Georges Ohnet
Die Damen von Croix-Mort – Erster Band
Georges Ohnet

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Drittes Kapitel

Am nächsten Sonntag bei der Messe, während des Offertoriums, vernahm Frau von Croix-Mort mitten im andächtigen Schweigen der Kirche einen leichten, aristokratisch ruhigen Schritt, der hell auf dem Estrich ertönte. Unwillkürlich fühlte sie ihr Herz höher schlagen, die Ohren fingen ihr zu brausen an und die Buchstaben in ihrem Gebetbuche tanzten vor ihren Augen. Sie sagte sich: »Er ist's!« aber aufzublicken hätte sie nicht gewagt. Sie neigte den Kopf und suchte sich inbrünstiger in das Gebet zu versenken. Doch statt der frommen Betrachtungen waren es lauter weltliche Gedanken, die ihren Sinn gefangennahmen.

Ganz verwirrt, zwang sie sich, ihren unsicheren Blick auf den Abbé Levasseur zu richten, der in seinem violettseidenen, silbergestickten Meßgewande, mit seinem dicken, roten, über den gefalteten Kragen seines Chorhemdes hinausquellenden Hals sich nach rechts und links wendete, während er in seinem Meßbuche mit den buntfarbigen Lesezeichen blätterte; aber gegen ihren Willen sah sie doch nur den schönen Ferdinand mit der vornehmen Haltung und dem goldblonden Barte vor sich. »Wie kommt es, daß er heute in der Kirche ist, es mag wohl zum erstenmal sein?« fragte sie sich, und eine innere Stimme flüsterte ihr zu: »Deinetwegen ist er hier, dich wollte er wiedersehen.«

Als Edmee sich nach dem Segen erhob und einen Blick umherwarf, bemerkte sie den Gutsnachbar, der mit verschränkten Armen neben der Kanzel stand und dem Gottesdienste mit großer Aufmerksamkeit folgte. Rings um ihn her schmetterten die Vorsänger aus vollem Halse den Chorgesang, in den sich die brummenden Töne der Baßhörner mischten; er aber schien sie nicht zu hören, sein Gesicht drückte ernste Sammlung aus. Edmee flüsterte ihrer Mutter, sie mit dem Ellbogen leise anstoßend, fast ohne die Lippen zu bewegen, zu: »Mama, Herr von Ayères ist da . . .«

Die Gräfin machte ein ernstes Gesicht und antwortete nicht, als sei sie über die Leichtfertigkeit und Zerstreutheit ihrer Tochter höchlich entrüstet.

Jetzt sprach der Pfarrer mit gefalteten Händen: »Ite, missa est . . .« und die Kirchenbesucher strebten alsbald mit freudiger Erleichterung unter dem schrillen Klang der auf den Steinfliesen umhergerückten Stühle dem Ausgange zu.

Frau von Croix-Mort gab ihrer Tochter einen Wink, und statt sich nach dem Portal zu wenden, schritt sie der Sakristei zu. Sie wollte ein Zusammentreffen mit dem schönen Ferdinand, der in ihrem Gemüte eine unbestimmte Furcht erregt hatte, vermeiden. Sie war unzufrieden mit sich; der junge Mann beschäftigte ihren Geist viel zu sehr. Die gepolsterte Thür wurde geöffnet und die beiden Frauen betraten ein kleines Gemach mit Nußbaumtäfelung, in welchem der Geistliche unter Zuhilfenahme des Küsters sich der Meßgewänder entledigte. Weihrauchdüfte, vermischt mit dem Geruch der ausgelöschten Wachskerzen, schwebten in der Luft und auf dem Tische breitete sich neben der Stola ein großes, karriertes Taschentuch aus.

»Ah! Sie sind es, meine verehrten Damen!« rief der Greis, seine Soutane hastig zuknöpfend. »Sie wurden gewiß von dem schlechten Wetter zurückgehalten?«

Er wies auf das hohe, breite Fenster der Sakristei, gegen welches ein heftiger Regen schlug, der den Staub wegspülte und in schmutziggrauen Rinnen niederrieselte.

»Nehmen Sie Platz, Frau Gräfin, und auch Sie, liebe Edmee . . .« Damit bot der Alte seinen Pfarrkindern Strohstühle zum Sitze an.

»Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß wir heute abend bestimmt auf Sie zählen. Herr Pfarrer . . .«

»Aber, verehrte Frau, gewiß, wie jeden Sonntag.«

Frau von Croix-Mort errötete über ihren ungeschickten Vorwand. Der Geistliche machte erstaunte Augen. Es trat eine Pause ein. Vom Winde gejagt, prallten die schweren Tropfen von den Scheiben ab, zerstoben in feine Wasserperlen und ihr eintöniges Plätschern versetzte den Priester und die beiden Damen in eine Art schläfriger Müdigkeit.

Edmee erhob sich, und während sie in der Sakristei umherging, fragte sie: »Wie geht es Ihrem Vater, Herr Pfarrer? Ich habe ihn schon sehr lange nicht gesehen . . .«

»Ah, mein liebes Kind, er kann sich jetzt gar nicht mehr von seinem Lager erheben, der arme Mann! . . . Seine Füße tragen ihn nicht mehr . . . Bedenken Sie doch! . . . Sechsundachtzig Jahre! . . . Aber sein Kopf ist noch klar . . . Er spricht oft von Ihnen . . . Und dabei malt er noch immer . . . Ach, mein Gott, es ist wohl ein wenig unsicher und die Farben fließen zuweilen ineinander . . . Doch das hat nichts zu sagen, es beschäftigt ihn und er fühlt sich davon befriedigt . . . Er pflegt mir zu sagen: ›Siehst du, ich kann mich noch nützlich machen!‹«

»Ich muß ihn nächstens besuchen und ihm meine kleinen Arbeiten bringen . . .«

»Damit werden Sie ihm gewiß eine große Freude machen . . .«

Das Aufgehen der Thür schnitt dem Geistlichen das Wort ab und zur nicht geringen Erregung der Gräfin trat Herr von Ayères in die Sakristei. Er grüßte mit dem ihm eignen liebenswürdigen Lächeln, reichte dem Greise mit freundschaftlicher Vertraulichkeit die Hand und sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, wenn ich Sie in Ihrer Ruhe störe; aber ich bin seit einigen Minuten bemüht, die Damen zu suchen . . . Es ist unmöglich, daß sie bei diesem Wolkenbruch zu Fuß heimkehren; ich möchte ihnen meinen Wagen zur Verfügung stellen.«

Der Abbé ließ der Gräfin nicht Zeit zu antworten, er blickte freudig erregt den Besucher an: »Ich bin glücklich, Sie zu sehen, mein lieber Sohn, Sie haben mich seit einiger Zeit nicht gerade verwöhnt . . .«

»Sie wissen, daß ich fast immer in Paris lebe; doch jetzt will ich, wenn Sie es erlauben, bei Ihnen bleiben, indes die Damen ins Schloß zurückkehren . . . Der Wagen wird wiederkommen, um mich abzuholen.«

Frau von Croix-Mort schien durch eine etwas verlegene Gebärde Widerspruch erheben zu wollen, der Baron aber fuhr rasch fort: »O, ich bitte Sie darum, Frau Gräfin. Nachdem Sie mich gestern mit Ihrem Wohlwollen überhäuften, wäre es grausam, mir heute diese kleine Genugthuung nicht gönnen zu wollen.«

Die Gräfin zögerte nicht länger, sie murmelte einige Dankesworte, neigte das Haupt zu einem kühlen Abschiedsgruß, entfernte sich mit ihrer Tochter und durchschritt, von dem Geistlichen begleitet, das Seitenschiff der Kirche. Beim Ausgange angelangt, hielt sie einen Augenblick still und fragte, ohne ihren alten Freund anzublicken: »Kennen Sie Herrn von Ayères schon lange?«

»Seit seiner Geburt . . . Seine Großmutter, Frau von Fréteval, brachte mich hierher . . . Er ist ein liebenswürdiger Mensch, der das Unglück gehabt hat, seine Eltern frühzeitig zu verlieren . . . Mit fünfundzwanzig Jahren war er Herr eines sehr schönen Vermögens . . . nun und dann . . . Sie begreifen wohl . . . wurde er eben etwas rasch damit fertig . . .«

»Wie alt ist er?«

»Er wird so . . . warten Sie . . . so beiläufig nahe an vierzig sein.«

»Ah, wirklich? . . . Das hätte ich nicht gedacht . . . Er sieht sehr jung aus . . .«

»Sie wissen, verehrte Frau, die Blonden bewahren sich im allgemeinen lange ein jugendliches Aussehen. Aber er ist wohl noch nicht vierzig Jahre, vielleicht kaum neununddreißig . . . Ich werde Ihnen dies übrigens ganz genau sagen können, wenn ich das Taufregister nachschlage . . . denn er wurde hier getauft,«

»O, das ist unnötig,« fiel Frau von Croix-Mort lebhaft ein.

Vor dem Thore hielt der Wagen. Unbeweglich, in tadelloser Haltung wartete der Kutscher, ohne den Kopf zu wenden. Der Pfarrer warf die Wagenthür ins Schloß und eilte, ohne zu warten, bis der Wagen sich in Bewegung setzte, zu dem schönen Ferdinand zurück. Dieser wartete in aller Ruhe, indem er die Heiratsverkündigungen auf einer an der Wand angebrachten vergitterten Tafel las.

»Nun denn, mein liebes Kind, wann werden wir Ihren Namen dort eingeschrieben sehen?« fragte scherzend der Alte.

»Aber, Herr Pfarrer,« erwiderte Ferdinand, »man kann sich doch nicht so ganz ohne weiteres verheiraten . . . Zu allererst muß man eine passende Frau finden . . . Kennen Sie etwa eine? Aus Ihrer Hand würde ich sie mit verschlossenen Augen nehmen . . .«

Der Abbé schüttelte ernsthaft das Haupt und blickte Herrn von Ayères tief ins Auge.

»Würde man nicht eine sehr große Verantwortlichkeit übernehmen, wenn man Sie verheiraten wollte? Sie waren ein wilder, leichtsinniger Junge und ich möchte es keineswegs beschwören, daß Sie sich gebessert haben.«

Der Baron fing zu lachen an.

»Vielleicht blieb Ihrem Eifer eine solch löbliche Bekehrung vorbehalten.«

»Bah, das hieße in der Wüste predigen . . .«

»Versuchen Sie es dennoch! Sagte der Herr nicht: ›Es wird mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte?‹«

»Lassen Sie hören, beichten Sie erst ein wenig. Weshalb sind Sie zu uns zurückgekehrt?«

»Um zu sparen.«

»Haben Sie die Absicht, auf dem Schlosse zu bleiben?«

»Den Winter über . . .«

»Du lieber Gott, womit bringen Sie Ihre Zeit zu?«

»Mit Jagen, Rauchen und, wenn Sie erlauben, will ich mit Ihnen Betrachtungen über das ewige Leben anstellen . . . Sie sehen, daß ich auf gutem Wege bin . . . Vielleicht werde ich mit den Damen von Croix-Mort nachbarlich verkehren, wenn sie sich dazu herbeilassen wollen, was mir nicht so ganz sicher dünkt, denn sie scheinen im höchsten Grade ungesellig zu sein.«

»Die Damen sind vor allen Dingen zu jung, um Sie empfangen zu dürfen, ohne daß ihr Ruf darunter leiden würde.«

»In dieser Wildnis? Wer sollte sie hier um ihn bringen? Uebrigens wie alt ist denn die Gräfin?«

»Achtunddreißig Jahre, vielleicht etwas jünger . . .«

So schlicht und harmlos der Priester auch war, so fiel es ihm doch auf, daß Frau von Croix-Mort und Herr von Ayères die nämliche Frage an ihn richteten.

»Es ist doch sonderbar,« dachte er, »daß beide ihr gegenseitiges Alter zu erfahren wünschen.« Hätte er in ihren Herzen zu lesen vermocht, wäre er noch viel erstaunter gewesen. In seinem eignen Geiste begann bereits ein Gedanke zu keimen, ein urplötzlich aufgetauchter, allerdings wunderlicher, aber wie ihm schien, doch nicht unausführbarer, der Gedanke an eine Heirat zwischen Ferdinand von Ayères und Edmee von Croix-Mort.

Und nun grübelte er über diesen Plan eifrig weiter: »Das junge Mädchen ist sechzehn Jahre alt, aber, in der freien Luft und in dem thätigen Landleben erzogen, ist sie bereits so kräftig, als wäre sie zwanzig Jahre. Der junge Mann . . . ja freilich . . . Der junge Mann ist schon etwas reif . . . Vierzig Jahre . . . Aber schließlich, ist er denn schon vierzig Jahre alt? Nehmen wir achtunddreißig an, das ist gleich etwas andres. Vierzig klingt eben nicht gut für einen Bräutigam . . . Dabei ist sein Aussehen so jugendlich, seine Gemütsart so heiter, daß man ihn ganz gut für einen Dreißiger halten könnte. Ein guter Name, gute Familie . . . In der ganzen Gegend ließe sich nichts Bessres finden . . . Und die Gräfin scheint noch gar nicht geneigt, nach Paris zurückzukehren . . . Was dann . . .«

So weit war der wackere Mann gekommen, als er durch die Stimme desjenigen, über dessen Geschick er so leichthin verfügte, in seinen stillen Betrachtungen gestört wurde.

»Herr Pfarrer, mein Wagen wird wohl schon zurückgekehrt sein . . . ich will mich nun von Ihnen verabschieden . . . Es ist halb eins. Sie sind noch nüchtern und ich fürchte, daß Ihr Frühstück durch mich verzögert worden . . .«

»Wenn meine Hausmannskost Sie nicht abschreckt, würde ich mit Vergnügen auch für Sie ein Gedeck auflegen lassen,« sagte der Alte.

»Danke herzlichst . . . Sie werden, wie ich hoffe, nächstens mein Gast sein . . . Bitte, bleiben Sie doch, ich will nicht, daß Sie nochmals die Kirche durchschreiten, um mich zu begleiten . . . Auf Wiedersehen!«

Er verabschiedete sich von dem trefflichen Manne mit einem Händedruck und eilte, um den Alten an der Begleitung zu verhindern, mit raschen Schritten hinweg.

Als ob der Baron von Ayères in diesem Falle auch nur im entferntesten an eine Heirat gedacht hätte! Edmee mit ihren langen Armen, ihrer mageren Gestalt und den verschwommenen Gesichtszügen eines Mädchens, das sich noch in voller Entwickelung befindet, hatte er nur leidlich hübsch gefunden. Desto besser aber hatte ihm die Gräfin gefallen. Nachdem er durch Thorheiten aller Art in eine höchst bedrängte Lage geraten war, da er an den Pferden verlor, was ihm die Weiber gelassen, hatte er sich, dem Rate seines Verwalters folgend, entschlossen, ein oder zwei Jahre auf dem Lande zu leben, um der Mühle neues Wasser zuzuführen. In Paris war er so verrufen, wie es nur ein Mann sein kann, der fünfzehn Jahre hindurch mit allen bekannten Damen Prosceniumslogen besucht und an allen Klubtischen Quinze oder Baccarat gespielt hatte. Um derart herabzukommen, wie er es jetzt war, hatte er achtzigtausend Frank Renten verzehrt, und fühlte sich dadurch weit mehr erschöpft, als wenn er sie durch ehrliche Arbeit erworben hätte.

Sein Verwalter, ein geschäftskundiger Mann, der – seltene Schickung der Vorsehung – zugleich ein ehrlicher Mann war, hatte sich anheischig gemacht, ihm aus den Trümmern seines Vermögens ein ansehnliches Kapital wieder herzustellen, doch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er fern von Paris in Zurückgezogenheit lebe, um seinen Gläubigern die Hoffnung zu benehmen, ihn am Morgen nach einer Schwelgerei mit jenem dringenden Geldbedürfnisse herbeieilen zu sehen, welches einer Hundertfranknote den Wert von fünfundzwanzig Louisdor verleiht.

So hatte er sich, wenn auch keineswegs leichten Herzens, in die Abreise gefügt. Dem stillen Landleben vermochte er jedoch keinerlei Geschmack abzugewinnen und die Einsamkeit flößte ihm Schrecken ein. Das Schloß, welches seine Großmutter, Frau von Fréteval, bis zu ihrem Tode bewohnt hatte, befand sich glücklicherweise in noch gut erhaltenem Zustande, und nachdem Teppiche gelegt und Vorhänge angebracht waren, ließ sich die Behausung nicht ganz ungemütlich an.

Seit sechs Wochen lebte er hier zwischen seiner Dienerschaft, seinen Hunden und seinen Pferden, fand an einem weniger Gefallen als am andern, und sann, wenn auch nicht, wie er dem Pfarrer sagte, über das ewige Leben, so doch über das Menschenleben, und die Wandelbarkeit seiner Geschicke nach.

Bei solcher Stimmung mußte ihm das Erscheinen der Frau von Croix-Mort in der ihn umgebenden Einöde ungemein reizvoll dünken. Ein lebendes Wesen, ein weibliches Wesen war in den Augen dieses Verstoßenen, der sich zur Verlassenheit, zur Einsamkeit verdammt sah, ein Ersatz, den ihm sein widriges Geschick zugestand.

Dieser Schiffbrüchige, der sich voll Verzweiflung auf seiner Insel vergrub und weder von den Menschen noch von Gott Hilfe erwartete, geriet vor Freude außer sich, als er der schönen Gräfin ansichtig wurde. Eine achtunddreißigjährige vornehme Witwe, sehr gut erhalten, hübsch, von etwas geziertem Benehmen, erschien ihm in dem einsamen Provinzwinkel als eine unerhoffte Rettung. Welche Zerstreuung für diesen Blasierten, der, gewohnt, alle seine Nächte im Klub zuzubringen, jetzt über dem Lesen neuer Romane einschlummerte und schon um neun Uhr abends zu gähnen anfing!

In seiner glückseligen Geckenhaftigkeit dachte er keinen Augenblick, daß die Schöne ihm widerstehen könnte. Er hatte keine Mitbewerber; die Festung, die er zu erobern im Begriffe stand, würde mithin von keiner Seite Unterstützung erhalten, wodurch ihre Einnahme, der Belagerungstheorie gemäß, von vornherein gesichert war. Es war bloß eine Frage der Zeit. Und diese Zeit gedachte er durch einen kleinen Liebeskrieg mit all seinen Finten, Hinterhalten und Überraschungen aufs beste auszufüllen.

Das Jahr seines Einsiedlerlebens konnte ihm auf diese Weise sehr angenehm verstreichen und das Ende der Liebeständelei würde mit dem Ende seiner Verbannung zusammenfallen. Dann wollte er seiner Provinzlerin lebewohl sagen und nach Paris zurückkehren, um dort eine reiche Heirat einzugehen, die ihm wieder auf die Beine helfen sollte. Dies war der Plan, den der schöne Ferdinand in seinem Geiste ausgebrütet hatte, und wenn derselbe auch nicht durch vollendete Bescheidenheit glänzte, so zeigte er doch, wie fein ihn sein Verfasser ausgedacht. Übrigens werden ähnliche Pläne so häufig von Erfolg gekrönt, daß es vielleicht von seiten des Barons kein allzu großer Dünkel war, wenn auch er ihn voll kühnen Mutes in Scene zu setzen willens war.

Inzwischen war das Gehirn der Gräfin ihrerseits ebenso lebhaft thätig, wie das des Barons, wenn auch in völlig entgegengesetztem Sinne. Bei ihr handelte es sich weder um eine Heirat noch um einen Liebeshandel. Die verführerische Haltung des schönen Ferdinand hatte gleich bei der ersten Begegnung eine gewisse Unruhe in ihr hervorgerufen. Die empfindsame, nervöse, romantische Dame war eine durchaus ehrenhafte Frau. Irgend ein gutmütiger, graubärtiger, würdiger Edelmann als Nachbar würde sie gewiß nicht erschreckt haben und sie hätte einem solchen gern ihr Haus geöffnet.

Dieser hübsche junge Mann aber mit dem roten Nacken, den blauen Augen, dem goldblonden Bart, der einschmeichelnden Redeweise, dünkte ihr nicht ein Gast zu sein, dem man vernünftigerweise einen ständigen Platz an seinem Kamin einräumen durfte. Frau von Croix-Mort, welche für die Bäume ihres Parkes und die Spiegel ihrer Salons Toilette machte, war fest entschlossen, diesen willig ergebenen Bewunderer fernzuhalten. Sie rechnete es sich zum Verdienste an, daß sie ihr Benehmen so weise einzurichten gedachte; doch muß man hinzusetzen, daß sie ein starkes, echtes Tugendgefühl besaß, welches ihr die Freiheit, anders zu handeln, nicht ließ.

Wäre der schöne Ferdinand ein Heißsporn gewesen, der ungestüm den Sieg erstrebt hätte, so würde er von Beginn an den Erfolg seines Vorhabens ernstlich haben gefährden können. Er wäre an dem Bollwerk gescheitert, welches die von ihm nicht vermutete Verteidigung um sich her aufgerichtet hatte. Er war aber nichts weniger als ungestüm; zudem sah er mindestens ein Jahr vor sich, um Amors Königreich zu durchstreifen, auch wünschte er keineswegs, an den verschiedenen interessanten Punkten vorbeizujagen, da er nicht sicher war, ob er am Ziel selbst längere Zeit mit Vergnügen verweilen würde. Es war somit geratener, die Wegdauer zu verlängern.

Er hütete sich daher wohlweislich, seinen Besuch in Croix-Mort zu wiederholen. Seine berechnete Zurückhaltung bewirkte, daß die Gräfin zuerst die vier Wandlungen vom Erstaunen zum Bedauern, vom Widerwillen zum Verlangen abwechselnd durchmachte und sodann schließlich Vertrauen zu ihm faßte. Es verlohnte wahrlich nicht der Mühe, sich so sorgfältig vor einem Feinde zu verschanzen, der an einen Angriff gar nicht zu denken schien. Wozu Fenster und Thüren schließen? Es war ja kein Einbruch zu befürchten, man durfte sie mithin ruhig offen lassen.

Nach Verlauf von vier Tagen begann Regine zu denken, Herr von Ayères sei gerade kein Muster von Höflichkeit Man hatte ihm eine Gunst erwiesen, die er in geeigneter Weise erwidert hatte, und dabei sollte es nun wohl bleiben, weil er zweifelsohne sich nicht weiter verpflichtet fühlte. Als ob ein Mann einer Frau gegenüber nicht stets ein Schuldner bliebe!

Unter diesen Erregungen trübte sich die Stimmung der Gräfin sehr merklich und Edmee war die erste, welche darunter zu leiden hatte. Als sie eines Tages mit Farbenklecksen auf den Manschetten im Salon erschien, erhielt sie arge Schelte, als hätte sie sich ein großes Verbrechen zu schulden kommen lassen. Sie war gerade mit voller Lust bei der Arbeit, indem sie die letzte Hand an zwei Studien legte, welche sie dem alten Glasmaler, ihrem ehemaligen Lehrer, siegesbewußt zu zeigen gedachte.

»Wenn dein Malen nur irgend einen Sinn hätte,« grollte die Gräfin; »aber du beschmierst die Leinwand ebenso zwecklos wie deine Kleidung . . .«

»Willst du sehen, was ich male?« fragte das junge Mädchen schelmisch.

Damit lief sie schnurstracks nach ihrem Atelier und brachte ihrer Mutter eine kleine Holzplatte, die ein Stück Heideland mit blühenden Gräsern und Birkenbäumen darstellte. Zwei Personen, die recht geschickt gruppiert waren, belebten die Landschaft. Sie schienen miteinander uneinig zu sein; der eine, mit der blauen Bluse, den großen Gamaschen und der runden Kappe konnte nur Billet sein, der andre mit prächtigem blondem Bart, in elegantem, englischem Anzüge, glich ganz merkwürdig dem Baron, der seit einer Woche die Gedanken der Gräfin so sehr in Anspruch nahm. Ein Vogel, der zwischen beiden am Boden lag, schien die Ursache ihres lebhaften Wortwechsels zu sein.

Frau von Croix-Mort warf einen Blick auf das Bild und errötete. Ihre Augenbrauen zusammenziehend, musterte sie prüfend ihre Tochter, von der sie irgend eine Anspielung befürchten zu müssen glaubte.

»Was soll dieses Geschmier bedeuten?« fragte sie mit bebender Stimme.

Edmee sah heiter lächelnd zu ihrer Mutter auf und erwiderte unbefangen, wie jemand, der nichts Böses ahnt: »Es ist Billet, der Herrn von Ayères mit der Klage bedroht! . . .«

»Verschone mich mit deinen dummen Allegorien und lächerlichen Illustrationen,« rief die Gräfin, »und vor allem, lasse dir ja nicht einfallen, dies hier irgend jemand zu zeigen . . .«

Das junge Mädchen war von dieser heftigen Zurückweisung völlig verblüfft und konnte gar nicht begreifen, daß sie eine so schwere Missethat verübt haben sollte. Von diesem Auftritt blieb in ihrem Herzen eine Voreingenommenheit gegen den schönen Ferdinand zurück.

Überdies hatte er ihr gleich beim ersten Anblick mißfallen. Weshalb? Das wußte sie selbst nicht. Es war eine blinde, instinktive Abneigung. Billet, der mürrische, treue Diener, hatte ebenfalls gleich einem Wächterhunde, der einen Übelgesinnten wittert, die Zähne gewiesen und gebrummt. Die Zierereien des Schönthuers hatten auf das schlichte Naturkind einen völlig andern Eindruck gemacht, als sie zumeist auf Mädchen zu wirken pflegen, die eine mehr weltliche Erziehung genossen haben. Edmee fand ihn, der sich unwiderstehlich glaubte, affektiert und sogar ein wenig lächerlich. Der durchdringende Ton seiner Stimme erschien ihr gellend; sein schön frisiertes Haar, sein herrlich gepflegter Bart dünkten ihr zu sehr herausgeputzt, zu sehr geschniegelt, zu sehr »Ziergarten«. Billets struppiger Bart, das breite Lachen in seinem strahlenden Gesicht, wenn er seiner geliebten Herrin ansichtig wurde, gefielen ihr weit besser.

Nachmittags ging sie nach dem Pfarrhause und erzählte dem Abbé ihr Erlebnis vom Morgen. Er lachte darüber, fragte, ob der Baron schon zu einem zweiten Besuche auf Croix-Mort erschienen sei, und war über Edmees verneinende Antwort sehr erstaunt. Er meinte: »Ei, das ist doch höchst sonderbar; er sagte mir doch, daß er kommen würde.«

Irgend einen Verdruß ahnend, im Grunde auch neugierig wie ein altes Mädchen, eilte er noch am selben Abend zu Fuß aufs Schloß. Er fand die Gräfin in erregter Stimmung, zum Sprechen aufgelegt. Sie ließ ihm zuerst einen sehr freundlichen Empfang zu teil werden, wie jemand, der sich langweilt und froh ist, für einige Zeit dem eignen Selbst entzogen zu werden, dann fing sie an, mit ihm über Kleinigkeiten zu streiten.

Im ganzen schlich das Gespräch, solange nur von gut und schlecht Wetter die Rede war, ziemlich träge hin, geriet aber alsbald in einen außerordentlich lebhaften Fluß, als der gute Pfarrer den Namen des Herrn von Ayères ausgesprochen.

»Es hat mich neulich sehr in Verlegenheit gebracht,« äußerte sich die Gräfin, »daß er mir seinen Wagen so beharrlich aufdrängte . . . Ich wollte ihn nicht annehmen, da ich das Anerbieten etwas zu vertraut fand, allein ich konnte es doch nicht zurückweisen, ohne mir den Vorwurf allzu großer Förmlichkeit zuzuziehen. Ich hoffe, daß Ihr Freund mir nicht einen Dienst erwiesen zu haben wähnt, der ihn berechtigt, sich für einen rettenden Engel zu halten.«

»Sie sollten einfach der Unannehmlichkeit entgehen, nasse Füße zu bekommen, das war alles, was er wünschte, Als Sie sich entfernt hatten, sprach er von ganz andern Dingen mit mir. Ich muß gestehen, daß er mich durch seinen Ernst sehr in Erstaunen setzte, nachdem ich ihn früher als etwas leichtsinnig und unüberlegt gekannt . . .«

»Sagen wir es gerade heraus: als schlimmen Lebemann . . .«

»Ich will meinen Nächsten nicht verlästern . . . aber er hatte in der That mehr leichtsinnige als ernsthafte Gedanken im Kopfe . . . Jetzt ist er ein ganz solider Mensch . . . scheint mir auch nicht abgeneigt, an eine Heirat zu denken . . .«

»Und um diesen schönen Vorsatz zu verwirklichen, kam er in diese Gegend? . . . Wen sollte er hier heiraten? Irgend eine Bauerndirne der Umgegend?«

»Ich glaube, Frau Gräfin,« erwiderte der Pfarrer mit scheinheiliger Miene, »daß er gerade nicht sehr weit zu gehen brauchte, um . . .«

Frau von Croix-Mort ließ den guten Mann nicht zu Ende kommen, sie erhob sich rasch und versetzte mit strengem Blick: »Kein Wort weiter, bester Herr Pfarrer, Sie würden mich ernstlich böse machen. Kommen wir auf diesen Gegenstand nicht wieder zurück . . .«

Im selben Augenblick trat Edmee ins Zimmer. Der Abbé dachte, die Gräfin wolle das Gemüt des jungen Mädchens nicht beunruhigen, indem sie in ihrer Anwesenheit vom Heiraten sprach, und da sie ihre Tochter noch zu jung finde, halte sie alle Anträge für verfrüht. Keinen Augenblick jedoch ahnte er, daß Frau von Croix-Mort auf sich selbst bezog, was ihrer Tochter gegolten hatte.

Es war dies ein Mißverständnis, welches unheilvolle Folgen nach sich ziehen sollte. Hätte der würdige Priester nur noch drei Worte hinzuzufügen vermocht, so würde Regine dem Baron fortan, wenn auch nicht mit Widerwillen, so doch mit Gleichgültigkeit entgegengetreten sein. Sie würde ihren Entschluß, ihn von ihrem Hause fernzuhalten, aufrecht gehalten haben und hätte damit das Verhängnis abgewandt. Während einer Viertelsekunde blieb das Geschick dieser drei Wesen in der Schwebe, um sich sodann zu gunsten eines koketten Spieles zu entscheiden.

Frau von Croix-Mort fühlte sich nach dieser Unterredung vollkommen beruhigt. Sie stellte sich den schönen Ferdinand nicht mehr als einen beutegierigen Wolf vor, sondern hielt ihn jetzt für ganz sanftmütig. Allerdings verlor er dabei ein Körnchen Poesie, aber er gewann die Möglichkeit, das Haus besuchen zu dürfen. Einen kühnen Galan mit unternehmenden Absichten im Schach zu halten, war etwas schwierig, allein ein stiller Anbeter mit redlichen Absichten mußte leicht zu zügeln sein.

Der Gräfin eröffnete sich die köstliche Aussicht auf eine zarte Liebeständelei, einen kleinen Krieg, den sie nach Laune und Belieben zu führen sich gar wohl die Kraft beimaß. Die Träumereien, in denen sie sich seit zwölf Jahren gefiel, sollten nun endlich Gestalt und Leben erhalten. In der Vereinsamung ihrer Witwenjahre hatte sie sich ihr ganzes Leben im Geiste nochmals neu geschaffen. Wie ein gefangener General, der seine müßige Zeit mit dem Ersinnen von Schlachtplänen ausfüllt, hatte sie herausgefunden, was in diesem oder jenem Falle ihres Ehelebens hatte gethan werden sollen. Mit den Grundsätzen, welche sie sich jetzt für jede Lage gebildet hatte, mußte sie bei einem Rückblick in ihre Vergangenheit manche höchst bedenkliche taktische Fehler entdecken.

Wie oft, wenn sie voll Bitterkeit des Kummers gedachte, mit dem Herr von Croix-Mort ihr Leben getrübt hatte, pflegte sie sich zu sagen: »Ach, wenn es sich von neuem anfangen ließe, wie ganz anders wüßte ich jetzt vorzugehen! Hätte ich ihm mutig die Stirn geboten und mich energisch, statt resigniert, kokett, statt traurig gezeigt, so würde ich mir seine Neigung haben erhalten können und mein ganzes Dasein hätte sich anders gestaltet.« Auf diese Weise hatte sie sich in ihrem Innern für ihre Vergangenheit entschädigt und glänzende Siege über den Verstorbenen errungen. Heute fühlte sie sich durch das, was sie ihre Erfahrung nannte, gereift und fürchtete den Kampf nicht mehr. Vielleicht mochte sie ihn sogar herbeiwünschen.

Am Tage nach dem Besuche des Geistlichen unternahm die Gräfin bei herrlichem Herbstwetter eine Kahnfahrt auf dem Flusse. Edmee, welche seit ihrer Kindheit die Ruder zu führen gewohnt war, lenkte das kleine Boot mit großer Gewandtheit. Regine, die rückwärts am Steuer saß, ergötzte sich an dem Duft des schattigen Mauerwerkes, das sich, einer Laube gleich, über das rasch dahineilende Wasser wölbte, aber ihre Augen sahen sich an dem Flimmern und Blinken der sich kräuselnden Wellen allmählich müde, indes das leise Schaukeln des Nachens sie in eine köstliche Betäubung wiegte.

Der dunkle Schatten, den die Wölbung der Steinbrücke, welche beide Ufer miteinander verband, auf die Divonette warf, ließ die im Sonnenschein glitzernde Flut, die sich wie ein silberglänzendes Band zwischen den grünenden Gestaden hinzog, noch schimmernder erscheinen. Als Edmee sich der Brücke näherte, drehte sie sich um, und die Hände hohl geschlossen wie ein Sprachrohr an den Mund haltend, stieß sie mehrfache, langgezogene Rufe aus, welche alsbald von dem Echo einer mit dunklen Tannen gekrönten Felsenbucht zurückgegeben wurden. An dieser Stelle trat der Fluß in die freie Ebene hinaus und bildete hier eine Strecke weit die natürliche Grenzlinie des Parkes. Der Strömung folgend, glitt jetzt das Boot an graubraunen Ackerkulturen und Ginstergesträuchen entlang, aus denen sich das heisere Glucksen der Fasanen vernehmen ließ.

Edmee vereinigte ihre ganze Stimmkraft zu einem letzten Schrei, setzte sich hierauf wieder im Kahne zurecht und nahm die Ruder zur Hand. Im selben Augenblicke tönte der Ruf aus der Ferne wider, doch nicht aus dem geheimnisvollen Munde des Echos, sondern von menschlichen Lippen wiederholt. Die Gräfin blickte auf und gewahrte den schönen Ferdinand, der aus dem Waldesdickicht heraustrat. Als der Baron Frau von Croix-Mort erkannte, machte er eine Gebärde des Erstaunens, eilte mit beschleunigtem Schritte quer durch Stechginster und Schwertlilien herbei und stieg bis zum Strande der Divonette nieder.

»Entschuldigen Sie, Frau Gräfin,« sagte er mit dem Hute in der Hand, »wenn ich eine Unhöflichkeit beging, indem ich die Rufe beantwortete, welche ich in der Ferne vernahm . . . Ich glaubte, es wäre irgend ein kleiner Hirtenjunge, der zu seiner Unterhaltung in die Luft hinausschrie . . . Ich bin soeben auf dem Wege nach Croix-Mort, wohin ich mich heute zu Fuß durch den Wald begeben wollte . . .«

»Indes war es meine Tochter, welche die hübsche Stimme eines Hirtenjungen hat,« entgegnete lachend die Gräfin. »Da Sie die Absicht haben, uns zu besuchen, so wollen wir Sie nicht den Umweg durch den Park machen lassen . . . Edmee, rudere den Kahn ans Ufer, um zu landen . . . Sie haben uns am Sonntag Ihren Wagen geliehen, heute wollen mir Ihnen unser Fahrzeug anbieten.«

»Jedenfalls ist das Wetter heute unvergleichlich angenehmer,« erwiderte Herr von Ayères, nach dem blauen Himmel weisend . . .

Mit einem Satze war er in dem Boot, das, von Edmee gelenkt, mit seinem Bug das Röhricht des Flusses niederbeugte, und fragte, indem er sich auf einer der Bänke niederließ: »Wollen Sie mir gestatten, mich nützlich zu machen und Sie beim Rudern zu unterstützen? . . .«

»Können Sie überhaupt rudern?« gab die Gräfin fragend zurück . . . »Werden Sie uns nicht in Gefahr bringen, umzukippen? . . .«

»O,« meinte Edmee ironisch, »das könnte man nicht, auch wenn man es wollte . . . Es ist ein Flachboot, das nur etwas schwer zu lenken ist und die Arme ermüdet . . .«

»Dennoch, mein Fräulein, traue ich mir Kraft genug zu, es zu führen.«

Hierauf ergriff er die Ruder, welche er alsbald mit einer Sicherheit und Gewandtheit handhabte, die gründliche und längere Übung bekundeten. Das Boot schwamm mit großer Geschwindigkeit dahin, und Regine, die am Steuer geblieben war, betrachtete mit Wohlgefallen den schönen Schiffer mit dem goldblonden Bart und der lebensfrohen Miene, der sie wie im Fluge zu entführen schien. Es war ihr, als sei ihr bis jetzt trübes, düsteres Dasein in einem Augenblick heiter und lachend geworden. Eine ungekannte Wonne schwellte ihr die Brust, Lieder traten ihr halb unbewußt auf die Lippen und trunken von der klaren, milden Luft, dem sanften Wiegen des Kahnes hätte sie ewig so weiterzugleiten gewünscht.

Jetzt fuhren sie bei einer Wendung des Flusses in den großen Teich ein, der sich inmitten eines weiten Rasenplatzes vor dem Schlosse ausdehnte. Schwäne ruderten an das Boot heran, streckten den langen Hals vor und öffneten den Schnabel, um das gewohnte Stückchen Brot in Empfang zu nehmen. Hier befand sich der Ankerplatz, der Baron legte an, ohne daß man die mindeste Erschütterung gefühlt hätte, sprang hinaus und bot der Gräfin und ihrer Tochter die Hand zum Aussteigen. Zum erstenmal fühlte Regine ihre Hand in der Ferdinands. Der junge Mann drückte sie leicht und hielt sie eine Sekunde länger als nötig fest. Die Gräfin entzog ihm dieselbe mit hochmütiger Kälte, ohne zu ahnen, daß dieser sanfte Druck die Kette zusammengeschmiedet hatte, die sie zu Tode drücken sollte.

Schweigend durchschritten sie die Anlagen, und vor der Freitreppe angelangt, fragte Regine: »Wünschen Sie einzutreten? . . . Ich glaube, wir würden uns auch hier im Freien wohl fühlen . . .«

»Um so mehr, als mein Spaziergang und meine Ruderübung mir warm gemacht,« stimmte Herr von Ayères bei, »und es in den Gemächern des Schlosses recht kühl sein muß . . .«

»Daran denke ich eben. Doch Sie werden Durst fühlen . . . Edmee, sorge doch, daß wir Erfrischungen bekommen . . .«

Sie nahmen auf Gartenstühlen aus Rohrgeflecht Platz und begannen, da beide sich etwas befangen fühlten, von alltäglichen Dingen zu plaudern. Er erzählte, daß er viel schlagbares Holz habe und sich in Verlegenheit befinde, da er vom Forstwesen durchaus nichts verstehe. Seit zwanzig Jahren war auf dem Gute kein Baum gefällt worden und nun war der Aushieb von dreißig Hektaren Hochwald, der zu verderben anfing, im Interesse der Besitzung notwendig geworden. Die Gräfin verstand jedoch gleichfalls nichts davon, obgleich sie häufig genug über alte und moderne Forstkultur sprechen hörte.

»Wenn Sie wünschen, werde ich mich an Billet um Auskunft wenden . . .«

»An meinen persönlichen Feind?« unterbrach sie lachend der Baron.

Die Gräfin wurde ernst: »Ich will hoffen, daß Sie dies nicht in Wirklichkeit annehmen . . . Alle meine Leute müssen unsern Freunden achtungsvoll begegnen . . .«

»Wenn es genügt, Ihnen zugethan zu sein, gnädige Frau,« sagte Herr von Ayères mit einschmeichelnder Liebenswürdigkeit, »um von diesem Brummbären gern gesehen zu werden, so muß Meister Billet mich vergöttern . . .«

Die Gräfin erwiderte nichts. Inzwischen kam Edmee mit einem Diener herbei, der ein Präsentierbrett trug. Ferdinand sah zu seiner Freude, wie Regine ihm mit ihren schönen Händen ein Glas Kirschensaft, mit Eiswasser gemischt, zubereitete. Er trank es bedächtig in langsamen Zügen, wie einen von einer schönen Zauberin dargereichten Liebestrank, plauderte noch eine Viertelstunde und entfernte sich sodann, eine zu Hause getroffene Verabredung vorschützend, während er in der That beabsichtigte, sein Besuch möge etwas zu kurz befunden werden.

Die schlau berechnete Zurückhaltung, mit welcher sich Herr von Ayères bei dieser Gelegenheit benahm, ließ ihn in den Augen der Frau von Croix-Mort als einen viel ernsteren Mann erscheinen, als wofür sie ihn bisher gehalten. Der lockere Vogel hatte sich einen so günstigen Anstrich zu geben verstanden, daß er ungescheut süß thun konnte. Er wurde in die Klasse jener angenehmen Personen eingereiht, deren Hingebung man sich durch einige Lieblingsgerichte ohne jede weitere Verbindlichkeit erhalten kann und die eine sehr angenehme Zierde des Salons bilden.

Die Gräfin hatte niemals Gelegenheit gehabt, derartige Meister der Verführungskunst kennen zu lernen, da sie sowohl bei Lebzeiten ihres Mannes, wie während ihres Witwenstandes stets in Zurückgezogenheit gelebt hatte. Sie war demnach nicht im stande, den Unterschied zwischen einem sanften, gutmütigen, girrenden Täuberich, für den sie Ferdinand hielt, und dem gefährlichen, raublustigen Sperber, der er in Wirklichkeit war, zu erkennen. Aber selbst wenn sie mehr Erfahrung und einen größeren Scharfblick besessen hätte, so war der Schelm hingegen so wohl vermummt, daß sie dessen Klauen nicht gewahrt haben würde. Um vor jeder Gefahr geschützt zu sein, hätte sie ihm klugermaßen bloß ihre Thür zu verschließen gebraucht; dazu aber hatte sie im Grunde gar keine Lust. Sie war von der Sucht nach irgend einem außerordentlichen Erlebnis ergriffen, empfand das lebhafte Verlangen, die trostlose Apathie, die sich ihrer bemächtigt hatte, von sich zu schütteln, und so ging sie selbst der Gefahr entgegen.

Herr von Ayères wiederholte nach einigen Tagen seinen Besuch und legte ein so heiteres, gutmütiges, gefälliges Benehmen an den Tag, daß er für den nächsten Sonntag mit dem Pfarrer zu Tisch gebeten wurde. Die Gräfin hatte lange überlegt, ehe sie sich zu dieser Einladung entschloß, allein am Ende fand sie doch die gleichzeitige Anwesenheit des Geistlichen hinreichend, um jeden Zweifel zu beseitigen; auch war ja in dieser Weise die Schicklichkeit gewahrt. Und zu all dem sagte sie sich, daß sie nicht mehr jung sei und daß eine Frau »in ihrem Alter« sich wahrhaftig einige Freiheiten gestatten dürfe.

Sie genoß jetzt das berauschende Vergnügen, einen Mann ausschließlich mit ihrer Person beschäftigt zu sehen, der stets bestrebt schien, ihre kleinen Launen zu befriedigen, ihren Wünschen zuvorzukommen. Sie fühlte sich ihm gegenüber nicht befangen, nicht gedrückt, wie sie es bei Herrn von Croix-Mort gewesen, dessen untadlige, kalte Höflichkeit sie stets in einer gewissen Entfernung von ihm gehalten hatte. Zwischen dem unzugänglichen, stolzen Edelmann und dem hingebenden, gemütlichen Ferdinand, der eine aufrichtige Freundschaft für sie zu empfinden vorgab, lag eine weite Kluft, und eben in diesen von Blumen und Grün verdeckten Abgrund war Regine jetzt im Begriff zu stürzen.



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