Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es war Mittag vorüber, als ich aus der seltsamen Betäubung, diesem narkotischen Schlafe, erwachte. Die meine Kraft zerrüttenden Anstrengungen und Sorgen der letzten Tage, die so unvermittelt an mich herangetretene Notwendigkeit, immer gerüstet zu sein, um unerhört schreckliche Gefahren abzuwehren, und die aus solchem Kampf um Tod und Leben erwachsenden, ewigen Aufregungen – alles das schien mir Erklärung genug für den Schwächezustand, der mich jäh überrumpelt hatte. Ich versicherte mich, daß während meines Schlummers niemand in der Stube gewesen war, und begann dann, die im Schranke unter den Büchern verborgene Kleidung, die ich damals getragen hatte, hervorzusuchen. Aber ehe ich sie noch sah, bei der bloßen Berührung des feuchtkalten Tuches, fühlte ich Ekel und Grauen ohnegleichen in mir aufsteigen; meine Hand fuhr zurück, als hätte sie giftiges Ungeziefer erfaßt, ich mußte mich ans Fenster setzen, um langsam das physische Unwohlsein zu bezwingen. Teilnahmlos, wie mit ausgehöhltem Schädel, brütete ich vor mich hin und verfolgte mechanisch den Weg der Menschen, die durch die schmutzige Gasse eilten. Der bloße Gedanke an das Gräßliche verursachte mir jetzt Höllenqualen; ich sprang auf, wusch meine Hände, rieb sie, um sie von der Berührung zu reinigen ... Ein Buch, in das ich mich vertiefen wollte, warf ich gleich wieder wütend bei Seite, und das Haus zu verlassen, in freier Winterluft Beruhigung zu suchen, wagte ich nicht, aus Furcht, daß man in meiner Abwesenheit hier Nachforschungen anstellen würde.

Dabei ward mir immer klarer, und ich wiederholte mir ingrimmig, was ich mir Tag für Tag gesagt hatte, daß ich die elenden Lumpen, die mich ins Verderben stürzen mußten, nicht länger bei mir behalten dürfe. Ich zwang mich zu der Überlegung, daß die Gefahr der Entdeckung keineswegs vorübergegangen, vielmehr dringender als vorher geworden war. In welchem Verhältnis Heller auch immer zu dem Ergriffenen stand, ob er mit ihm und Erck enge Gemeinschaft gehalten hatte, oder ob der dritte unabhängig von diesen Beiden seine Bahn gegangen war, jedenfalls mußte ich bei der anscheinend zur Überführung des Verhafteten hinreichenden Beweismenge erwarten, daß er bald genug ein offenes Geständnis ablegen würde. Ich zweifelte nicht an Hellers Mitschuld, aber ich konnte nicht länger an der phantastischen Annahme festhalten, gerade er wäre der Fremde, mit dem ich in jener Nacht auf der Treppe zusammengetroffen war. Diesen Unbekannten hatte die Behörde erwischt und eingesperrt. Es genügte, daß er sich morgen dem Untersuchungsrichter anvertraute, und dann begann die Hatz auf mich von neuem. Er würde leicht und überzeugend nachweisen, wie wenig gerade ihm Ercks Tod nützte, wie er vielmehr mit dem Ermordeten in engem Bündnis gestanden hatte und nur von der Fortdauer dieses Bündnisses einen Erfolg für sich erhoffen konnte. Er würde die ganze Wahrheit erzählen, die ihn ja weit, weit weniger belastete als der grausige Verdacht, der jetzt auf ihm ruhte. Und man würde dann dem Menschen nachspüren, der Ercks Tinktur besaß. Seitens Hellers bedurfte es nur eines Fingerzeiges, es bedurfte nur einer plumpen Zufälligkeit – und ich zappelte hilflos im Netze. Meine Kleider zeugten dann vernichtend gegen mich, vernichtender als die Tinktur und mein plötzlicher Reichtum. An die Existenz und die Wirksamkeit des Präparates glaubte draußen, von einigen Sonderlingen abgesehen, kein Mensch; spottend würde man über das Goldmachermärchen und seine Erzähler hinweggehen. War ich vorsichtig und tapfer genug, den nutzlosen Plunder aus dem Wege zu räumen, der nur noch allein Auskunft zu geben vermochte über das Geheimnis der schlimmen Nacht, dann hatte ich den blutigen Spuk nicht mehr zu fürchten.

Ich durfte nicht länger wie ein jämmerlicher Feigling vor dem toten Stück Tuch zurückschrecken, durfte nicht einer weibischen Laune wegen mein Leben aufs Spiel setzen. Zehntausendfältig mußte ich's ja büßen, wenn ich mir jetzt den Weg zur Rettung selber versperrte. Dies Stück Tuch, das ich nur in kleine Fetzen zu zerreißen und fetzenweis an verschiedenen Tagen in die Flut zu werfen brauchte ... Von gefährlichen, lebendigen Gegnern hatte ich mich befreit, und dies tote Stück Tuch sollte mich zu Fall bringen?

Morgen noch mußte es aus dem Hause fort, morgen noch ...

Und hochbefriedigt über den Entschluß, rüstete ich mich, gleich jetzt einen schon allzu lange aufgeschobenen, wichtigen Gang zu besorgen und dem Händler nunmehr das Ergebnis meiner ersten Projektion zu verkaufen. Ich zerschnitt den Metallklumpen in breite Streifen, die ich bequem in den Taschen meines Mantels unterbringen konnte und machte mich auf den Weg, nicht ohne mich noch vorher vergewissert zu haben, daß Heller keine Spione aufgestellt hatte und daß niemand mir nachschlich. Trotzdem hielt ich's für angebracht, durch das Straßenlabyrinth des Centrums irreführend kreuz und quer zu hasten, bis ich mit Fug annehmen durfte, allen etwaigen Verfolgern entgangen zu sein.

In den Nachmittagsstunden, wo die Bevölkerung entweder in Fabriken und Komptoire gebannt ist oder häuslichen Beschäftigungen nachgeht, liegen die Straßenzüge unseres Stadtviertels, ganz besonders die Nebengassen, einigermaßen verödet, und obgleich es noch helllichter Tag war, durfte ich's getrost wagen, meinem Weißbart Trödler schon jetzt den versprochenen Besuch abzustatten. Abends wollte ich dann, im Glanz meines neugebackenen Reichtums, Tilly überraschen. Ohne irgend jemandem zu begegnen und ohne bei irgend jemandem Verdacht zu erwecken, eilte ich über den Hof, der jetzt, im unbarmherzigen Licht des Tages, noch unwirtlicher, finsterer aussah als neulich abends. Der Alte hatte mich kommen sehen, er öffnete leise die Thür und zog mich rasch ins Zimmer hinein.

»Ich dachte schon, Sie blieben überhaupt ganz weg!« begrüßte er mich. »Wir hatten uns doch auf gestern abend verabredet! Aber ihr jungen Leute lernt nie Pünktlichkeit, und wenn ihr hundert Jahre alt werdet.«

»Was bieten Sie für die Unze?« fragte ich dann, als wir uns im Kabinett gegenübersaßen. »Ohne alle Umschweife!«

Er steckte die Schnupftabaksdose, die er mit patriarchalischer Grandezza aus der Westentasche gezogen hatte, scheinbar ganz erschrocken wieder ein. »Sind Se aber ein Druffgänger! Für die Unze? Ja, da müssen Se mir doch allerwenigstens vorher sagen, wieviel Se überhaupt von dem Zeug besitzen!«

Mich faßte bereits die Ungeduld. »Ich habe fünfundsiebzig Mark für die Unze gerechnet,« fuhr ich mit großer Kühnheit fort, seinen Einwurf überhörend.

»Haben Se? Fünfundsiebzig Mark?« Er lachte laut auf. »Das heißt, Se wollen mer Gold verkaufen, Gold sehr teuer verkaufen? Nee, junger Herr, das besorge ich in London besser und« – er betonte das Wort sehr scharf – »sicherer!«

Ich machte eine Bewegung, als wollte ich mich erheben; er blieb indessen ruhig sitzen, öffnete die Tischlade und nahm die Probe, die ich ihm überlassen hatte, heraus. »Se dürfen nich so hitzig sein, Se verderben sich selber 's Geschäft damit. Wenn Se Gold verkaufen wollen, zu Goldpreisen, nich wahr, denn wenden Se sich nich an mich – lieber Gott, ich weiß ja, Se halten mich für 'nen schmierigen Trödler! – dann gehen Se auf die Reichsbank. Ich bin ja vielleicht willens, Ihnen das Zeug abzunehmen, es is ein gutes Präparat und macht mir Spaß; aber Sie müssen vernünftig sein.«

»Und was bieten Sie?« Meine Siegeszuversicht war im Augenblick verflogen.

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn Se meine Frage von vorhin beantwortet haben. Wieviel von der Legierung können Se liefern?«

»Heute fünf ein halb Pfund rauh.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Also doch so vill? Und – und is das alles?«

»Das ist nicht alles. Es steht bei mir, hundertmal so viel zu liefern.«

Jetzt rückte er auf seinem Stuhle hin und her, wollte etwas sagen, schwieg aber, überlegte und musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen. »Das läßt sich hören – ja, das läßt sich schon hören. Fünf ein halb Pfund heute. Und wann – wann mehr?«

»Das weiß ich heute nicht. Wenn Sie dies Geschäft mit mir erledigt haben, reden wir schon darüber. Eher nicht,« bemerkte ich bestimmt. Ich suchte Haltung zu bewahren, obgleich meine Pulse flogen, meine Kniee zitterten und ich sie fest aneinander drücken mußte, um meine ungeheure Erregung nicht zu verraten.

»Ja ... Also mein Geschäftsfreund, der Bankier – er ist nicht abgeneigt, mit uns beiden in Verbindung zu treten. Er glaubt Verwendung for das Zeug zu haben. Natürlich, Se verstehen – und warum sollten wir nich ehrlich mit 'nander reden – es is Gefahr dabei, 'ne sehr große Gefahr. Ich brauche Ihnen ja nich erst zu sagen, welche.« Er verstummte, zog abermals umständlich die altfränkische Dose hervor, bot sie mir an und nahm, als ich unwirsch ablehnte, eine sehr ausgiebige Prise. »Sie riskieren eigentlich am wenigsten. Wir kennen Se gar nich, sind ja auch gar nicht neugierig, nich im geringsten. Aber wir müssen doch 'ne Prämie dafür kriegen, sozusagen, daß wir unsre Haut zu Markte tragen. Nu ja, das werden Se doch einsehen. Wenn das Geschäft so leicht wär', brauchten Se uns doch nich, und wir brauchten Sie nich.«

»Unnütze Redensarten!« fuhr ich verdrossen auf.

»Nich unnütz!« entgegnete er hartnäckig. »Ich werd' Ihnen was sagen. Ich will Se nich lange aufhalten – wollen Sie fünfundzwanzig Mark für die Unze, so soll mir's recht sein.« Er nahm ein Stück Papier und begann zu rechnen, ohne auf meinen Widerspruch zu achten. »Bar auf den Tisch, macht das zweitausendfünfhundert Mark rund, 'n schönes Geld, wissen Se. Und wenn Se in Zukunft mehr liefern und mein Geschäftsfreund is zufrieden, vielleicht legt er 'was zu. Wahrscheinlich sogar. Aber heute – heute is es sein höchstes Gebot. Er thut's nur meinetwegen. Hand druff, es is die reine Gefälligkeit von ihm.«

»Sie sind ein alter Gauner,« sagte ich ingrimmig lachend, bemüht, mein Entzücken zu verbergen. Es wäre gewiß sehr unklug gewesen, gleich einzuschlagen; jetzt mußte ich zögern und schwanken. »Mir machen Sie nichts weiß. Mehr als das Dreifache erhalten Sie auf der Münze.«

»Uff der Münze? Se wollen also wirklich behaupten, daß Se mir da Gold gebracht haben? 's is sehr gelungen! Hören Se, junger Herr, das sagen Se doch ja niemandem in der Welt. Bitt' Ihnen, wie sollten Se zu dem Gold gekommen sein? Und wie könnt' ich Se so betrügen – denn 'ne Betrügerei wär's dann, 'ne ganz gemeine, schändliche Betrügerei. Oder noch etwas Schlimmeres. Wissen Se, was?«

»Nein.« Mir ward sehr unbehaglich zu Mut.

»Hehlerei und Falschmünzerei! Und was weiß ich sonst noch. Ich will Se ja nich beleidigen, aber ich kenne Se doch wirklich nich. Heut' zu Tage ... Na also, sind Se einverstanden? Für so'n Zeug, das an sich gar keenen Wert hat, nur Liebhaberwert – hören Se, 's is 'n riesiger Preis! Ich verstehe nich, wie mein Freund den zahlen kann. Er hat reinweg einen Narren dran gefressen. Zweitausendfünfhundert Mark für fünf und 'n halb Pfund von dem Kupper! Se haben Glück – gar nich zu beschreiben! Und nu geben Se das Zeug 'mal her! Es wird doch genau nach Probe sein. Das hat er sich nämlich ausgemacht.«

»Schön,« brachte ich im Tone verbissensten Ärgers hervor. »Aber beim nächsten Male, das merken Sie sich, fehlen die roten Krystalle hier in der Legierung. Sie hauen mich heut' über's Ohr – na gut, mir kommt's nicht drauf an. Außer Ihnen sind ja noch tausend andere Leute in Berlin –«

»Tausend?« fiel er mir kichernd in's Wort. »Nicht einer.« Sein ehrwürdiges Greisenantlitz veränderte sich ganz seltsam – das waren die Augen, der Mund, das Kinn des geriebenen Hochstaplers. »Und vor allen Dingen,« setzte er nach einer Weile hinzu und blinzelte mich mit pfiffiger Gaunermiene an, »ich schwöre drauf, Se bleiben uns treu. Es hat sein Angenehmes für Sie, so 'ne ständige Verbindung, nich wahr? Und Diskretion Ehrensache!«

*

Fünfundzwanzig Hundertmarkscheine! Mein, mein Eigentum, in der Brusttasche meines Rockes trug ich sie, durfte sie in einer tollen Nacht vergeuden, meiner lieben, holden Freundin Brillanten und Blumen dafür kaufen – es muß so schön sein, sich für die süßen Weibchen zu ruinieren, besonders wenn man genau weiß, daß man wieder emporkommt! Blumen und Brillanten! Auch ins Wasser schleudern konnt' ich das Geld oder meine Abhandlung dafür drucken lassen – alles, was ich wollte! Das Geld war mein Sklave geworden; wir hatten die Rollen getauscht. Noch vor wenigen Tagen war ich jeder armseligen Mark nachgejagt, ein rechter Lump, der die Pfennige einzeln von der Straße aufhob und sich ein König dünkte, wenn er sein erbärmliches Mittagessen aus der eigenen Tasche bezahlen konnte. Ich trank keinen Morgenkaffee und hatte mir das Abendbrot abgewöhnt; ich kroch zu früher Stunde ins Bett, um Petroleum zu sparen, ich arbeitete nicht daheim, um die teure Heizung zu sparen. Mit zärtlicher Sorgfalt pflegte ich die Kleiderfetzen, die ich auf dem Leibe trug und deren Verfall doch jeder neue Tag grausam beschleunigte; die Umschläge der wenigen Briefe, die ich empfing, unbeschriebene, zerknitterte Papierreste, die in der Bibliothek weggeworfen worden waren, die freie Rückseite von Drucksachen und Circularen, die ich mir unter unwahrscheinlichen Vorwänden zusammenschnorrte, verwandte ich für meine Arbeiten und beschrieb sie mit winzig kleiner Schrift, um das kostbare Gut ja recht auszunutzen. Wie ich mein Schuhwerk selber flickte, mit Zwirn und dicken Nadeln, die ich mir von der Wirtin lieh, wie ich, um einige Pfennige Portokosten zu vermeiden, die weitesten Wege zu den Redaktionen lief und meine immer unbrauchbaren Manuskripte selber ablieferte – alles das ward mir jetzt gegenwärtig, aber bestrahlt von rosigem Licht, verklärt vom Glück dieses Tages und, wie mich deuchte, voll drolliger Komik. Wenn ich damals daran dachte, je zwei oder drei Hundertmarkscheine mein nennen zu dürfen ... ich wußte, daß es ein sehr thörichter Gedanke, ein unerfüllbarer Wunsch war, aber ich rechnete mir doch gern vor, was ich alles mit dem Gelde anfangen, wie ich meine ganze Lebensführung ändern wollte. Und jetzt trug ich fünfundzwanzig dieser seltenen Papiere bei mir, als mein unbestrittenes Eigentum; jetzt war mir eine glänzende Existenz auf Monate hinaus gesichert.

Ein Nabob war ich geworden, reicher als irgend ein Mensch auf der ganzen Erde. Von Frau Armut auf immer von Tisch und Bett geschieden, Herr ungezählter Millionen, aus nie zu erschöpfendem Borne trinkend ... Es war wie ein Märchen. Nur zu winken braucht' ich, und das Gold häufte sich in Bergen vor mir auf. Alles, was ich berührte, wurde zu Gold. In hellem Übermut sang ich mit halblauter Stimme ein flottes Kneiplied, blickte mich auffällig und verwegen nach hübschen Mädchen um, die vorüberhuschten, und schenkte einem halbwüchsigen Bengel, der frierend neben seinem Hundewagen stand, ein Fünfzigpfennigstück. Leider, leider hatte es eben erst sechs Uhr geschlagen, und Tilly pflegte aus dem Geschäfte, in dem sie seit vorgestern war, nicht vor acht nach Hause zu kommen. Ich mußte mich so lange gedulden und mein übermäßiges Glück für mich behalten. Und ich wollte doch nur sie, nur sie damit erfreuen, und ich konnte den Augenblick nicht erwarten, in dem sie mir jubelnd um den Hals fallen würde ... Vorsichtig freilich mußt' ich's ihr beibringen, sie durfte nicht ahnen, woher das Geld stammte, natürlich nicht. Eine Erfindung, die ich nutzbringend verkauft hatte ... das mußte ihr genügen, und das genügte ihr vollkommen, ich kannte sie zu gut.

Ein paar Minuten lang stand ich vor dem strahlend hell erleuchteten Schaufenster des großen Modemagazins, in dem sie jetzt arbeitete, und ging dann am Wasser entlang nach ihrer Wohnung. Und weil es mich bei dem Gedanken an sie nicht länger auf der Straße litt, und weil ich nicht stundenlang vor ihrem Hause auf- und abgehen wollte, kaufte ich einen Strauß prachtvoller, weißer und roter Rosen, ihre Lieblinge, und stieg zu ihrem Zimmerchen hinauf. Oben gedachte ich die Wirtin diplomatisch darüber auszuforschen, was sich mein geliebtes Mädchen am sehnsüchtigsten wünschte, und den Wunsch sollte sie erfüllt sehen, wenn sie nach Hause kam.

Es überraschte mich, als ich von der Alten hörte, daß Fräulein Tilly in ihrem Zimmer wäre. Das Weiblein führte mich ohne weiteres zu ihr. Tilly selber hatte mich der würdigen Dame ja in aller Form als ihren Bräutigam vorgestellt, und die Blumen in meiner Hand gaben den Ausschlag.

Tilly stand eine Weile in tötlicher Verlegenheit. Sie errötete nicht, wandte auch den Blick nicht von mir, aber er war scheu und schuldbewußt. »Du – so früh?« fragte sie endlich. »Nein, das ist aber nett! Wir haben heute nämlich zeitiger geschlossen – der eine Chef ist plötzlich gestorben. Na, mir war's ganz lieb – so kann man doch endlich 'mal sein Ballfähnchen in Ordnung bringen.«

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte. Ich starrte sie verblüfft an. Diese kecke Lüge kam mir zu unerwartet, als daß ich auch nur fähig gewesen wäre, mich schnell in die Lage zu finden, »'s ist ziemlich heiß bei dir,« stotterte ich. Dieser Empfang, diese Unwahrhaftigkeit des geliebten Mädchens weckte mich aus süßseligen Träumen wie ein Schlag ins Gesicht. Mit einem Male waren alle zärtlichen Gedanken und Hoffnungen verflogen, und ein unbestimmtes Gefühl der Empörung über die dreiste Lügnerin stieg in mir auf.

»Du küßt mich ja heute gar nicht!« fragte sie.

»Ja so – ich dachte, du ...« Sie hatte sich heute nicht darüber zu beklagen, daß ich übermäßig stürmisch sei. Wir nahmen auf dem Sofa Platz, Tilly rückte, immer noch nicht zur Ruhe gekommen, die Lampe ein wenig von sich fort und zog die Tischdecke zurecht. Ich wußte nicht, was ich ihr sagen sollte; eine grenzenlose Trauer bemächtigte sich meiner, und ich vermochte kein Wort hervorzubringen. Das peinliche Schweigen dauerte wohl länger als eine Minute, es war grabesstumm in dem kleinen Gemache, und man hörte nur das leise Surren der Petroleumlampe.

»Was hast du denn?« rief Tilly ärgerlich. »Du bist ja ganz komisch heute, ein richtiger Bauer. Ist dir etwas über den Weg gelaufen. Erkläre mir, Graf Oerindur –«

»Laß doch diese Redensarten,« unterbrach ich sie, von ihrem leichtfertigen Ton aufs äußerste verletzt. Wenn sie wenigstens Reue gezeigt und mir nun gleich ehrlich die ganze Wahrheit gesagt hätte – mein Gott, ich wäre rasch versöhnt gewesen. Ich kannte ja ihr lebhaftes Temperament. Sie mochte sich mit der Direktrice überworfen haben, wie ihr das schon öfter begegnet war, und hatte nun keine Stellung. Schließlich, sie brauchte ja auch keine. Es war überhaupt meine Pflicht, für sie zu sorgen; ich mußte ihr Gelegenheit geben, allerlei Hausfraulichkeit anzunehmen, kochen zu lernen und dergleichen mehr. »Sei doch ehrlich gegen mich, Tilly! Du bist gar nicht mehr im Geschäft –«

»Und wenn schon! Hab' ich dir darüber Rechenschaft abzulegen?« fuhr sie mich, sich vergessend, an. »Das ist doch meine Sache, ganz und gar meine Sache.« Das Bewußtsein, von mir auf einer groben Lüge ertappt worden zu sein und sich vor mir bloßgestellt zu haben, reizte sie, erfüllte sie mit Zorn gegen mich. Es hatte mir schon früher scheinen wollen, als hege Tilly vor meinen geistigen Eigenschaften keine besondere Ehrfurcht, als hielte sie mich in Fragen des praktischen Lebens für ziemlich naiv, und gelegentlich hatte sie mir sogar schon Ähnliches, wenn auch in verbindlicher und schmeichlerischer Form, gesagt. Sie mochte also geglaubt haben, mich leicht täuschen zu können; und daß ich ihr diesmal einen Beweis vom Gegenteil gab, war nicht dazu angethan, ihre Laune zu verbessern.

»Hör' mal du,« sagte ich begütigend, aber mit Ernst und Festigkeit, »wenn du etwa annimmst –«

»Ach was!« fiel sie mir wieder ins Wort und starrte mich mit ihren funkelnden Augen wütend an. »Willst du mir Moralpredigten halten? Du?« Sie redete sich immer heftiger in ihre Aufregung hinein. »Und bist doch selber von der Arbeit weggelaufen, aus der schönen Stelle! Du bist mir gerade der Richtige! Erst 'nem jungen Mädchen, das so 'nem Menschen vertraut, allerlei vorschwatzen, und nachher, wenn man dumm genug ist und glaubt so – so einem, dann einfach wegbleiben von der schönen Brotstelle! Wo nun 'was anderes hernehmen? An mich hast du nicht gedacht, das ist dir ja auch ganz gleichgiltig!«

Seltsam, daß mir während der ungerechten Vorwürfe, die sie heraussprudelte, nur ein Gedanke blitzartig kam und mich beschäftigte: Woher weiß sie von meinem Bruche mit Heller? Es war ja heute erst der zweite Tag, daß ich nicht mehr in die Werke ging; selbst Rombergs wußten nichts davon, auch wohl Jonas nicht, und außer ihnen hatte kein Mensch auch nur das allergeringste Interesse an meinem Thun und Treiben. Wie also kam Tilly zu dieser Kenntnis?

»Du bist merkwürdig gut unterrichtet! Wer hat dir denn das nun wieder erzählt?«

»O, man hört so vielerlei – verborgen bleibt in Berlin nichts!« sagte sie obenhin.

»Ja, ich möchte nur wissen ...« Bevor ich noch den Satz beendet hatte, schämte ich mich ein wenig meiner inquisitorischen Miene und lachte über den albernen Gedanken, der mir unvermittelt durch den Kopf gegangen war. »Aber zanken wir uns doch nicht! Es hat dir also bei Liliensteins nicht mehr gefallen, Kleine?« fragte ich mit ganz verändertem Tonfall, bestrebt, sie wieder zu versöhnen. »Nun ja, kann dir's nachfühlen, 's ist auch nichts für dich.«

»Sie waren alle so abscheulich gegen mich,« klagte Tilly, rasch auf meine Frage eingehend und mir ein wenig näher rückend. »Ich ertrug es beim besten Willen nicht länger. Solche alten, spinösen Frauenzimmer! Sie quälten mich und hackten auf mir herum ... nein, was zu viel ist – wirklich! Da blieb ich gestern nachmittag fort. Sowie jemand nicht so häßlich wie die alten Mumien ist ...« Sie lächelte reizend und sehr kokett.

»Ich verstehe schon. Und da wir nun doch heiraten wollen, Tilly – wär's da nicht richtiger, daß du überhaupt nicht mehr ins Geschäft gingst? Ich meine –«

»Ach, du bist süß, zu lieb bist du!« rief sie ganz entzückt. »Ja, natürlich. Es paßt sich eigentlich gar nicht mehr für mich. Ich will lieber zu Haus arbeiten. So viel, wie ich brauche, verdien' ich doch.«

»Ich meinte eigentlich, du solltest in eine Pension gehen, außerhalb, wo du die Haushaltung und alles andere erlernen kannst –«

»Außerhalb? Das ist ja Unsinn. Wer soll denn das bezahlen? Und überhaupt jetzt, wo du wieder ohne Stellung bist!«

»Mach' dir darum keine Sorgen. Selbstverständlich bezahl' ich die Kosten. Bin jetzt in der Lage dazu.« Ich wollte in die Rocktasche fahren und ihr das Geld mit großartiger Geberde zeigen, besann mich jedoch eines Besseren und blickte sie, ihre Antwort erwartend, sehr selbstbewußt und selbstzufrieden an.

»Wahrhaftig? Na, wenn das nicht wieder so'n dummer Witz ist –«

»Mein vollständiger Ernst! Und wenn du dabei bist ... ich werde mich morgen erkundigen (es war meine Absicht, Gertrud den Fall vorzutragen und ihr die Ausführung des Planes zu überlassen) und dann kannst du noch vor Weihnachten fahren.«

»Ach, das geht ja aber nicht. Warum soll ich denn von hier fort? Gerade jetzt, wo man sich ein bischen amüsieren könnte! Nicht wahr, du spaßt auch bloß?« Und als ich sehr ernst dreinschaute, bettelte sie: »Ich kann ja auch hier lernen, so viel du willst – alles – aber draußen in so 'nem ollen Nest sitzen, und du bist nie da ... Nein, das halt' ich nicht aus, da kommt man ja um vor Langerweile!«

»Was mich anbelangt – ich käme manchmal hinüber, und wir blieben dann ein paar Stunden zusammen –«

»Es geht nicht – es geht wahrhaftig nicht! Ich habe doch ein Kränzchen in nächster Woche – für Weihnachten bin ich auch schon eingeladen – die Leute müssen mich ja für närrisch halten mit solch verflogenen Ideen!«

Tilly war mir unverständlich. Wie oft hatte sie für das stille Leben auf dem Lande gerade zur Winterszeit geschwärmt, wo sie sich körperlich zu erholen gedachte; wie oft hatten wir uns früher alles das ausgemalt, was ich ihr jetzt vorschlug! Konnte sie denn wirklich einer oder zweier Tanzvergnügungen halber alle unsere Hoffnungen und unsere Zukunft gleichgiltig beiseite schieben? Ich begriff das Mädchen nicht; sie schien mir so sehr verändert, seltsam verändert. Mein Erstaunen und meine Überraschung waren nicht größer gewesen an jenem Abend, als ich sie nach so langer, langer Trennung endlich wiedersah und ihr die frohe Nachricht von meiner Anstellung bei Heller bringen konnte. Damals wie heute war sie mir als eine Fremde, Andere entgegengetreten, damals wie heute mußte ich bemerken, wie so gar wenig ich dies rätselhafte Wesen kannte. ...

Ich erwiderte nichts auf ihre letzten Bemerkungen; gründlich verstimmt, obwohl ohne eigentliche Absicht zu gehen, griff ich nach meinem Hute. Ich wollte sie erschrecken, glaubte, daß sie nun ängstlich nachgeben würde, und fühlte mich deshalb aufs tiefste verletzt, als sie keine Hand rührte, kein Wort fand, um mich zum Bleiben zu bewegen. Nun machte ich Ernst, nun mußte ich ihr zeigen, daß sie mich nicht mißhandeln durfte.

»Ich habe mich noch mit 'nem Freund verabredet –«

»Gewiß, sein Wort muß man halten, das ist klar,« setzte sie schnell hinzu. »Schade, du hättest gern noch ein paar Minuten bleiben können.«

Ernüchtert und verstimmt, wütend auf Tilly und mich selbst, stieg ich, zornige Worte vor mich hinmurmelnd, die Treppe hinunter. O, sie verdiente die Liebe gar nicht, die ich ihr so reich entgegenbrachte, verdiente es nicht, daß sie mein Denken und Sinnen so ganz ausfüllte. Sie wußte ja gar nicht zu schätzen, was ich ihr bieten wollte; sie sah in mir wohl nur den Ehekandidaten, den Dümmling dazu, den man ungestraft auslachen und beleidigen durfte. Ich dachte an Hilde Jonas und verglich die beiden Mädchen heimlich miteinander. Wenn wirklich ... Wenn Hilde nicht ein unverständliches und zweckloses Spiel mit mir trieb, dann empfand sie mehr für mich, als ich bisher geahnt hatte, dann ... Ja, was bedeutete dann ihr Verhältnis mit Walter Romberg? – – – Und vor allem, was ging sie mich an? Sie, die schwärmerisch verehrte Herzenskönigin des Freundes, an der der gute Junge mit allen Fibern hing! Wie durfte ich mich zwischen diese beiden drängen, mich ihm gegenüberstellen, der mich wie ein Bruder liebte, und das Glück dessen zerstören, der sein Leben für mich geopfert hätte? Pfui doch ... Und ich schüttelte den giftigen Gedanken von mir ab – ich versuchte es wenigstens und dachte von neuem an Tilly.

Da stand ich wieder vor dem prunkenden Magazin Lilienstein. Zerstreut und gleichgiltig betrachtete ich die schimmernde Auslage der mächtigen Schaufenster. Das eifrige Gespräch zweier junger Mädchen neben mir, die einen Hut »zu wunderschön« fanden, lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Kunstwerk, und es imponierte sogar meinem Laienverstand. Da entschloß ich mich, es für Tilly zu kaufen, umzukehren und noch heute wieder Frieden mit ihr zu schließen. Eine starke, unwiderstehliche, süße Sehnsucht durchzog wie ein Frühlingslied mein Herz.

»Sagen Sie doch,« fragte ich beiläufig und um mir einen Spaß zu machen die Verkäuferin, »es arbeitet ja wohl Fräulein Förster bei Ihnen?«

Die sehr elegante, junge Dame besann sich. »Ich wüßte nicht. Ich werd' mal fragen. – Clara,« rief sie, ehe ich ihr noch sagen konnte, daß die Sache höchst unwichtig wäre und sie sich keine Umstände machen sollte, »ist ein Fräulein Förster bei uns?«

»Keine Ahnung. Kenne den Namen gar nicht.«

»Aber sie war bei Ihnen, bis gestern mittag?« fragte ich, nun doch interessiert, weiter.

»Sie irren sich, mein Herr. Ein Fräulein Förster ist nie bei uns gewesen.«

Tilly hatte mich abermals belogen. ... Doch warum?

* * *


 << zurück weiter >>