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2. Die Starken und die Schwachen.

 

863.

Der Begriff »starker und schwacher Mensch« reducirt sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: » noch wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«.

Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagirt langsam; wehrt sich gegen Vieles, für das sie zu schwach ist, – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran.

Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse thut's«. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Thätigen und der Masse liegen– eine chronologische Differenz.

Die Werthe der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.

 

864.

Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind »menschlicher« –: die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender, – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –.) Esprit: Eigenthum später Rassen: Juden, Franzosen, Chinesen. (Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden »Geist« haben – und Geld. Die Antisemiten – ein Name der »Schlechtweggekommenen«.)

Die Kranken und Schwachen haben die Fascination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch... in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen »Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank: – die großen Gemüthsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar: – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung: – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.

Endlich: das Weib! Die Eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig, – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demüthig zu sein –: oder besser, es macht die Starken schwach, – es herrscht, wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen conspirirt gegen die »Mächtigen«, die »Starken«, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Cultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe: – die Mutter repräsentirt den Altruismus überzeugend.

Endlich: die zunehmende Civilisation, die zugleich nothwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Criminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischen-Species entsteht, der Artist, von der Criminalität der That durch Willensschwäche und sociale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese specifische Culturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art, zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Cultur, – d.h. der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt.

Endlich: der sociale Mischmasch, Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Canaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen, – Alles ist verpöbelt. Hieraus resultirt ein Gesammtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der That sich alsbald selbst die Privilegirten unterwerfen: – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben, – die »Genies« voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert, – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor Allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner). – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werthe.

Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Civilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu compensiren; – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen nothwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Excentrischen (beide meist verbündet) consolidirt sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nöthig haben, »mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea, – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über Alles, was glänzt...)... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie, – sie wird unterhaltend, sie verführt.

*

Resultat. – Eine hohe Cultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund consolidirten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch, – sie ist deplacirt unter Ausnahmen, – sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor Allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanciers geht gegen alles Extreme, – die Juden sind deshalb einstweilen die conservirendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa. Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Socialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nöthig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch daß sie zeigen, was Alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar conservativ – und »mittelmäßig«... Sie wissen überall, wo es Macht giebt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in Einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«.

*

Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werthe antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen –: im andern Falle existirte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –

Die Steigerung des Typus verhängnißvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –

Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen decimiren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr capitalisirt, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich unter einander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.

Es sind verschwenderische Rassen. Die » Dauer« an sich hätte ja keinen Werth: man möchte wohl eine kürzere, aber werth reichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Werthertrag erzielt würde, als im Fall der kürzeren Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummirung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –

 

865.

Eine Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! – Nicht uniformiren! Uns klar machen, wie theuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts durchschnittlich-Wünschenswerthes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark-gestimmt zu werden...

 

866.

Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen »Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus an's Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort »Übermensch«.

Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen, – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen.

Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine specialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung, – der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.

Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellirten«, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt Solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.

– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer: – sodaß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Proceß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nöthig hat.

 

867

Einsicht in die Zunahme der Gesammt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist in diesem Wachsthum.

Verschiebung des Schwergewichts einer Cultur, Die Unkosten jedes großen Wachsthums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.

 

868.

Gesammt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventhier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exceß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach, – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit classischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Muth zur psychologischen Nacktheit (– die Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werden-lassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nöthigung: man muß die Wahl haben, entweder zu Grunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren socialistischen Krisen sichtbar werden und sich consolidiren, – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind, und den längsten Willen garantiren können.

 

869.

Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zu Grunde geht, sind so gründlich in Acht gethan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber nothwendig bisher gewesen: letzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.

 

870.

Die Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demuth, Keuschheit, Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams, gesiegt hat – die herrschenden Naturen wurden dadurch 1) zur Heuchelei, 2) zur Gewissensqual verurtheilt, – die schaffenden Naturen fühlten sich als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werthe.

Die Barbaren zeigten, daß Maaßhalten-können bei ihnen nicht zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und Triebe der Natur: – ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände. Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden (– so hat La Rochefoucauld den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei Solchen, welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maaßhalten selber war als Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem Teufel u. s. w. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maaße, der Genuß am Schönen des Maaßes war übersehen oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte.

Der Glaube an die Lust im Maaßhalten fehlte bisher – diese Lust des Reiters auf feurigem Rosse! – Die Mäßigkeit schwacher Naturen mit der Mäßigung der starten verwechselt!

In summa: die besten Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen – und die besten Menschen sind verborgen geblieben – und haben sich oft selber verkannt.

 

871.

Die Lasterhaften und Zügellosen: ihr deprimirender Einfluß auf den Werth der Begierden. Es ist die schauerliche Barbarei der Sitte, welche, im Mittelalter vornehmlich, zu einem wahren »Bund der Tugend« zwingt – nebst ebenso schauerlichen Übertreibungen über Das, was den Werth des Menschen ausmacht. Die kämpfende »Civilisation« (Zähmung) braucht alle Art Eisen und Tortur, um sich gegen die Furchtbarkeit und Raubthier-Natur aufrecht zu erhalten.

Hier ist eine Verwechslung ganz natürlich, obwohl vom schlimmsten Einfluß: Das, was Menschen der Macht und des Willens von sich verlangen können, giebt ein Maaß auch für Das, was sie sich zugestehen dürfen. Solche Naturen sind der Gegensatz der Lasterhaften und Zügellosen: obwohl sie unter Umständen Dinge thun, derentwegen ein geringerer Mensch des Lasters und der Unmäßigkeit überführt wäre.

Hier schadet der Begriff der » Gleichwerthigkeit der Menschen vor Gott« außerordentlich; man verbot Handlungen und Gesinnungen, welche, an sich, zu den Prärogativen der Starkgerathenen gehören, – wie als ob sie an sich des Menschen unwürdig wären. Man brachte die ganze Tendenz der starken Menschen in Verruf, indem man die Schutzmittel der Schwächsten (auch gegen sich Schwächsten) als Werth-Norm aufstellte.

Die Verwechslung geht so weit, daß man geradezu die großen Virtuosen des Lebens (deren Selbstherrlichkeit den schärfsten Gegensatz zum Lasterhaften und Zügellosen abgiebt) mit den schimpflichsten Namen brandmarkte. Noch jetzt glaubt man einen Cesare Borgia mißbilligen zu müssen; das ist einfach zum Lachen. Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann gethan: als ob ein Mönch oder Priester über Das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig consequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in Das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle »Größe des Menschen«.

 

872.

Die Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältniß zu den Pflichten, die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt. Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren.

 

873.

Mißverständnis; des Egoismus: von Seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich an's Herz legen wollen, – der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Thätigkeitssinn nach einem Terrain. – Im gewöhnlichen »Egoismus« will gerade das »Nicht- ego«, das tiefe Durchschnittswesen, der Gattungsmensch seine Erhaltung – das empört, falls es von den Seltneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urtheilen: »wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung, als an der jenes Viehs!«

 

874.

Die Entartung der Herrscher und der Herrschenden Stände hat den größten Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die römische Gesellschaft wäre das Christenthum nicht zur Herrschaft gekommen.

Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen giebt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden giebt und daß vor Gott die Menschen gleich stehn: was das

non plus ultra

des Blödsinns bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen sich selber schließlich nach dem Tugend-Maaßstab der Sklaven – fanden sich » stolz« u.s.w., fanden alle ihre höheren Eigenschaften als verwerflich.

Als Nero und Caracalla oben saß, entstand die Paradoxie »der niedrigste Mensch ist mehr werth, als der da oben!« Und ein Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde der Mächtigsten, – der Gott am Kreuze!

 

875.

Der höhere Mensch und der Heerden-Mensch. Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– »und am Weibe auch nicht« mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf Einen Haufen, als Parlamente und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.

Das »Tyrannisirende« ist die Thatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.

 

876.

Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff »höhere Natur« klar zu machen, dafür giebt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft – daß »große Männer«, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind – wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Werthvolle an einem solchen »höheren Menschen« liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz in ihrer Wirkung ... Aber die »höhere Natur« des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmittheilbarkeit, in der Rangdistanz, – nicht in irgend welchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.

 

877.

Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Civilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.

Der Werth eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Werth eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es Niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Species Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm Alles vor Neid zu Grunde gienge?

 

878.

Den Werth eines Menschen darnach abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es thut. Aber damit ist der Werth des Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die »moralische Wertschätzung«, so weit sie eine sociale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmittheilbar, unmittheilsam, – ein unausgerechneter Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Species: wie wollt ihr den abwerthen können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt?

Die moralische Abwerthung hat die größte Urtheils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Werth eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Werth des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.

 

879.

Die moralische Präoccupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels –). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Heerde – und sei es auch als deren oberster Nothbedarf, als »Hirt«.

 

880.

Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.

 

881.

Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als nothwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entrathen könne; daß er das Eine nicht mit dem Anderen hinnehmen will, – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Theil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist Das, was von uns Anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als Etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrig bleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung ... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zu Grunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit.

Die Meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustandekommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in Einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben z. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).

 

882.

Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen an, – aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.

 

883.

Die » Reinigung des Geschmacks« kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentirt nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich in's Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr: – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).

 

884.

Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.

 

885.

Soviel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hatte von der Zustimmung der Vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! –

Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der Allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.

 

886.

Die Rangordnung der Menschen-Werthe. –

a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall – Alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Thun aus, als eine »Person«.

b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen« sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person« zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.

c) Die »Person« ein relativ isolirtes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolirung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor Allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit contagiös ist, hat.

Erste Frage in Betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie heerdenhaft Jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Werth in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Heerde, seines Typus sichern; im andern Falle in Dem, was ihn abhebt, isolirt, vertheidigt und solitär ermöglicht.)

Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften nicht nach dem solitären.

Aus der Höhe betrachtet, sind beide nothwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus nothwendig, – und Nichts ist mehr zu verbannen, als jene »Wünschbarkeit«, es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend« als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar«, als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen ...

Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Heerde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert, und diese den Eigenschaften der Heerde, – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurtheilung.

 

887.

Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Species ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Heerde, die Tradition der Werthe gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug, – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten, wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!).

Der Stände- und Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt, – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Vertheidigungs-Mittel nicht mehr nöthig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.)

Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Heerde. Für sie ein Régime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht« in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.

 

888.

Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. – Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu thut noth, daß ihm die anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden).

Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Thätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen – und nicht nur zu ertragen –, die Langeweile von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven« Thätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht von einander getrennt abschätzen lernen – das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Thätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Thätigkeit abgiebt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Bureau-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch, als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewerthet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf Alles, was unangenehm ist, – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch ... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend (– Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs »du sollst«).

 

889.

Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale, – d.h. Auswahl bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Thätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).

Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Werthvorstellung zu überwinden, die Unlust als werthvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Ausgleichen unser Gemeinsinn, Nächstensinn, Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«.

Daß man die unangenehmen Dinge gern thut – Absicht der Ideale.

 

890.

Die Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand – – –)

 

891.

Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat.

Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.

 

892.

Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich thue, man sieht es, das Gegentheil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – in's Unmoralische.

 

893.

Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem » Recht auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten.

 

894.

Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht, – statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Werth der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten.

 

895.

Die Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:

ein neues Niveau begründen;

eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung; die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;

die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit gethan werden muß;

die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;

die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität;

der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.

 

896.

Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller civilisirten Gesellschaft.

 

897.

Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zu allererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im Wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der That consumirt eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nöthig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurtheilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.

 

898.

Die Starken der Zukunft. – Was theils die Noth, theils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.

Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der Reichthum an Kraft wäre größer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen.

Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starten Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existiren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse.

Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können).

Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Werthschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten.

Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Proceß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Proceß zu verlangsamen.

Diese ausgeglichene Species bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern ein Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis in's Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf –, stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.

 

899.

Unsre Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen nun

neue Barbaren:
die Cyniker
die Versucher
die Eroberer

Vereinigung der geistigen
Überlegenheit mit Wohlbefinden
und Überschuß von
Kräften.

 

900.

Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen giebt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es giebt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.

 

901.

Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die Aufgabe der höheren Species in der Leitung der niederen sieht (wie es z. B, Comte macht –), sondern die niedere als Basis, auf der eine höhere Species ihrer eigenen Aufgabe lebt, – auf der sie erst stehen kann.

Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme Species sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer à la Spencer stehn.

Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz – Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst –, das würde, wenn es den mittleren Naturen freistünde, diese nothwendig zu Grunde richten– und thut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung« am Platze, – kurz die »Heerdentugenden«: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen.

 

902.

Zu den herrschaftlichen Typen. – Der »Hirt« im Gegensatz zum »Herrn« (– ersterer Mittel zur Erhaltung der Heerde; letzterer Zweck, weshalb die Heerde da ist).

 

903.

Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbau's, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. – Maaßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirthschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.

 

904.

Einsicht, welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disciplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel, – la, largeur de coeur, – das Experiment, – die Independenz.

 

905.

Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.

 

906.

Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Thaten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er Nichts thut, was ihm widersteht, so wenig als er Etwas thut, das ihm nicht schmeckt.

 

907.

Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werthe! Es ist tausendmal zu complicirt, und die Wahrscheinlichkeit des Mißrathens sehr groß: so begeistert es nicht, darnach zu streben! – Skepsis. – Dagegen: Muth, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Wage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hülfe kommen.

 

908.

Bevor wir an's Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit gethan sein. In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen der gegebenen Lage wohl unsere beste, rathsamste Thätigkeit. Das wirkliche Schaffen solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal durchsetzen und verwirklichen!

Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht alles Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!!

Daß die Natur des Menschen böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!

 

909.

Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.

1) Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?

2) Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück und Unglück?

3) Ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?

4) Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?

5) Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?

6) Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z.B. der Philosoph thut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängniß, eine Dummheit riecht)?

7) Ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder verachteter?

8) Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Heerdenthier werden will?

 

910.

Typus meiner Jünger. – Solchen Menschen, welche mich Etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer Werth hat oder nicht, – daß er Stand hält.

 

911.

Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit« bei »schönen Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen Pietisten beweisen Nichts in Bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen Menschen« unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da: – gegen das spinozistische oder epikureische Glück und gegen alles Ausruhen in contemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß man auch Herr über die Tugend werden.

 

912.

Ich sehe durchaus nicht ab, wie Einer es wieder gut machen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein Solcher kennt sich nicht; er geht durch's Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verräth sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechthum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenügsamkeit herausfordert: oder eine plötzlich hereinbrechende Nothlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Thätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie giebt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disciplin zur rechten Zeit, d. h. in jenem Alter noch, wo es stolz macht, Viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß Viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nöthig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnißvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disciplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und näher besehn, es giebt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein, als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.

 

913.

Das Verdienst leugnen: aber Das thun, was über allem Loben, ja über allem Verstehn ist.

 

914.

Neue Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über Das, was man lassen und thun will, ganz bestimmte Entsagung von Vielem. Proben, ob reif dazu.

 

915.

Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen: an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art, auch im Geistigsten; eine Casuistik der That in Bezug auf unsre Meinung, die wir von unsern Kräften haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. ( Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem Magen.) – Man sollte Prüfungen erfinden auch für die Stärke im Wort-halten-können.

 

916.

Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat: 1) die Askese: man hat kaum noch den Muth dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung an's Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt, der der »brauchbare Staatsdiener« als regulirendes Schema vorschwebt, glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas Anderes zuerst noth thut – Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für Alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen darf: der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für dieses oberste Werthproblem seiner Natur zu haben;

2) das Fasten: in jedem Sinne, – auch als Mittel, die seine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z.B. zeitweise nicht lesen, keine Musik mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage für seine Tugend haben);

3) das » Kloster«: die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z.B. der Briefe; eine Art tiefster Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den «Versuchungen« aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten aus dem Cirkeltanz des Milieu's; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen, welche uns verurtheilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität (man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv, d. h, sie müssen erst lesen, um zu denken);

4) die Feste. Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen und christlichen Werthen als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermuth, Ausgelassenheit; der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit, – lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich Ja sagen darf. Das Fest ist Heidenthum par excellence.

5) der Muth vor der eigenen Natur: die Kostümirung in's »Moralische«. – Daß man keine Moral-Formel nöthig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen: Maaßstab, wie weit Einer zur Natur bei sich Ja sagen kann, – wie viel oder wie wenig er zur Moral recurriren muß.

6) der Tod, – Man muß die dumme physiologische Thatsache in eine moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten Zeit seinen Willen zum Tode hat!

 

917.

Sich stärker fühlen – oder anders ausgedrückt: die Freude – setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht nothwendig mit Anderen, sondern mit sich, inmitten eines Zustands von Wachsthum, und ohne daß man erst wüßte, inwiefern man vergleicht –).

Die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende Irrthümer (»Wahnvorstellungen«):

z.B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich stark in seinem Vertrauendürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen: er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein; z.B. das Gefühl der Überlegenheit: wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;

z.B. das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Cultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltproceß scheint; oder der Christ alles Dasein überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.

– Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zu Muthe wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen, – von Dem, was die Andern »das Ideal« nennen.

 

918.

Ein kleiner tüchtiger Bursch wird ironisch blicken, wenn man ihn fragt: »Willst du tugendhaft werden?« – aber er macht die Augen auf, wenn man ihn fragt: »Willst du stärker werden, als deine Kameraden?« –

*

Wie wird man stärker? – Sich langsam entscheiden; und zähe festhalten an Dem, was man entschieden hat. Alles Andere folgt.

Die Plötzlichen und die Veränderlichen: die beiden Arten der Schwachen. Sich nicht mit ihnen verwechseln; die Distanz fühlen – bei Zeiten! Vorsicht vor den Gutmüthigen! Der Umgang mit ihnen erschlafft. Jeder Umgang ist gut, bei dem die Wehr und Waffen, die man in den Instinkten hat, geübt werden. Die ganze Erfindsamkeit darin, seine Willenskraft auf die Probe zu stellen ... Hier das Unterscheidende sehn, nicht im Wissen, Scharfsinn, Witz.

Man muß befehlen lernen, bei Zeiten, – ebensogut als gehorchen. Man muß Bescheidenheit, Takt in der Bescheidenheit lernen: nämlich auszeichnen, ehren, wo man bescheiden ist; ebenso mit Vertrauen – auszeichnen, ehren.

*

Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen; – dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße: Gesundheit, Freundschaft, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Muth. Man vergiebt sich später diesen Mangel an echtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego.

 

919.

Ich wollte, man fienge damit an, sich selbst zu achten: alles Andere folgt daraus. Freilich hört man eben damit für die Andern auf: denn Das gerade verzeihen sie am letzten. »Wie? Ein Mensch, der sich selbst achtet?« –

Das ist etwas Anderes, als der blinde Trieb, sich selbst zu lieben: Nichts ist gewöhnlicher, in der Liebe der Geschlechter wie in der Zweiheit, welche »Ich« genannt wird, als Verachtung gegen Das, was man liebt: – der Fatalismus in der Liebe.

 

920.

»Ich will das oder das«; »ich möchte, daß das oder das so wäre«; »ich weiß, daß das oder das so ist« – die Kraftgrade: der Mensch des Willens, der Mensch des Verlangens, der Mensch des Glaubens.

 

921.

Die Mittel, vermöge deren eine stärkere Art sich erhält.

Sich ein Recht auf Ausnahme-Handlungen zugestehen; als Versuch der Selbstüberwindung und der Freiheit.

Sich in Zustände begeben, wo es nicht erlaubt ist, nicht Barbar zu sein.

Sich durch jede Art von Askese eine Übermacht und Gewißheit in Hinsicht auf seine Willensstärke verschaffen.

Sich nicht mittheilen; das Schweigen; die Vorsicht vor der Anmuth.

Gehorchen lernen, in der Weise, daß es eine Probe für die Selbst-Aufrechterhaltung abgiebt. Casuistik des Ehrenpunktes in's Feinste getrieben.

Nie schließen »was Einem recht ist, ist dem Andern billig«, – sondern umgekehrt!

Die Vergeltung, das Zurückgeben- dürfen als Vorrecht behandeln, als Auszeichnung zugestehn.

Die Tugend der Anderen nicht ambitioniren.

 

922.

Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei« der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Congu oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.

 

923.

Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du ein Angriffskrieg« oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, Alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« –: das sind nur Namen und Stufen für Ein und Dasselbe. Dorthin gehn, wo man nicht nöthig hat, sich zu wehren, – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genöthigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr giebt. Schlimmsten Falls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen, – so räth es z. B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern giebt es Etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt.

Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hülfsmittel und Tugenden sie nöthig haben, um es auszuhalten, – um selbst obzusiegen.

 

924.

Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhanden kommen, in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?

 

825.

Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – »Was du nicht willst, daß dir die Leute thun, das thue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit: das gilt als Grund der Moral, – als »güldener Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Calcul: »thue Nichts, was dir selber nicht angethan werden soll« verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn Jemand, mit dem »Principe« in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man thun, damit Andere uns nicht zuvorkommen, – damit wir Andere außer Stand setzen, sie uns anzuthun«? – Andrerseits: denken wir uns einen Corsen, dem seine Ehre die vendetta

gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel halt ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen ... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen Das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte, – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt.

Dagegen ist der Spruch werthvoll, weil er einen Typus Mensch verräth: es ist der Instinkt der Heerde, der sich mit ihm formulirt, – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen »Individuen« giebt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine »Vergeltung« ... Wenn ich Etwas thue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgend einem Menschen möglich sei: es gehört mir ... Man kann mir Nichts zurückzahlen, man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.

 

926.

Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorrescire seine Gemeinheit, welche sagt »was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig«; »was du nicht willst u.s.w., das füg' auch keinem Andern zu«; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, sodaß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für Etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werthe von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Werth einer Handlung einfach annullirt (Das, was durch Nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große Gemeinheit; gerade daß Etwas, das ich thue, nicht von einem Andern gethan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der »meines-Gleichen«, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgiebt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges thut, – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.

 

927.

Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwerthung und ihres »nützlich« und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der Folgen zu übersehen vermag.

Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische Denkweise nöthig: weil er viel größere Complexe von Wirkungen zu berechnen hat.

Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.

 

928.

»Seinem Gefühle folgen?« – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig werth und charakterisirt nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich Alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Corse einen honnetten Menschen gewiß.

Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische That nicht auf Impulse hin zu thun, – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei ... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgend ein Affekt.

Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel. Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt, – im Gegentheil, man hat sie im furchtbarsten Grade: über daß man sie am Zügel führt... und auch Das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil ...

 

929.

»Sein Leben lassen für eine Sache« – großer Effekt. Aber man läßt für Vieles sein Leben: die Affekte sammt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert Nichts am Werthe. Wie Viele haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: z. B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will Nichts riskiren, die andre will riskiren. Sind wir Anderen Verächter des Lebens? Im Gegentheil, wir suchen instinktiv ein potenzirtes Leben, das Leben in der Gefahr ... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als die Anderen. Pascal z.B. wollte Nichts riskiren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.

 

930.

Wie viel Vortheil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig« ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt!

Man will nicht sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vortheil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.

 

931.

Nützlich sind die Affekte allesammt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgend eine Werthabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesammt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis; auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die werthvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen giebt.

 

932.

Die wohlwollenden, hülfreichen, gütigen Gesinnungen sind schlechterdings nicht um des Nutzens willen, der Von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen: sondern weil sie Zustände reicher Seelen sind, welche abgeben können und ihren Werth als Füllegefühl des Lebens tragen. Man sehe die Augen des Wohlthäters an! Das ist das Gegenstück der Selbstverneinung, des Hasses auf das moi, des »Pascalismus«.

 

933.

Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung! – Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden.

Der »große Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Unthiere in Dienst zu nehmen weiß.

Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe der Civilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf.

Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruiniren zu Gunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zu Gunsten des Mittleren.

Erst wenn eine Cultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Cultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein: – jede aristokratische Cultur tendirt dahin.

 

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Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurtheile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die Meisten zu Grunde gehen? – wie weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüthe führen? – wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird? (– was uns nicht umbringt, macht uns stärker...) – endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur Recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisiren zu lassen? ... Stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruiniren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster.


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