Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Und dann kam die Stunde des Erwachens. Überraschend schnell, ganz unerwartet, mitten im Taumel.

Ich weiß noch, wie ich an jenem Morgen in den jungen Tag hinaustrat, von einem thatfrohen Gefühle der Lebenskraft durchbraust, dessen ich schon allzu lange entbehrt hatte, in übermütiger Laune, gesund und heiter. Es war ein Abend voll körperlicher und seelischer Qual vorangegangen, voll Mutlosigkeit und Verzweiflung; es war nach einer so trostlosen, nebeltrüben Stimmung, daß ich, krank und mir selber zum Überdruß, die halbe Nacht hindurch über Selbstmordplänen gebrütet hatte. Und nun ... Hatte der todähnliche, traumlose Schlaf mir Genesung gebracht, oder bereitete sich Großes vor, das einen Widerschein warmen Lichtes schon jetzt in mein Stübchen warf? Auf den Häuserfronten und Dächern lag weißer Sonnenschein, der Himmel flimmerte in opalenem, weißblauem Glanz, wie zur Frühlingszeit, und die Bäume waren possierlich dick bereift. Feine, weiße, sonndurchleuchtete Nebel hingen um das zart abgetönte Bild und schlossen es nach allen Seiten hin anmutvoll ab. Welch eine reine, sanfte Schönheit nach dem kotigen Unwetter der letzten Tage! Ich richtete mich straff auf, wie ich durch die Straßen eilte, ich sog die kalte, frische Winterluft lächelnd ein, ich freute mich heute beinahe, daß der Weg zu Jonas von mir aus so weit war. Und es ging mir durch den Sinn, wie undankbar ich doch war gegen Gott, die Welt und mich selbst, ich in meinem Reichtume.

Herr Martin Jonas empfing mich selber. Er berührte meine ihm entgegengestreckte Hand nur flüchtig und hatte eine sehr steife Haltung angenommen. »Es ist mir lieb, Herr Doktor, daß Sie mich noch zu Hause treffen. Ich bespräche gern mancherlei mit Ihnen.« Er lud mich mit so herablassender Geberde ein, Platz zu nehmen, daß ich ihm einen sehr erstaunten, halb spöttischen Blick zuwarf; doch achtete er gar nicht auf diese Äußerung meines Befremdens.

»Kommen wir gleich zur Sache,« begann er in ganz geschäftsmäßig kühlem Tone. »Sie bemühen sich seit einiger Zeit auffällig um meine Tochter. Ich habe das nicht nur selber beobachtet, man hat mich leider auch von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht. Viel lieber wäre es mir gewesen, von Ihnen, Herr Doktor, rechtzeitig Näheres darüber zu hören. So hätte es sich, nach meinem Dafürhalten, auch durchaus geschickt.«

Daß mein Verhältnis zu Hilde bereits in aller Leute Munde war, das zu hören überraschte mich aufs äußerste. Diese brutale Neugier, die sich zudringlich mit unserer Liebe befaßte und unser trautes Geheimnis plump entweihte, that mir weh, wie grelles Mittagssonnenlicht kranken Augen weh thut. Mit einem Schlage waren mir so unsagbar holde Illusionen zerstört, entheiligt, in den Staub gezogen – ich fand kein Wort der Erwiderung.

»Das wäre passend gewesen, wohlanständig!« fuhr Herr Jonas überlaut fort und trommelte dazu mit den Fingern auf der Tischdecke. »Sie haben es für angebracht gehalten, anders zu handeln, Herr Doktor. Ich habe Sie in mein Haus gezogen, habe Ihnen vertraut und, ich darf wohl sagen, Ihnen eine fast väterliche Freundschaft entgegengebracht. Denn ich bin selbst jung und arm gewesen; Sie erinnerten mich an meine Jugend. Ich bedaure es deshalb doppelt, daß Sie mein Vertrauen so schmählich getäuscht haben.«

»Herr Jonas!« Ich sprang erregt auf. »Was Sie da sagen –«

»Wir sind hier in meiner Wohnung, und ich kann sagen, was ich will!« schrie er, krebsrot im Gesicht werdend. »Schmählich getäuscht haben Sie mich; das ist das richtige Wort. Das alberne Balg, die Hilde – die war Ihnen und Ihrer Suada nicht gewachsen. Die ließ sich von Ihnen beschwatzen, mein junger Herr. Aber als Ehrenmann hatten Sie die Pflicht, Rücksichten zu nehmen, Rücksichten auf meine Familie, die Ihnen nur Gutes gethan.«

Er spielte sich auf den Wohlthäter hinaus, und das brachte mich in Zorn. »Ich bin kein Bettler, bin es jetzt weniger als sonst, bin von keinem Menschen abhängig und brauche weder Ihre noch sonst jemandes Gunst. Wenn Sie mich beschimpfen wollen, obgleich ich Ihnen ruhig zuhöre, so gehe ich auf der Stelle fort. Sie sind Hildens Vater, und ich weiß, ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig, aber weiter nichts, und –«

Der Alte lachte wütend auf. »Rechenschaft schuldig, aber weiter nichts! Das ist wohl ein Witz? Und daß Sie meine Tochter kompromittierten, unrettbar kompromittierten, Herr, das ist wohl auch nichts? Sie sind doch alt genug, um die Folgen Ihres Thuns ermessen zu können! Ich war auch einmal in Ihren Jahren, aber es ist mir nie eingefallen, ein unbescholtenes Mädchen aus guter Familie ... Sie sollten sich schämen, schämen sollten Sie sich! Ich finde keine Worte, um den Vertrauensbruch zu kennzeichnen, dessen Sie sich schuldig gemacht haben. Ja, bitte – Ihr Aufbrausen hat gar keinen Zweck! Was gedenken Sie denn jetzt zu thun?«

Ich wußte abermals keine rechte Antwort auf seine Frage.

»Sie werden sich nun vielleicht gütigst herablassen, Hilde zu heiraten?« spottete er. »Die Spekulation ist ja so dumm nicht, und die alberne Gans hat natürlich nicht geahnt, worauf es Ihnen ankam. Aber prosit Mahlzeit! So ein Narr ist der Martin Jonas nicht.«

»Sie glauben doch nicht, daß ich Ihres Vermögens wegen –«. Ich fühlte, daß ich bleich geworden war und zu zittern begann.

Jonas sah mich haßerfüllt an. »Ich traue Ihnen jetzt noch viel mehr zu. Ich habe mich in Ihnen so gründlich getäuscht, so in jeder Beziehung ... Es sind mir Dinge zu Ohren gekommen, die es mich bereuen lassen, Ihnen einen Teil der Erziehung meiner Söhne übertragen zu haben; Dinge, die mich Ihren – Ihren Umgang mit Hilde geradezu als eine –.« Er schrie wieder, daß es dröhnte, aber er blickte in meine Augen, und es mochte ein Licht darin glimmen, das ihm nicht gefiel. So vollendete er den Satz nicht.

»Was gehen mich die Klatschmäuler an, denen Sie Ihre Wissenschaft verdanken?« fragte ich verächtlich. »Und überhaupt, was geht Sie mein Thun und Lassen an? Sie kennen mich viel zu wenig, als daß Sie sich ein Urteil darüber anmaßen dürften. Und Fräulein Hilde – ja, ich mag unbedacht gehandelt haben. Aber das können Sie mir getrost glauben, jede gemeine oder gar kaufmännische Absicht lag mir fern.«

»Gemein oder gar kaufmännisch – so? Das ... das ... Nun, ich verstehe Sie. Schon gut. Sie wußten, daß Sie Hilde nicht heiraten konnten, daß ich nie meine Zustimmung gegeben hätte. Das Mädel ist mir zu gut für einen Habenichts. Besonders in Ihrem Fall. Sie leben weit über Ihre Verhältnisse hinaus, Sie machen Schulden, Sie entziehen sich jeder geordneten Thätigkeit – solchen Schwiegersohn, meinen Sie, würde ich mir auf den Hals laden? Ich bin ein wohlhabender Mann, Gott sei Dank, aber ich verspüre keine Lust, zwei Familien statt einer zu ernähren. So. Das wäre meine Antwort auf Ihren Antrag gewesen.«

»Erstens habe ich keinen Antrag gestellt,« erwiderte ich, meine Erregung niederkämpfend. »Zweitens war und ist es mir unsäglich gleichgiltig, ob Sie ein wohlhabender Mann sind oder ein Schnorrer. Reichtum imponiert mir schon garnicht.« Ich konnte es selbst in dieser Stunde und dieser Lage nicht unterlassen, zu prahlen. »Denn was das Geld anbelangt – wer weiß, ob ich's nicht sehr bald aufnehmen kann mit Ihnen und den Herrschaften, denen Sie Ihre Nachrichten über mich verdanken.«

Er lachte wieder laut auf. Und dies Lachen, dies geringschätzige, freche Lachen des übermütigen Protzen entflammte mich zur äußersten Wut.

»Sie glauben also wirklich noch, Ihr Gold wäre es gewesen, Ihre paar Pfennige, die mich in Ihr Haus führten? Und Sie glauben wirklich, alle Menschen dächten wie Sie, und alle Menschen trachteten nur darauf, mühelos und rasch Geld zu verdienen wie Sie? Ich beneide Sie um diesen Glauben. Aber es thut mir leid, Ihnen die feste Zuversicht nehmen zu müssen. Versuchen Sie's, kaufen Sie mir meine Freiheit ab – ich bin nicht zu haben.«

»Spielen Sie mir doch kein Theater vor!« unterbrach er mich barsch. »Mit großen Worten wirken Sie vielleicht auf so 'n dummes Göhr – bei unsereinem zieht das nicht. Im übrigen, was reden wir lange? Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt, klar und deutlich, und ich wiederhole Ihnen noch einmal: Sie haben mich schändlich hintergangen, Sie haben ehrlos –«

»Widerrufen Sie das Wort! Widerrufen Sie!« keuchte ich, mit einem Satze vor ihn hinspringend. »Oder ich – oder –«

»Oder?« äffte er mich nach, seinen mächtigen Brustkasten dehnend und meine schwächliche Gestalt von oben bis unten messend. »Wahrhaftig, jetzt amüsieren Sie mich. Ihr Honorar werde ich Ihnen übrigens zusenden lassen. Sie wohnen ja wohl – wohnen ja wohl noch da in der Wassergasse irgendwo, vier oder fünf Treppen hoch, was, Herr Doktor?«

Ich griff nach meinem Hute. »Gewiß, da wohne ich. Und ich bin sehr stolz darauf. Ich möchte hier nicht wohnen, um keinen Preis der Welt. Und wissen Sie, weshalb?«

»Es interessiert mich gar nicht.« Er wandte mir den Rücken und ging auf die Thür zu.

»Weil all dies Wohlleben Schande ist!« schrie ich, meiner Sinne nicht mehr mächtig. »Weil es Diebstahl ist, Raub, weil Blut daran klebt, Blut ... Hören Sie? Das Blut der Hundert, die Sie erbarmungslos drücken und schinden, die hungern müssen, damit Sie Schätze sammeln können. Und das, glauben Sie, könnte einem Menschen Ehrfurcht einflößen? Gäbe Ihnen ein Recht, auf mich herabzublicken? Nein, auf Sie und Ihresgleichen blicken wir herab, wir Habenichtse, wir Bettler, die wir unterm Dach wohnen und hungern, und doch nicht mit Ihnen tauschen möchten, nein, keine Stunde lang.«

Er war in der Thür stehen geblieben. »Sind Sie fertig?« fragte er. »Sehr großartig klang das nun grade nicht. Ich habe Ähnliches schon öfter gehört und gelesen. Und daß Sie hungern, ist mir neu. Bei Mühling hungert man sonst nicht. Und nun –!« Er hob die Hand. Ohne ihn anzublicken, mit höhnisch verzerrten Mienen ging ich hart an ihm vorbei und verließ das Haus. Es war höchste Zeit, denn das wahnsinnige Hämmern in den Schläfen hatte wieder begonnen, und meine Kniee wollten den Dienst versagen. Wie ich die Treppe hinunterrannte, mußte ich plötzlich stehen bleiben und mich am Geländer festhalten; ich sah nur noch einen flackernden Blutstrom vor meinen Augen, fühlte, wie mein Puls stockte und der Atem ausblieb. Großer Gott – was ging mit mir vor?

Das Sonnenlicht lag greller und goldener als vorhin auf der Straße; ich ertrug es nicht, ich wankte auf die Schattenseite hinüber und schleppte mich mühsam vorwärts. Jetzt erst fühlte ich die Wucht des betäubenden Schlages, den ich empfangen hatte; in der Erregtheit der ersten Minuten und im Angesicht des dreisten Protzen war es mir kaum zum Bewußtsein gekommen, was ich eben verloren hatte. So grausam zerstört lag alles, was meinem Leben neuen Sinn, neuen Inhalt verleihen sollte; ein roher Bursch konnte mit einem Worte mein Teuerstes und Liebstes vernichten, meine reinste Freude. Vernichten? Eignete ihm wirklich die Macht dazu? Er würde Hilde schärfer bewachen als bisher, wir würden uns seltener sehen können, aber auf die Dauer vermochte der Armselige nichts über unsere Liebe. Wir würden uns doch finden, und wenn eine Welt von Hindernissen zwischen uns läge. Um meinetwillen hätte sie nicht nur Vater und Mutter verlassen, alles hätte sie um meinetwillen aufgegeben, Ehre, Leben – alles. Das wußte ich, und das erhob mich wieder. Wir waren noch nicht vorsichtig genug gewesen, den Schwätzern und Spionen gegenüber – darin lag unsere Schuld. Das mußten wir bereuen, sonst nichts. Und am tiefsten schmerzte mich der Gedanke, daß mein Lieb nun unter den Gemeinheiten und den Stachelreden dieses Mannes leiden mußte. Ich hätte sie nicht dieser Gefahr aussetzen, hätte mehr Rücksicht auf ihre hilflose Lage nehmen sollen. Noch war sie nicht mein Weib, stand nicht unter meinem Schutze. Aber ich durfte nun nicht länger zögern. In der frischen, sonnigen Morgenluft gewann ich meine Geisteskraft zurück; ich überlegte mir, was alles ich dem rohen Geldmanne hätte entgegenschleudern müssen; es verdroß mich, daß ich so wenig schlagfertig gewesen war, seine Unverschämtheiten so knabenhaft ruhig eingesteckt hatte. Und dennoch – war er nicht Hildens Vater? Und würde er die Geliebte nicht jedes beleidigende Wort von mir entgelten lassen? Nein, ich durfte meiner Mäßigung froh sein. Meinen Standpunkt hatte ich ohnehin vollauf zu wahren verstanden ... Und nun dachte ich mir den Brief aus, den ich an Hilde schreiben wollte, einen langen, trostvollen und ermutigenden Brief. Ungesucht und reich flossen mir schöne, herzliche Wendungen zu, ich vergaß nichts, was sie in ihrem Kummer hätte aufrichten, von meiner unwandelbaren, thatenfrohen Liebe hätte überzeugen können. Zu Hause angelangt, schrieb ich alle die großen, die verliebten Gedanken mit fliegender Feder nieder; als ich das vollendete Werk noch einmal durchlas, war ich sehr stolz und sehr zufrieden. Und ich träumte mich an ihrer Seite, während sie den Brief las, und ich sah sie, fiebernd vor Erregung, wie sich ihre Augen mit Thränen füllten und ihre Wangen sich doch vor freudiger Zuversicht röteten, wie sie, nun erst fest und zum Äußersten entschlossen, den Kampf mit den Ihrigen, mit der Welt aufnahm – meinetwegen. Und ich glaubte die weiße Pracht ihres Armes zu fühlen, der sich um meinen Nacken legte, und ich küßte ihr die Thränen von den glänzenden Wimpern. »All deine Befürchtungen sind ohne Grund, Liebste – sind grundlos wie deine Augen.«

Ich verschloß den Brief sehr sorgfältig und schickte ihn an Gertrud Romberg, die Freundin bittend, das Schreiben noch heute an Hilde abzuliefern, doch so, daß es niemand von ihren Angehörigen bemerkte. Mir war's wieder leicht, fast froh ums Herz; die Grobheiten des Alten schienen mir jetzt wie eine Mahnung, ein ernsthaftes, ehrenvolleres Leben zu beginnen. Mein Geld hatte ich, bis auf hundert und einige Mark, verschwendet, hatte zu toll gewirtschaftet in diesen Tagen, allzu sinnlos drauf los vergeudet. Jetzt zog ich einen dicken Strich unter dies Kapitel; als ein anderer ging ich aus dem Feuer hervor. Ich wollte von nun an wieder in redlicher Arbeit mein Brot verdienen und gleichzeitig thun, wozu der Geist mich trieb. Die Broschüre war zum Glück beendet, dank der Energie meines Wollens, die mich auch in den wildesten Stunden nicht verlassen hatte; ich mußte das Werk unverzüglich einem Verleger übergeben. Wie es einschlagen, wie es erbittern und begeistern würde! Eine befreiende That, ein dröhnendes Gewitter, das die dunstige Atmosphäre reinigte und, wenn es ausgetobt hatte, den lichtblauen Himmel in wunderbarer Klarheit erschimmern ließ. Sie würden große Augen machen, die da draußen! Die guten Freunde, die Gefährten dieser letzten Wochen, die mich schon für ihresgleichen gehalten haben mochten und die nun plötzlich erkennen mußten, wem sie zugetrunken hatten! Ihnen würde ja sein, als hätte während der ganzen Zeit König Tod in lustiger Faschingsvermummung unter ihnen gesessen! Und Walter, und Gertrud! Dem alten Jonas – hei, würde dem ein Schreck in die Glieder fahren! Und die Geliebte, an deren Urteil mir allein lag – was würde sie empfinden, wenn sie, stumm vor übergroßer Freude, selig an meinem Halse hing!

Und damit stand ich dann im Leben, hatte den lang vorbereiteten Schritt gethan. Dann gab es kein feiges Zurück, kein träges Innehalten mehr, dann mußte ich vorwärts, um der eigenen Ehre willen.

Ja, es war gut, daß die Entscheidung so schnell, so unerwartet gefallen war. Ich hätte sie sonst noch länger hinausgezögert, hätte unwiederbringliche, kostbare Zeit vertrödelt. Nun ich mich im behaglichen Phäakenleben hinlänglich zu neuer Arbeit gekräftigt hatte, galt es, das Versäumte nachzuholen.

Eine feierliche Erregung, wie sie der junge Gottesstreiter empfinden mag, ehe er die Weihen empfängt, war über mich gekommen. Ich holte mein Lieblingsbuch, die abgegriffene »Götzendämmerung«, vom Schranke herunter, aber seltsam – diese phantastisch illuminierten Ungeheuerlichkeiten, diese ins Riesenhafte verzerrten Paradoxe schienen mir heut kläglich fad und gekünstelt. Ekstatische Schwäche, die Gigantenkraft heuchelt. Und ich legte den zerlesenen Band, der mich einst so über alle Maßen begeistert hatte, sachte beiseite, nahm die Bibel der Mutter zur Hand und setzte mich mit ihr ans Fenster, wo mein Blick auf der von weißblauem, glänzendem Licht übersponnenen Kuppel der Schloßkapelle, auf den langsam vorwärtsstrebenden, heute ganz frühlingshellen Wassern der Spree ruhte. Die Bergpredigt las ich, diese einzige Rede, deren loderndes Feuer immer wieder junge Wangen rötet und junge Schwärmerherzen entzündet; es durchrieselte mich heiß, als meine Seele durch diese singenden Flammen schritt, und mit einer Innigkeit, deren ich mich nicht mehr für fähig gehalten hätte, traurig bewegt vertiefte ich mich wieder in die Leidensgeschichte des Herrn. Ich las halblaut vor mich hin, und ich wunderte mich darüber, daß meine Stimme manchmal wie von Thränen verschleiert klang. Ich erinnerte mich der Kinderjahre, wo ich jämmerlich geweint hatte bei der Kunde, daß man ihn ans Kreuz geschlagen, wo ich stundenlang mit gefalteten Händen vor dem gußeisernen Bilde des Erlösers stehen konnte, das im grünen Kirchgarten aufragte. Ich hatte ihn dann aus meinem Herzen gerissen und war sehr stolz darauf gewesen, wie wir wohl alle. Und nun stand ich, der Gereifte, Einsichtsvolle, wieder am Marterholze des unsterblichen Mannes und neigte mich in Demut vor ihm, dem Herrn und Heiland der versklavten Menschheit.

Ich las die zürnenden Worte aus dem Evangelium des Matthäus auf dem Titelblatte und betrachtete meiner Mutter liebes Gesicht.

Es war der rechte Tag dafür, daß ich hinausging und mir ihren Segen holte für mein Werk.

Die Sonne schien noch mit herbstlicher Wärme auf die Gräberreihen, und die goldenen Inschriften der prächtigen Marmorsteine, die mächtigen, metallenen Kreuze ringsum glänzten aufdringlich, schreiend in ihrem Lichte. Von den Grüften war der morgendliche Reif geschwunden, Epheu und Gras zeigten noch einmal ihr schimmerndstes Grün, und wenn sich nicht hier und da breite Spuren der großen Schneefälle gefunden hätten, so wäre die Stadt der Toten wie ein Asyl des Lenzes erschienen. Das Grab der Mutter lag hinten, in den letzten Reihen wo die Hügel niedriger und gedrückter aussehen, sich enger aneinanderschmiegen und keinen unnötigen Schmuck mehr tragen. Es durchzuckte mich mit weher Scham, als ich die vernachlässigte Gruft erblickte, auf der sich nur ein morsches Holzkreuz erhob, das keine dürftige Grasnarbe trug, darin die Winde hätten spielen können. Und ich warf mich in die Knie und preßte meine heiße Stirn auf die kühle, feuchte Erde. Hätte ich sie noch gehabt – wer weiß, was aus mir geworden wäre! Hätten die hellen, grauen Augen, die das von Kummer, Krankheit und hartem Frohndienst zerstörte Angesicht so eigen verschönten, noch liebevoll auf mir geruht – wie ganz anders wäre alles gekommen! Nicht mein war die Schuld, wenn ich so oft den rechten Weg verfehlte – ich stand ja allein in der Öde, und keine liebe, feste Hand war, die mich zurückführte.

In dieser Stunde dachte ich nicht daran, wie viele Tage ich der Lieben, Guten durch meine Halsstarrigkeit und Heftigkeit vergiftet hatte, dachte nicht daran, daß ich sie stets rauh und verdrießlich zurückzuweisen pflegte, wenn sie mir bescheiden freundlich einen Rat zu erteilen wagte. Sie war nur in eine Dorfschule gegangen und hatte vorm Schreiben eine unbezwingliche Scheu; aber ihrer durchdringenden Klugheit offenbarte sich manches, was ich hochmütig und eingebildet übersah ... Ich stand vor ihrer Gruft und klagte das Schicksal an, das mir die Teure so früh genommen hatte, statt mich anzuklagen, der sich keine Mühe gegeben hatte, jede Stunde ihres mühseligen Daseins mit Rosen zu umhängen ...

Wie ich langsam durch die Gräberstraße wandelte, mein Leben und mein Thun überdenkend, kam mir Hellers Brief in den Sinn. Was war es, das ihn veranlaßte, seine Pläne nicht weiter zu verfolgen? Wirklich der Streik, wie ich mir eingeredet hatte? Durch den gewann er ja unendlich viel freie Zeit! Und wenn ihn geschäftliche Arbeiten alltäglicher Art gar nicht mehr drückten, weshalb widmete er sich dann nicht um so nachhaltiger dieser einen Frage, die ihn vordem so fieberhaft interessiert hatte? Ich wußte plötzlich, daß er auch jetzt noch, daß er habsüchtiger und entschlossener als zuvor meinen Spuren nachforschte. Vielleicht that ich recht daran, ihn heute aufzusuchen und ihm die gebührende Antwort auf seinen Brief zu bringen. Alles, was in mir gegen ihn loderte und tobte, alles würd' ich ihm ins Gesicht schleudern, würde Rechenschaft von ihm fordern können für seinen niederträchtigen Verrat ... Ob Tilly geplaudert hatte, ob er von dem Messer wußte? ... Ich erinnerte mich des tötlichen Schreckens, den er mir einmal eingejagt hatte, als er ganz von ohngefähr das Messer erwähnte, und abergläubisch hoffte ich nun, daß es ihm zum zweiten male nicht so glücken würde. Ging ich jetzt zum Angriff vor, so brachte ich ihn in Verwirrung, zerstörte vielleicht die Schlinge, die er eben legte ...

Müßige, kindische Träume! Was kümmerte er mich? Er existierte nicht mehr für mich; meine schweigende Verachtung hatte ihn von der Tafel gelöscht, darauf meine Freunde und meine Feinde verzeichnet standen. Nur wenn er neuerdings versuchte, mich zu schädigen, mußte ich mich seiner erwehren. Sonst aber ...

Er hatte auch jetzt wieder seine Hände im Spiel gehabt, er war es gewesen, der Martin Jonas mein und Hildens Geheimnis verraten hatte. Das ging überdeutlich aus den Reden des Alten selbst hervor. Hellers Spione saßen mir beständig auf den Fersen und unterrichteten ihren Herrn genau; es gab für mich kein Mittel, dem Gezücht zu entgehen oder ihm sein unsauberes Handwerk zu legen. Ich hatte vielleicht sehr unklug gehandelt, als ich eine Zeit lang so jede Vorsicht fallen ließ und den Ertrag der Tingierung mit vollen Händen vergeudete. Der Tag war vielleicht nahe, wo ich Auskunft geben mußte über den Erwerb dieser Summe. Nun gleichviel. Jeder Ausflucht, deren ich mich bediente, der dümmsten Lüge würde man eher glauben als der Wahrheit.

Jene Summe ... Wie gewonnen, so zerronnen. Und es war wohl das Beste so, denn herzlich wenig Glück lag in solchem Glück, in solchem Reichtum. Heute morgen hatte ich so pomphafte und großartige Worte gefunden einem Manne gegenüber, dessen Besitz mir unredlich und unsauber schien, wenig geeignet, den Besitzer zu schmücken. Aber war ich nicht noch weniger als er? Hatte ich denn das Blutgeld zurückgestoßen? Fiel nicht all' mein Hohn und meine Entrüstung über Jonas schwerer noch auf mein eigenes Haupt? Wahrlich, ich war der Letzte, den der Pharisäermantel kleidete! Furchtbarer denn er, furchtbarer als irgend ein anderer von denen, die ich ob ihres mühelos erworbenen Reichtums und ihrer lüsternen Üppigkeit verachtete, hatte ich mich versündigt.

Ich hatte Blutgeld genommen – Judaslohn. Ohne es zu ahnen, war ich abgrundtief gesunken, und ohne Hilde wär' ich untergegangen im Schlamm, am Gifte des Wohllebens gestorben. Heute atmete ich wieder freie Höhenluft, war gerettet – und tausend Dank dir, Geliebte! Nie wieder anrühren wollte ich die Tinktur, mit raschem Entschluß der Versuchung für alle Zukunft ein Ende machen. Das gelobte ich mir an meiner Mutter Grab.

Die Sonne ging zur Rüste; als ich den Friedhof verließ, schüttete sie rotbraunen Glanz auf die Dächer. Noch machte sie metallne Kuppeln funkeln, verwandelte Giebelfenster sekundenlang in feuersprühende Riesendiamanten. Der Himmel schwamm in leicht hingehauchter, zarter Röte, und wo sich von diesem duftigen Hintergrunde weitverzweigte, kahle Bäume abhoben, da schien es, als hielten sie zwischen ihren Ästen die zauberische Farbe fest und umkleideten sich damit wie mit winzigen Pfirsichblüten. Märchenstimmung für mein Herz ...

Der Brief, den ich sehnsüchtig erwartet, und von dem ich, ohne es mir einzugestehen, geträumt hatte den ganzen Weg über, der meine Schritte immer mehr beschleunigt hatte, je näher ich meiner Wohnung kam, lag weißschimmernd auf dem Tische. Ich riß ihn hastig an mir und öffnete ihn, zwischen unsagbarer Furcht und seliger, seliger Hoffnung schwebend. Im letzten Licht des Tages, ans Fenster gelehnt, las ich die Zeilen:

»Geehrter Herr Doktor!

Den Inhalt Ihres Schreibens verstehe ich nicht ganz. Sie schlagen einen Ton an, zu dem ich Ihnen keine Veranlassung gegeben habe. Trotzdem ich vieles mit Ihrer Exaltiertheit entschuldige, muß ich doch bemerken, daß Sie kein Recht zu solcher Sprache mir gegenüber haben. Ihre Empfindungen für mich ehren mich, ich möchte Sie aber dringend bitten, auf weitere Darlegungen zu verzichten. Sie kompromittieren nicht nur mich dadurch, sondern, wenn ich es sagen darf, auch Fräulein Romberg.

Ergebenst
Hildegard Jonas.«

Ich starrte auf die Gasse hinaus. Blaue Finsternis verschlang das letzte Licht, das über die Dächer huschte; aus dem nebligen Dunkel unten grinste die erste Laternenflamme herauf. Es war Nacht geworden, Winternacht.

* * *


 << zurück weiter >>