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Nachdem Bouillaud die Fabrik durch die Tür des Expeditionsgebäudes verlassen hatte, befand er sich auf der Eisenbahnlinie, die das Etablissement Didelod mit dem Bahnhof von Lehrange verbindet. Er hatte sich rasch orientiert und schlug nun die Richtung nach Badonviller ein, um die Familie des Abgeordneten von den Vorfällen zu benachrichtigen und auf Mittel zu sinnen, wie die Ordnung am besten wiederhergestellt werden könnte. Er brauchte eine volle Stunde, um den Weg zurückzulegen, und als er das Schloß endlich erreicht hatte, war Moritz gerade im Begriff, auszureiten. Daß Bouillaud allein und zu Fuß ankam, erfüllte Moritz sofort mit lebhafter Besorgnis.
»Warum kommen Sie ohne meinen Vater zurück?« fragte er. »Sie haben doch hoffentlich keinen Unfall mit dem Wagen gehabt?«
»Nein, nein; Ihr Vater ist in der Fabrik, wo ziemlich ernste Unruhen ausgebrochen sind, und ich bin hierhergekommen, um Ihrer Frau Mutter und Ihnen selbst dies mitzuteilen.«
»Was ist denn geschehen?«
»Eine Schar Arbeiter war, von der Stadt kommend, vor die Fabrik gezogen, und als ich fortging, drohten sie gerade, das Tor zu sprengen; sie schlugen die Fenster ein und waren drauf und dran, über das Personal herzufallen.«
»Wie! Gewalttätigkeiten?«
»Ja; ich halte die Sache für recht ernst. Stylb, der die Bewegung leitet, will Ihren Vater jedenfalls zu irgend einer Gewaltmaßregel zwingen.«
»Dazu wird mein Vater sich niemals entschließen. Ich kenne seine Ansichten und Grundsätze.«
»Dann befürchte ich die schlimmsten Ausschreitungen.«
»Aber was soll man denn tun?«
»Die Gendarmerie benachrichtigen.«
»Eine Abteilung von acht Mann. Was kann die ausrichten? Man wird sie sofort niederhauen.«
»Wahrscheinlich. Dann benachrichtigen Sie doch den Unterpräfekten, damit dieser Maßnahmen ergreift.«
»Aber was für welche?«
»Das ist seine Sache. Dazu ist er doch da.«
»Sie meinen, man solle ihm telephonieren?«
»Nein, ihm durch einen Boten einen Zettel schicken. Eine geschriebene Botschaft – dann kann er wenigstens nicht behaupten, sie sei ihm nicht ausgerichtet worden.«
»Warum sollte er das behaupten wollen?«
»Nun, wenn die Kundgebung gelänge! Man kann ja nie wissen . . .«
»Ich werde also schreiben und dann zu meinem Vater eilen.«
»Gehen Sie durch die Tür hinein, die zur Eisenbahn führt. Auf diesem Weg bin ich entwischt.«
»Gut. Erschrecken Sie meine Mutter nicht zu sehr; aber erfahren soll sie schon davon.«
»Gewiß, Sie junger Held! Aber seien Sie vorsichtig.«
Moritz lief bereits nach der Geschirrkammer, um dort den Zettel zu schreiben. Bouillaud stieg inzwischen die Stufen zur Terrasse hinauf, und als er sah, daß die Glastür zum Salon offen stand, ging er hinein. Frau Didelod war mit einer Stickerei beschäftigt, während Laurence, über einen kleinen Schreibtisch gebeugt, Briefe schrieb. Bei seinem Eintritt sahen die beiden Damen auf, und ihre Gesichter drückten die lebhafteste Überraschung aus.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Damen,« sagte der Politiker. »Ich habe nämlich den geplanten Rundgang durch die Werke mit Herrn Didelod nicht machen können. Ein unvorhergesehener Zwischenfall hat es verhindert.«
»Es wird doch kein Unglück geschehen sein?« rief Frau Didelod. »Die Arbeiter sind immer so unvorsichtig, und die Maschinen, mit denen sie umgehen, haben eine fürchterliche Gewalt.«
»Nein, gnädige Frau, ein Unglück ist nicht geschehen. Wenigstens nicht, solange ich dort war.«
»Und wo haben Sie denn meinen Mann gelassen?«
»In seinem Bureau.«
»Hat er denn selbst Sie fortgeschickt?«
»Ja, gnädige Frau, aus übergroßem Zartgefühl, das mich übrigens bei ihm nicht überrascht. Er wollte nämlich nicht, daß ich in einen Krawall verwickelt würde, der vor der Fabrik entstanden war. Denn wissen Sie, wenn ich, selbst gegen meinen Willen, bei einer stürmischen Kundgebung zugegen gewesen wäre, so hätte die Sache sofort eine Tragweite angenommen, die sie durchaus nicht bekommen soll. Deshalb hat Herr Didelod mich gebeten, fortzugehen.«
»Und er, er ist geblieben?«
»Umgeben von seinen Beamten, die ihm treu ergeben sind. Er ist, Sie dürfen mir's glauben, keiner Gefahr ausgesetzt.«
»Aber,« bemerkte Laurence, die Bouillauds Erklärungen mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war, »es sollte doch vielleicht nach der Polizei geschickt werden.«
Der Abgeordnete warf einen durchdringenden Blick auf Fräulein Didelod. Ein ehrerbietiges Neigen des Kopfes drückte seine Bewunderung für die Geistesgegenwart und Energie des jungen Mädchens aus, und lachend sagte er: »Es ist alles bereits geschehen, gnädiges Fräulein. Ein reitender Bote ist an den Unterpräfekten abgeschickt worden, und Ihr Bruder hat sich zu Ihrem Herrn Vater begeben. Nach menschlicher Berechnung ist also alles im besten Gange. Allein bei einem Volksauflauf muß man immer mit unvorhergesehenen Zwischenfällen rechnen. Das Volk ist wie die Kinder: einfältig und unberechenbar. Mit einem glücklich gewählten Wort kann man sie beruhigen, mit einem ungeschickten ihre Wut entfesseln.«
Besorgt schüttelte Laurence den Kopf.
»Was mag da unten jetzt alles vor sich gehen, während Sie uns hier mit schönen Worten hinhalten? Ich will doch lieber rasch ans Bureau telephonieren.«
»Ich fürchte, Sie werden kaum etwas Bestimmtes erfahren können. Und wenn Ihr Herr Vater gerade mit den Aufwieglern verhandelt, kann er Ihnen nicht einmal antworten.«
»Dann ist ja noch mein Bruder da.«
Damit ging Laurence in Didelods Arbeitszimmer und läutete an. Aber der Apparat blieb stumm, so daß sie nach einer Weile betrübt, wie unter dem Druck eines Unglücks, zurückkam.
»Es ist leicht möglich, daß die Leitung von den Demonstranten zerstört worden ist,« sagte Bouillaud.
»Zu welchem Zweck?«
»Um die Verbindung der Fabrik nach außen abzuschneiden und eine Unterdrückung des Aufruhrs zu verhindern.«
»Sie geben also zu, daß die Leute schlimme Absichten haben?«
»Ich kann nichts zugeben, was ich selbst nicht weiß. Wir können nur Vermutungen aufstellen. Aber es ist klar, daß wenn sich fünf- bis sechshundert Männer zu einer Kundgebung zusammenrotten, sie auch alle Vorsichtsmaßregeln treffen, nicht dabei gestört zu werden.«
»Und das,« rief Frau Didelod voll Bitterkeit, »nennt Ihre Partei Freiheit!«
»Gnädige Frau, Ausschreitungen gibt es immer. Die Fabrikherren treiben mit ihrer Autorität Mißbrauch, die Arbeiter mit ihrer Überzahl. Die einen wie die andern sind Menschen – kurzsichtige Menschen.« Und sich plötzlich hoch aufrichtend, fuhr Bouillaud mit wachsender Lebhaftigkeit fort: »Die große Menge will immer nur das, was man ihr suggeriert. Sie läßt sich von dem führen, den sie als ihr Oberhaupt anerkennt. Und für solche, die gewohnt sind, die Volksmassen zu lenken, hat es etwas Berückendes, zu fühlen, wie die Ansichten, die Empfindungen, der Wille der Menge sich je nach den vorgebrachten Gründen ändert. Solch eine Versammlung ist dann wie ein Meer, das erbebt, zurückweicht, anschwillt, aufbraust, heult, je nachdem die Brise leicht, stark oder heftig ist. Wenn man in seiner Hand die Seelen so vieler Menschen hält, die gespannt an unsern Lippen hängen, dann begreift man, wie wenig es bedarf, den Sturm menschlicher Leidenschaft aufzuwühlen oder zu beruhigen. Das ist einer der höchsten Genüsse, die es gibt, denn man wird sich dabei in vollstem Maße seiner geistigen Überlegenheit bewußt.«
»Aber was für eine Verantwortung nimmt ein Mann auf sich, der nach Belieben mit den Entschlüssen einer Menge, die zu den schlimmsten Ausschreitungen fähig ist, schaltet und waltet! Denn Sie mögen sagen, was Sie wollen, es ist eben doch leichter, die Bestie im Menschen zu entfesseln, als sie zum Gehorsam zu zwingen, und wie viele von denen, die das Handwerk eines Volksbezwingers betrieben haben, sind nach glänzenden Triumphen als Opfer gefallen!«
Als habe Frau Didelod mit diesen Worten das revolutionäre Ungeheuer heraufbeschworen, drang plötzlich aus der Ferne ein verworrenes Geschrei bis in den Salon, so daß die beiden Damen erschrocken zusammenfuhren.
»Was hat denn das zu bedeuten?« rief Bouillaud.
Er trat auf die Terrasse hinaus und gewahrte nun auf der die Ebene von Lehrange durchziehenden Straße einen schwarzen Menschenstrom, der sich dem Schloß zuwälzte. Die Leute sangen und johlten, und aus der dichtgedrängten Schar sah man erhobene Arme und wütend geschwungene Stöcke herausragen. Das waren keine friedlich dahinziehenden Leute, sondern ein Haufe wutentbrannter Angreifer. Sie drangen in den Park ein, der gegen den Wald zu offen war, und breiteten sich über die von Bäumen umrahmten grünen Rasenplätze aus, die zu den Blumenparterres führten. Unter rasendem Gebrüll, das man jetzt deutlich vernehmen konnte, und in das sich Drohungen und Schmährufe mischten, brachen sie in den Garten ein, überfluteten gleich einer schlammigen Masse die Blumenbeete und stürmten unter lautem Gejohle auf die Terrasse los. Man sah nur noch wutverzerrte Gesichter, während ein anhaltendes, haßerfülltes Geschrei zu dem in imposanter Ruhe daliegenden mächtigen Schlosse aufstieg. So rasch und unverhofft war dieser Überfall gekommen, daß die beiden Damen und Bouillaud kaum Zeit gefunden hatten, ein paar Worte auszutauschen. Schon stiegen die frechsten Demonstranten die Stufen der Freitreppe hinauf, da schien der sozialistische Abgeordnete plötzlich einen Entschluß gefaßt zu haben, und sich an Frau Didelod und Laurence wendend, sagte er mit Entschiedenheit: »Zeigen Sie sich unter gar keinen Umständen, meine Damen, sondern lassen Sie mich ganz allein handeln.«
Rasch war er auf die Terrasse hinausgetreten und ging nun den Angreifern, kalt, ruhig, mit ernstem, fast strengem Gesicht entgegen. Bei seinem Anblick wichen selbst die Verwegensten zurück, ein dumpfes Gemurmel erhob sich, man hörte seinen Namen nennen, und im Nu drang der wiederholte Ruf: »Es ist Pierre Bouillaud, der sozialistische Abgeordnete!« bis in die letzten Reihen der Revolutionäre. Dieser war an die obersten Stufen der Freitreppe, die gewissermaßen eine Rednerbühne bildete, vorgegangen. Sich an die Balustrade der Terrasse anlehnend, hatte er diesen ersten Vorteil sofort benützt und mit einer Handbewegung Ruhe geboten. Dann begann er mit seiner wohlklingenden Stimme, die einen gewaltigen Zauber auf seine Zuhörer auszuüben pflegte, zu sprechen.
Im Salon am offenen Fenster, wo sie zwar nicht gesehen werden konnten, aber doch kein Wort verloren, saßen Mutter und Tochter und waren nun Zeuge jener gewaltigen Beherrschung der Massen, deren sich Bouillaud wenige Augenblicke zuvor mit hohem Selbstgefühl gerühmt hatte. Nun sollte das, was er den beiden vorhin auseinandergesetzt hatte, in die Erscheinung treten; nun sollten sie erleben, wie dieser gewiegte Redner seine Zuhörer fortriß. Mit einer Kunst, die seinen Wunsch, vor Frau Didelod und Laurence mit einem Siege zu glänzen, wohl verriet, meißelte er seine Satzperioden förmlich heraus, und zwar mit einer Feinheit, wie nie zuvor. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, dieses Volksungeheuer, das brüllend und wutentbrannt herangekommen war, zu bezwingen. Nachdem er die Leute zuerst mit Schmeichelworten bezaubert hatte, gab er ihnen unbarmherzig die bittersten Wahrheiten zu hören, um sie seine Macht desto besser fühlen zu lassen.
»Bürger! Was soll das heißen, mit Drohungen in einen Privatsitz einzudringen, da ihr überdies auch noch wußtet, hier nur Frauen und harmlose Dienstboten anzutreffen? Ist das eine anständige Art, eure Rechte zu verfechten? Wollt ihr, daß man euch nachsagt, ihr hättet unter dem Vorwand, die Arbeitsfreiheit zu fordern, Schwachen Gewalt angetan und den Eintritt in einen Wohnsitz erzwungen, der sich allen Bedrängten stets gastlich geöffnet hat? Seitdem ich zum Manne herangewachsen bin, lebe ich nur für die Sache der Demokratie; soll ich nun bei meinem ersten Zusammentreffen mit den tapferen Streitern in unsern östlichen Provinzen den Kummer erfahren, sie an ihre Pflicht erinnern und sie auf den Weg der Gesetzmäßigkeit zurückführen zu müssen? Mit Gewalt allein ist es nicht getan, merkt das wohl, und wenn man sie an falscher Stelle anwendet, kann man eine Partei rasch in Mißkredit bringen. Was wollt ihr den Reaktionären, die ihr mit Recht wegen ihres Mißbrauchs der persönlichen Macht bekämpft, antworten, wenn sie euch sagen, eine Kollektivtyrannei sei noch viel verdammungswürdiger, als wenn ein Einzelner ein Volk bedrücke. In diesem Falle liege im Grunde noch eher eine gewisse Größe, als wenn ein ganzes Volk sich gegen ein einzelnes Individuum zusammenrotte. Was aber tut ihr in diesem Augenblick? Prüft eure Handlungen, fragt eure Gewissen. Ihr überfallt ein offenes Haus, wo ihr, wie ihr wißt, nur schutzlose Frauen vorfindet. Ist das der edlen Männer, die mir hier zuhören, würdig? In welcher Absicht seid ihr überhaupt hierher gekommen?«
Mit gesenktem Haupt ging Bouillaud jetzt auf der Freitreppe hin und her, während ein anhaltendes Beifallsgemurmel sich unter der Menge erhob. Er war Herr über seine Zuhörer; mit dem goldenen Faden seiner Beredtsamkeit hatte er sie gefesselt, und er fühlte, wie sie darauf brannten, mehr von ihm zu hören. Nun stieg er einige Stufen hinunter ihnen entgegen. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf; er lächelte, und einen familiären Ton anschlagend, fuhr er fort: »Ich bin nicht hierhergekommen, um über Politik zu reden, sondern als einfacher Vergnügungsreisender, der sich in eurer schönen Gegend von den Anstrengungen des täglichen Kampfes um den Sieg des Proletariats ausruhen möchte. Wenn nun morgen in den Zeitungen des Departements steht, ich hätte im Verlauf einer Kundgebung von Ausständigen das Wort ergriffen, was ja auch wahr ist, da ich in diesem Augenblick zu euch rede, wißt ihr, was unsre Freunde dann sagen werden? ›Bouillaud ist nach dem Bezirk Meurthe-et-Moselle gereist, um Zwietracht zu säen. In der Nähe der deutschen Grenze hat er Empörung gepredigt, um die französische Industrie zu schädigen.‹ Und wie könnte ich das wohl als eine infame Verleumdung zurückweisen, wenn ihr euch zu Gewalttaten gegen einen Privatbesitz hinreißen laßt und wenn man glaubt, ich, der Gast und Freund Didelods, hätte euch zum Angriff gegen sein eigenes Haus geführt? Habt ihr also eine gewisse Wertschätzung für mich und habe ich mir durch meine früheren Dienste eure Sympathie erworben, so zieht euch jetzt ruhig zurück, gebt dieses Beispiel der Selbstbeherrschung. Die Freiheit kann nur dann rein und unverletzt bleiben, wenn wir alle unsre Ehre dareinsetzen, gegenseitig eine weitgehende Toleranz zu üben. Die zur Macht gelangte Demokratie muß sich durch Edelmut und Lauterkeit auszeichnen. Sie hat bisher so viele materielle Opfer für den sozialen Fortschritt gebracht, daß es ihr leicht werden muß, sich durch Milde und Brüderlichkeit nun auch zur moralischen Höhe emporzuschwingen.«
Wie harmonischer Gesang klang diese Rede durch die tiefe Stille. Der Sinn der Worte ging für die Zuhörer unter im Entzücken über die melodische Stimme; ihr allein war die gewaltige Wirkung zuzuschreiben. Und hingerissen, ohne weitere Überlegung und unfähig, aus dem komplizierten Satzgefüge die Gemeinplätze herauszuhören, folgten die Demonstranten dem betörenden Wortgeklingel des blendenden Redners. Er stand jetzt mitten unter der Menge, und die sich ihm entgegenstreckenden Hände drückend, sagte er: »Ich möchte gerne mit euch über unsre sozialen Angelegenheiten reden, aber nicht hier. Wenn es euch recht ist, komme ich heute abend nach Lehrange. Dort werden wir von allem Zwang frei sein und haben auch keine böswilligen Mißdeutungen zu befürchten. Ist euch das recht? Mit Vergnügen würde ich euch zu Diensten sein.«
»Ja! Ja!« riefen die Demonstranten. »Es lebe Bouillaud! Also, heute abend!«
»Gut. Zieht euch jetzt zurück und erwartet mich in aller Ruhe beim Eingang in die Stadt.«
»Wir werden dort sein. Es lebe Bouillaud!«
Gefügig, ohne Zaudern und ohne weitere Erörterungen zog diese Schar ab, die unter wildem Rachegeschrei gekommen war. Ruhig und zufriedengestellt, schlug sie die Richtung nach dem Walde ein. Bouillaud sah ihnen einen Augenblick mit spöttischem Lächeln nach, dann stieg er langsam die Stufen zur Freitreppe hinauf und trat in den Salon, wo die beiden Damen ihn erwarteten. Ein Blick genügte, um ihnen die Empfindungen, die sie bewegten, von den Gesichtern zu lesen. Die Präzision, mit der auf die Theorie die Praxis gefolgt war, hatte die beiden in Staunen und Bewunderung versetzt. War es doch unmöglich, ein Programm, wie Bouillaud es soeben vor ihnen entwickelt hatte, vollendeter zu verwirklichen. Das, was er ihnen vorhin über seine Art, den Pöbel zu beherrschen, auseinandergesetzt hatte, das hatte er Punkt für Punkt mit einer wahrhaft staunenswerten Leichtigkeit ausgeführt.
»Was für eine gewaltige Überredungsgabe Sie haben!« sagte Frau Didelod. Dabei dachte sie gar nicht daran, ihm für den soeben erwiesenen Dienst zu danken, so selbstverständlich erschien es ihr jetzt, daß er ihn erwiesen hatte.
Und lächelnd fügte Laurence hinzu: »Das erklärt die Sage von Orpheus, der die wilden Tiere zu bannen wußte.«
»Mit der Wildheit ist es aber, wie Sie sehen, gar nicht so schlimm,« entgegnete der Abgeordnete; »und das Volk von einem verderblichen Vorhaben abzubringen, ist vollends ganz leicht.«
»Weil dem schädlichen Einfluß ein günstiger entgegengesetzt worden ist. Wenn nun aber meine Mutter und ich allein diesen Wütenden gegenüber gestanden hätten, was wäre wohl dann geschehen?«
»Ihr persönlicher Zauber hätte seine Wirkung jedenfalls nicht verfehlt, gnädiges Fräulein,« antwortete der Abgeordnete galant. »Das was ich bei den Demonstranten durch mein Zureden erreicht habe, hätte ihr Liebreiz fertiggebracht.«
»Das bezweifle ich denn doch stark. Die Höflichkeit scheint diesen Leuten ebensosehr abzugehen wie die Achtung vor dem Zarten und Schönen. Sehen Sie nur, wie diese armen Blumenparterres zugerichtet sind, die heute früh noch so reizend waren!«
In der Tat hatte sich die wilde Kohorte wie eine Lawine über den Garten gewälzt, die Pflanzen zertreten, die Gebüsche geknickt, die Blumenbeete verwüstet und da, wo das üppigste Farbenspiel geprangt hatte, ein häßliches Chaos von abgerissenen Blumen und Blättern zurückzulassen.
»Da haben wir,« fuhr das junge Mädchen fort, »ein Bild dessen, was bei einer revolutionären Bewegung herauskommt. Zuerst wird verwüstet, und dann kehrt man dem Orte den Rücken. Wer hat hiervon einen Nutzen, und zu was soll das alles gut sein?«
»Es ist ein Verhängnis,« antwortete Bouillaud, »daß der menschliche Fortschritt nicht ohne Gewaltakte zu erreichen ist. Theoretiker, die sich einbilden, die Harmonie in der Gesellschaft auf gütlichem Wege herstellen zu können und sie durch allgemeines Übereinkommen dauernd zu erhalten, sind Utopisten. Damit die Welt die zum Gemeinwohl notwendigen Reformen annimmt, gibt es nur ein Mittel, die Gewalt. Alle, die das Gegenteil behaupten, sind Esel oder Betrüger.«
»Ja, ja,« antwortete Laurence höhnisch, »wir kennen diese Art der Überredungskünste: Freiheit, Gleichheit, oder – der Tod! Es ist immer dieselbe Geschichte. Hat nicht einer Ihrer Parteiführer einmal den Ausspruch getan: ›Mit einem Gegner streitet man sich nicht herum, sondern man vernichtet ihn einfach.‹ Folglich auf der einen Seite ein revolutionärer Haufen, der Wachs in den Händen derer ist, die ihn zu nehmen wissen, und den man, wie wir es soeben erlebt haben, nach Belieben vorwärts hetzen oder in Zaum halten kann, eine zu jeder Gewalttat stets bereite Armee. Auf der andern Seite auserwählte Führer, die sich des Zieles, dem sie zusteuern, bewußt sind, und die keine Mittel scheuen, dieses Ziel zu erreichen. Das ist die Bilanz Ihrer Partei. Nun, wahrhaftig, wenn ich mich durch den Dienst, den Sie uns soeben erwiesen haben, nicht gebunden fühlte, so würde ich sagen . . .«
Sie hielt inne und machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle sie lästige Gedanken abwehren, und fügte dann lächelnd hinzu: »Nein, nein, ich sage es nicht.«
Mit erregtem Gesicht trat Bouillaud näher zu ihr heran.
»Sie beleidigen mich, gnädiges Fräulein, wenn Sie nicht offen mit mir reden. Es gibt nichts, was ich aus Ihrem Munde nicht hören könnte.«
Da unterbrach das Geräusch eines raschen Schrittes, unter dem der Kies der Terrasse knirschte, die Worte Bouillauds. Es war Moritz Didelod, der auf Mutter und Schwester zuging.
»Beruhigt euch!« rief er ihnen schon von weitem zu. »Papa ist wohlauf. Aber wir haben eine furchtbar aufregende Stunde durchgemacht, auch ist ein schweres Unglück geschehen.«
Und in wenigen Worten erzählte der junge Mann von dem Überfall der Fabrik, der Ankunft der Dragoner, dem darauf folgenden Krawall, dem ausbrechenden Feuer, dem Angriff auf das Personal und endlich vom Tode des Leutnants Maubrun. Das was die Aufrührer im Park angerichtet hatten, sah Moritz jetzt mit eigenen Augen, und tiefer Kummer erfüllte ihn, als er nun auch erfuhr, daß ohne das Eingreifen des Abgeordneten seine Mutter und Schwester vielleicht insultiert und das Schloß geplündert worden wäre.
»Ich kehre jetzt zu Papa zurück,« sagte er, »denn ich bin nur gekommen, um euch zu beruhigen. Er wird außer sich sein, wenn er von dem Angriffsversuch auf Badonviller hört. Seit heute früh erlebt er eine Enttäuschung um die andre. Es ist wirklich zu arg, wie schlecht ihm all das viele Gute gelohnt wird, das er getan hat, und das er noch zu tun vorhatte.«
»Es ist also wirklich wahr, daß er keiner Gefahr ausgesetzt ist?« fragte Frau Didelod, ihren Sohn mit forschendem Ernst betrachtend.
»Dann wäre ich nicht hier, Mama, und hätte ihn nicht verlassen.«
»Du bist ein guter Junge.«
Alle drei begleiteten Moritz bis zu den Stallungen, vor denen ein Diener das schweißbedeckte Pferd auf und ab führte.
»Du scheinst ja in einem fürchterlichen Tempo hierhergeritten zu sein,« bemerkte Laurence lächelnd.
»Und jetzt werde ich ein noch rascheres anschlagen.«
Er schwang sich in den Sattel, nahm rasch die Zügel zur Hand und ritt in flottem Trabe davon. Als er aus dem Hof heraus war, setzte er sein Pferd in Galopp und verschwand gleich darauf im Park. Frau Didelod kehrte ins Haus zurück und überließ es ihrer Tochter, sich mit Bouillaud zu unterhalten. Nebeneinander gingen die beiden jungen Leute eine Weile vor der Orangerie auf und ab, dann setzte sich Laurence, und ihrem Begleiter ebenfalls einen Stuhl anweisend, sagte sie: »Die Ankunft meines Bruders hat uns vorhin unterbrochen, als Sie im Begriff waren, mir Ihre Ansichten auseinanderzusetzen. Wollen Sie das jetzt vielleicht nachholen? Ich bin ganz bereit, Sie anzuhören, und werde Ihnen dann auch offen antworten. Was mein Vater mit uns beiden vorhatte, weiß ich. Er hat mich stets für ein vernünftiges Mädchen gehalten, mit dem man keine Geheimniskrämerei zu treiben braucht. Ich sage Ihnen das, um Ihnen alle Umschweife zu ersparen. Daß ich einen bedeutenden Mann vor mir habe, das fühle ich wohl, und deshalb werde ich Ihnen auch ganz offen meine Ansicht sagen.«
»Die Lage, gnädiges Fräulein, in der wir beide uns befinden, ist nicht neu. In Zeiten gewaltiger nationaler Krisen hat sie sich stets ergeben und ganz besonders zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, als die Töchter der Aristokraten den Führern der Revolution und den siegreichen Offizieren Napoleons gegenüberstanden. Es waren die Vertreter zweier Welten, zwischen denen die denkbar schroffsten Gegensätze bestanden. Auf der einen Seite geniale Männer aus dem Volke, ruhmgekrönte Bauern, auf der andern die stolzen Deszendentinnen vornehmer Geschlechter. Und doch hat eine Verschmelzung stattgefunden, aus der jene große, arbeitsame und reiche Bourgeoisie hervorgegangen ist, die heute auf dem höchsten Gipfel ihres Glanzes steht, deren Ende aber vielleicht schon besiegelt ist. Die Rollen, die die jungen Damen der Aristokratie damals gespielt haben, fällt heute denen der Bourgeoisie zu, und den Platz, den die Helden der Revolution innehatten, nehmen die heutigen Sozialisten ein. Eine neue Welt ist im Werden. Es handelt sich jetzt nur darum, ob die Betreffenden sich zu dem großen Werke hergeben wollen.«
»Ich glaube es ja, Herr Bouillaud,« entgegnete Laurence, »daß man in materieller Hinsicht viele Konzessionen von einer Gesellschaftsklasse erlangen kann, die nicht dazu geneigt ist, mit den Waffen in der Hand auf die Straße hinabzusteigen. In moralischer Hinsicht dagegen wird sie sich nach meiner festen Überzeugung keinerlei Zugeständnisse entreißen lassen. Auf äußere Vorteile kann sie wohl verzichten, nicht aber ihre Gefühle verleugnen. Deutlicher ausgedrückt: es geht einfach nicht, daß ein Mädchen wie ich, mit meinen religiösen Ansichten und gesellschaftlichen Gewohnheiten, einen Freidenker und systematischen Unterdrücker der Religion heiratet. Ich könnte leicht noch andre unvereinbare Punkte finden, aber dieser eine genügt und wirft scharfe Schlaglichter auf unsre beiderseitige Lage. Ich bezweifle ja nicht, daß wenn ich mein Jawort von einer kirchlichen Trauung abhängig machte, Sie darauf eingehen würden. Für einen, der nichts glaubt, wäre dieses Zugeständnis eine wertlose Scheinhandlung, eine einer Frau erwiesene Artigkeit. Aber wenn es auch für Sie leicht wäre, das Übel, das Sie der Kirche zugefügt, zu vergessen, so wäre eine gleiche Vergeßlichkeit für mich ganz und gar unmöglich. Ich bin streng religiös und werde niemals dulden, daß man den Kultus meines Gottes auf die leichte Achsel nimmt. Wenn ich Kinder habe, werde ich sie taufen, sie in den religiösen Gebräuchen erziehen und in der katholischen Religion unterrichten lassen. Mit den Ansichten, die Sie haben, würden Sie aber wahrscheinlich niemals Ihre Einwilligung dazu geben, denn damit würden Sie ja zugestehen, daß Sie vom rechten Wege abgekommen sind, und daß der Weg, den ich zu gehen entschlossen bin, der richtige ist. Die Folgen wären Uneinigkeiten, Kämpfe, und in der Familie derselbe Aufruhr wie in der Gesellschaft. Sie sehen also, Herr Bouillaud, was für einer Zukunft wir entgegengingen. Ich bin zu scharfsichtig, um mich einer solchen Lage auszusetzen, und glaube nicht, daß Sie mir zürnen werden, ihnen das offen eingestanden zu haben.«
»Ihre edlen Empfindungen und die Kraft, mit der Sie sie ausdrücken, kann nur meine höchste Hochachtung und Bewunderung erregen,« antwortete Bouillaud lächelnd. »Ich hatte mich nicht über Sie getäuscht; Sie sind wirklich die Frau, die ich in Ihnen vermutet habe. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich mich mit einer solchen Ansicht über Sie nicht ohne weiteres Ihren Gründen füge. Sie verdienen es wahrhaftig, daß man die höchsten Anstrengungen macht, Sie zu erobern, und Sie würden mich wahrscheinlich verachten, wenn ich ohne Kampf auf Sie verzichtete. Aber verstehen Sie wohl, ich spreche nur vom Standpunkt des Gefühls. Es scheint mir nämlich unmöglich, daß die Ereignisse, die eine demnächst bevorstehende vollständige soziale Umwälzung ankündigen, auf eine so überaus kluge Dame wie Sie ohne Eindruck geblieben sein sollen, und daß Sie den Entschluß nicht fassen wollen, sich vor dem allgemeinen Umsturz, der die unausbleibliche Folge sein wird, in Sicherheit zu bringen. Wäre es denn nicht schön, dann siegreich dazustehen, wenn die Unklugen gestürzt werden?«
Lächelnd schüttelte Laurence den Kopf.
»Als der Teufel Jesus versuchen wollte, führte er ihn mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: ›Dies alles will ich dir geben‹. Aber er bot ihm da etwas an, das ihm gar nicht gehörte. Bei Ihnen ist das gerade so.«
»Das Morgen gehört uns. Die Gesellschaft wird unter den Stößen des Proletariats zusammenbrechen.«
»Dann werden Sie also nur über Trümmer herrschen. Ihre Partei kann nur zerstören, das weiß ich wohl. Die unsrige allein versteht das Aufbauen. Und wenn Sie wie Barbaren über die alte, umgestürzte Welt hingebraust sind, dann werden wir uns hinter Ihnen wieder erheben und mit den Überbleibseln, die Sie zurückgelassen haben, eine neue Gesellschaft gründen.«
Die Augen halb geschlossen, blieb Bouillaud eine Weile schweigend in den Anblick des jungen Mädchens versunken, deren lebhaftes Gebärdenspiel und hoher Gedankenflug seine größte Bewunderung erregte. Endlich sagte er in wehmütigem Tone: »Welch ein Jammer, solch herrliche Gaben in einem nutzlosen Widerstand untergehen zu sehen! Wie traurig, daß eine Seele wie die Ihrige nicht für unsre Ideen gewonnen und von dem neu ausgehenden Lichte erleuchtet worden ist! Darüber werde ich mich nie trösten können.«
»Sie sagen: eine Seele, und das war richtig. Aber ich meine gerade, weil ich eine Seele habe, denke ich so. Ihre tägliche Arbeit aber besteht darin, die französische Seele, die so groß und so schön ist, zu Grunde zu richten. Was für ein Widerspruch, und was für eine Verblendung! Das was Sie an mir freundlicherweise bewundern, sollte Ihnen doch bei allen Frauen und überhaupt bei allen Kindern Frankreichs, die ebenso denken und fühlen wie ich, heilig sein. Was aber muß man von Ihren Freunden und von Ihnen selbst denken, wenn Sie diese religiösen Anschauungen und diese Denkungsart, trotzdem Sie sie zu schätzen wissen, unterdrücken und öffentlich verhöhnen? Sie sprachen vorhin von einem neu ausgehenden Lichte. Ach, gibt es denn ein strahlenderes, als das, das Sie auszulöschen versucht haben? Allein Sie sehen ja, daß es noch immer leuchtet und erwärmt, und daß die Zeit noch nicht gekommen ist, wo sein Glanz am Himmel erlischt.«
Stumm und unbeweglich, mit gesenktem Kopf, als horche er auf eine Stimme in seinem eigenen Herzen, saß Bouillaud der schwer atmenden Laurence gegenüber. Noch niemals war das Interesse des jungen Mädchens durch eine Unterredung so intensiv gefesselt worden. Sie hatte in diesem Augenblick das Gefühl, als kämpfe sie gegen die ganze, in einem ihrer hervorragendsten Führer verkörperte Revolution. Es war richtig, was Bouillaud vorhin gesagt hatte: zwei feindliche Welten stießen hier in den Persönlichkeiten dieser beiden Menschen aufeinander. Die von dem jungen Mädchen vertretene reiche Bourgeoisie mit ihrer verfeinerten Erziehung, ihrer vornehmen Denkungsart, ihren feststehenden Lebensanschauungen, und das wohlorganisierte, gebildete Proletariat mit seinem kühnen Ehrgeiz, das Bouillaud vertrat. Sie standen einander gegenüber, und all das Unvereinbare in ihren beiderseitigen Tendenzen trat sofort hervor. Sie konnten nicht einig werden, sich gegenseitig nicht überzeugen. Die Macht der Zeit nur wäre imstande, diese beiden sich gegeneinander auflehnenden Klassen zu verschmelzen. Aus freiem Übereinkommen war das niemals zu erreichen. Der junge Mann schien zu gleicher Zeit dieselben Betrachtungen angestellt zu haben und zu denselben Schlüssen gekommen zu sein.
»Was muß man denn tun, gnädiges Fräulein,« fragte er mit einem Seufzer, »um Sie zu erobern?«
»Das was Sie niemals ausführen könnten, ohne sich in meinen Augen herabzusetzen: allen Ihren Ansichten abschwören.«
»Sie haben recht,« antwortete er; »wir haben uns also nichts mehr zu sagen. Aber ich werde diese Unterredung mit Ihnen niemals vergessen. Wenn überhaupt jemand meine Überzeugungen zu erschüttern vermöchte, so wären Sie es mit Ihrem energischen, klugen, stolzen Geiste. Aber,« fügte er lächelnd hinzu, »Sie sind eine Ausnahme Ihrer Partei.«
»Das bezweifle ich sehr!« rief Laurence. »Sie möchten sich das nur gerne einreden, um Ihr Gewissen zu beschwichtigen. Und damit kommt auch der Fanatiker schon wieder zum Vorschein.«
Beide fingen an zu lachen.
»Nun,« sagte er, »reichen wir uns ohne Hintergedanken die Hände. Ich grolle Ihnen nicht und hoffe, daß Sie mich wenigstens nicht verachten . . .«
Sie reichte ihm die Rechte, die er mit der seinigen umschloß.
»Wie gerne hätte ich diese Hand für immer festgehalten,« fuhr er fort. »Aber ich bin ihrer offenbar nicht wert.«
»Der Mann, der sie bekommen wird,« entgegnete sie lebhaft, »kann sich mit Ihnen nicht messen. Aber er denkt und betet wie ich. Das muß das übrige ersetzen.«
Schweigend verneigte sich Bouillaud; sein Blick richtete sich in die Ferne, und plötzlich machte er das junge Mädchen auf einen rasch heranfahrenden Wagen aufmerksam.
»Sehen Sie, da kommt Ihr Vater zurück. Nun werden wir erfahren, was vorgegangen ist.«
Eilig gingen die beiden ins Schloß zurück. Frau Didelod, die man benachrichtigt hatte, wartete bereits im Vestibül. Man brauchte den Abgeordneten von Lehrange nur anzusehen, um sich den Ernst der Lage klarzumachen. Didelod schien um zehn Jahre gealtert zu sein. Sein sonst freundlich lächelndes Gesicht war blaß und verstört. Nach seiner verschobenen Krawatte und dem zerknitterten Kragen zu schließen, mußte es auch äußerlich Kämpfe abgesetzt haben. Schwerfällig stieg er aus dem Wagen.
»Nun,« fragte Bouillaud, »wie steht es?«
»Schlecht! Unruhen, Ausschreitungen, Greueltaten! Aber gehen wir hinein! Hier ist nicht der richtige Ort zu Erklärungen.«
Von Frau und Tochter, sowie seinem Freunde begleitet, ging Didelod in sein Arbeitszimmer, und sich auf einen Lehnstuhl werfend, rief er: »O, diese Schurken! Sie haben die Fabrik angezündet, einen Wächter umbringen wollen und einen Offizier totgeschossen . . . Und meine Arbeiter, die mit diesen Rasenden gemeinsame Sache machten, streiken . . . warum? Sie wären um eine Antwort sehr verlegen. Alles mögliche muß als Vorwand dienen. Sie wollen keinen Konsumverein mehr; das sei ein Zwang, behaupten sie. Sie verlangen einen einheitlichen Lohn. Aber das ist noch gar nichts. Beschimpft haben sie mich, mich, Didelod, nach all dem, was ich für sie getan habe! Ihre Bosheit und Dummheit zerreißt mir das Herz. Sein ganzes Leben lang bringt man ein Opfer ums andre, um dann Früchte zu ernten, wie ich heute!«
»Mein lieber Freund,« antwortete Bouillaud, »die Dankbarkeit ist keine Volkstugend. Wenn wir übrigens die Interessen des Volkes nur in der Hoffnung vertreten wollten, von ihm belohnt zu werden, würden wir uns ja der abscheulichsten Berechnung schuldig machen. Das Volk hat keine Verpflichtung gegen die Männer, die für sein Wohl kämpfen. Es ist eine solch gerechte Sache, daß man sich selbst ehrt, wenn man dafür kämpft.«
»Nun ja, gewiß. Aber gehören die Geldopfer vielleicht auch zum Programm? Die Meinungen des Volkes teilen und mit ihm um deren Sieg kämpfen, das ist keine Kunst. Aber seine Privatkasse fürs Volk öffnen, ihm mit der Tat beistehen, für sein gutes Auskommen, seinen Lebensunterhalt sorgen, ist das auch selbstverständlich? Soll das auch für etwas Alltägliches angesehen werden, das nicht einmal Dank verdient? Seit dreißig Jahren bin ich gleichsam der Schatzmeister für die Demokratie im allgemeinen und für meine Arbeiter im besonderen. Da erlauben Sie mir doch wohl, es etwas sonderbar zu finden, wenn das Proletariat mir dadurch seine Dankbarkeit beweist, daß es meine Fabrik anzündet, mein Leben bedroht und meinen Ruin verlangt. Die Börse und das Leben, das ist doch etwas viel verlangt!«
»Beruhige dich, mein Freund!« warf Frau Didelod ein, »Du weißt sehr gut, daß du trotz allem Herr der Situation bist.«
»Ja,« rief Didelod heftig, »ich bin der Herr, und es ist sehr töricht von diesen Leuten, mich daran zu erinnern. Wie Freunde, wie Brüder habe ich sie behandelt. Sie haben meine Wohltaten angenommen und mich dabei wahrscheinlich auch noch für einen Knauser gehalten. Wißt ihr, was sie wollen? Einfach meine Fabrik, meine Kasse, den Ertrag der seit drei Generationen von den Didelods geleisteten Arbeit. ›Bauer, mach dich wieder zum Herrn des Bodens! Arbeiter, mach dich zum Herrn deiner Werkzeuge!‹ Seit Jahren schwatzen wir ihnen das vor. Sie, Bouillaud, ja, Sie, der Sie weder Werkzeug noch Boden besitzen, Sie haben richtig gehandelt. Aber ich, der ich das alles besitze! Was habe ich ihnen angeraten? Mich auszuplündern! O, ein Esel war ich! Ja, so dumm war ich, daß ich in meiner Liebe zum Volke imstande gewesen wäre, den Arbeitern meine Fabrik zu überlassen und zu ihnen zu sagen: ›Wir wollen uns drein teilen!‹ Aber teilen! O nein, alles wollen sie haben, das sehe ich jetzt wohl. Absetzen, ausplündern wollen sie mich, und zwar mit der rohesten Gewalt. Man brauchte sie ja nur anzusehen mit ihren haßerfüllten Gesichtern und drohenden Gebärden. Ach, wer nicht mit seinen eigenen aufrührerischen Arbeitern zu tun gehabt hat, weiß nicht, was Volksherrschaft ist! Diese Leute haben mir das Herz zerrissen. Mit einem Schlage haben sie mir die Illusionen meines ganzen Lebens vernichtet. Das werde ich ihnen niemals verzeihen!«
Tränen stiegen ihm in die Augen und rollten ihm über die Wangen. Schweigend stand Bouillaud dem aufrichtigen Schmerze dieses vortrefflichen Mannes, dem harmlosen Opfer eines blinden Edelmutes, gegenüber. Vom Standpunkt des Gefühls hatte er nichts darauf zu entgegnen, vom Standpunkt dessen aber, was sich ereignet hatte, bot sich die Antwort von selbst. Allein er wollte diese bis in den Grund erschütterte Seele nicht verletzen, ohne vorher erfahren zu haben, zu welchen Entschlüssen die Erbitterung diesen Mann hinreißen würde. Freundlich lächelte Didelod jetzt Laurence zu, die ihm mit ihrem parfümierten Taschentuch liebevoll die Tränen abwischte. Er hatte sich schon wieder gefaßt, und Bouillaud anschauend, sagte er: »Wollen Sie wissen, was ich nach der soeben gemachten schmerzlichen Erfahrung denke? Daß ich ein großer Tor bin. Ich habe den Rahmen, in dem sich mein Leben abspielen sollte, verschoben, um mich in eine Politik hineinzuzwängen, die ich nie hätte treiben sollen, da sie mit meiner ganzen Erziehung, meinen Familienbeziehungen, meiner sozialen Stellung und meinem Vermögen unvereinbar ist. Es gibt in der menschlichen Gesellschaft alle Arten von Deklassierten. Nun, und ich bin ein Deklassierter ganz besonderer Art. Ich habe eine Arbeiterbluse über meinen schwarzen Rock gezogen. Aber die echten Blusenträger haben sich nicht täuschen lassen, sondern mich als einen Außenseiter behandelt. Die daraus folgende Lehre ist, daß man unter seinesgleichen bleiben und sein Lager nicht wechseln, sondern den Grundsätzen derer, unter denen man aufgewachsen ist, treu bleiben soll. Ein Didelod, der die Armenschwestern vertreiben, die Kirche seines Dorfes schließen läßt und sich auf den Kollektivismus beruft, ist ein soziales Unding. Und daraus haben meine Arbeiter kein Hehl gemacht, als sie mich wie einen falschen Bruder, wie einen Feind behandelten. Mein Vater sagte, die sozialen Ansichten müssen ein Widerschein der persönlichen Interessen sein. Dabei war er durchaus nicht ein Mann, der dem Idealismus kein Opfer brachte, sondern ein Mann, der sich einfach vom gesunden Menschenverstand leiten ließ, während ich, der ich es besser wissen wollte und die Achseln über ihn zuckte – ich habe viel weniger vernünftig gehandelt als er!«
»Didelod, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich,« warf Bouillaud ein. »Sie sind jetzt furchtbar erregt und gehen zu weit. Später werden Sie einsehen, wie viel die menschliche Unvernunft bei all diesen Ereignissen mitgespielt hat, und bei Ihrer edlen Denkungsart zur Nachsicht neigen.«
»Ach, mein Lieber, wenn es sich nur um mich handelte, so wäre ich vielleicht dumm genug, mich noch einmal betören zu lassen. Aber ich komme nicht allein in Betracht, ich habe Aktionäre . . . vertrete fremde Interessen, die zu wahren meine Pflicht ist. Mein Schwager Julius Reismann wird demnächst hierherkommen, und ich weiß im voraus, was für einen Standpunkt er vertreten wird. Der wird nicht nach französischer Art den Biedermann spielen, o nein, sondern nach deutscher Art die Aufrechterhaltung der Ordnung verlangen. Kurzum, wenn die Arbeit nicht binnen vierundzwanzig Stunden wieder aufgenommen wird, so lasse ich die Fabrik schließen, wie ich es meinen Direktoren bereits erklärt habe. Der eigenmächtigen Arbeitseinstellung folgt die Aussperrung und sämtliche Bestellungen werden in Steingel ausgeführt.«
»Aber was wird die Regierung dazu sagen?«
»Bin ich von der abhängig? Bin ich nicht mein eigener Herr? Leben wir unter dem Absolutismus? Nein, Gott sei Dank! Denn ich sehe zu deutlich, wohin der uns führen würde. Wenn die Regierung etwas von mir erreichen will, so soll sie mir mal vorher einen Beweis ihrer freundlichen Absichten geben.«
»Was für einen?«
»Sie soll der gegen mich in Szene gesetzten Ausstandsbewegung Einhalt gebieten.«
»Wie könnte sie das? Sie hat Anhänger, die ihr nicht gehorchen.«
»Wenn sie ihr nicht gehorchen, dann soll sie sie zertreten. Hält man mich eigentlich für einen Idioten? Glaubt man, ich wisse nicht, durch wen und für wen man meine Industrie zu Grunde richten will? Stylb ist der Führer der Bewegung, und der Zweck, den er damit verfolgt, ist der, mir meinen Abgeordnetensitz zu entreißen. Auf diese schamlose Weise wird gegen mich vorgegangen. Glaubt man wirklich, ich ließe mich mißhandeln, ohne mich zu wehren? Fällt mir nicht ein. Stylb hat sofort aus Lehrange zu verschwinden, die revolutionäre Agitation hat aufzuhören, binnen vierundzwanzig Stunden muß die Arbeit wieder aufgenommen werden, oder aber – hören Sie wohl, Bouillaud, ich sage Ihnen das, damit Sie mein Ultimatum denen überbringen, die es wissen müssen – oder aber ich schließe meine Fabrik ein ganzes Jahr hindurch und überlasse es meinen Gegnern, die Arbeiter, die sie gegen mich aufgehetzt haben, vor dem Verhungern zu schützen.«
»Gut, mein Lieber, was Sie wünschen, soll geschehen. Ich will mich jetzt von Ihnen verabschieden. Noch heute abend werde ich in Lehrange eine Zusammenkunft mit den hiesigen Führern haben, und morgen eine in Paris mit den politischen Freunden. Ich werde Ihnen dann sofort mitteilen, was Sie von den Betreffenden zu erwarten haben.«
»Sie sollen sich vor allem hinter die Ohren schreiben, was sie von mir zu erwarten haben. Ich werde ihnen nur dann entgegenkommen, wenn sie mir entgegenkommen.«
Eine Viertelstunde später befand sich Bouillaud, nachdem er sich von seinen Wirten verabschiedet hatte, im Wagen auf dem Wege nach Lehrange.