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Das Meer trat allmählich zurück; wo eben noch der Fluten munteres Spiel gewesen war, erschien bald ein grauer Fleck, zuerst noch ein wenig vom Wasser, in dem sich die untergehende Sonne spiegelte, überspült, dann aber immer mehr den Glanz verlierend und mit den Nachbarflecken zu einer Ebene auswachsend: die Wattgründe zur Ebbezeit. Nur in den Tillen, Prielen und Baljen strömte es noch, mit immer zunehmender Eile floß das Wasser dem offenen Meere zu, die kleinen Fische, Taschenkrebse und Garnelen mit sich reißend.
Drüben von der Insel fuhr die Wattpost ab. Der am Deich stehende Marineoffizier konnte beobachten, wie sie jetzt in die erste Priele eintauchte; das Wasser ging den Rädern bis zur Achse, aber unentwegt trabten die vier Pferde weiter, der Wattlotse auf seinem derben Bauerngaul immer voran.
Ein kühler Wind fächelte die Stirn des Einsamen, und tief atmete er auf. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, wie wenn er eine unangenehme Erinnerung wegwischen wollte.
Herrgott, war der Anblick schön!
Drüben die Insel, im Abendnebel fast verschwindend, aus dem der wetterfeste, massive Turm sich allein noch hervordrängte, und in seiner Lichterkrone sich spiegelnd die untergehende Sonne. Und dann das Kleinleben auf dem Watt: Hier suchte ein verirrter Krebs nach dem rettenden Wasser, dort schwebte verderbendrohend ein Austernfischer einher oder stolzierte ein Regenpfeifer, hin und wieder einen klagenden Ton ausstoßend. Alles in das matte Rosa des Abends getaucht.
Gebannt hing Otto von Nordheims Auge an dem Schauspiel. Und von all dem scheiden müssen? Schaudernd schüttelte sich der Offizier bei dem Gedanken. Aber was blieb sonst übrig? Etwa nach Erhalt des bekannten blauen Briefes als Lebens-, Feuer-, Unfall-, Diebstahl- und Einbruchs-Versicherungsagent herumkrebsen, um nach zwanzig Besuchen zehn Mark verdient zu haben, oder Postmeister oder Bahnhofsvorsteher in Langweildudichsdorf werden? Nein, verbindlichsten Dank! Ja, wenn er noch lebte, er, an dem er mit den ganzen Fasern seines Seins gehangen hatte – und seine Blicke schweiften nach dem kleinen Friedhof, dessen weiße Kreuze über den Deich lugten – aus dem er das machen wollte, was er nicht geworden war, jenes Mannesideal, das er sich in heißen Träumen ersehnt, ja dann wäre es ganz etwas anderes gewesen, für den Jungen, seinen Jungen hätte er Stiefel geputzt und Flaschen gespült.
Und dann war noch eins da: Jemand, dem es noch viel schwerer gefallen wäre, hinabzusteigen, deren unbändiger Stolz, deren maßlose Eitelkeit ihm schon so viele jammervolle Stunden bereitet, deren herrschsüchtiges Wesen ihn zum Hause hinaus und in den wilden Strudel des Kasinolebens hineingetrieben hatte: seine Frau! In diesem Augenblick schlug nichts mehr in seinem Herzen für sie. Seine Liebe war ein Rausch gewesen, der schnell verflog; eine Zeitlang war es dann wieder friedlicher geworden bei ihm im Haus, damals, als der vergötterte Junge geboren wurde. Da sah er in ihr nur die Mutter seines Lieblings und übersah großmütig die kleinen Schwächen und großen Torheiten, mit denen eine Frau das Haus zur Hölle machen kann. Glücklich und zufrieden konnte er stundenlang an der Wiege des Jungen sitzen und bei der Lektüre irgend eines strategischen Werkes den ruhigen Atemzügen des Kindes lauschen.
Dann kamen aber jene schrecklichen drei Tage. Toni war gerade bei einer Freundin, als der trockene Keuchhusten mit seinen bellenden Tönen zum ersten Mal an das Ohr des Vaters schlug. Die Mutter wurde geholt; unwillig, um solcher Lappalie willen, um eines ganz gewöhnlichen Hustens willen aus ihrer Gesellschaft geholt worden zu sein, wollte sie gerade wieder in ihre Stube hinübergehen, als der von Nordheim herbeigeholte Garnisonarzt eintrat. Er untersuchte das Kind und traf seine Maßregeln.
»Doktor, wie steht's?« fragte der Kapitänleutnant ängstlich.
»Viel kann ich noch nicht sagen,« war die Antwort, »aber es wird gut sein, wenn jemand die Nacht über bei dem Kinde wacht ...«
Der Arzt ging und Otto von Nordheim trat seine Wache an. Drei Nächte hindurch saß er da, in der dritten ließ er noch einmal den Arzt holen, die Atemzüge des kleinen Kämpfers waren so leise geworden, das Raspeln in der Brust hatte ganz aufgehört ...
»Ist die Krisis eingetreten?« fragte er.
»Ja,« erwiderte der Arzt ernst, »aber bereiten Sie ihre Frau Gemahlin auf alles vor ...«
Otto ging hinüber und weckte sie.
»Ist der Doktor da?« war ihre erste Frage.
»Ja, er meint – –«
Er ging wieder hinüber und setzte sich neben dem Arzt ans kleine Bett, er nahm die leise zuckende Hand seines Lieblings in die seine und harrte nun des Augenblicks, da sie zum letzten Mal zusammenfahren würde.
Lange war das geschehen, die Todeskälte war schon an die Stelle der Lebenswärme getreten, da kam erst die Mutter ...
*
Von dieser Nacht an hatten sich die Lebenswege der Gatten getrennt. Sie lebten neben-, nicht miteinander. Alles, was gut in Otto von Nordheim war, war erstickt; er begann wieder das tolle Leben seiner Junggesellenjahre, und je schneller er dem Ruin entgegensegelte, desto lieber schien es ihm zu sein. Nur hin und wieder hatte er seine »heiligen Stunden«; das war, wenn er den Kirchhof des Garnisonortes aufsuchte, dort hinterm Deich. Dann weinte Otto von Nordheim um sein Kind und um sein besseres Ich, das dort unter dem betenden Marmorengel mit eingesargt worden war. In dieser Dämmerstunde kam wieder die Sehnsucht nach dem stillen Grabe über ihn, und schon wollte er sich dem Deich zuwenden, als vom Watt her eine lustige Stimme rief:
»Halloh, Nordheim! Fahren Sie doch mit uns!«
In seine Erinnerungen versunken, hatte der Offizier gar nicht das Nahen des Wattwagens bemerkt; jetzt stampften die vom Seewasser feuchten Rosse schon neben ihm und zogen schwerfällig den sich in den Ufersand einmahlenden Wagen.
Der Sprecher, ein Artillerieoffizier, wiederholte seine Bitte.
Nordheim winkte ab: »Ich wollte ...« er stockte; nein, den Kameraden wollte er nicht verraten, was er eben gewollt hatte. Schnell sagte er dann: »Die Gäule haben schwer genug zu ziehen, – fahren Sie nur voran, ich komme nach ins Kasino ...«
»Pardon, Herr Kapitänleutnant,« rief nun ein junger Offizier, »wenn's weiter nichts ist, so steige ich ab, bin so wie so von der langen Fahrt etwas steif geworden.«
Aber ehe er sein Vorhaben ausführen konnte, war Nordheim bereits auf den Wagen gesprungen; man hatte inzwischen die Landstraße gewonnen, und in schnellem Trab ging es dem nahen Garnisonsorte zu. Man hatte jetzt den Blick frei über den Deich. Ein fernes Rauschen klang herüber.
»Die Flut kommt!« sagte einer der Offiziere.
»Nach uns die Sintflut!« lachte ein anderer.
Und dumpf wiederholte Nordheim, indem er mit einem eigentümlichen Blick auf das Meer hinausblickte: »Ja, nach uns die Sintflut!«
Die Gäule griffen wacker aus, und nach einer halben Stunde hielt der Wagen vor dem Kasino.
*
Der Abend war toller gewesen als je, und der tollste, lustigste war Otto von Nordheim. Die Witze sprudelten nur so von seinen Lippen. Man hatte erzählt, gelacht, getrunken und – gewürfelt. Das Pech verfolgte den Kapitänleutnant beständig. Aber je mehr er verlor, desto lustiger wurde er.
Als man sich trennte, war es gegen Morgen.
Nordheim ging nicht nach Hause.
»Nach uns die Sintflut!« murmelte er leise vor sich hin. »Wieviel war's noch? Zehn ... zwölf ... nein – vierzehntausend, und bis mittags zwölf Uhr zu bezahlen ... Ha! ha!« er lachte laut in die Nacht hinaus. Jetzt war es also so weit! Er konnte mit mathematischer Sicherheit ausrechnen, wann er sich die Kugel durch den Kopf jagen mußte, da er die Ehrenschuld nicht begleichen konnte. Er stellte sich vor, wie sie dann alle kommen würden, der Garnisonarzt, der Kommandant, Toni, nachdem sie vorher Toilette gemacht hatte, wie damals – damals –
Nein, Pfui Teufel, so sollten sie ihn nicht finden, und Toni sollte um ihren Toiletteneindruck kommen.
»Gibt es denn keine andere anständige Todesart?« sprach er wieder vor sich hin; »nach uns die Sintflut!« Plötzlich blieb er stehen. »Donnerwetter, der Kerl hatte Recht! An das Wort soll er noch lange denken!«
Und er wandte seine Schritte dem Deich zu. In den Gärten, an denen er vorüberschritt, blühten noch einige verspätete Rosen. Im Vorübergehen riß er sie von den Stämmen, und als er am Kirchhof ankam, hatte er eine ganze Hand voll, – gelbe, weiße, rote, ganz ohne Wahl. Er schritt durch die Gräberreihen. Wie er sie beneidete, die da unten ruhten, sie hatten den Kampf überstanden – ihm stand er noch bevor. Endlich war er dort, wo er sein wollte. »Hier ruht in Gott ...« weiter konnte er nicht lesen. War es eine Wolke, die den Mond verdunkelte, oder Tränen, die den Blick ihm trübten? Aber er wollte nicht weich werden. Er streute die Rosen über das kleine Grab aus, pflückte sich selbst eine von dem Strauch, den er mit eigener Hand seinem Liebling auf die frühe Ruhestatt gepflanzt hatte, und brach ein Blatt von dem Efeu, der den Hügel umrankte.
Dann schritt er hinaus. Efeu und Rose steckte er in ein Knopfloch seiner Uniform.
Nordheim ging aufrecht auf die Krone des Deiches.
Das Watt lag vor ihm. Die Wasser waren wiederum abgelaufen, aber diesmal spiegelten sich nicht in rosigen Tinten die Sonnenstrahlen in den Tümpeln und Prielen, sondern das bleiche Licht des Mondes war über die unendliche Fläche wie ein weißes silberdurchwirktes Leichentuch ausgebreitet. Bisweilen huschten Wolken über den Mond, und in gigantischen Formen fuhren ihre Schatten über die Gründe dahin. Da konnte man von der Insel drüben das Licht des Leuchtturms erblicken, das ruhig und stetig brannte.
Nordheim sah zu ihm auf. Noch während er von der Deichkrone hinabschritt in den weichen Ufersand, blickte er zu ihm hinauf. Auf seiner letzten Wanderung sollte er ihm Leitstern sein. Das Watt nahm ihn auf; auf dem festen Boden schritt er dahin, – lange – lange. Er durchwatete eine Priele; eine fromme Zeit, so hatte er sagen hören, hatte sie Sünden-Balje getauft. Und dann kam noch eine. Bis an die Knie kam er ins Wasser hinein. Noch gab es eine Umkehr. Unwillkürlich blickte er zum Ufer zurück. In diesem Augenblick trat wieder der Mond durch die Wolken und beleuchtete die Kreuze und Steine des Friedhofes. »Ich komme bald,« murmelten seine Lippen, und weiter wanderte er, des Leuchtturms Licht im Auge. Da hörte er ein fernes Rauschen ...
»Meine Sintflut!«
Fast jubelnd klang es, und entschlossen schritt er weiter. Nun gab es kein Entrinnen mehr ... diese Gewißheit gab ihm eine Ruhe wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Das Rauschen kam näher und näher ... die Wellen stiegen ... sein ganzes Leben zog noch einmal vor seiner Seele vorüber ... der Mond war längst untergegangen, eine halbe Dämmerung stieg im Osten auf ... Das letzte, was er sah, war, daß glühend der Sonnenball aus dem Wasser aufstieg. Dann sank er in die Tiefe, aber nicht lange, dann trug den Toten der Flutstrom nach oben, und, das starre Auge der ausgehenden Sonne zugewendet, trieb er ins uferlose Meer hinaus ...
Toni von Nordheim hat nie eine Rose auf ihres Gatten Grab legen können!