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Nachdem Valentin gegen zehn Uhr sich in der Rue Saint-Honoré von seinen Freunden getrennt hatte, wo er nach dem Diner noch mit ihnen geraucht und Likör getrunken, sprang er in einen Fiaker und ließ sich nach der Place d'Envers fahren; von dort begab er sich zu Fuß über den Boulevard Rochechonart nach der Rue Steinquerque und von dieser in die Rue d'Orseille. An der Ecke des Petersplatzes angelangt, stand er einen Augenblick still; der Mond brach eben hinter Wolken hervor, tiefe Stille und Einsamkeit herrschten um ihn her, der massive Bau des Sacré-Coeur-Klosters hob sich in unklaren, finsteren Umrissen von dem Hügel ab, auf welchem es stand; keine Menschenseele zeigte sich, man hätte meinen können, in einer Wildnis zu sein.
Der Graf tastete in der Tasche seines Ueberziehers nach dem Griff des Revolvers, welchen er stets mitzunehmen pflegte, wenn er in diesen entlegenen Stadtteil kam; er fürchtete sich nicht, aber er ergriff gerne seine Vorsichtsmaßregeln. Er blickte auf die Uhr, sie zeigte die elfte Stunde, und aus der Ferne klang der Glockenschlag einer Turmuhr herüber, bestätigend, daß es wirklich so spät sei. Ungeduldig schritt er auf dem Gehwege dahin, Mathilde hatte sich offenbar verspätet; er ging wieder die Rue d'Orseille hinab und sah nun bei dem unstet flackernden Gaslichte das Mädchen, welches atemlos durch die Rue Steinquerque entlang gelaufen kam.
»Ich habe warten lassen, aber man verfolgte mich, und ich empfand Furcht.«
»Hoffentlich ist jetzt alles gut, wo wir vereint sind.«
»Ja, aber ich werde mich beruhigter fühlen, wenn wir unter Dach kommen; beeilen wir uns, es scheint heute viel böses Gesindel umherzustreifen.«
Arm in Arm schritten sie durch die Straßen und hätten bald ihr Ziel erreicht, als hastige Schritte sich ihnen vernehmen ließen. Valentin fühlte, wie die Hand der Kleinen auf seinem Arme zitterte; sie sprach nicht, sondern beschleunigte ihre Schritte, aber der Verfolger tat das gleiche. Valentin kreuzte die Straße. Jener ebenfalls. Unter einem Gaskandelaber blieb der Graf stehen und drehte sein Antlitz dem Manne zu, welcher ihm nachschritt. Allem Anscheine nach war jener betrunken, denn er ging unsicher; er trug eine Kammgarnbluse, eine Mütze auf dem Kopfe und grobe Stiefel.
Mit heiserer Stimme rief er Mathilden an und streckte die Hand aus, um sie zu erfassen, Valentin aber schleuderte ihn mit voller Macht gegen die Wand. Der Mann richtete sich auf, und ohne jede Spur von Trunkenheit rief er nun:
»Das soll vergolten werden. Freunde hierher!«
Bei diesem lauten Rufe stürzten drei Männer, der eine von ihnen als Weib verkleidet, um die nächste Straßenecke.«
»Es ist Ravet, wir sind verraten!« rief Valentin.
Der Graf hatte nicht die Zeit, dem Mädchen eine Erklärung abzuverlangen; der als Weib verkleidete Mann stürzte sich mit dem Messer in der Faust auf ihn, es entstand ein kurzer, erbitterter Kampf, dann hörte man einen Schuß. Schwer fiel ein Körper auf das Straßenpflaster nieder, man vernahm einen lauten, herzzerreißenden Schrei, und der falsche Trunkenbold rief:
»Ravet ist zu Boden gefallen, der Graf hat seine Rechnung abgeschlossen, die Polizei könnte kommen, nehmen wir das Mädchen mit uns.«
Mathilde, welche vor Entsetzen stumm geworden, wurde von kräftigen Armen erfaßt und von Valentin weggeführt, der noch immer regungslos an der Mauer lehnte. Eine Polizeiabteilung kam hastig daherschritten, und die Männer ergriffen, das Mädchen mit sich fortschleppend, die Flucht. Auf dem Kampfplatze blieben nur mehr Ravet, welcher, mit dem Gesichte gegen die Erde gekehrt, regungslos dalag, und die unbewegliche Gestalt des Grafen mit dem stieren, gläsernen Blick, dessen starre Finger krampfhaft den Revolver umspannten.
Am folgenden Morgen um sieben Uhr, als Friedrich Clément eben seine Toilette beendete, um sich zu Redel zu begeben, trat Eliphas in das Ankleidezimmer seines Sohnes. Ueberrascht durch diesen frühzeitigen Besuch, fragte der Bankier seinen Vater, was ihn denn herbeiführe. Der alte Mann erklärte nun, daß er spät am Abend bei Frau Mößler erfahren habe, daß ein Duell zwischen Oberst Redel und dem Grafen Valentin Coutras stattfinden solle; er wollte mit auf den Kampfplatz gehen, um das Resultat rascher zu erfahren. Friedrich hatte nicht die Gepflogenheit, sich dem Willen seines Vaters in irgend etwas zu widersetzen; trotzdem konnte er nicht umhin, ihm anzudeuten, daß es ein unkorrektes Vorgehen wäre und die Zeugen des Herrn von Coutras das Recht hätten, sich darüber zu beklagen.
»Sie werden nicht in die Lage kommen, es zu tun«, erwiderte Eliphas ruhig, und da Friedrich bei dieser Erklärung seinen Vater verwundert ansah, fügte der alte Mann hinzu:
»Beruhige dich, ich werde mich nicht zeigen, sondern in meinem Wagen bleiben. Ich lege nur Wert darauf, in der Nähe zu sein, um ohne einen Augenblick Zeitverlust Frau Mößler mitzuteilen, was sich zugetragen hat.«
»Hat sie dich darum gebeten?«
»Nein, aber sie dürfte trotzdem nicht unliebsam berührt sein, wenn ich es tue.«
Man machte sich auf den Weg; es war acht Uhr, als die Herren bei Oberst Redel eintrafen. In Gesellschaft seines Schulkameraden, des Kommandanten Vallières, wartete Redel sehr ruhig und mit einer Miene der Entschlossenheit, welche auf Friedrich, der vor Aufregung zitterte, einen mächtigen Eindruck hervorrief. Würde er gehört haben, wie der Oberst ein paar Augenblicke früher seinem Freunde mitgeteilt hatte, daß er fest entschlossen sei, nicht auf Herrn von Coutras zu zielen und sich ruhig der Waffe desselben entgegenzustellen, wie groß wäre da erst seine Aufregung gewesen! Redel hatte sich vorgenommen, wenn er den Zweikampf überleben sollte, mit Frau Mößler nicht zu brechen, um wenigstens von Zeit zu Zeit von Henriette zu hören oder sie wiedersehen zu können; er wollte sein Leben aufs Spiel setzen, aber seine Liebe heilighalten.
Die Ankunft des Herrn Eliphas gab seinem Ideengange eine andere Richtung.
»Wie?« rief er halb lachend, »Sie, der Mann der Moral und der Barmherzigkeit, Sie billigen durch Ihre Anwesenheit solches Blutvergießen? Haben Sie denn daran gedacht, was das zu bedeuten hat?«
»Ich verdamme das Blutvergießen, Sie mögen davon überzeugt sein,« erklärte Herr Eliphas, »aber ich habe mir gedacht, daß meine Einmischung Ihnen vielleicht Glück bringen könnte.«
Die Antwort seines Vaters war so seltsam, daß Friedrich ihn zum zweiten Male überrascht betrachtete: er hegte den Verdacht, daß Herr Eliphas an das Zustandekommen dieses Duells nicht glaube, und sagte sich andererseits, daß man ja doch nicht daran zweifeln könne. Die Sekundanten waren vereint, die Waffen bereit, die Wagen warteten – war aber nicht trotzdem die Ruhe, welche der alte Freund Frau Mößlers bekundete, die prophetische Sicherheit, welche er durch zwei Aussprüche an den Tag gelegt, eine Bürgschaft dafür, daß Redel keiner Gefahr ausgesetzt sei, daß Eliphas diese geheime Gewißheit habe?
»Es ist Zeit«, sprach der Kommandant Vallières. »Von hier nach Genvillers haben wir fast eine Stunde zu fahren.«
»Machen wir uns also auf den Weg!« rief Redel.
Und ohne einen Blick um sich zu werfen, ohne die gewohnten Räume, die vertrauten Gegenstände nochmals zu betrachten, welche er vielleicht nie mehr wiedersehen würde, mit der stoischen Gleichgültigkeit eines Soldaten, der dem Feinde entgegengeht, verließ er das Haus. Vor demselben angelangt, stiegen sie alle in den Wagen, welchen Vallières bestellt hatte; das Coupé Friedrichs folgte. Doktor Dujardin, der Chefarzt des Hospitals Val de Grâce, sollte direkt auf den Kampfplatz fahren. Kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, als Redel zu plaudern anfing. Niemals, so behaupten seine Freunde wenigstens, war der Oberst lebhafter und geistreicher in seiner Unterhaltung gewesen. Fast rief es den Anschein hervor, als wolle er mit der Gefahr kokettieren und beweisen, daß es für einen Mann seines Schlages den Begriff der Furcht nicht gebe. An seiner gleichmäßigen Ruhe richtete Friedrich sich auf und fand nach und nach seine Sicherheit wieder. Er sekundierte zum ersten Male bei einem Duelle und sagte sich, daß er eine traurige Figur spiele. Dieser Finanzmann von ruhiger Charakterveranlagung, von puritanischen Grundsätzen war seit vierundzwanzig Stunden in ein peinliches Abenteuer verwickelt, das ihm einige Seelenqual bereitete.
Wenn er aber Redel zuhörte, welcher von allem plauderte, nur nicht von dem, was sie alle momentan bewegte, gewann er einigermaßen wieder zu sich selbst Vertrauen; er sagte sich, daß, wenn sie nicht alle schwarz gekleidet wären, und er nicht den Pistolenkasten an seinen Füßen fühlte, er glauben könne, daß sie auf die Jagd oder zu einer Landpartie fahren würden. Der Wagen fuhr durch die Straßen der Stadt, an den Befestigungen vorüber und bog dann auf das freie Feld hinaus. Rechts und links von der Straße, hinter einer endlos langen Allee, dehnten sich weite Felder aus, die einen traurigen Eindruck hervorriefen; zuweilen begegnete man Grünzeugwagen, welche die Richtung nach Asnières einschlugen; kein einziger Arbeiter zeigte sich in den Feldern, überall herrschte eine fast unheimliche Ruhe. An der linken Seite der Straße erhob sich ein von gelblichem Rasen bedeckter Erdhügel, ein letztes Ueberbleibsel der im Jahre 1870 zur Befestigung des Seine-Ufers errichteten Schanzen.
Dieses nichts als Trauer ausströmende Landschaftsbild erschien Friedrich gleichsam als der Rahmen zu einem sich vorbereitenden traurigen Ereignisse. Es bemächtigte sich seiner von neuem eine qualvolle Angst; er sah im Geiste jenen Wagen vor sich, in welchem er nun dahinfuhr, wie er langsam und feierlichen Schrittes zurückkehrte, weil ein Toter auf den blutgetränkten Kissen lag. Angstvoll richtete er seine Blicke auf Redel, der ganz ruhig und unbefangen weiterplauderte. Im gleichen Augenblicke hielt der Wagen plötzlich an.
»Was gibt es denn?« fragte Eliphas, »sind wir am Ziele?«
»Es sind die Sekundanten unseres Gegners«, rief Vallières, welcher sich weit aus dem Wagen hinausgebeugt hatte. »Die Herren kommen auf uns zu.«
Redel sprang schnell heraus, Eliphas und Friedrich folgten seinem Beispiele. Herr Prieurs und Herr von Croix-Mesnil hatten ihr Coupé anhalten lassen und traten mit feierlicher, ernster Miene hinzu. Ihre Haltung war eine so außergewöhnliche, daß Kommandant Vallières, fast ohne sich Zeit zu lassen, die Herren zu begrüßen, lebhaft fragte:
»Sind Sie allein, meine Herren wo befindet sich Herr von Coutras?«
»Wir sind allein,« sprach Prieurs in merklich erschüttertem Tone, »und Herr von Coutras wird nicht kommen.«
»Warum nicht?« forschte Redel mit drohender Stimme.
»Weil er tot ist«, entgegnete Croix-Mesnil.
»Tot!«
Auf der staubigen Straße, unter dem grauen, trüben Himmel, in der düsteren Winterlandschaft blickten sich Redel und seine Freunde verblüfft an; nur Herr Eliphas zuckte mit keiner Wimper. Prieurs fügte hinzu:
»Man hat ihn heute morgen mit einem tiefen Messerstich zwischen den Schultern nach Hause gebracht.«
Als Friedrich Clément diese Worte vernahm, war es ihm, als ob ein Schwindel sich seiner bemächtigte, und es drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, daß sein Vater von dem Verbrechen gewußt haben mußte, welches begangen worden war; er schöpfte sogar den Verdacht, daß er dasselbe mit Absicht nicht verhindert habe. Er zog ihn fast gewaltsam fort von den übrigen und fragte mit einer Stimme, welcher eine gewisse Festigkeit zu verleihen er sich vergeblich mühte.
»Hast du gewußt, daß Herr von Coutras heute nacht getötet werden müsse?«
Eliphas hob das Haupt gegen den Himmel und sprach mit der Festigkeit und Ueberzeugung eines glaubensstarken frommen Mannes:
»Ja, mein Freund, ich wußte es.«
»Und du hast trotzdem zugegeben, daß dieses Verbrechen begangen werde?«
»Ich habe alles getan, was in meiner Macht lag, um jenen Unglücklichen vor sich selbst zu retten; aber ich bin nur ein Mensch und habe ihn nicht dazu zwingen können, daß er auf den Weg der Pflicht zurückkehre. Ich erwog folglich gewissenhaft alles Böse, das er getan, alles Böse, das er noch ferner tun werde, und obwohl ich ihn vielleicht hätte retten können, ließ ich ihn sterben.«
Hatte Friedrich in dieser tragischen Stunde prophetischen Geist, fühlte er sich in dem grenzenlosen Vertrauen zu seinem Weibe unsicher werden? Er erblaßte, sah seinem Vater mit einem gequälten Blick in die Augen, und indem er seinen Arm krampfhaft umschloß, fragte er mit zuckenden Lippen:
»Auf was spielst du an? Warum bist du unerbittlich gewesen? Wer war bedroht?«
»Ein braver Mann in seinem Leben, eine rechtschaffene Frau in ihrer Ehre«, erwiderte Eliphas kalt.
Friedrich neigte das Haupt und forschte nicht weiter. Im gleichen Augenblicke trennten sich Redel und der Kommandant Vallières von den Sekundanten des Grafen Coutras und kamen ihren Freunden entgegen.
»Ein armer Teufel, der gestorben ist, wie er gelebt hat«, sprach der Oberst mit geringschätzigem Mitleid.
»Ja, im Schlamme der Straße«, erwiderte Eliphas achselzuckend.
»Diese Spazierfahrt in der freien Luft hat mir Appetit gemacht, ich werde mit Behagen frühstücken,« sprach Oberst Vallières; »kehren wir nach Paris zurück.«