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An dem flachen Ufer des Tursaflusses, dessen graugrüne Wellen langsam zum heiligen Brahmaputra fließen, stand auf dem schwachen Bodenrücken, der das Riedgelände scharf von den Weizenäckern scheidet, die Hütte Dasas und seiner jungen Gattin Udschli.
Dasa war ein Rayat von guter Kaste und in der Dorfschaft angesehen.
Udschli galt für das schönste Weib der Gegend. Sie trug ihren Namen – Udschli bedeutet auf Hindustanisch die Weiße – mit Recht. Sie war von auffallend heller Haut, deren warme Tönung nur schwach ins Gelbe hinüberspielte, wie die äußeren Blätter einer Teerose. Ihr schweres schlichtes Haar, schwarz und glänzend wie geglätteter Gagat, fein wie Seide und duftend wie Zimt, war nach der Landesart gescheitelt und mit Korallen- und Schmelzperlensträhnen durchflochten. Ein silbernes Geschmeide, mit vier kleinen Türkisen besetzt, hing in die glatte Stirn und ließ sie bernsteinfarben erscheinen. Ihre großen Mandelaugen mit dem kleinen dunkeln Stern im bläulich schimmernden Apfel blickten still und sanft unter dem Schatten der sehr langen aufgekrümmten Wimpern. Den linken Flügel des wundervoll fein modellierten Näschens schmückte ein Silberplättchen. Der edle Mund bezauberte mit seinen frischen tiefroten Lippen, hinter denen beim Sprechen und Lächeln die schönsten Zähne aufblitzten. Wenn die Nachbarinnen sie in ihrem rosa und weiß gestreiften Baumwollkleide, die Büste von einem Seidennetz modelliert, die silbernen Fußringe bei jedem Schritte leise erklirrend, durch die Dorfstraße dahinschreiten sahen, blickten sie ihrer hohen biegsamen Gestalt nach und flüsterten Segenssprüche für ihr junges Haupt.
Sie war bei groß und klein beliebt. Wegen ihrer Schönheit, wegen ihrer Sanftmut, auch wegen ihres Schicksals.
Sie war das einzige Kind ihrer Mutter Rani, von der die Familie sie in frühem Alter getrennt hatte. Denn Rani hatte das Unglück, bald nach der Geburt Udschlis am Aussatz zu erkranken. In der ganzen Familie war bis dahin kein einziger Fall dieses schrecklichen Siechtums bekannt. Die Umgebung ahnte auch viele Monate lang die Natur des Übels nicht, bis es sich so schlimm entwickelt hatte, daß selbst die Unkundigen es nicht länger verkennen konnten. Nun suchte die Familie den Schicksalsschlag zu verheimlichen. Nicht um der Kranken willen, sondern wegen ihrer Angehörigen, um ihrem Gatten, besonders aber ihrem Kinde nicht zu schaden. An das weitläufige Haus, worin nach dem Brauche der Kaste die vollständige Sippe, Eltern, verheiratete Geschwister und Kinder, drei Geschlechter desselben Blutes, zusammenlebten, wurde ein besonderes Gelaß angebaut, das man von dem zum Eingang führenden Pfade nicht wahrnehmen konnte, und dort verbrachte Rani, von den Verwandten und Hausgenossen abgesondert, ihre trostlosen Tage. Es fiel aber den Nachbaren bald auf, daß man die junge Frau nicht mehr sah, um den Dorfteich begann man zu munkeln, der Gatte, die Schwiegereltern, die Schwestern und Schwägerinnen wurden mit immer häufigeren Erkundigungen, immer dringenderen Fragen verfolgt und es dauerte nicht lange, da war das Dorf hinter das Geheimnis gekommen. Die öffentliche Meinung forderte gebieterisch, daß die Kranke aus dem Hause und Dorfe entfernt und nach dem Heim für Aussätzige des Kreises gebracht werde.
Gegen die Stimme der Kaste, des Ortes gilt in Indien kein Widerstand. Die Familie mußte sich unterwerfen.
Eines frühen Morgens, als noch der Tau auf den Gräsern blinkte, die Tiger aber sich schon in das Röhricht zurückgezogen hatten, hoben Ranis Gatte und seine Brüder eine dicht in Schleier und Decken gehüllte unbewegliche Gestalt in den mit zwei Zebus bespannten Dachwagen, schoben eine kleine mit Spiegelstückchen geschmückte Sandelholztruhe unter ihren Sitz und schlugen den Pfad nach der stäubenden Landstraße ein. An der Schwelle des Hauses standen schluchzend die Frauen der Familie und sahen dem sich entfernenden Gefährt nach. Die Kranke allein weinte nicht und blickte nicht zurück. Sie war ergeben, wie es ihres Volkes Art ist. Sie wußte, daß sie von nun ab von den Lebenden und dem Leben abgeschnitten war, aber sie wußte es schon lange. Sie sollte den Gatten nicht mehr sehen, aber sie sah ihn schon seit Monaten nur aus einiger Entfernung. Sie wurde von ihrem einzigen Kinde losgerissen, aber sie durfte es schon seit Monaten nicht berühren, und fast brach es ihr das Herz weniger, davon ganz getrennt zu sein, als durch die Stäbe einer Gittertür zu sehen, wie es scheu zu ihr hinüberstarrte, immer seltener begehrende Händchen nach ihr ausstreckte, immer weniger in ihr von Liebe bereitetes und gehütetes Gefängnis hineinsprach und ihr allmählich fremd wurde, als dehnten sich unabsehbare Fernen zwischen ihnen. Da sie ihr Haus für immer verlassen mußte, ging sie an dem Bettchen der damals Zweijährigen vorbei, ohne den Kopf danach zu wenden. Das war ihr leichter, als davor zu stehen, das Kind im Schlummer zu betrachten, es aber nicht berühren zu dürfen.
Udschli vergaß die Mutter bald, wie die gütige Natur es kleinen Kindern gestattet. Niemand sprach ihr von der Fernen und ihre Sippe wie das ganze Dorf behandelte sie wie eine Waise. Viele Augen wachten ängstlich über sie und prüften, vor Entdeckungen bangend, bei jedem Aus- und Ankleiden ihren zierlichen Puppenleib, ihre wohlgerundeten Gliederchen. Aber ihre Haut blieb glatt und rein wie geschlagenes Gold und sie entwickelte sich wie auf schlankem Stengel eine Lilie. Dennoch fühlten die Angehörigen sich nicht ganz beruhigt, denn der Aussatz ist eine tückische Krankheit und die Vererbung wird manchmal erst nach langen Jahren offenbar. Man verheiratete sie nicht nach Landesbrauch im Kindesalter, sondern wartete damit, bis sie zur Jungfrau herangeblüht war.
Als sie verständig wurde, begann sie nach ihrer Mutter zu fragen. Man sagte ihr nur, sie habe sie früh verloren. Sie wollte Einzelheiten wissen, die Frauen der Familie baten sie jedoch, von ihrem Forschen abzulassen. Sie beschied sich, denn die Sehnsucht nach der Mutter, deren sie sich nicht einmal schattenhaft erinnern konnte, war nicht zwingend in ihrem Gemüte, sondern nur durch Vergleichung ihrer Verhältnisse mit denen anderer Kinder erregt.
Seit Dasa zehn Jahre alt war und Udschli sieben, waren die beiden von ihren Familien füreinander bestimmt, man traute sie aber einander nicht an, man verlobte sie nicht einmal förmlich, denn Dasa sollte nicht gebunden sein, falls die Krankheit Udschli dennoch heimsuchen würde. Die Sippe des Mädchens hatte dies selbst vorgeschlagen und die des Knaben die Abmachung billig gefunden.
Einmal monatlich pflegte Udschlis Vater früh morgens seine Zebus vor den Wagen zu spannen, einen am Vorabend von den Frauen bereiteten Korb mit Brot, Hirse, Reis, Gi und allerlei Früchten, manchmal auch Leinen- und Baumwoll-Kleidungsstücken, unter den Sitz zu stellen und wegzufahren. Spät abends kam er dann mit dem leeren Korbe heim und hatte Schatten von Betrübnis in der Miene. Lange fiel ihr diese Gewohnheit nicht auf, denn sie hatte sie immer gekannt, so weit sie sich zurück erinnern konnte. Eines Abends jedoch, als die Frauen wieder einmal den Korb packten, fragte sie: »Wem bringt der Vater immer diese guten Sachen?« Alle schlugen betroffen die Augen nieder. Ihre Großmutter faßte sich indes rasch und erwiderte: »Das ist die Monatsabgabe, die dein Vater dem Semindar bringt.« Das leuchtete Udschli ein. Nach einer Weile fragte sie weiter: »Wo wohnt der Semindar?« »In Kutsch,« lautete die Auskunft. Auch daran war nichts Auffallendes. Gleichwohl beschäftigte sie sich, ohne zu wissen warum, in der Folge mehr mit den monatlichen Reisen ihres Vaters und sie bat ihn eines Tages unversehens, er solle sie doch nach Kutsch mitnehmen, um ihr die schöne Stadt und das reiche Haus des Semindars zu zeigen. Der Vater fuhr zusammen und blickte sie aus weit offenen Augen an. Da er jedoch die Unbefangenheit seiner Tochter bemerkte, begnügte er sich, den Kopf zu schütteln und zu sagen: »Es kann nicht sein.«
»Der Weg führt durch eine Furt, da sind Gaviale; dann durch einen Wald, da sind Tiger; dann durch Hirsefelder, da sind Brillenschlangen. Es ist zu gefährlich.«
Udschli lächelte schalkhaft. »Es ist dir doch aber nie etwas geschehen, Vater.«
»Es geht nicht,« wiederholte der Vater barscher und schnitt das Gespräch ab. Die Ehrerbietung, die sie dem Vater schuldete, ließ sie schweigen, aber es blieb eine Neugierde und eine Sehnsucht in ihrem Geiste zurück und sie dachte oft, es müsse schön sein, mit dem Vater durch die Furt und den Wald und die Hirsefelder nach Kutsch zu fahren und sich in den Gärten und Bazaren der großen Stadt zu ergehen.
So verflossen die Jahre, Zeiten der Fülle und Zeiten der Hungersnot, bis Udschli sechzehn Jahre alt war und Dasa neunzehn. Schon lange waren sie der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit bei den Aschtunfesten,Die Aschtunfeste werden von den Hindus monatlich zweimal gefeiert und ersetzen ihnen gewissermaßen die wöchentlichen Ruhetage anderer Völker. an denen sie teilnahmen, denn sie waren die einzigen Unvermählten ihres Alters und das gab ihnen einen Reiz, den weder die unreife Jugend, noch die verheirateten Erwachsenen ausüben konnten. Udschli mußte sich bei den Aufzügen und Tänzen zu den Mädchen halten, die sie alle um Haupteslänge überragte und von denen sie als ihre Königin behandelt wurde. Dasa fühlte sich in schiefer Stellung. Mit den Knaben mochte er nicht gehen, unter die Familienväter durfte er sich noch nicht mischen. Er blieb deshalb gern abseits und weidete sich aus der Ferne an der Schönheit seiner Versprochenen. Es war ein Tag des Glücks und der Befreiung für ihn, als nach langer Beratung der beiden Familien ihm endlich eröffnet wurde, daß er seine Brautwerber zu Udschlis Vater schicken dürfe. Die jungen Leute zogen blumengeschmückt mit Blüten, Früchten, einem Körbchen voll Gerste und einem Wasserkruge nach dem Hause der Auserwählten, um diese Gaben dem Vater darzubieten, der durch ihre Annahme seine Zustimmung ausdrückt, während ihre Ablehnung die Zurückweisung des Werbers bedeuten würde. Ihnen folgten mit fröhlichem Geschrei radschlagende und katzbalgende Dorfrangen, die natürlich wohl wußten, was der Zweck ihrer Sendung war, während die Frauen und Mädchen der Nachbarschaft sich vor dem Hauseingang sammelten, um Zeugen des Empfanges der Werber durch die Familie zu sein.
Zu dem bunten Häuflein hatte sich auch ein junges Mädchen eingefunden, das von den übrigen abgesondert stand, da sie es nicht in ihrer Mitte geduldet hätten. Denn es war ein Mädchen von niedrigster Kaste und von schlechtem Rufe, dunkel an Haut, dürftig gekleidet und ohne Schmuck. Die wilde Dirne hatte sich in den letzten Monaten bei den Aschtunfesten mit kleinen herausfordernden Neckereien an Dasa heranzuschmeicheln gesucht, war aber von ihm zuerst nicht beachtet und dann schroff zurückgewiesen worden. Seine Tugend wurde ihm leicht durch die strahlende Schönheit seiner Versprochenen, durch seinen Kastenstolz und durch die Blicke der ihn beobachtenden Dorfschaft. Das dreiste Geschöpf hatte von ihm abgelassen, aber gegen Udschli einen Grimm gefaßt, der nach Rache dürstete.
Da stand das zerlumpte Mädchen nun in der Nähe der Tür und als die Brautwerber über die Schwelle traten, rief sie ihnen mit ihrer hellsten Stimme nach: »Seid ihr schon bei der aussätzigen Mutter in Kutsch gewesen?« Die Frauen und Mädchen wandten sich empört gegen sie und bedrohten sie mit Worten und Geberden. Sie aber kreischte noch lauter: »Ihr werdet doch die aussätzige Mutter in Kutsch auch zur Hochzeit laden?« Man drang mit erhobenen Fäusten und vorgestreckten Nägeln auf sie ein, sie machte aber eine lange Nase und lief behend wie eine Gazelle mit Gelächter davon.
Udschli, die hinter dem Fenster verborgen voll Mädchenneugierde nach den jungen Leuten mit den herkömmlichen Geschenken spähte, hatte alles gehört. Totenbleich taumelte sie in die Stube zurück und fragte angstvoll die sie umstehenden Frauen der Familie: »Was meint dieses Mädchen? Was ist es? Was sagt sie da?« Die Frauen suchten sie zu beruhigen. Sie zogen sie rasch in die anstoßende Schlafkammer und flüsterten: »Höre nicht auf die Landstreicherin. Sie ist der Auswurf des Dorfes. Sie weiß nicht, was sie schwatzt. Sie lügt.«
Udschli ließ sich nicht beruhigen. »Wie verfällt sie gerade auf diese Lüge? Was will sie mit meiner aussätzigen Mutter in Kutsch? Meine Mutter ist doch nicht in Kutsch? Meine Mutter ist doch lange tot, die Teure, die Gute?« Die Frauen blickten weg und schwiegen und fanden unter den häufigen, drängenden Worten des immer ahnungsvolleren, immer erregteren Mädchens nicht rasch genug eine mitleidige Lüge. Da rief Udschli unter hervorbrechenden Tränen: »Sagt mir, was es ist, oder ich gehe unverweilt zu der Schwarzen und frage sie selbst, was sie gemeint hat.« Die überrumpelte schwache Großmutter konnte sich der Stürmenden nicht erwehren. Sie umfing ihr schönes Köpfchen, zog es an ihre alte Brust und sagte ihr mit trauriger, leiser Stimme ins Ohr: »Es ist wahr. Deine Mutter hat die große Krankheit und wir haben sie nach Kutsch bringen müssen. Ins Siechenhaus. Um deinetwillen.«
»Um meinetwillen?«
»Damit du das Übel nicht erbst.«
»Und sie lebt!«
»Sie lebt.«
Während in der großen Stube die Brautwerber ihre Zeremonien erfüllten und mit dem Vater die vom Brauche vorgeschriebenen Reden wechselten, erfuhr im Nebengemach Udschli mit bebendem Herzen die ganze Wahrheit über ihre Mutter. Ihre Fragen strömten unstillbar wie ihre Tränen und Großmutter, Muhmen und Basen konnten ihrem brennenden Verlangen nach Einzelheiten nicht genugtun. Und als nach einiger Zeit die jungen Leute das Haus verließen und der Vater, der sie bis an die Schwelle begleitet hatte, freudestrahlenden Antlitzes in die Stube zu den Frauen trat, da ward ihm die Überraschung, daß Udschli sich ihm an die Brust warf, seinen Hals mit ihren Armen umfing und ihm schluchzend zurief: »Vater, ich will zur Mutter. Nimm mich nach Kutsch mit.«
Was immer er einwenden mochte, es half nichts. Sie ließ nicht ab, bis er versprochen hatte, er werde mit ihr am nächsten Morgen nach Kutsch zur Mutter fahren. Sie war es, die nach schlafloser Nacht vor Tagesanbruch den Vater und eine ältere Muhme weckte, die mitkommen sollte, um immer bei Udschli zu sein. Unterwegs, während die Zebus gemach die wohlbekannte Straße entlang zogen, hielt die Muhme Udschlis Hand in der ihrigen und der Vater suchte sie auf das bevorstehende Erlebnis vorzubereiten.
»Du darfst nicht erschrecken, wenn du deine arme Mutter siehst. Die Wahrheit ist, daß du deine Mutter nicht sehen wirst. Sie hat den ganzen Kopf mit Binden umhüllt. Denn sie ist blind. Und du darfst ihr auch nicht nahekommen.«
»Ach!«
»Nein. Du darfst ihr nicht nahekommen. Und ich auch nicht. Siehst du, und darum wäre es besser gewesen, du wärst daheim geblieben und hättest von alledem nichts gewußt.«
»Blind! Ach! Mutter, Mutter! Ist sie allein? Wer ist bei ihr?«
»Sie ist nicht allein. Sie ist mit den anderen.«
»Den anderen? Welchen anderen?«
»Nun, den anderen Kranken, die auch die große Krankheit haben. Es wird dich betrüben, sie zu sehen. Sie sind kein Anblick für eine schöne, glückliche Braut. Sie sind traurig und machen traurig.«
»Und die Mutter ist immer traurig?«
»Das Siechenhaus ist eine Stätte der Betrübnis. Aber den Rechtschaffenen erwartet die Wiedergeburt, die ihn erlösen wird. Deine Mutter wird im nächsten Erdenleben eine Königin sein, die lächelnde, hohe Rani mit Diamantenkrone und Dienerinnen und Musik- und Tanzmädchen. Was ist zu tun? Die Götter machen mit uns, was sie wollen. Sie sind manchmal hart. Doch immer gerecht. Wer weiß, was deine arme Mutter im vorigen Dasein verschuldet hat. Das muß sie jetzt büßen.«
Die heißen Tagesstunden waren schon heraufgezogen, als sie vor dem Hause der Aussätzigen ankamen. Es lag in einiger Entfernung von der Stadt, etwas abseits von der Straße, von dieser durch einen kleinen, schlecht gehaltenen Teich getrennt. Es glich einem alten, halbverfallenen, weitläufigen Schuppen, ohne Fenster, mit einem vielfach zersplitterten Holzgatter als Tür. Vor dem Haus, am flachen, schlammigen Ufer des Teiches, am Straßenrand, saßen und lagen einige Gestalten, die sich teils unbeweglich sonnten, teils gegen einen Baumstamm gelehnt, den Oberleib im Schatten, die Beine in der Tagesglut, den Kopf in langsamer, gleichmäßiger Pendelbewegung rechts und links schaukelten. Ob sie Männer oder Weiber, ob sie alt oder jung waren, konnte man nicht unterscheiden, auch wenn die Köpfe nicht in Tücher oder schmutzige Lappen eingebunden waren. Die meisten waren in Lumpen gehüllt, wenige ganz und reinlich gekleidet.
Der Wagen blieb auf der Straße, seine drei Insassen stiegen ab und Udschli schritt zwischen ihrem Vater und ihrer Muhme, ein Körbchen mit Früchten und Gi in der zitternden Hand, auf die jammervollen Gruppen zu. Einige Kranke regten sich nicht und blickten nicht auf, als der Schatten der Besucher auf sie fiel; andere streckten ihnen wortlos bettelnd die Hand entgegen und Udschli sah schaudernd, daß ihnen die Finger ganz oder teilweise fehlten; noch andere läuteten bei ihrer Annäherung langsam und matt mit einer dumpf tönenden, hölzernen Glocke, die sie im kraftlosen Handstummel hielten. So oft Udschlis Fuß festwurzeln wollte, zog ihr Vater sie sanft weiter, bis sie am Eingang des Siechenhauses standen. Dort saß im Schatten der Torwölbung auf einer Matte ein besser gekleideter Mann mit einem Turban, der auf eine gewisse obrigkeitliche Stellung hindeutete.
Udschlis Vater legte eine PaisaPaisa, in englischer Schreibung Pice, kleine indische Scheidemünze, ein Zwölftel eines Anna, wovon sechzehn auf die Rupie gehen. auf eine vorspringende Leiste an der Wand hinter dem Manne und fragte: »Willst du meine Frau, Frau Rani, die Gattin Ganapats aus Masrapur, herausrufen?«
Der Mann mit dem Turban blickte auf und Udschli bemerkte entsetzt, daß ihm im ungeheuerlich gedunsenen löwenähnlichen Gesichte die Nase und ein Teil der Oberlippe fehlten. Zwischen den fletschenden gelben Zähnen zischte es hervor: »Sei gegrüßt, Ganapat, ich will sehen, ob deine Rani im Hause ist.«
Er erhob sich mühsam vom Boden, steckte die Kupfermünze ein und ging langsam hinein. Während die Besucher seine Rückkehr erwarteten, schlichen vermummte und unvermummte Aussätzige aus und ein, die einen die hölzerne Warnglocke schwingend, die anderen die Harrenden anbettelnd. Der Türhüter oder Aufseher erschien wieder und zischte: »Deine Rani ist mit ihrer Freundin ausgegangen. Sie werden wohl nicht weit sein. Du wirst sie auf der Straße gegen die Stadt hin treffen.«
Udschlis Vater wußte Bescheid. Er ging mit seinen beiden Begleiterinnen den Pfad entlang bis nach der Straße, welcher er in der Richtung der aus der Ferne mit einigen hohen Türmen und blitzenden Kuppeln herüberschimmernden Stadt folgte. Er lugte aufmerksam nach den lagernden und wandelnden Kranken, die stärker oder schwächer mit ihrer Holzglocke klapperten, und setzte stumm seinen Weg fort. Wo der Teich aufhörte, da blieb er plötzlich stehen und faßte Udschlis Hand. Das Mädchen verstand und blickte auf. Wenige Schritte weit sah sie zwei Gestalten langsam am Saum der Straße herankommen. Die eine zeigte ein mit Schwären und Pusteln bedecktes Angesicht mit einem zerstörten Auge und einer Stirn, die wie ein Stück bemoster Baumrinde aussah. Die andere hatte den ganzen Kopf bis zur Höhe des Mundes in ein weißes Tuch gehüllt und nur eine entfärbte Unterlippe und ein zitterndes Kinn blieben vom Antlitz sichtbar. Die Vermummte war rein gekleidet, die Einäugige zerlumpt und verwahrlost. Als sie der Gruppe näherkam, zog sie ihre Begleiterin, die sie am Arm führte, enger an sich heran und rasselte, ohne aufzublicken, mit der Warnglocke.
»Die Mutter?« stieß Udschli mit gepreßter Stimme hervor und machte eine Bewegung, wie um zu ihr hinzustürzen. Ihr Vater und ihre Muhme hielten sie kraftvoll fest und jener sprach laut: »Sei gegrüßt, Rani, ich bin hier.«
Die beiden Kranken blieben überrascht stehen und die Vermummte erwiderte: »Bist du es, Ganapat? Sei gegrüßt und gesegnet. Was führt dich an dem ungewohnten Tage zu mir?« Ihre Stimme klang so rauh und heiser, daß sie mehr dem Knirschen einer rostigen Türangel als menschlichen Lauten glich.
»Mutter, Mutter, ich bin gekommen, um dich zu sehen, o Mutter, die man mir so früh genommen hat,« rief Udschli aufschluchzend und machte heftige Anstrengungen, um sich loszureißen.
Rani richtete sich auf, erhob den Kopf, das Zittern ihres sichtbaren Kinnes wurde stärker und aus ihrer tonlosen Kehle röchelte es hervor: »Wer bist du, die mich Mutter nennt?«
»Deine Udschli, Mutter, deine arme Udschli. O Mutter, weißt du denn nicht, daß du ein Mädchen hast?«
Die Kranke wiegte langsam den Kopf hin und her und krächzte mit deutlich bebender Stimme: »Ich habe es gewußt, aber ich habe es vergessen müssen. Ich habe dich mit meiner Milch genährt und du warst wohl ein Jahr lang meine Freude. Dann wurden meine Arme leer und sie trugen dich nicht mehr. Du warst mein Glück, aber ich habe dich wenig gekannt. Du hast mich gar nicht gekannt. Ich habe niemand, und mich hat die Krankheit. Mögen die Götter dir Glück und Segen geben, mein Kind. Geh heim und denke nicht an deine arme Mutter.«
»Nicht an dich denken! Mutter! Da ich dich gesehen habe! O Mutter, und du bist hier allein.«
»Ich bin nicht allein, Kind; diese Gute, die Motiya hier, pflegt mich und führt mich. Dein Vater Ganapat kommt oft und läßt es mir an nichts fehlen. Die Götter mögen ihn segnen. Und ich denke an mein nächstes Dasein. Es wird ja wohl bald beginnen. Geh, Kind, geh heim.«
Der Vater hatte gesenkten Hauptes und mit trauriger Miene zugehört, ohne Udschlis Hand loszulassen. Er flüsterte ihr jetzt zu: »Gib deiner Mutter, was im Korbe ist.«
Udschli wollte einen Schritt zu ihr tun. Der Vater belehrte sie aber: »Lege es auf den Boden vor sie hin.«
»Wie einem armen Tier!«
»Man darf nicht anders.«
Udschli kauerte nieder, holte den Topf mit Gi, die Bananen, die in Blätter gewickelten Pfirsiche und das Säckchen Reis heraus, legte alles säuberlich nebeneinander und sprach demütig, während ihre Tränen strömten: »Mutter, hier ist, was wir dir gebracht haben.«
Die Kranke nickte und ihre Begleiterin bückte sich, um die Lebensmittel aufzulesen und in den aufgerafften Saum ihres Rockes zu sammeln. Der Stoff war so schmutzig, daß Udschli ein Ekel ankam. »Ich will dir die Sachen ins Haus tragen, Mutter,« rief sie und machte Miene, der Einäugigen wieder abzunehmen, was sie schon in der Hand hielt. Der Vater zog sie aber lebhaft zurück und die Mutter krächzte mit schwacher Stimme: »Laß nur, Kind, laß nur, so ist es gut. Begleite mich nicht. Ganapat, warum hast du das Kind hergebracht?«
»Rani,« erwiderte er unsicher, »Udschli verheiratet sich, sie hat erfahren, wie es mit dir steht, und sie wollte dich vor der Hochzeit sehen.«
Die Kranke erhob den Kopf und das Zittern des Unterkiefers hörte einen Augenblick auf. »Wen heiratet sie?« kam es aus der zerstörten Kehle heraus.
»Den jungen Dasa, den Sohn von Bihari Lal Ram, wenn du dich seiner erinnerst.«
Sie dachte eine Weile nach, dann fragte sie weiter: »Wie alt ist das Kind?«
»Sechzehn Jahre.«
»Wie lange bin ich hier?«
»Nahe an die vierzehn Jahre.«
»Ist das Kind gesund?«
»Ganz gesund, Rani.«
»Sie ist schön wie der Vollmond,« murmelte die Einäugige.
»Allen Göttern sei Dank,« sagte Rani. Dann nickte sie einigemal mit dem Kopfe und fügte hinzu: »Ich bin müde. Es ist heiß. Ich muß ins Haus zurück. Lebt wohl, lebt wohl.« Und sie verließ mit kleinen schleifenden Schritten am Arm ihrer Führerin ihre Besucher.
»Mutter!« rief ihr Udschli nach, aber ihr Vater legte ihr die Hand auf den Mund und sprach leise, doch eindringlich: »Laß sie, Kind, es muß ja sein.« Da starrte das Mädchen der sich langsam Entfernenden einen Augenblick nach, warf sich, ehe ihr Vater es verhindern konnte, in den Staub der Straße und berührte mit der Stirn die Stelle, wo der Fuß ihrer Mutter gestanden hatte.
Die Fahrt nach Kutsch ließ tagelang tiefe Schwermut in Udschlis Seele zurück, obwohl ihr Bräutigam und ihre Angehörigen alles taten, um sie zu zerstreuen, und obwohl die Vorbereitungen zur nahen Hochzeit ihr so viel Arbeit gaben, daß zum Versinken in Träumerei kaum Zeit blieb.
Dasa liebte seine schöne Braut leidenschaftlich und wich seit dem Tage der förmlichen Verlobung nicht von ihrer Seite. Er kam so früh am Morgen und ging so spät am Abend, wie es die Sitte irgend gestattete, streute ihr Blumen vor die Füße und in den Schoß, brachte ihr kleine Geschenke und begleitete sie heiß und trunken mit den Blicken, wenn sie am Herde unter religiösen Bräuchen und Gebetversen die Mahlzeiten bereitete oder wenn ihre kunstfertigen Finger mit bunter Seide glückbedeutende Sinnbilder in das feine Linnen stickten.
Udschli ihrerseits war Dasa innig zugetan und es wurde ihr warm ums Herz, wenn sie daran dachte, daß sie nun bald die Gattin des Jünglings werden sollte, zu dem sie, soweit sie sich zurückerinnern konnte, immer als zu ihrem künftigen Herrn und Beschützer aufgeblickt hatte. Dennoch drängte sich auch in den Tagen der kurzen Brautschaft das Bild der Mutter zwischen sie und den Bräutigam, dessen lebendige Gegenwart und blühende Jugend sie die unglückliche Abwesende und ihre jammervolle Zerstörung nicht vergessen machen konnte. Es war ein unklares Gemisch von starken Gefühlen; etwas wie Gewissensbisse über ihre glückliche Jugend, während die Mutter ein so furchtbares Dasein geführt hatte, Selbstvorwürfe, daß sie sie allein ließ, vielleicht auch eine Regung von leise schauderndem Bangen, daß ein so grauenhaftes Geschick möglicherweise auch von ihr noch nicht endgültig abgelenkt war.
Der große Tag der Hochzeit kam. Nach dem Brauche der besseren Familien wurde sie am Abend gefeiert. Sie war ein Fest des ganzen Dorfes, das Udschli bewunderte und liebte. Die Frauen wuschen und kämmten die Braut und zogen ihr das neue Hochzeitskleid an. Sie setzte sich hinter das Herdfeuer, während vor ihr die Gespielinnen den feierlichen Reigen tanzten und Vedische Verse dazu sangen und die eingeladenen Brahmanen am geweihten Feuer die Korn- und Mehlopfer darbrachten und den Göttern Hymnen psalmodierten. Dann erscholl frohes Getöse von außen, die Tür öffnete sich und unter den Klängen lärmender Musik, dem Jauchzen der ihn mit brennenden Fackeln begleitenden Altersgenossen und Freunde und den lauten Begrüßungsrufen der älteren Familienglieder trat der Bräutigam ein, schritt auf die Braut zu und überreichte ihr mit vor freudiger Erregung zitternden Händen das Ehrenkleid und den schön gearbeiteten silbernen Handspiegel. Die Großmutter, die Muhmen und Basen banden ihr mit bunten Fäden, deren Farben sinnbildliche Bedeutung haben, Amulette aus Elfenbein und Korallen, aus Halbedelsteinen und Filigran um die Arme und den Hals, um die Brust und den Leib, in größerer Zahl, unter inbrünstiger gemurmelten Zaubersprüchen, als es sonst wohl geschieht. Dann sangen die Brahmanen lauter und flehender neue Hymnen und verbrannten neue Opfer von Gewürz und Wohlgeruch und Butter und Mehl und endlich erfaßte Dasa Udschlis Hand und sprach bewegt und gedankenvoll die Trauungsformel: »Dies bin ich, das bist du. Das bist du, dies bin ich. Der Himmel ich, die Erde du. Du bist die Rik und ich bin der Saman. So sei denn mir ergeben. Wohlan! Wir wollen uns hier verheiraten. Und Abkömmlinge haben. Es sollen uns viele Söhne werden, die zu hohen Jahren kommen mögen.« Aus allen Winkeln des Raumes erhob sich Hymnengesang, die Musiker bliesen und geigten aus Leibeskräften, die Fackelträger vor der Tür jauchzten, das junge Paar schritt gemessen Hand in Hand um das Feuer, Udschli warf geröstete Körner in die Glut, tat mit dem angetrauten Gatten abgezählte sieben Schritte nach Nordosten und vollzog den Gruß der Dienerin vor dem Herrn. Die Zeremonie war zu Ende, die Gäste setzten sich zum Mahl, Dasa aber führte sein junges Gemahl durch die sternhelle, duftende Nacht nach dem neuen Hause, das seine Sippe ihm am Turfaufer erbaut hatte. Während dieser Weihestunde, die im Leben der Hindufrau einzig ist und einzig bleiben muß, schwebte der Schatten der Mutter fortwährend um die traumhaft in sich verlorene Braut und als Udschli am Arme des sie heiß an sich drückenden Gatten ihrem künftigen Heim zuschritt, da löste sich die bis dahin verhaltene Beklommenheit in lautlose Tränen, die ihr, vom glücktrunkenen Dasa unbemerkt, über die holden Wangen rieselten.