und eurer Armut. Vom Chef hat der Arbeiter nichts zu erhoffen. Nur auf den, der sich abschindet wie er selbst, kann er sich verlassen. Wißt ihr, was die Heizer in der Didelodschen Fabrik getan haben, während Didelod und Neumans sich verbündeten, um euch hinters Licht zu führen?«
»Ja, sie haben sich auf unsre Seite gestellt!«
»Sie haben mehr als das getan. Sie haben die Öfen ausgeblasen, um die Arbeit aufzuhalten, und sich dadurch den schwersten Vorwürfen ihrer allmächtigen Ingenieure ausgesetzt.«
»Es lebe der Streik! Die Kameraden von Lehrange sollen die Arbeit einstellen.«
»Sie warten nur auf eine Aufforderung eurerseits, um die Fahne der Empörung aufzupflanzen. Seit vierzig Jahren hat es in Lehrange keinen Streik gegeben. Didelod rechnet auf die Gutmütigkeit der Arbeiter, deren Energie er mit seinen trügerischen Wohlfahrtseinrichtungen eingelullt hat. Durch seine Konsumvereine hat er den Handel in der Stadt geschädigt und durch seine Verkäufe auf allmähliche Abzahlung den Arbeiter in Schulden gestürzt, so daß er mit gebundenen Händen der Gewalt des Chefs preisgegeben ist. Didelod sackt nicht nur die Einkünfte seiner Fabrik ein, sondern er macht auch noch bei allem, was in den Konsumvereinen verkauft wird, seinen Profit. Dieser Mensch hält das Proletariat in seinen Klauen, er würgt es, plündert es aus und hat dabei noch die Frechheit, sich auf die Demokratie zu berufen. Ein Hohn auf uns ist es, daß er sich einen Sozialisten nennt!«
»Nieder mit Didelod!«
»Fangt wenigstens einmal damit an, ihn nicht zu eurem Abgeordneten zu wählen, dann ist schon etwas gewonnen. Liefert nicht selbst die Ruten, mit denen man euch geißelt. Handelt als freie Männer, und nicht als die ergebenen Diener dieses Leuteschinders, der sich über eure Einfalt ins Fäustchen lacht! Seine Arbeiter warten nur auf ein Zeichen, um sich euch anzuschließen. Auf nach der Fabrik! Marschieret nach Lehrange! Unter dem Schutz der roten Fahne bietet diesem falschen Demokraten Trotz, der sich von eurer Arbeit mästet und euch wie Sklaven behandelt!«
»Ja, ja, nach Lehrange! Vorwärts!«
Schon setzten sich die ersten in Bewegung und formierten sich in Kolonnen, als Tournemarie auf sie losgestürzt kam: »Wo wollt ihr hin? Ein solches Wagnis wollt ihr unternehmen? Seid ihr denn auch in der Lage, euch zu verteidigen? Habt ihr Waffen?«
»Wir brauchen keine.«
»Was? Glaubt ihr, es drohe euch keine Gefahr? Habt ihr den Angriff, den die Dragoner auf euch gemacht haben, schon vergessen? Hättet ihr euch von ihnen mißhandeln lassen, wenn ihr mit Waffen ausgerüstet gewesen wäret?«
»Nein! Nein!«
»Nur keine unüberlegten Streiche, Genossen! Ich komme soeben von diesen Schuften her. Meinen Revolver habe ich auf einen Offizier abgefeuert! Geht nach Hause und holt alles, was ihr von Waffen besitzt. Und vor allem trommelt alle eure Kameraden zusammen. Eine Handvoll Leute kann doch nicht mit Aussicht auf Erfolg gegen die bewaffnete Macht ankämpfen. Hier auf diesem Platz wollen wir morgen in Masse zusammenkommen. Und wenn man uns dann auch wieder den Weg verlegt, dann werden wir uns zur Wehr setzen. Fließt Blut, dann komme es über diese Menschenschinder!«
»Ja, er hat recht! Es lebe Tournemarie!«
»Nun also, Freunde, wer sich an der Bewegung beteiligen will, der komme morgen hier auf diesen Platz. Eure Delegierten werden sich im ›Tannenzapfen‹ versammeln und alle Maßregeln treffen, damit die Kundgebung erfolgreich verlaufe. Jetzt aber zieht euch in aller Stille zurück und verlaßt euch auf uns.«
Mit unglaublicher Fügsamkeit zerstreuten sich die Ausständigen auf Tournemaries Worte hin, als handle es sich darum, einem Befehle Stylbs zu gehorchen. Dieser verfolgte, auf einem steinernen Tisch sitzend, mit nachdenklichem Blick das Auseinandergehen der Rebellen. Sich dann an Tournemarie wendend, sagte er: »Warum hast du denn die Bewegung aufgehalten, die ich so schön eingeleitet hatte?«
»Weil sie heute nicht so erfolgreich gewesen wäre, wie sie es morgen sein wird. Du bist zu rasch ins Zeug gegangen, Stylb, und hättest nur einen Putsch zustande gebracht. Ich aber will eine Schlacht liefern. Die Kameraden von Lehrange werden noch heute abend benachrichtigt, damit sie morgen zu uns stoßen können. So haben wir alle Aussicht auf wirklichen Erfolg. Und dann, nur keine Angst. Ich denke nämlich nicht daran, mich als deinen Nebenbuhler aufzuspielen. Du sollst unser Wahlkandidat werden. Ich selbst verfolge nur einen Racheplan. Aber ich will, daß er vollständig gelinge. Ich bin von einem Offizier beschimpft worden, folglich werde ich mich am Militär rächen.«
»Gut. Gehen wir jetzt in den ›Tannenzapfen‹, um die Sache zu besprechen. Es wird aber nicht leicht sein, Didelod in dieser Gegend zu stürzen. Er läßt Bouillaud hierherkommen, damit der auf die Volksstimmung wirke. Es heißt sogar, er möchte ihm gerne seine Tochter geben.«
»Das wird ihm nicht gelingen. Die Damen von Badonviller sind viel zu vornehm, als daß sie sich's einfallen ließen, einen Bouillaud in ihre Familie aufzunehmen.«
»Dann wird Bouillauds Freundschaft mit dem Abgeordneten von Lehrange kurze Beine haben, denn dieser zügellose Streber läßt sich nie und nimmer von dem scheinheiligen Protzen kirre machen. Sobald der merkt, daß es in seinem Interesse liegt, mit uns zu gehen, läßt er Didelod schnappen.«
Nachdem Stylb auf diese Weise mit kaltem Scharfblick sein Urteil über die Lage der Dinge gefällt hatte, hakte er bei Tournemarie unter und folgte den letzten Aufständigen, die eben hinter der nächsten Straßenecke verschwanden. Die Dämmerung senkte sich allmählich herab, und Stille breitete sich über Lehrange. Der Aufseher der städtischen Beleuchtung ging, sein Reparaturkästchen auf der Schulter, vorüber. Er machte seinen abendlichen Rundgang, denn Didelod hatte sich mit Neumans verständigt, daß dessen Elektrizitätswerk nach wie vor die Stadt mit Licht versorge. Als der Aufseher die beiden Männer bemerkte, rief er ihnen in heiserem, übermütigem Tone zu: »Zerschlagt nur zuerst die Laternen, dann hab' ich gleich eine Arbeit weniger. Unter Brüdern muß man sich beistehen.«
»Deinem Bürgermeister, dem alten Didelod, mußt du das sagen,« antwortete Tournemarie. »Der ist ein Finsterling. Wir aber, wir schwärmen fürs Licht. Guten Abend.«
»O weh,« entgegnete der Mann. »Dann sitzen wir ja schön in der Patsche!« Er zündete die Laterne auf dem Marktplatz an und verschwand in der Dunkelheit. –
Der Wagen, der Bouillaud und den Abgeordneten von Lehrange am darauffolgenden Tage nach der Fabrik brachte, fuhr zuerst durch einen entzückenden Hohlweg im Park von Badonviller, dann bog er auf die Landstraße ein, von wo aus man das Dorf übersehen konnte. Ein zur Verveille führender Abhang trennte das Etablissement und die Arbeiterwohnungen von der Stadt. Als der Wagen die Senkung verließ, kam von Lehrange her mitten in einer Staubwolke eine Schar Männer auf die Fabrik zumarschiert.
»Was wollen denn diese Leute da?« fragte Bouillaud. »Sie gehen zwar in ziemlich guter Ordnung, doch sehr friedlich sehen sie gerade nicht aus.«
Im selben Augenblick erhob sich ein wildes Johlen, das immer mehr anschwoll, und aus dem man selbst vom Wagen aus die verworrenen Töne des revolutionären »Ça ira,« heraushören konnte.
»Donnerwetter!« rief Bouillaud. »Das ist ja ein Aufruhr. Ich kenne mich aus. Sagen Sie nur Ihrem Kutscher, er solle seine Pferde antreiben. Wir dürfen uns auf einer öffentlichen Straße nicht von den Kerls überrumpeln lassen. Die würden uns nur verhöhnen.«
Rasch fuhr der Wagen davon und bei der nächsten Biegung der Straße verschwand die Arbeiterkolonne.
»Was die nur in Lehrange wollen?« murmelte Didelod höchst beunruhigt.
»Ei, eine Kundgebung machen, natürlich! Die Leute zum Streik verführen! Können Sie sich auf Ihre Arbeiter verlassen?«
»Gestern hätte ich noch auf ihre Zuverlässigkeit geschworen.«
»Und heute zweifeln Sie daran?«
»Nach dem, was sich auf dem Rathaus in Lehrange zugetragen hat, ist mein Vertrauen erschüttert.«
Der Wagen fuhr jetzt an der Fabrik vor. Der auf der Schwelle seines Häuschens stehende Portier verbeugte sich vor Didelod und trat auf einen Wink heran.
»Schließen Sie sofort sämtliche Gittertore und Türen,« sagte der Abgeordnete. »Wie viele zuverlässige Wächter haben Sie zur Hand?«
»Die sechs Tag- und die drei Nachtwächter. Aber . . . Herr Didelod . . . was geht denn vor?«
Der Portier war ein stämmiger Fünfziger mit bürstenartig geschnittenem Haar und angegrautem Schnurrbart. Die Militärverdienstmedaille glänzte auf seiner Brust, und seine entschlossene Miene flößte Vertrauen ein. Er war Elsässer und hieß Müller, hatte bei den Kürassieren gedient und war als Wachtmeister abgegangen. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, die als Wächter angestellt waren, hatte er die Hauptportierwohnung inne. Didelod betrachtete den Mann mit Wohlgefallen und sagte: »Ich fürchte, die Leute von Lehrange führen nichts Gutes gegen die Fabrik im Schilde. Rufen Sie das ganze Aufseherpersonal zusammen.«
Sofort zog der Portier an einer Glocke, dann sagte er, sich an seinen Chef wendend: »Wenn ich Verhaltungsmaßregeln einzuholen habe, soll ich mich dann ans Sekretariat wenden?«
»Nein, an mich selbst. Ich gehe jetzt in mein Bureau. Telephonieren Sie direkt an mich.«
»Zu Befehl, Herr Didelod.«
Der Mann machte sich nun daran, die Gittertore zu schließen, während Didelod und Bouillaud den Bureaus zugingen. Aus der Ferne konnte man immer deutlicher das Schreien und Johlen vernehmen.
»Ei, mein Lieber,« sagte Bouillaud, »das ist ja ein Vergnügen, auf das ich nicht gefaßt war. Sie verstehen es, die Leute zu überraschen!«
»Warten Sie erst ab, wie die Sache verläuft, ehe Sie mir Vorwürfe machen.«
»Ich mache Ihnen durchaus keine Vorwürfe, denn ich bin fest davon überzeugt, daß Sie keine Ahnung von dem hatten, was Ihnen droht. Das ist es aber eben, was mich Ihretwegen beunruhigt. Mir scheint, Sie sind ganz und gar im unklaren über die Stimmung der Arbeiterschaft Ihrer Gegend. Und das ist die beste Vorbedingung, Dummheiten zu machen. Haben Sie einen Unterpräfekten, der Ihnen ergeben ist?«
»Ich selbst habe ihm die Stelle verschafft.«
»Das verdankt er also Ihnen. Aber untersuchen wir einmal, von wem er sonst noch etwas zu hoffen hat.«
»Außer mir von niemand.«
»Dann wird er Sie unterstützen.«
»Ich brauche ihn aber gar nicht, denn ich behaupte, daß sich in Lehrange alles auf gütlichem Wege ordnen läßt.«
»Wenn aber fremde Elemente sich einmischen?«
»Die werde ich fernzuhalten wissen.«
»Und die Volksmasse, die hinter uns herkam?«
»Die wird hier nicht eindringen.«
»Hm! Wenn nun aber Ihre Arbeiter hinausgehen, um Brüderschaft mit ihr zu schließen?«
Didelod erblaßte, sein Blick wurde unsicher. Erregt, ohne zu antworten, ging er im Zimmer auf und ab. Dann drückte er, offenbar einem plötzlichen Entschlusse folgend, auf eine elektrische Klingel, worauf ein Bureaudiener erschien.
»Sagen Sie sämtlichen Direktoren, ich ließe sie bitten, sofort hierherzukommen.«
Und zu Bouillaud gewandt, der sich ruhig gesetzt hatte, fuhr er fort: »Ich werde die Herren, die in ununterbrochenem Verkehr mit den Arbeitern stehen, mal befragen. Von ihnen werden wir am besten erfahren, was überhaupt zu erfahren ist.«
»Das heißt sehr wenig. Machen Sie sich auf eine Überraschung gefaßt, denn sonst müßte die Sache recht schlecht vorbereitet sein. Wenn jedoch Stylb seine Hand mit im Spiel hat, dann wird es wohl manche Nuß für Sie zu knacken geben.«
»Stylb? Den werde ich vernichten. Bis an die Zähne bin ich gegen ihn gewappnet.«
»Hat er pekuniäre Verpflichtungen gegen Sie?«
»Ja, und andre.«
»Dankbarkeit ist nicht seine Sache; wenn Sie keine Empfangsbescheinigung haben . . .«
»Beruhigen Sie sich, die habe ich.«
Während diese Worte hastig ausgetauscht wurden, waren Didelods oberste Beamte eingetreten. Summarisch stellte der Abgeordnete sie Bouillaud vor und fragte dann kurz angebunden: »Ich habe alle Ursache, zu vermuten, daß eine Schar Ausständiger von Lehrange aus hierher zieht. Wie steht es mit der Stimmung unsrer Arbeiter?«
»Herr Didelod,« antwortete der technische Direktor, »die Werkstätten sind in voller Tätigkeit, auch ist keinerlei Anzeichen von Widersetzlichkeit gemeldet worden.«
»Sind mehr Lohnvorschüsse verlangt worden als sonst?«
»Nein, Herr Didelod,« antwortete der Kassenbeamte.
»Sind die Werkführer alle an ihren Plätzen?«
»Ja, alle.«
Mit beruhigter Miene wandte sich Didelod an Bouillaud und sagte: »Sehen Sie wohl?«
»Ich sehe allerdings, daß alles augenblicklich in bester Ordnung ist,« entgegnete Bouillaud. »Aber warten wir das Ende ab.«
»Meine Herren,« sagte der Abgeordnete von Lehrange zu seinen Direktoren, »Sie ahnen nicht, wie ernst die Lage ist. Halten Sie sich also alle bereit, nach eigener Initiative und mit der größten Energie zu handeln. Ich selbst werde die Fabrik nicht verlassen. Seitdem ich an der Spitze der Werke stehe, ist die Arbeit nicht einen einzigen Tag unterbrochen worden, und Streike sind hier etwas Unbekanntes. Ich rechne bei der Aufrechterhaltung dieser segensreichen Tradition auf Ihre Unterstützung.«
Die Beamten verbeugten sich und verließen das Zimmer. Befriedigt rieb Bouillaud sich die Hände.
»Didelod, Ihr kleiner ›Speech‹ war tadellos. Sie verstehen es meisterhaft, in maßvollem und zugleich vertraulichem Tone mit Ihren Leuten zu reden. Und dabei hat man doch den Chef herausgehört. Ihre Kinder hatten ganz recht, als sie die Vorzüge der Tradition rühmten. Denn der Ton, den Sie anschlugen, und Ihre ganze Haltung – so etwas läßt sich nicht aus dem Stegreif machen. Das muß geübt, ja fast anererbt sein.«
Die Telephonglocke unterbrach ihn. Didelod hob den Empfänger ans Ohr, aber zum Horchen blieb ihm keine Zeit, denn die Tür öffnete sich plötzlich, und der Portier Müller erschien mit der Meldung: »Herr Didelod, vor der Fabrik steht eine Schar Leute und verlangt, daß man die Tore öffne. Anderenfalls würde Gewalt angewandt werden.«
»Sind die Wächter auf ihren Posten?«
»Ja, Herr Didelod.«
»Könnt ihr Widerstand leisten?«
»Ich glaube.«
»Es ist gut. Ich werde mich selbst davon überzeugen. Mein lieber Bouillaud, Sie sehen, was hier im Werke ist. Von Nutzen können Sie mir keinenfalls sein, sich selbst aber werden Sie möglicherweise allerlei Unannehmlichkeiten aussetzen. Soll ich Sie nicht lieber in meinem Wagen nach Badonviller zurückbringen lassen?«
»Machen Sie nur keine Umstände mit mir, mein Lieber, sondern lassen Sie mich einfach aus Ihrer Fabrik hinaus, und zwar auf einem Wege, wo ich nicht mit den Demonstranten zusammenstoße. Bin ich erst einmal auf freiem Felde, dann weiß ich mir schon allein zu helfen. Ich werde Ihre Angehörigen von dem unterrichten, was hier vorgeht.«
»Gut. Müller wird Ihnen den Weg zeigen.«
»Seien Sie klug,« ermahnte Bouillaud. »Stoßen Sie die Leute nicht vor den Kopf, sondern greifen Sie sie an der richtigen Stelle an. Friedlichen Leuten gegenüber kann man alles wagen; hat man es aber mit einer vom Teufel besessenen Bande zu tun, dann muß man scheinbar auf ihre Ideen eingehen. Ein andres Mittel, sie zur Vernunft zu bringen, gibt es nicht. Das ist wenigstens meine Methode. Und dann, vergessen Sie ja nicht, daß bei der Politik schöne Worte zu gar nichts verpflichten. Auf Wiedersehen!«
Damit verließ er das Verwaltungsgebäude. Didelod war bereits im Hofe. Auf dem Platz vor dem Haupttor befanden sich dicht beisammen etwa fünf- bis sechshundert Arbeiter unter Tournemaries Führung, die aus vollem Halse brüllten: »Nieder mit dem Chef!« An jeder Tür standen kaltblütig zwei Männer in ihrer Wächteruniform, während der technische Direktor mit fünf oder sechs seiner Beamten, die alle ruhige, entschlossene Mienen zeigten, in der Mitte des Hofes auf und ab ging. Als der Abgeordnete von Lehrange erschien, drängte sich die Menge bis ans Gitter und einige junge Burschen schickten sich sogar schon an, hinaufzuklettern. Zugleich erhob sich ein wüstes Geschrei, das jedoch auf ein Zeichen Didelods sofort verstummte. Unerschrocken war dieser bis an den Haupteingang seiner Fabrik vorgegangen, und in der nun herrschenden Stille erklang laut seine Stimme: »Was wollt ihr hier? Meine Arbeiter zum Streik verführen? Versteht ihr das unter Arbeitsfreiheit? Wer führt euch an? Ich sehe Tournemarie an eurer Spitze. Gerade er weiß am besten, wie freundlich ich den Arbeiterforderungen gegenüberstehe. Was soll dann das Geschrei: ›Nieder mit dem Chef!‹ bedeuten? Gehört ihr denn zu meiner Fabrik? Was habe ich mit euch zu schaffen? Und was könnte ich euch wohl bewilligen, da ich euch nicht kenne und keinerlei Band euch mit mir verknüpft?«
»Sie haben Neumans geholfen, uns hinters Licht zu führen!« rief eine Stimme. »Sie sind eben auch ein Blutsauger und unterstützen Ihre Kollegen zum Nachteil der Arbeiter!«
»Nieder mit Didelod!« brüllten die Demonstranten, wie auf ein Signal. »Nieder mit dem Ausbeuter! Sprengt die Tore! Die Tore!«
Heftig drückte die Menge gegen das Haupttor, das denn auch zu weichen anfing. Allein im Nu waren die Wächter vorgestürzt und drängten die Angreifer zurück. Einer von ihnen packte einen Kerl, der sich auf einen der Steinpfeiler geschwungen hatte, an den Beinen, zog ihn herunter und versetzte ihm eine Ohrfeige, was allerdings sehr unklug war und von den Demonstranten sofort ausgebeutet wurde. Dem Geschrei des gezüchtigten Schlingels folgte ein Wutgebrüll, während zugleich ein Steinhagel auf die Angestellten niederprasselte und einen der Direktoren schwer verletzte, so daß ihm das Blut über die Stirne lief. Der Abgeordnete von Lehrange hatte sich zwar vorgenommen, ruhig zu bleiben, aber als er die Verwundung seines Direktors sah und das Triumphgeschrei der Menge hörte, riß ihm die Geduld.
»Rohe Bestien!« schrie er. »Wilde Tiere seid ihr! Zurück, oder ich brauche Gewalt! Mein Personal ist bewaffnet, wie ihr wißt. Trotzt mir nicht länger!«
Die Antwort auf diese Worte war ein neuer Steinhagel, dessen Luftzug Didelod an der Stirne fühlte und der die Fenster der Portierwohnung zertrümmerte. Durch ihre eigenen Gewalttaten zur Raserei gebracht, brüllte die Menge wie toll. Da kam ihnen vom Innern der Fabrik her eine unerwartete Unterstützung. Aus den Türen der Werkstätten strömten scharenweise die Arbeiter heraus mit dem Rufe: »Streik!« Im Nu waren Didelod und seine Beamten überwältigt und ins Verwaltungsgebäude zurückgedrängt, während durch die gesprengten Tore die Aufwiegler hereinstürzten und auf ihrem Wege alles kurz und klein schlugen. Mitten im Hof fing Stylb, der auf den Brunnenrand gestiegen war, zu reden an, umbraust vom Hurrageschrei seiner Gefährten, während aus den Fenstern der Kassenräume die Papiere wie Scharen weißer Vögel herausflatterten.
»Ah, die Schurken!« rief Didelod. »Sie zerreißen unsre Bücher!«
Zu gleicher Zeit fingen einige von den Allertollsten an, die Tür des Verwaltungsgebäudes, wohin sich der Abgeordnete von Lehrange und seine Beamten zurückgezogen hatten, mit heftigen Schlägen zu bearbeiten. In einem Lehnstuhl ausgestreckt, versuchte der halb ohnmächtige Direktor, dem Müller einen Notverband angelegt hatte, seine Gedanken wieder zu sammeln. Eine dicke Rauchsäule stieg aus dem Wirtschaftsgebäude auf, und schon schlugen auch die Flammen heraus.
»Sie haben das Wirtschaftsgebäude in Brand gesteckt! Feuer, bei mir!« rief Didelod bestürzt. »Ist es möglich?«
»Was tun, Herr Didelod?«
»Soll ich an den Präfekten um Hilfe telephonieren?«
»Ja, die Gendarmerie! Militär!« rief einer der Herren.
»Militär, bei mir?« wiederholte Didelod verzweifelt. »Aber ich kann doch meine Fabrik nicht niederbrennen und zu Grunde richten lassen! Nun also, telephonieren Sie. Mir fehlt der Mut dazu.«
»Es ist nicht notwendig, lieber Vater,« sagte eine feste Stimme. »Ich komme direkt von Lehrange. In einer Viertelstunde sind die Dragoner hier.«
»Moritz!« rief Didelod, den Sohn in seiner Herzensangst mit beiden Armen umschlingend. »Was willst denn du hier?«
»Wie? Was ich hier will?« antwortete der junge Mann herzhaft. »Mich an deiner Seite der Gefahr aussetzen, dich beschützen, wenn es notwendig ist!«
»Wie bist du denn aber hereingekommen?«
»Durch die Tür des Proviantamts, die diese Esel unbesetzt gelassen haben. Auf diesem Weg werden auch die Truppen zu uns gelangen. Ich habe ihnen einen berittenen Boten entgegengeschickt. Also Mut, meine Herren! Wir wollen diesen Hunden schon zeigen, wo sie her sind.«
»O, was für eine verzweifelte Lage!« jammerte Didelod. »Ich, ich soll zu Gewaltmaßregeln greifen, nachdem ich so häufig davon abgeraten, so sehr dagegen gewettert habe!«
»Wäre es dir lieber, wenn man die Fabrik in Flammen aufgehen ließe und uns mit? Nur keine Bedenken! Man muß sich wehren, wenn man angegriffen wird!«
Wütendes Geschrei brach jetzt im Hof los. Ein paar Rasende hatten einen der Wächter gepackt, ihm die Uniform vom Leibe gerissen, und ihn an den Armen festhaltend, stießen sie ihn nun dem brennenden Gebäude zu. Moritz, der an das vergitterte Fenster gestürzt war und hinausschaute, rief: »Wir können es unmöglich geschehen lassen, daß dieser Mann vor unsern Augen umgebracht wird. Kommen Sie, meine Herren! Frisch gewagt! Folgen Sie mir!«
»Wohin denn, Moritz?« rief Didelod außer sich.
»Du wirst es gleich sehen.«
Und schon schob er den Riegel der auf den Hof gehenden Tür zurück. Von sieben oder acht kräftigen, beherzten Männern begleitet, stürzte er auf die Gruppe zu, die den Wächter fortschleppte. Ein heftiger Zusammenstoß erfolgte, dumpfe Schläge, Schmähworte. Mehrere der Aufwiegler fielen zu Boden, dann traten die Angreifer, den befreiten Wächter in ihrer Mitte, den Rückzug an. Die Tür schloß sich wieder, und voll edler Begeisterung sagte Moritz zu seinen Begleitern: »Das haben Sie gut gemacht, meine Herren! Sind wir alle hier? Ja. Gut, so wollen wir in Bereitschaft bleiben.«
Mit todesblassem Gesicht war Didelod in einen Lehnstuhl gesunken. Im Hofe wurde der Tumult immer größer, und die Tür zum Verwaltungsgebäude erzitterte unter heftigen Schlägen. Plötzlich verstummte der Lärm, ein kurzes Trompetensignal ertönte, und in flottem Trabe kamen die Dragoner aus all den zwischen den Werkstätten hinführenden Gassen heraus. Die Aufwiegler, die ohne weiteres das Hasenpanier ergriffen, waren zu dem Gittertore hinausgedrängt worden, und eine Kavallerielinie versperrte jetzt den Eingang zur Fabrik.
»Komm, Papa, jetzt sind wir gerettet.«
»Was werden die Soldaten nun tun?« stammelte Didelod. »Doch nicht mit der blanken Waffe angreifen?«
»Überlaß es ihnen doch, auf welche Art sie dich beschützen wollen.«
»Ich will aber keinen Schutz. Es wird Ströme Blutes kosten!«
Moritz nahm seinen Vater am Arm, zog ihn ans Fenster, und auf das rauchende Gebäude zeigend, sagte er mit fester Stimme: »Du mußt dich entscheiden. Entweder stellst du dich zu denen, die das Feuer anzünden, oder zu denen, die es löschen. Die Zeiten der leeren Phrasen sind vorüber: wir stehen vor ernsten Entscheidungen, und es ist Pflicht, mutig seine Meinung zu vertreten. Durchbrich doch die Reihen dieser Soldaten, die dich beschützen, und geh den Aufrührern, die dich angreifen, entgegen. Erstens einmal wirst du dann schon sehen, wie sie dich empfangen, und zweitens müßtest du vorher mich fallen sehen, ehe du dich mit ihnen versöhnst . . .«
»Dich, Moritz?«
»Ja, mich. Denn auf der Schwelle des Didelodschen Anwesens sollen die Plünderer wenigstens einen Didelod finden, der das Familieneigentum beschützt.«
»O, Moritz!«
»Ich bitte dich, lieber Vater, all diese Leute da, deren Leben du so gerne geschont haben möchtest, sind Räuber, die das deinige nicht schonen würden.«
Die Ankunft des Polizeikommissärs und des Eskadronchefs, der die Abteilung kommandierte, schnitt den Wortwechsel ab.
»Herr Bürgermeister,« sagte der Polizeikommissär, »der Hof ist frei und das Feuer gelöscht. Die Fabrikfeuerwehr hat es bewältigt. Ihre Arbeiter aber haben sich soeben den Demonstranten angeschlossen. Es handelt sich jetzt darum, die Zugänge zum Anwesen freizumachen . . .«
»Das ist meine Sache,« warf der Eskadronchef ein.
»Sie werden die armen Leute doch nicht zusammenhauen lassen!« schrie Didelod entsetzt auf.
»Wir werfen sie einfach zurück Ich kann mich auf meine Leute verlassen. Nicht ein Säbel wird aus der Scheide gezogen ohne meinen Befehl.«
»Nun dann also meinetwegen. Sie aber, Herr Kommissär, bitte ich, ja keine Drohungen, die die Menge nur noch mehr erbittern würden. Versöhnliche, beruhigende Worte . . .«
»Gewiß, Herr Bürgermeister, seien Sie unbesorgt; es soll alles mit Güte gemacht werden, da Sie es so wollen . . . selbst auf die Gefahr hin, meine Haut zu Markte zu tragen.«
Hinter dem Kommissär ging Didelod mit seinem Sohne hinaus. Die Pferdeleiber versperrten der ganzen Breite nach den Platz vor der Fabrik. Die Trompeter waren rechts und links vom Gittertor postiert, und Leutnant Maubrun, dessen Pferd zugleich mit dem des Rittmeisters von seinem Burschen Chauvin gehalten wurde, ging zu Fuß auf und ab. Er winkte Moritz freundlich zu, und seinem Vorgesetzten entgegengehend, meldete er: »Herr Rittmeister, die Sache scheint schlimm zu werden. Ein Steinhagel ist gegen die Leute geschleudert worden, und drei Mann haben Verletzungen davongetragen. Vielleicht wäre es gut, wenn der Herr Rittmeister etwas Luft schaffen ließen.«
»Das wollte ich eben befehlen, Maubrun. Nehmen Sie fünfundzwanzig Mann und treiben Sie die Bande im Schritt Lehrange zu. Der Kommissär ist vielleicht so freundlich, Sie mit einem Trompeter zu begleiten, für den Fall, daß Strenge erforderlich werden sollte. Aber vermeiden Sie das, wenn irgend möglich. Sie kennen ja die Vorschriften: Streiche hinnehmen, sie aber nicht erwidern.«
»Recht nett!« murmelte der Leutnant zwischen den Zähnen.
»So lautet die Instruktion.«
»Sie wird befolgt werden.«
Der Leutnant schwang sich in den Sattel, ritt in Begleitung eines Trompeters und des Kommissärs vor die Front der Truppe, gab einen Befehl, und sich an die Spitze der Abteilung setzend, ritt er allein vor seinen Dragonern der Menge entgegen. Eine Bewegung machte sich unter den Demonstranten bemerklich, die fast wie ein Rückzug aussah. Die Leute hatten sich indes nur hinter dem Straßengraben zusammengedrängt, wo sie ein wüstes, feindseliges Geschrei erhoben. Und da ihnen aufgestapeltes Schottermaterial einen reichen Vorrat an Wurfgeschossen bot, so sandten sie der heranrückenden Kolonne einen Steinhagel entgegen. Maubruns Pferd, das mitten auf die Stirne getroffen worden war, machte, nach hinten ausschlagend, einen heftigen Seitensprung, und nachdem der Leutnant es beruhigt hatte, sah er, daß er ganz in die Nähe der Menge geraten war. Plötzlich ertönte mitten aus dem Getöse von Drohungen und Schmähworten ein kurzer Knall. Kaum daß ein dünnes Rauchwölkchen in die Luft stieg. Maubrun aber fuhr mit der Hand an seine Seite und schwankte im Sattel. Als das Pferd die Zügel nicht mehr fühlte, machte es kehrt und lief im Galopp zur Abteilung zurück, drängte sich hindurch, und nachdem es in tollem Jagen den Hof durchquert hatte, blieb es neben dem Pferde des Rittmeisters stehen, das Chauvin noch immer am Zügel hielt.
»Herr Leutnant!« rief der brave Bursche erschrocken, als er sah, wie sich Maubrun im Sattel zur Seite neigte. Er hatte gerade noch Zeit, das Pferd loszulassen und den Offizier in seinen Armen aufzufangen.
»Nun? Was ist denn los?« rief der Eskadronchef, der mit Didelod herbeigeeilt kam.
Maubrun lächelte, versuchte, sich vor seinem Vorgesetzten aufzurichten, und sagte: »Das nennt man Streiche hinnehmen, ohne sie zurückzugeben. Die Instruktion ist befolgt worden.«
Blutiger Schaum trat ihm auf die Lippen, er schluckte noch einmal auf und verlor die Besinnung.
»Rasch, holt Hilfe herbei!« rief Moritz. »Der Fabrikarzt soll sofort kommen.«
Man trug den jungen Mann nach dem Verwaltungsgebäude.
»Zum Teufel!« fluchte der Rittmeister. »Da sieht man wieder, wohin die Milde führt! Durch einen schneidigen Angriff gleich zu Anfang wäre diese Räuberbande im Nu auseinandergesprengt worden, und durch einige Hiebe mit der flachen Klinge hätte man sie ohne Gefahr nach Lehrange zurückspediert, während ich sie jetzt vielleicht zusammenhauen lassen muß, um meinen Leuten freie Bahn zu machen. Chauvin, alle Wetter, fragen Sie doch rasch mal, wie es dem Herrn Leutnant geht, und benachrichtigen Sie mich sofort.«
»Es hat keinen Wert, den Burschen fortzuschicken, Herr Rittmeister,« sagte einer der Direktoren, der eilig zurückgelaufen kam. »Leutnant Maubrun ist tot.«
»Tot?«
»Er hat eine Revolverkugel ins Herz bekommen.«
Höchste Bestürzung herrschte einen Augenblick. Der Rittmeister war todesblaß geworden. Moritz liefen die Tränen über die Wangen.
»Der arme Maubrun!« rief er. »Solch ein prächtiger Mensch! . . . Und unsretwegen! O, diese elenden Mörder! Herr Rittmeister, werden Sie ihn denn nicht rächen?«
»Nein,« antwortete der Offizier mit großer Bitterkeit. »Der Aufrührer ist ja eine geheiligte Person, man hat kein Recht, an ihn zu rühren! Mit uns Soldaten freilich ist es etwas andres, mit uns werden nicht viel Umstände gemacht. Und doch werde ich mir meine Reiter nicht nutzlos massakrieren lassen.«
Lebhaft schwang er sich in den Sattel, und sich in kurzem Galopp an die Spitze der Abteilung setzend, auf die fortwährend Steine niederhagelten, gab er einen Befehl, worauf die Dragoner einen heftigen Angriff machten, der die Aufrührer auseinandertrieb. Dann sammelten sie sich und rückten in den Hof der Fabrik ab, deren Gittertor sich sofort hinter ihnen schloß. Es schien, als habe dieser Rückzug die Ausständigen befriedigt, denn sie formierten sich in Kolonne und schlugen, dem Didelodschen Anwesen den Rücken kehrend, die Richtung nach Badonviller ein. Unempfindlich für das, was sich um ihn her ereignete, ging der Abgeordnete von Lehrange am Arm seines Sohnes vor dem Verwaltungsgebäude auf und ab. Der Tod des Leutnants Maubrun hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Dieser junge Mann, den Didelod vor einer kleinen Weile mit dem Versprechen hatte fortgehen sehen, sich zu keiner Gewalttat hinreißen zu lassen, und der nun von heimtückischer Hand gefallen war, bildete in seinen Augen die Verkörperung der selbstverleugnendsten Pflichterfüllung. Angesichts dieses Leichnams konnte er unmöglich gegen die militärische Brutalität eifern. Das Blut, das vergossen worden war, um sein durch die Revolutionäre bedrohtes Eigentum zu schützen, war das eines jener Männer, die er aus tiefster Seele zu verachten pflegte. Aber die Rollen waren soeben kläglich vertauscht worden. Die Männer des Volkes waren die Brandstifter und Mörder, die Soldateska dagegen hatte sich als duldsam und heroisch erwiesen. Und für ihn, für Didelod und vor seinen Augen waren diese Greueltaten geschehen. Der Kopf schwirrte ihm. Was würden die Parteiblätter dazu sagen? Mit was für Spottreden würden sie den sozialistischen Industriellen überschütten, der das Militär hatte zu Hilfe rufen müssen, um die Forderungen der Arbeiterschaft zurückzuweisen? Und was für ein gefundenes Fressen für die reaktionären Blätter, wenn der Telegraph den Bericht über die Ereignisse in Lehrange nach Paris bringen wird! Ei, der Bürger Didelod würde von der Presse schön durchgehechelt werden!
Aber wie? Hätte er denn anders handeln können? Konnte man von ihm verlangen, er solle aus Liebe zum Volke und um dessen Laune zu befriedigen, seine Fabrik ausrauben und niederbrennen lassen? Denn allem nach hatte der von Stylb angeführte Mob die Absicht gehabt, das Etablissement zu zerstören. Kaum waren die Kerle eingedrungen, so schlugen ja schon die Flammen aus einem der Gebäude. Die Kasse hätten sie erbrochen, wenn die Dragoner nicht gekommen wären . . . Aber eben von diesem Moment an nahm die Sache eine schlimme Wendung. Bis zum Eingriff des Militärs hatte Didelod sich vorzüglich benommen. Mit Festigkeit war er dem Volksauflauf entgegengetreten, in beredten Worten hatte er die Rasenden zurückzuhalten versucht und seine Rolle als Demokrat tadellos durchgeführt. Diese Leute, die da schreiend und mit wilden Gebärden in Massen herbeigeströmt waren, wußten ja nicht, was sie taten, und mußten mit Nachsicht behandelt werden. Er aber hatte sie von der Kavallerie angreifen lassen, Steine waren durch die Luft geflogen, Schüsse gefallen, Verwundete und sogar einen Toten hatte es gegeben. Das war ein unauslöschlicher Schandfleck auf seiner politischen Ehre! Und vor allem eine ernste, eine sehr ernste Schwächung seiner Wahlposition. Er durchschaute den Plan seiner Feinde: bei der Bevölkerung, die ihn bis jetzt als ihren Wohltäter angesehen hatte, wollte man ihn verdächtigen. Ah, dieser Stylb! Dieser Tournemarie! Sie sollten es büßen!
So weit war er mit seinen traurigen Betrachtungen gekommen, als der stellvertretende Direktor auf ihn zukam: »Herr Didelod, die Arbeit in den Werkstätten ist vollständig eingestellt. Ich glaube, es wäre angezeigt, die Glocke zu läuten und die Arbeiter, die noch da sind, hinauszuweisen. Es ist ihnen nichts Gutes zuzutrauen.«
Bei diesen vernünftigen Worten fuhr Didelod zornig auf. All seine Langmut, all seine Bedenken schienen im Handumdrehen verschwunden. Er richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf, und seinen Direktor mit flammenden Blicken ansehend, sagte er: »Rufen Sie sofort die Werkführer zusammen und erklären Sie ihnen, daß ich hier keinen Streik dulde. Noch niemals ist hier einer gewesen, weder unter der Leitung meines Vaters, noch unter der meinigen. Und auch jetzt wird es keinen hier geben. Andernfalls schließe ich die Fabrik, und dann wird sie, was auch geschehen, was man auch tun oder versprechen mag, geschlossen bleiben.«
»Wie, Herr Didelod, die Aussperrung?« rief der Direktor entsetzt.
»Ja, die Aussperrung! Ich lasse mir hier von Leuten, die einer Laune oder, was weiß ich, was für einer Losung folgen, keine Gesetze vorschreiben. Es handelt sich ja gar nicht um wirtschaftliche Fragen. Unsre Arbeiter haben weder eine Lohnerhöhung, noch eine Abänderung der Arbeitsbestimmungen verlangt. Aus politischen Gründen solidarisieren sie sich mit den Ausständigen, deren Interessen, Bedürfnisse und Arbeiten in keinerlei Zusammenhang mit den ihrigen stehen. Es handelt sich somit um eine systematische Feindseligkeit gegen einen Chef, der ihnen stets nur Gutes erwiesen hat, und an dem sie noch gestern absolut nichts auszusetzen gehabt haben. Von solchen Manövern werde ich mich nicht einschüchtern lassen. Die Arbeit niederlegen? Warum denn? Sie sollen doch ihre Forderungen stellen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich, wenn sich die Fabrik morgen früh nicht in voller Tätigkeit befindet, meine sämtlichen Bestellungen den Steingelschen Werken übertragen und die Bude hier schließen werde. Sie können den Leuten das ankündigen.«
»Ach, Herr Didelod,« bat der Direktor ängstlich, »lassen Sie sich von Ihrer gerechten Entrüstung nicht hinreißen. Lassen Sie sich Zeit zur Überlegung.«
»Haben diese Tollhäusler denn mir Zeit zur Überlegung gelassen?« entgegnete Didelod, sich beim Klang seiner eigenen Stimme immer mehr erhitzend. »Haben Sie mir ihre Absicht angekündigt? Sie überfallen mich, weil sie wissen, daß wir mit Arbeit überhäuft sind, und weil sie sich einbilden, sie könnten mich dadurch in eine verhängnisvolle Lage bringen. Nun aber sollen sie zu ihrem eigenen Schaden erfahren, daß man einen Mann wie mich nicht als Spielball benützt. Gewalt wollen sie anwenden? Gut. Ich werde mit einer Gewalttat antworten – und wenn es mein Ruin wäre, hören Sie wohl, Herr Direktor. Die Bande soll erfahren, wie teuer ihr die Undankbarkeit und Ungerechtigkeit zu stehen kommen.«