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II. Dionysos.

 

1003.

Dem Wohlgerathenen, der meinem Herzen wohlthut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.

Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;

sein Gefallen an Etwas hört, auf, wo das Maaß des Zuträglichen überschritten wird;

er erräth die Heilmittel gegen partielle Schädigungen: er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;

er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;

er wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;

er sammelt instinktiv aus Allem, was er steht, hört, erlebt, zu Gunsten seiner Hauptsache, – er folgt einem auswählenden Princip, – er läßt viel durchfallen;

er reagirt mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben, – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;

er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;

er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.

 

1004.

Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie Alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit« und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört.

 

1005.

Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen compromittirt zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah.

Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie und Lehrthätigkeit – in einen Zufall und Nothbehelf meines Lebens –: ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und war müde, verbraucht, vernutzt.

Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegentheil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten: – dafür hatte ich die Formel » dionysisch« in den Händen.

Daß ein »An-sich der Dinge« nothwendig gut, selig, wahr, Eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des »An-sich's« als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralisch-christlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Weiche, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-sein-könnens geben kann.

 

1006.

Die moralischen Werthe waren bis jetzt die obersten Werthe: will das Jemand in Zweifel ziehen? ... Entfernen wir diese Werthe von jener Stelle, so verändern wir alle Werthe: das Princip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.

 

1007.

Werthe umwerthen – was wäre das? Es müssen die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden.

Ein muthiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu Dem, was erreicht ist, – ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.

 

1008.

Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht Alles schon bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwerthung von Werthen wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an den alten Werthen leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen.

 

1009.

Gesichtspunkte für meine Werthe: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ... ob man zusieht oder Hand anlegt – oder wegsieht, bei Seite geht? ... ob aus der aufgestauten Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender Herrschaft über viele, sodaß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht? ... ob man Problem oder Lösung ist? ... ob vollkommen bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder das Vertretene selbst ist –? ob »Person« oder bloß ein Rendez-vous von Personen ... ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte Species: als Entlaufener)? ob man Würde nöthig hat – oder den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu spät«? ob man von Natur Ja sagt oder Nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (– die Species wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht« noch fähig ist? (– es giebt Solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen, – sonderlich die Weiblichen, die Unterthänig-Geborenen.)

 

1010.

Gesetzt, unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis: könnte eine Vollkommenheit concipirt werden, innerhalb deren selbst solche Mißverständnisse sanktionirt wären?

Conception einer neuen Vollkommenheit: Das, was unserer Logik, unserem »Schönen«, unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist.

 

1011.

Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, Wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen.

Unsere »neue Welt«: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unsrer Werthgefühle sind, – also »Sinn« in die Geschichte legen können.

Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Consequenz – ihr wißt, wie sie lautet –: daß, wenn es überhaupt Etwas anzubeten giebt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist!

 

1012.

Wer die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art.

In jeder Bewegung zu unterscheiden 1) daß sie theilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit); 2) daß sie theilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte Kraft ist, freudig, übermüthig, gewaltthätig: Gesundheit.

 

1013.

Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maaßstab bleibt die Efflorescenz des Leibes, die Sprungkraft, Muth und Luftigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann, – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zu Grunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.

 

1014.

Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.

 

1015.

Zur Stärke des 19. Jahrhunderts. –Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltirt ... Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emancipirt: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein, – mit einem Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von Alters her, – wir sind die Ehrenretter des Teufels.

Wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Complexität mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit« von Ehedem überwunden (die das Wachsthum des Guten wollte ohne das Wachsthum des Bösen –). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen, – wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspiriren. Die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es ist unmoralisch, an Gott zu glauben«,– aber gerade Das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens.

Wir haben Alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten Dinge« (– wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug dazu), z. B. am Griechenthum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (– wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit –). Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge.

 

1016.

Was uns Ehre macht. – Wenn irgend Etwas uns Ehre macht, so ist es Dies: wir haben den Ernst wo andershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig, – wir geben dagegen die »schonen Gefühle« wohlfeil.

Giebt es eine gefährlichere Verirrung, als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurtheilt wäre zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«!

Es hat Alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt.

Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Werth begriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Necessitäten des Daseins und verachten alles »Schönseelenthum« als eine Art der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. – Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.

 

1017.

Statt des »Naturmenschen« Rousseau's hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen« entdeckt, – es hat dazu den Muth gehabt... Im Ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zu Theil geworden. Wozu man nicht den Muth gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantirt zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachsthum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachsthums der Cultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidenthum, insgleichen gegen den Renaissance-Begriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Cultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zu Gunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim socialistischen Ideal (d. h. dem Residuum des Christenthums und Rousseau's in der entchristlichten Welt).

Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen Höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück in's 17. Jahrhundert, – er ist ein moderner Pascal, mit Pascal'schen Werthurtheilen ohne Christenthum. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja.

Napoleon: die nothwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann« wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.

 

1018.

(Revue des deux mondes, 15. Febr. 1687. Taine über Napoleon:) »Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der Künstler, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l'idéal et l'impossible. Man erkennt ihn wieder als Das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michelangelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Contouren seiner Vision, die Intensität, Cohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Conception, ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure; il est un des trois esprit souvrains de la renaissance italienne.«

Nota bene – – Dante, Michelangelo, Napoleon.

 

1019.

Zum Pessimismus der Stärke. – In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse? – Er concipirt es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im Voraus einzuwirken, – zu präveniren.

– Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint, als sinnvoll aus.

– Ein drittes Mittel: man interpretirt vor Allem das Schlimme als »verdient«: man rechtfertigt das Böse als Strafe.

In summa: man unterwirft sich ihm –: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. – Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt verzichtleisten, es zu bekämpfen. Nun stellt die ganze Geschichte der Cultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Cultur, das heißt eben berechnen lernen, causal denken lernen, präveniren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel«, – er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß in's Bewußtsein tritt, – wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt.

Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Cultur, – ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke. Der Mensch braucht setzt nicht mehr eine »Rechtfertigung des Übels«, er perhorrescirt gerade das »Rechtfertigen«: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn setzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört.

In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d. h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch. Die Animalität erregt setzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermuth zu Gunsten des Thiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphirendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen: – er darf setzt von Neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so thut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen.

Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodicee, d. h. mit einem absoluten Ja-sagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat –: und dergestalt zur Conception dieser Welt als des thatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals.

 

1020.

Die Hauptarten des Pessimismus:

der Pessimismus der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der Unlustgefühle);

der Pessimismus des » unfreien Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);

der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).

Die dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesammt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus« (das durchbohrende Gefühl des – »Nichts«).

Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascal's? der metaphysische Pessimismus der Vedânta-Philosophie? der sociale Pessimismus des Anarchisten (oder Shelley's)? der Mitgefühls- Pessimismus (wie der Leo Tolstoi's, Alfred de Vigny's)?

Sind das nicht Alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene? .. Das excessive Wichtig-nehmen von Moralwerthen oder von »Jenseits«-Fiktionen oder von socialen Nothständen oder von Leiden überhaupt, jede solche Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja!

Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein-thun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens – eigentümlich allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter Anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.

 

1021.

Meine fünf »Neins«.

1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisirung aller bisherigen Philosophien und Wertschätzungen.

2. Mein Wiedererkennen und Herausziehen des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christenthums abgewirthschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen Ideals steckt in seinen Werthgefühlen, in Dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christenthum (z. V. in der Musik, im Socialismus).

3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseau's, gegen seine »Natur«, seinen »guten Menschen«, seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls, – gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Cultur geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf (– die Schuldgefühls-Moralität des Christen, die Ressentiments-Moralität eine Attitüde des Pöbels).

4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseau's zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach der alten Zeit der priesterlich-aristokratischen Cultur, nach virtù, nach dem »starten Menschen«, – etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschenthums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht (»Cultus der Leidenschaft«; ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore espressivo, nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel). – (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit Behagen: heitere Musik u. s. w.; – unter Dichtern ist z. B, Stifter und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein, als – –. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die Historie (?): relativ Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19. Jahrhunderts.)

5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der Heerden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den innerlichen Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird.

 

1022.

Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch Das ist »Pessimismus« ... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend Etwas befiehlt: eine Umwerthung der Werthe, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, sodaß sie in Blitzen und Thaten explodiren, – braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.

 

1023.

Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht.

Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs.

Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles Andere ist Mißverständniß, Gefahr.

 

1024.

Eine Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht: die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große Stil wieder auftritt, als Folge der großen Leidenschaft.

 

1025.

Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Cultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen.

Überall, wo eine Cultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältniß zum Ausdruck, also eine Schwäche.

These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von Ehedem. Maaßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein Einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen vermag, umso höher steht seine Cultur –: je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, umso mehr wird er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten. Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.

 

1026.

Nicht »das Glück folgt der Tugend«, – sondern der Mächtigere bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend.

Die bösen Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten, niedrigen zu den Unterworfenen.

Der mächtigste Mensch, der Schaffende müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen.

Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des Einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, corrumpirt worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Menschen sich durchsetzend hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht nothwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.

 

1027.

Der Mensch ist das Unthier und Überthier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das Eine nicht wollen ohne das Andere, – oder vielmehr: je gründlicher man das Eine will, umso gründlicher erreicht man gerade das Andere.

 

1028.

Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich Nichts vormachen.

 

1029.

Ich habe die Erkenntniß vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht aus –: ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden. Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständniß derselben! Sehnsucht in's Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!

 

1030.

Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachsthum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube. Der, welcher Etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachsthums in der Liebe errathen hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.

 

1031.

Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben – mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück.

Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.

 

1032.

Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgend womit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies Eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.

 

1033.

Die Ja-sagenden Affekte: – der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – Alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende, Jathuende –.

 

1034.

Wir Wenigen oder Vielen, die wir wieder in einer entmoralisirten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die Ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den »Gekreuzigten«.

 

1035.

Der neuere Mensch hat seine idealisirende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisirung desselben ausgeübt, – was bedeutet das? – Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen.

An sich wäre nämlich das Gegentheil möglich: und es giebt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend: – Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.

 

1036.

Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntniß. Ihr Alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum Mindesten nicht humanitär ist« – – und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist.

 

1037.

Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes: – sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit: – es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt Alles, aus ihr folgt – »die Welt«!

 

1038.

– Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gott bildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart! ... So vieles Seltsame gieng schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die in's Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird ... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf ...

Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe »Gott« ... Ist es nöthig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei, – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustra's anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde« ...

Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht ... Man verstehe ihn recht.

Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der »großen Menschen«.

 

1038.

Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgend einem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermuthigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, centnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.

 

1040.

Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuthen, den Enthaltsamen geweiht.)

Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus.

*

In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel.

*

Nie tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nöthig hat.

*

Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.

 

1041.

Mein neuer Weg zum »Ja«. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich Alles, was bisher philosophirt hat, anders ansehn: – die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich an's Licht. »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« – dies wurde für mich der eigentliche Werthmesser. Der Irrthum ist eine Feigheit... jede Errungenschaft der Erkenntniß folgt aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf: – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati.

Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth: und nicht nur als wünschenswerth in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht.

Insgleichen gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen; zu begreifen, woher diese Werthung stammt und wie wenig sie verbindlich für eine dionysische Werthabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich Ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Heerde andrerseits und jener dritte, der Instinkt der Meisten gegen die Ausnahmen –).

Ich errieth damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch nothwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von jenen Werthen, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Heerde und der Meisten nicht verleugnen können, – ich suchte nach den Ansätzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«, »classisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt –).

 

1042.

Zu demonstriren, inwiefern die griechische Religion die höhere war als die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurückgegangen) war.

 

1043.

Es ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nöthig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden, – es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!

 

1044.

Es muß Solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken: – und nicht nur im Gedächtniß an sie, oder im Eins-werden mit ihnen, sondern immer von Neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt werden.

 

1045.

Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen – solche mit den »fleischernen Herzen« – gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften: – sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Werth zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist« nennt. Die Kraft und Macht der Sinne – das ist das Wesentlichste an einem wohlgerathenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Thier« muß zuerst gegeben sein, – was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!

 

1046.

1) Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben an sie – und sie zu Ende denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie als der größte Widersinn des Menschen.

2) Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen, – nicht aber als falsch wegkritisiren!

3) Unsre Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze Religionen sagen: »es ist Alles schlecht und falsch und böse«! Diese Verurtheilung des ganzen Processes kann nur ein Urtheil von Mißrathenen sein!

4) Freilich, die Mißrathenen könnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig werth sein?

5) Man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches »Leben« heißt, – den bauenden Geist, der unter den ungünstigsten Umständen baut: auf die langsamste Weise – – – Der Beweis für alle seine Combinationen muß erst neu gegeben werden: es erhält sich.

 

1047.

Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände – das ist am heidnischen Cultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. – Die Unnatur (schon im griechischen Alterthum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik.

 

1048.

Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.

 

1049.

Die Täuschung Apollo's: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«

Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.

 

1050.

Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens.

Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu Allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz.

An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso nochwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens.

Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Räthsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maaßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte, – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg

 

1051.

Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Bestgerathenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichthum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in Einem Menschen liebreich bei einander; der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und Alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! – man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, giebt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgerathenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichniß-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden: sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißrathene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurtheilende Etwas, gut heißt – und »Gott« heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Thiere: diese ganze lange ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder Dessen, der in ein Geheimniß eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit – mit dem Götternamen: Dionysos. – Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen« ein Recht zu dionysischen Feiern!

Als der griechische Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnißreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maaßstab gegeben, an dem Alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird: – man spreche nur das Wort »Dionysos« vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa, oder vor Beethoven, oder vor Shakespeare, oder vor Raffael: und auf Einmal fühlen wir unsere besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter! – Hat man mich verstanden? – Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und Alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor Allem über die unverrückbare Rangordnung und Werth-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen, – man kennt die Griechen nicht, so lange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals Etwas in diesen Dingen sehen, so viel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß –; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Alterthums, wie Goethe's und Winckelmann's, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abthun – denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische –; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnißvollen Himmel des Südens über sich ausspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsrer » neuen Welt« –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was Dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag!

 

1052.

Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Cult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgerathenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigleiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes!

Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbirten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimniß, Ehrfurcht erweckt).

Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurtheilung. – Man erräth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.


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