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Wie graue Perlen, an einer braunen Schnur gereiht, so hingen schwere Regentropfen an den Sträuchern und Büschen; ein schwerer Nebel lag über den Wiesen und ließ das Dorf hinter der dichten, dunkelgrauen Schicht ganz verschwinden ...
Ein Lastwagen, mit Möbeln voll beladen, rollte langsam die mit Klinkern gepflasterte Landstraße hinunter, von einem Paar müder, schwerer Pferde gezogen. Auf dem Persennig, der die Möbel bedeckte, bildete das Regenwasser Lachen, die bei dem Schwanken des Wagens bald nach hier, bald nach dort überschossen und spritzten. Neben dem Kutscher, der über seinen Gummirock noch eine Pferdedecke geworfen hatte, saß Mine Lüttje in einen dunklen Regenmantel gehüllt und einen Schirm über ihrem Kopf lavierend, dessen Stellung sie je nach der Richtung veränderte, aus der der Wind blies. Allemal, wenn er etwas stärker einsetzte, fuhren die Spritzen von dem Schirm dem Fuhrmann mitten ins Gesicht, und mit großer Präzision ließ sich dann ein unterdrücktes Fluchen vernehmen; der innere Groll fand seinen äußeren Ausdruck dann in einem paar Peitschenhieben, welche die Gäule veranlaßten, etwas schneller zuzutraben.
So ging es eine lange Weile, und gerade wollte Jochen Stein wieder einmal ob einer Regenwasserladung wettern, als gleichzeitig durch den Windstoß der Nebelschleier für einen Augenblick zerriß und die Lücke den Kutscher erkennen ließ, daß man die am Eingang des Dorfes befindliche Brücke bereits erreicht hatte.
»Jü!« rief er darum und schwippte mit der Peitsche auf das Handpferd, das sofort stramm anzog und so den schweren Wagen auf die Höhe der Brücke brachte, die den kleinen Fluß überspannte, welcher das Dorf Steinworth umfloß.
Gleich links von der Brücke lag der Gasthof.
Gewöhnt, hier einzukehren, wollten die Pferde sofort abbiegen, aber mit gewaltigem Ruck riß Stein sie herum und lenkte sie wieder der holperigen Dorfstraße zu.
»Nee, Hans und Lieschen,« rief er, »hüt geiht dat nich nah Pinnow, hüt fahrt wi no den doden Lehrer sien oll Hus!«
Mine Lüttje sah den verwetterten Gesellen von der Seite an; sollte das Spott sein, sollte so der erste Gruß der seit dreißig Jahren nicht gesehenen Heimat lauten? Aber sie fand keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Wagen hielt bereits vor ihrem Elternhause, einer kleinen windschiefen Kathe, so recht dazu eingerichtet, das Altenteil eines alten Paares zu sein.
Der Ortslehrer, Herr Müller, stand vor dem Häuschen und überreichte ihr, unter dem leckenden Schirm stehend, die Schlüssel zum Hause. Es sei alles in Ordnung, meinte er kühl, nun habe er aber Eile, sein Nachmittagsunterricht beginne.
»Also, adieu!«
»Adieu!«
Und schnell war Herr Müller im Nebel verschwunden.
Mine wandte sich zu Stein.
»Na, denn man to!«
Er schlug den Persennig zurück und trug dann einen Teil der Möbeln nach dem andern ins Haus; alles konnte er allein bewältigen, nur das Klavier nicht, das, mit dem Rücken an den Kutscherbock gelehnt, noch auf dem Wagen stand.
»Do kann mi woll Klaus Pinnow sien Ältesten bi helpen,« meinte er.
»Gewiß, denn lop man eben henn,« war Minens Antwort, und, nachdem er seine Pferde abgesträngt hatte, eilte Stein dem Gasthofe zu.
*
Mine Lüttje fand indessen Muße genug, ihr neues, altes Heim zu betrachten.
Dreißig Jahre waren vergangen, seit sie den »doden Lehrer« hinausgebracht hatten auf den stillen Gottesacker am Ende des Dorfes und die weinende Tochter dem lieben »Alten« den letzten Liebesdienst erwiesen hatte. Die Linden vor dem Hause waren gewachsen seit jener Zeit, knorriger waren ihre Äste, rissiger die Rinde geworden. Und ebenso war es ihr ergangen. Das Leben hatte sie in dem Menschenalter gewaltig herumgeworfen, von einem Haus war sie ins andere gegangen, von einer Schule in die andere, – das schwere Brot der Lehrerin essend, der es nicht gegeben ist, sich die Herzen ihrer Schüler zu gewinnen, die verhöhnt von der Jugend, mißverstanden von den Eltern, in ihrem eigenen Charakter die Dornen findet, die ihren Lebensweg so schmerzvoll gestalten. Ohne materiellen Segen war dies Leben freilich nicht gewesen; das tiefe Wissen, die strenge Rechtlichkeit und ein unermüdlicher Fleiß hatten ihr immer wieder neue Quellen eröffnet, aus denen der goldene Segen floß. Wenn Mine Lüttje so bis in die Nacht hinein arbeitete, ihre Nerven zermarternd, unaufhaltsam vorwärts strebend, so schwebte ihren müden Sinnen ein süßes Bild vor, das ihre erlöschende Spannkraft immer von neuem wieder anregte: das lindenumstandene Häuschen im weltfremden Heidedorf, in dem die geliebten Eltern den Lebensabend so still und glücklich verlebt hatten. Auch ihr sollte es dereinst die stille Zufluchtsstätte nach den Stürmen des Lebens werden, wunschlos und einsam hoffte sie unter freundlichen Nachbarn, friedlichen Dorfbewohnern, ihre Tage zu beschließen. Sie sah sich im Geiste auf der Bank unter den schattigen Linden sitzend, die Burschen und Mädchen kehren von der Feldarbeit heim, sie freundlich grüßend, auch gesellte sich wohl ein Nachbar zu ihr, tauschte seine Meinung über das Wetter mit der ihrigen aus. Dann kam der Abend, im Sommer in lauschiger Laube, im Winter bei der blank geputzten Rüböllampe, die dampfende Teekanne vor sich ... Ha! es würde eine herrliche Vergeltung für die Bitternisse ihrer Arbeitsjahre, eine schöne Quittung für all die Bosheiten der Vergangenheit sein. Und damit ihr auch ja das traute Nestchen warm gehalten wurde, hatte sie alljährlich bedeutende Summen verwandt, das Häuschen zu erhalten, bis dereinst ihr Tag käme. Der jeweilige Lehrer des Dorfes war immer so gefällig gewesen, das Haus des »toten Lehrers« unter seine besondere Obhut zu nehmen, bis auf Herrn Müller, der ihr eben die Schlüssel überreicht hatte, – freilich wenig freundlich ... nun, das mochte das üble Wetter verschuldet haben, das überhaupt gar nicht so recht zu dem Bilde paßte, das sich Mine von ihrer »Heimkehr« gemacht hatte ...
»Dat is see also ... ok all bannig ut'n Snider ...«
Mit diesen Worten wurde die alte Lehrerin aus ihren Träumen aufgeweckt. John Pinnow, den der Kutscher Stein zur Hülfe gerufen hatte, um das Klavier in die Wohnung zu tragen, hatte so gesprochen.
Die beiden Leute hatten rote Gesichter, ein Zeichen, daß ein oder mehrere Grogs die Nüchternheit des grauen Nebeltages bereits von ihnen genommen hatten.
»N' Tag, Fräulein Lüttje,« nahm Pinnow gleich wieder das Wort und rückte seine Mütze ein wenig, »also sie wünschen die städtische Musikkommode in die beste Stube rin zu haben? – Kann werden, – – kann werden –«
»Ja, bitte, aber ein wenig vorsichtig, denn das Klavier ist sehr wertvoll.«
»Wir sind immer sehr patentlich, verehrtes Fräulein Lehrerin,« machte Pinnow großmäulig, »als kürzlich denn oll Dröhnklos Pastor Schwarzer sien Harmonikum keum, da hebbt wi dat ok ganz vernünftig von Stein sien Wagen rünnerbrocht ... nich Jochen?«
Der Kutscher nickte bloß, als sie aber nun endlich mit vieler Mühe das Klavier vom Wagen hoben und auf die Erde setzten, klangen die Saiten doch ganz bedenklich, was Fräulein Lüttje zu dem Ausrufe »O Gott!« veranlaßte. Da tat Pinnow ganz beleidigt, und als Mine ihm für seine Mühe ein Trinkgeld anbot, meinte er großspurig, er arbeite nur aus Gefälligkeit und nehme besonders von ihr kein Geld. Sie sollte es lieber dazu benutzen, den alten Kasten wieder reparieren zu lassen, wenn er ihn etwa beschädigt haben sollte.
Dann nahm er Jochen Stein unter den Arm und trollte, geringschätzige Reden über die »alte Schachtel« führend, die Dorfstraße entlang, während die Pferde mit dem Wagen müde und hungrig hinterher zogen, dem Gasthofe zu.
Mine Lüttje blieb traurig allein.
*
Am Abend hatte John Pinnow im Krug das große Wort. Er erzählte breitspurig von dem Einzug der Fremden, wußte merkwürdige Geschichten von der Lehrerin zu erzählen und tat namentlich damit groß, wie er ihr Bescheid gesagt habe, als sie ihm ihre »paar Kröten« angeboten hatte – ihm, dem Einzigen des reichen Dorfkrügers, dem Erben eines Hofes, der nahezu so groß sei, wie der von Wilm Lammstedt, dem Gemeindeschulzen.
»Un se is nich alleen,« fuhr er fort, »se het noch Een bi sick.«
Alles horchte auf, und der Lehrer Müller zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Einen Jungen?« fragte er, und in seiner Frage lag schon das Urteil über die Lehrerin, »habe doch nichts gesehen, als sie ankam.«
»Ja, dat weet ick nich, se harr ehrn Krimskrams jo all binnen, as ick dortokäm.«
»Is se denn jung?« fragte ein Bauer Heinsohn, der Nachbar der Lehrerskathe.
»Dat kunn ick nich sehn,« erwiderte Pinnow, dem es offenbar Vergnügen machte, seine Zuhörer gespannt zu machen, »dat wör jo all düster ...«
Nach längerem Zaudern ließ sich denn John Pinnow endlich herbei zu erzählen, was er beobachtet hatte.
»In de Achterstuw, upp'n Kist, do sitt en groten fürchterlichen Kater, de fürchterlich to prusten anfung, wenn wi beiden in de Näh kömen.«
»Sooo ...« machte man allgemein, »also blot en Veeh ...«
»Ick heff jo ok gornix anders seggt,« griente der Wirtssohn; »wat ji ju denkt, dafür kann ick doch nix!«
»Nee,« sagte der alte Bauer Heinsohn und spuckte giftig auf den mit weißem Sand bestreuten Fußboden, »en Kater hebbt ok ander Lüd' mol, als olle Lehrersdöchter ...«
Und ein Seitenblick traf den Lehrer, von dem Fama behauptete, daß er in den ersten Morgenstunden hin und wieder Schreibübungen von seinen Schülern und Schülerinnen veranstalten ließ, bei denen er nicht nötig hatte, allzuviel selbst nachzudenken.
Herr Müller fühlte sich aber durchaus nicht getroffen, er forderte von Pinnow, der stillvergnügt hinter dem Schenktisch saß, einen neuen »Nördlichen« und sagte seelenruhig:
»Aber ein gewöhnlicher Kater, John, der kann doch kaum so fauchen, daß so'n tapferer Kerl, wie du, bange wirst!«
»Bange, Lehrer, keine Idee! Es war aber auch kein gewöhnlicher Kater, sondern einen ganzen wilden, mit einem großen gelben Kopf und langem Schwanz. De Oogen de gleuhden, als wenn du in Düstern mit'n Riwsticken an de Wand entlang fahrst.«
»Den Donner!« rief Herr Müller, »das ist ja eine Wildkatz; nu nehmt euch man in acht, Heinsohn, daß euch der liebliche neue Einwohner nicht an das Hühnervolk oder in den Karnickelstall geht; das ist ein böser Räuber, solche Wildkatze.«
Und er stellte nun lange Betrachtungen über die Gefährlichkeit dieses letzten freien Bewohners unserer Wälder aus dem Katzengeschlecht an, versprach auch den Kindern darüber eine Lektion zu geben und sie zu warnen vor der gefährlichen Wildkatze des Fräulein Lüttje.
Heinsohn aber war ganz empört über die Keckheit der Alten, solch ein Tier in den Dorffrieden einzuschmuggeln.
»De verdammte Wildkatt,« murmelte er ein über das andere Mal, und noch als er an der Lehrerkathe vorüberschritt, an deren Fenstern noch Licht brannte, hob er drohend den Arm.
»Verdammte Wildkatt, wie fiert di rut!«
*
So war es denn gekommen, daß das alte Lehrersfräulein im Dorfe allgemein die »Wildkatze« hieß; sie selbst als die zunächst Beteiligte, erfuhr diesen Spitznamen zuletzt von allen. Es war an dem Sonntagnachmittag, als sie dem Pastor ihren Besuch machte.
Das altersgraue Kirchlein, das unten noch aus Felsquadern gemauert war, stand mitten in dem alten, längst nicht mehr zum Beerdigen dienenden Friedhof, der auf einer Anhöhe lag; in seiner schlichten Einfachheit, umgeben von den morschen Grabsteinen, die halb auf die Gräber gesunken waren, und überragt von dem alten, mit großen Schallöchern für die Bet- und Stundenglocken versehenen Turm, paßte der alte Bau so recht zu dem weltvergessenen Heidedorf, zu der spärlichen Vegetation der benachbarten Äcker, den verkrüppelten Bäumen und den Wetter- und seelenharten Dorfbewohnern.
Das Pfarrhaus, neueren Datums, aber doch schon wieder von wildem Wein umsponnen, sah schon freundlicher aus ... und als ein matter Sonnenstrahl das Haus traf in dem Augenblick, da Mine es betrat, sah es geradezu traulich aus.
Das alte Fräulein, das noch nicht viel freundliche Blicke in ihrem Heimatsdorfe gesehen hatte, ging deshalb guten Mutes hinein und erklärte dem Mädchen, das nach dem Begehr fragte, daß sie den Herrn Pastor sprechen möchte.
»Hei slöppt ober!« sagte das Mädchen.
»De is in de Stuw, hier gliek rechts.«
Und sie öffnete eine Tür, aus dem lautes Kindergeschrei ertönte; mitten drin im Zimmer saß die Frau Pastor und strickte, ziemlich unbekümmert um die schreienden und lärmenden Göhren. Als sie das alte Fräulein eintreten sah, stand sie auf und bat, Platz zu nehmen.
»Mama,« rief da eins der Kinder, »das ist ja die Wildkatz.«
»Aber Gottfried,« tadelte die Mutter, und sich an die Fremde wendend: »Entschuldigen Sie, meine Liebe, das ist solche ungezogene Redensart, die die Dorfkinder aufgebracht haben. Sie haben wohl eine große, gelbe Katze?«
»Ja, eine echte Wildkatze, sie ist aber durchaus zahm ...«
»Soo? Das sollte mich freuen, liebes Fräulein, denn sehen Sie, Sie haben einen unangenehmen Nachbar, diesen Heinsohn; dessen Klaus hat auch den Namen für sie aufgebracht. Sie müssen sich nichts dabei denken. Fast jeder Dorfbewohner hat hier solchen Beinamen. Das wird beim Biertisch erfunden und macht so die Runde. Sie müssen wissen, die Dorfbewohner trinken sämtlich, mein lieber Mann hat viel Sorge mit der Gemeinde.«
»Das war doch früher nicht so,« wagte das Fräulein hier schüchtern einzuwenden.
»Das dürften Sie schwerlich beurteilen können, mein liebes Fräulein, als Sie unsere Gemeinde verließen, waren Sie ja noch so jung.«
»Fünfundzwanzig Jahre war ich, als der Vater starb.«
»Hm, ja, damals waren Heinsohns wohl noch nicht ihre Nachbarn?«
»Freilich, dann können Sie es auch nicht wissen, was für geradezu unglaubliche Menschen das sind! Wenn sie ihre Stolgebühren abliefern sollen – wir sind leider noch immer darauf angewiesen –, dann geht der Jammer los; das schlechteste Huhn aus dem ganzen Dorfe kommt sicherlich von ihnen, von den Eiern ist die Hälfte faul; na, Sie werden schon noch ihre Freude daran haben. Achten sie nur auf ihre Wildkatze ...«
In diesem Augenblick trat der Herr Pastor ein, ein großer, dunkelblonder Mann mit glattrasiertem Antlitz und einer goldenen Brille auf der stark gebauten Nase.
»Ah! unser neuer Ankömmling!« sagte er, auf Mine Lüttje zuschreitend und ihr die fleischige Hand reichend, »hoffentlich auch bald ein neues Gemeindemitglied!«
Das alte Fräulein verstand wohl, was er damit sagen wollte; sie war noch nicht in der Kirche gewesen. Sie war deshalb in einiger Verlegenheit, was sie antworten sollte, aber der Pastor half ihr darüber hinweg, indem er fortfuhr:
»Der Teil des Dorfes, in dem Sie wohnen, liebes Fräulein Lüttje, gehört gerade nicht zu meinen liebsten Pfarrkindern, die Heinsohns, Pinnows und leider auch der Herr Lehrer setzen niemals ihren Fuß in das Gotteshaus ...«
»Vielleicht sind sie sonst aber brave Menschen,« sagte Mine, sie merkte aber gleich, daß sie eine Dummheit begangen hatte, denn Pastor Schwarz zog die Augenbrauen in die Höhe und sagte:
»Gute Menschen sind selten außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft.«
Und in langer Rede setzte er seinem Besuch auseinander, was er von seinen Gemeindemitgliedern wünsche; er vergaß auch nicht die alte Lehrerin zu ermahnen, die Predigt eifrig zu besuchen, dabei des »Treibens in der Welt draußen« verächtlich gedenkend, das nur ablenke von dem einen Gute, der Gnadenwahrheit des Christentums.
Als Mine Lüttje das Pfarrhaus verließ, war sie der festen Überzeugung, daß sie es freiwillig nicht wieder betreten würde; der geistliche hochmütige Herr, die beschränkte Pastorsfrau und die schlecht erzogenen Kinder machten das Haus nicht gerade zum Ideal eines evangelischen Pfarrhofes ...
Es dunkelte schon, als sie ihrem Hause näher kam; da stand eine Reihe Menschen vor ihren Fenstern, und als sie herantrat, sah sie, wie die Heinsohnschen Jungen zum Gaudium der übrigen Dorfjugend und auch eines Teils Erwachsener, mit kleinen Steinen gegen die Scheiben warfen.
Und dahinter auf der Fensterbank saß die Wildkatze, mächtig prustend und fauchend und mit den Tatzen gegen die Scheiben trommelnd. Ihre Augen glühten in dem Halbdunkel wie feurige Kohlen.
Immer toller wurden die Würfe der Bengel und immer mächtiger klirrte die Tatze der Katze gegen die Scheiben. Atemlos lief Mine Lüttje hinzu und ihren Schirm schwingend rief sie:
»Laßt das Tier zufrieden, oder wollt Ihr mit ihren Krallen Bekanntschaft machen?«
Trotzig blieben die Jungen stehen; einer erhob sogar die Hand gegen den Schirm der Alten, aber kaum hatte er das getan, da klirrte die Scheibe, und in einem wilden Satz sprang ihm die Wildkatze auf den Nacken.
Entsetzt stob die Menge auseinander, laut heulte der Bengel auf, dem die Krallen des Tieres in den Nacken drangen.
Und sicherlich wäre es ihm miserabel gegangen, wenn nicht Mine Lüttje mit ihrer kleinen gichtbrüchigen Hand die Katze weggerissen und auf ihren Arm genommen hätte, wo das aufgeregte Tier laut fauchend sitzen blieb.
Der Bengel, der sah, daß ihm keine Gefahr mehr drohe, sprang zurück und rief wütend, indem er sich das Blut vom Halse wischte:
»Täuw, du Wildkatt, dat vergell' ick di!«
Mine Lüttje war in ihre Stube gegangen und hatte sich trüben Sinnes am Fenster niedergesetzt; die Katze kauerte am Ofen und warf nur hin und wieder einen ihrer glühenden Blicke nach dem sinnenden Menschenkind am Fenster. Auf der Straße war es jetzt still, der Mond war aufgegangen und durch die dichten Lindenblätter fiel hin und wieder ein Strahl in das stille Gemach. Also die Wildkatze machte man ihr zum Vorwurf! Es war ja nicht das erste Mal, daß sie so etwas hörte; als sie am Tage nach ihrer Ankunft beim Dorfschulzen war, um ihre Anmeldung zu besorgen, hatte der gesagt, sie dürfe das Tier nicht frei im Garten und auf der Straße herumspazieren lassen, denn es sei ein gefährliches Raubtier, wie der Herr Lehrer an dem Morgen in seiner Schule auseinandergesetzt habe. Seitdem hatte Mine ängstlich darauf geachtet, daß das Tier innerhalb ihrer vier Wände blieb, das gute, zahme Tier, das sie dereinst von einem Förster im Elsaß geschenkt erhalten hatte, als es noch ganz klein war. Mit unendlicher Mühe hatte sie es aufgezogen und dann mit in ihr fernes Heimatsdorf genommen, um wenigstens etwas aus dem früheren Lärm in die Einsamkeit mit hinüber zu nehmen. Aber nun ließen die argen Gesellen das arme Tier schon nicht mehr im Hause in Ruhe; sie mußte also unbedingt noch mehr Acht geben, wenn sie nicht Unannehmlichkeiten haben wollte.
So blieb sie denn daheim und vereinsamte nun völlig. Aber auch dort ließ man ihr keine Ruhe. Der Vater Heinsohn hatte Klage gegen die Lehrerin erhoben, sie war zum Sühnetermin vor den Dorfschulzen geladen, dann mußte sie eines Tages in die nächste Stadt vors Amtsgericht und, wenn die alte Person auch freigesprochen und dem Antrage Heinsohns, die Wildkatze zu töten, auch nicht stattgegeben wurde, so wurde Mine doch durch all diese Widerwärtigkeiten, bei denen es nur Hohn und Spott auf sie herabregnete, immer mehr verbittert; nur zu bald kam sie zur Einsicht, daß ihre schönen Träume von dem trauten Dasein und dem Verkehr mit freundlichen Nachbarn in Nichts zerronnen waren.
Aber noch besaß ihre Seele Elastizität genug, um sich darüber hinwegzusetzen; sie hatte ja noch ihr Klavier, ihre Bücher und den lieben Freund ihrer Einsamkeit, die Wildkatze, das einzige lebende Wesen, das ihre Liebe und Sorgfalt, die sie dereinst an ihm verwandt hatte, vergalt, – so lange man ihr das nicht nahm, wollte sie nicht zagen, nicht murren.
*
In der Seele ihrer Nachbarn war aber ein Stachel zurückgeblieben; Heinsohn hatte das nicht erreicht, was er wollte, und nun suchte er mit der Hartnäckigkeit des Niedersachsen das, was er auf geradem Wege nicht erlangen konnte, auf krummen Pfaden in seine Gewalt zu bekommen. Die »verdammte Wildkatt« war ihm nach wie vor ein Dorn im Auge; der Geizige fürchtete nicht nur für sein Geflügel, sondern gönnte auch der gehaßten Nachbarin nicht die Freude, einen Genossen ihrer Einsamkeit zu haben.
Eines Tages bekam Mine Lüttje folgende Drohung auf einer Korrespondenzkarte: »Dien Katt schal in de Vagelbur, da wölt wi se rinsteeken, un de Vagelbur stellt wi achter dien Döör, dat du darüber fallen sallst, un de dat deiht, wahnt ganz dicht bi di!«
Anstatt nun den einzig richtigen Weg zu beschreiten, nämlich den anonymen Drohbrief der Polizei zu übergeben, war die arme, alte Person bereits so eingeschüchtert, daß sie fortan ihre Katze nur noch ängstlicher barg und nur noch zur nächtlichen Stunde mit ihr das Haus verließ, wenn sie sicher zu sein glaubte, daß das ganze Dorf schlief. Einmal aber traf sie auf solchem Wege den Lehrer Müller, der schwer betrunken nach Hause wankte und dabei in der Nähe der Katze taumelte, die sofort wieder ihr wildes Fauchen begann. In eiliger Flucht stürzte der Geängstigte davon, so schnell ihn seine unsicheren Beine zu tragen vermochten, und seit jener Nacht galt ihm die Vernichtung des Tieres als ein lehrer- und gottgefälliges Werk. Durch allerlei versteckte und auch deutliche Hinweise wußte er seine Jungen in eine Horde zu verwandeln, die es als eine edle Tat ansahen, die alte Lehrerin zu peinigen und die Katze in ihre Gewalt zu bringen. Sie schlichen in den Abend- und Nachtstunden um das Haus herum, klopften an die Fenster, die Wände, steckten Holz und Steine in die Schlüssellöcher, – kurz, machten der Alten das Leben auf jede Weise schwer.
Allmählich litt auch die Gesundheit der Lehrerin darunter; bald sah sie auch Verfolgungen, wo keine waren, und schon ein Schatten, der an ihrem Fenster vorbeihuschte, konnte sie in die tödlichste Angst versetzen. Häufig verfiel sie in Ohnmächten, die Nächte wurden unruhig, mit lautem Schrei fuhr sie oft aus dem Schlaf auf und griff nach dem Fußboden, wo die Wildkatze unter ihrem Bett ihr Nachtquartier aufgeschlagen hatte. Fand sie dann den weichen Pelz und glitt dann eine rauhe Zunge über ihre Hand, so schlief sie wieder ein, aber häufig nur, um bald wieder aufzufahren.
Eines Nachts wachte sie auch so plötzlich auf – sie mußte merkwürdig lange hintereinander geschlafen haben, denn das Nachtlicht war schon weit heruntergebrannt; sie fühlt unter das Bett, die Katze fehlt. Sie springt auf, durchsucht das Zimmer, die Wohnstube, – nirgends eine Spur von dem Tier. Jammernd eilt sie im leichten Nachtkostüm in die Küche, in den Garten, – kein Rufen, kein Locken hilft; die Wildkatze ist verschwunden. Als sie in die Dachstube hinaufgeht, weht ihr beim Öffnen der Tür ein kalter Hauch entgegen und mit ihm ein Blatt, das vom Fenster zu kommen scheint; die Scheibe ist zerbrochen, und auf dem Blatt liest sie die Verse:
Din Katt ist nich in' Vagelbur,
Steiht ok nich an de Dör;
Nu, Olsch, bist du sülvst an de Tour,
Nu, Mine, seh' di vör!
Ja, ihr habt Recht, ihr ruchlosen Gesellen, die ihr der Alten ihr Letztes, ihr Liebstes geraubt habt – nun ist Mine Lüttje selbst an der Tour. Das habt ihr wohl nicht gedacht, als ihr zum Dachfenster einstiegt und der Wildkatze vergiftete Ratten vorwarft, an denen sie bald verendete, daß ihr damit der Alten den letzten Rest geben würdet!? Und als ihr dann die Leiche der Katze wegholtet und den rohen Vers am Fenster befestigtet, da ahntet ihr wohl nicht, daß jede Zeile ein Stoß ins Herz der alten Lehrerin war, die Keinem von euch je nur ein Härchen gekrümmt hatte?
*
Am nächsten Morgen, der kalt und bleich heraufstieg, saß Mine Lüttje, wie gewohnt, in ihrem Lehnstuhl am Fenster und blickte hinaus auf die Dorfstraße; die Lindenblätter bewegten sich wie alltäglich im Morgenwinde, die Knechte zogen aufs Feld hinaus, die Mägde zogen hinterdrein, – alles ganz wie gewöhnlich, nur die Katze schnurrt nicht an ihrem Platz am Ofen. Da auf einmal blickt Mine starr auf – die Schuljugend zog daher und trug auf einer aus Schulränzeln gebildeten Tragbahre ihre tote Wildkatze daher, wie in feierlicher Kirchen-Prozession. Hohnlachend blickten die frechen Buben nach ihrem Fenster hinüber und zogen die Mützen, – da will sie hinausstürzen, um die Bengel zu züchtigen, sie will den Arm erheben ...
Mine Lüttje hat den Arm nicht mehr erhoben, ein Mächtigerer hat mild und sanft seine Hand auf ihr armes Herz gelegt, und nun sitzt die alte Lehrerin starren Auges am Fenster, dorthin schauend, wo sie ihr letztes Liebstes zuletzt erblickt. Als sie am dritten Tage morgens noch ebenso saß und der Lehrer erzählt hatte, daß er in der Nacht zuvor im Mondschein ihr blasses Antlitz am Fenster gesehen habe, genau in derselben Stellung wie Tags zuvor – da ging man in ihr Haus hinein und fand die alte Lehrerin kalt und starr.