Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.
Der Galgen

Die Königin kam mit dem Dauphin wenige Stunden nach Ludwigs Tod. Sie folgte dem Wunsch Olivers, der sie durch einen Eilboten herbeirief, und hatte weder in ihrer Residenz das Ende des Königs bekanntgegeben noch die Töchter, ihre bourbonischen Männer und die anderen Reichsgranden von dem Ereignis unterrichtet. Jean de Beaune empfing sie ernst und führte sie an den stummen und kalten Schotten vorbei, durch stumme und kalte Räume in das Totenzimmer. Ludwig lag weiß und friedlich in den Kissen. Das sanfte Sterben hatte sein Gesicht wie mit einer zauberisch gütigen Hand aus der Verzerrung gelöst; man mußte es sehr genau betrachten, um jenen ersten Schlag der großen Faust auf die linke Hälfte zu erkennen. Der Necker saß ihm zu Häupten auf einem kleinen Schemel, ganz nach vorne geneigt, so daß sein Kopf niedriger lag als der des Toten. Es schien fast, als lauschte er noch nach den Schlägen des Herzens; denn er saß so seit vielen Stunden, im Schoß noch den Spiegel, dessen nicht mehr getrübte Fläche den Sieg des Todes verkündet hatte; und Oliver sah immer noch das Antlitz des Königs ein wenig von unten her an, so innig vielleicht den letzten Ausdruck sich einprägend oder so nahe noch immer der anderen Seele, daß das eigene Gesicht den weißen Frieden – um ein klein wenig heiterer gar – widerleuchtete.

Carlotta blieb mit einem kleinen Erschrecken in der Tür stehen: sie wußte im Schein der unruhigen Kerze nicht, wer der Tote war und wer der Lebendige, wer der König und wer der Necker.

Jetzt wandte Oliver ihr den Kopf zu, stand auf und verbeugte sich mit einem guten Lächeln.

»Messire ...«, sagte Carlotta leise und hob die Stimme wie zu einer zaghaften Frage, »ich glaube es nicht ...« Und plötzlich, auf Ludwig schauend, auf den Necker wieder, fragte sie es wirklich: »Wer trägt hier die Krone?«

Oliver sah sie erstaunt an und hob abwehrend die Hand.

»Sie, Madame«, sprach er und trat in den dunklen Hintergrund des Zimmers zurück, wo Jean de Beaune stand. Carlotta senkte den Kopf und wurde rot. Dann kniete sie mit dem Dauphin, einem scheuen, unschönen Knaben von fünfzehn Jahren, vor dem Bett nieder, betete kurz und erhob sich wieder, nachdenklich und zaghaft sich umwendend.

»Darf die Regentschaft mit Ihnen rechnen, Messire?« fragte sie. Oliver kam näher, aufs neue lächelnd, den Kopf schüttelnd.

»Dürfte sie es, Madame«, antwortete er, »so wäre sie, der Friede, der Bestand des Reiches, dieses großen Mannes Werk von schmerzlich kurzer Dauer. Sollten Sie es wahrhaftig nicht wissen, hohe Frau?«

Carlotta schwieg und preßte die Handflächen gegeneinander, wie es ihre Art war, wenn sie die Erregung des inneren oder äußeren Lebens nicht meistern konnte. Der Necker beobachtete sie. Das Alter hatte sie verschönert. Die frühen weißen Haare lösten alles Häßliche, Grobe, Leidvolle in Würde auf, das Gesicht war kleiner geworden und seine Flächen, die einst zu breit waren und seltsam nackt schienen, durch das silbrig aufdämmernde Greisentum begütigt und wie bekleidet.

»Und was werden Sie tun, Messire?« fragte sie endlich und verriet durch die Bedrängnis im Ton, daß auch diese Frage – wie vorhin die erste – bekämpft und doch nicht zurückzuhalten war.

»Madame«, antwortete der Necker langsam, »Sie haben mich einst in solcher Nähe gesehen – so deutlich habe ich mich Ihnen einmal gezeigt, Madame, wie es im Leben nur selten geschieht. Was ich jetzt tun werde, hohe Frau: sollten Sie es wahrhaftig nicht wissen?«

Carlotta nickte kaum merklich mit dem Kopf.

»Ihm folgen«, sprach sie leise, mit mehr Sicherheit, ermutigt durch seine Art, die mit sanftem Zwang zur Offenheit führte. »Zum mindesten ahnte ich es, Messire, als selbst bis in meine stille Residenz der Lärm von dem maledeiten Namen drang. Zum mindesten wußte ich, was Großes es um diesen Lärm war – und vielleicht, Messire, gehörte dieses Wissen zu dem wenigen, worauf ich noch stolz war – und ich habe, wie damals, zu dem Herrn gebetet, daß er Ihnen verzeihe und Sie belohne. Und ich habe ... ja, Seigneur, ich habe nie geglaubt, daß ich Sie – allein ohne ihn – nach ihm – noch einmal sehen werde. So darf ich jetzt verwirrt sein ...«

Oliver machte eine Bewegung, als wollte er ihre Hand ergreifen. Doch weil der Dauphin, nahe hinter seiner Mutter, ihn unausgesetzt und mit einem unbestimmten Ausdruck von furchtsamer Neigung betrachtete, ließ er es.

»Sie stellen sich jetzt wieder ganz nahe hin zu mir, gnädigste Frau«, sagte er weich und dankbar, »und Sie können schon jetzt hören, warum ich noch lebe, obwohl mein König schon fünf Stunden tot ist, warum ich Sie bat, so heimlich zu kommen, und warum Sie, nicht ich, dem Reich den Tod des Souveräns und die Konstitution der Regentschaft verkünden müssen – und nicht nur dies verkünden müssen, sondern auch die Austreibung des Teufels.«

Carlotta hob etwas die Schultern, als wollte sie eine Bürde zurechtrücken, und ihre Lippen zuckten.

»Jetzt weiß ich es schon«, murmelte sie, und bekümmert setzte sie hinzu, »ach, warum immer sind die Aufgaben so schwer, die Sie mir zuweisen, Messire?«

»Weil sie stets von königlichem Geiste sind, Madame«, antwortete der Necker mit seinem leisen Lächeln. »Und jetzt gilt es die Dynastie wie damals, jetzt die Überwindung eines Gefühls wie damals. Der Haß, der um die Krone liegt, den dieser große Mann ertragen konnte und der den Jüngling erdrücken möchte, muß von dem getilgt werden, der ihn gesammelt hat – im Namen des Königs. Deshalb desertierte ich nicht auf einem der vielen Schleichwege, die mir zu Gebote standen, und stahl mich nicht in den königlichen Tod. Deshalb ist alles und lange schon von mir vorbereitet. Deshalb ist es Ihre Pflicht, Majestät, heute wie damals, den königlichen Zweck einzusehen und den notwendigen Ablauf der Dinge nicht mit Sentiments zu stören.«

»Ja«, flüsterte Carlotta. Oliver fuhr mit freundlich sachlicher Stimme fort:

»Die erste Amtshandlung der Regentschaft nach der Todeserklärung des Monarchen muß meine Absetzung sein. Die zweite: die Wiedereinsetzung des Präsidenten Le Boulanger und der anderen entfernten Parlamentarier in ihre Ämter, Würden und Besitztümer. Die dritte: der öffentliche Befehl ans Höchste Gericht, die Prozessierung des Oliver Necker und des Daniel Bart mit großem und lautem juridischem Apparat aufzunehmen und durchzuführen. Die vierte: die Signierung des endlichen Urteils um keine Stunde zu verzögern. Die Peinlichkeit der Verhaftung erspare ich Ihnen, gnädigste Frau. – Das ist alles. Und das versprechen Sie mir bei meinem König.«

Carlotta stand wie betäubt; jetzt hob sie schwach die Hände.

»Mein Gott!« stöhnte sie.

»Madame!« rief Jean de Beaunes erschütterte Stimme aus dem Schattenteil des Zimmers, »um der Güte Gottes willen, überlegen Sie ...«

»Halt, Jean, mein guter Freund!« unterbrach ihn Oliver mit starker Stimme, »wenn du schon den Reichsfrieden stören willst, so wirst du doch nicht den Seelenfrieden stören wollen. Und du begreifst mich doch, mein kluger Freund.«

Beaune schwieg. Der Necker wandte sich wieder an die Königin.

»Der eben sprach«, sagte er, »ist Ludwigs wertvollstes Legat an die Regentschaft. Sie möge immer auf ihn hören – nur nicht jetzt.«

Der Dauphin rief mit rotem Gesicht:

»Versprechen Sie nichts, Frau Mutter!«

»Sire«, redete Oliver ihn an und faßte ihn mit dem Blick, »wissen Sie, wie Ihr Volk mich nennt?«

»Ja, Seigneur«, stotterte der Prinz; und Oliver sah, daß seine große Nase in der Erregung zuckte, wie einst die große Nase Karls von Frankreich, dessen Namen er trug. Des Neckers Stirn umwölkte sich, als sähe er schlimme Zeichen für des Reiches Zukunft.

»So hören Sie auf die Stimme des Volkes, mein Fürst«, sagte er nicht sonderlich freundlich. »Das ist nicht unwichtig, wenn man nicht Ludwig, sondern Ludwigs Sohn ist.«

Er wandte sich ab, trat zu dem Toten und küßte die beiden Hände, die gekreuzt auf der Brust lagen. Dann streifte er das Laken über ihn und drehte sich um.

»Wir sind hier nicht mehr nötig, Madame«, sagte er zur Königin. »Ihre große Pflicht beginnt mit dem Versprechen.«

»Ich gebe es Ihnen bei Ihrem König«, sagte Carlotta laut und klar. Und als sich Oliver über ihre Hand beugte, fing sie die seine auf und küßte sie. »Das gilt meinem König«, sprach Oliver leise, »und er dankt Ihnen.«

Plötzlich schluchzte der Dauphin auf. Man wußte nicht recht, warum; denn er sah zu Boden. Und als er wieder aufschaute, mit den etwas scheelblickenden und rotgeränderten Augen, war der Necker verschwunden. Der Knabe Karl hob den Zeigefinger und lauschte, als würde man ihn vielleicht noch hören können.

»Ja«, sagte Carlotta, »wir sind königlos.«

 

Der Magistrat der Stadt Paris hatte während der letzten Wochen nur mit großer Mühe einen förmlichen Krieg der Bevölkerung gegen den Tyrannen von Saint-Cloud vermieden. Er war gleich dem Parlament und den Spitzen des Episkopats sehr genau über den jeweiligen Zustand des Souveräns durch geheimnisvolle Quellen unterrichtet und konnte mit bemerkenswerter Deutlichkeit den am Ende ihrer Geduld angelangten Bürgern versprechen, daß der rechtlich und moralisch unhaltbare Zustand sich sehr bald von Grund auf ändern werde und daß die Selbstdisziplin, noch kurze Zeit geübt, gute Früchte tragen würde. Zudem war das Gerücht, das die Empörung der Stadt aufflammen ließ, der Behörde durch keine Tatsache als wahr erwiesen worden. Es hieß: die Frau eines Edelmannes, der von dem Bart aus irgendeiner Laune in den Schloßturm von Saint-Cloud gesperrt worden war, hätte den Statthalter kniefällig gebeten, ihren Gemahl in Freiheit zu setzen; und da die Dame sehr jung und sehr hübsch war, hätte der Bart mit groben Zärtlichkeiten nicht gespart und schließlich gesagt, wenn sie die Nacht bei ihm bleibe, würde sie am nächsten Morgen ihren Mann außerhalb des Turmes finden. Die Dame, deren Liebe zu ihrem Eheherrn sehr groß gewesen sei, habe sich endlich entschieden, ihr Schicksal auf sich zu nehmen, und sei dann in der folgenden Frühe von dem Bart an den Fuß des Turmes geführt worden. »Und wo ist er denn?« habe sie gerufen und der Bart mit rohem Gelächter geantwortet: »Schon steigt er vom Himmel, schönste Frau!« – Und schon habe die Dame zwei Beine über ihrem Kopf pendeln sehen, einen leblosen Körper, ihren erwürgten Mann, der mit dem Strick um den Hals aus einem Fenster des zweiten Stockes auf die Erde gelassen wurde und jetzt jämmerlich zu ihren Füßen lag. – Diese Missetat, die man sich mit schauerlichen Einzelheiten in den Straßen von Paris erzählte, machte das Maß des allgemeinen Zornes voll. Es kam zu Zusammenrottungen, zu lauten Flüchen und Drohungen gegen den Teufel und seinen Leutnant, und der Prior des Franziskanerklosters, der als Prediger berühmte Pater Antoine Fradin, welcher als einziger ungestraft und unbehindert seit etlicher Zeit gegen die Tyrannei des allmächtigen Ministers und seines Subjektes Sturm lief, hatte ungeheuren Zulauf. Der Magistrat mußte Soldaten auf die Straße schicken und der Erzbischof den Prior bitten, seinen Eifer zu mäßigen und ein Überkochen der Volkswut zu verhüten. Denn obwohl dem Parlament ein notorisches Kapitalverbrechen des Bart sehr erwünscht gekommen wäre (der Mord fehlte in dem Sündenregister), kam doch keine ihres Mannes auf so furchtbare Weise beraubte Frau und erhob Anklage. Auch später, in den Akten des Neckerschen Prozesses, fand man diesen Vorfall nicht erwähnt.

»Es ist soweit«, sagte der Necker zu Daniel Bart, als er zur Nachtzeit nach Saint-Cloud kam. Der Leutnant schob das Kinn vor, wie ein Mensch, der den Ausdruck seines Gesichts hastig verstecken will.

»Es ist hohe Zeit, Meister«, sagte er achselzuckend, »es ist hohe Zeit, wenn Sie es nun einmal für schöner finden, hinzugehen und sich hängen zu lassen, als ruhig hier zu warten, bis sie kommen und uns totschlagen. Und doch begreife ich Sie noch besser als der Fradin, der Sie für wahnsinnig hält, aber dabei seine Aufgabe ganz prächtig löst. Sind wir nicht im Parlament, ehe Paris den Tod des Königs erfährt, so findet das Höchste Gericht keinen Knopf von uns mehr zur Zierde für seinen Galgen.«

»Daniel«, entgegnete Oliver langsam, »deine Späße haben ein verzerrtes Gesicht. Ich verstehe es wohl. Schlage dich mit deinen Leuten über die bretonische Grenze und dann nach England oder Portugal, wo gute Fäuste gut bezahlt werden. Es genügt für meinen Zweck, wenn du in contumaciam abgeurteilt wirst.«

»Wir müssen in zwei Stunden aufbrechen, Meister«, sagte der Bart, als hätte er nicht zugehört. Oliver drückte ihm die Hand; dann ruhte er ein wenig. Daniel alarmierte seine Leibgarde, einen Haufen Abenteurer und Tunichtgute aus allen europäischen Ländern, gab jedem den Sold eines Jahres und formierte kleine Trupps, die er in westlicher Richtung entließ: Seine Abschiedsrede war: »Macht, daß ihr außer Landes kommt, Galgenstricke! Der König ist tot!«

Die Stadt, die an nächtlichen Lärm gewöhnt war, duckte sich noch tiefer in den Schlaf. Doch als sie am nächsten Morgen zu erwachen wagte, waren von den Quälgeistern nichts zurückgeblieben als die Worte, die mit der Sonne aufleuchteten: Der König ist tot!

 

Oliver und Daniel waren schon in Paris. Gekleidet wie reisende Kaufleute und falsche Bärte tragend, hatten sie das Tor unbehindert passiert, zwischen zwei duftenden Obstkarren eingeklemmt und in dieser friedlichen Nachbarschaft von der verschlafenen Wache nicht einmal angehalten. Dann gingen sie durch die menschenleeren Straßen, die noch von den Nebeln der Frühe grau und feucht waren.

»Ist dieses Leben schön gewesen, Daniel?« fragte Oliver.

Der Bart hob bedenklich die Schultern.

»Ja«, sagte er schließlich, »es war letzten Endes lustig von meinem Standpunkt aus, der gewiß nicht maßgebend ist. Doch wenn man zum letztenmal frei ausschreitet, wie wir beide, Meister, es in diesem Augenblick tun, möchte man doch undankbar scheinen, wenn man es nicht auch schön nennt. Und Sie sind doch so etwas wie ein großer Herr gewesen, Meister.«

»Ich war ein halber König, Daniel«, sagte Oliver lächelnd und langsam; »das gibt die absonderlichste Sicht über das Leben: den einäugigen Blick vom Thron aus. Und weil Ludwig durch mich ein halber Necker wurde – dazu veranlagt wie ich zum König, von vielen mit ihm verwechselt, sich selber mit mir verwechselnd – ist allmählich die reinliche Scheidung der Perspektiven notwendig geworden; denn ich liebte ihn, Daniel, und half ihm, dem Menschen, zu sterben. Und das war schwer: das war das Versprechen, das Königtum am Leben zu erhalten. So trenne ich den Teufel von der Krone und knüpfe den Necker auf, als handgreifliches Symbol für die Welt. Und so habe ich jetzt mit meinen beiden eigenen Neckeraugen den klarsten Blick in den Tod zu tun, den ich mir denken kann: den vom Galgen aus. Doch bei alledem, bei diesem maßlos beschwerlichen Hin und Zurück vom Ganzen zur Hälfte und von der Hälfte zum Ganzen, bei diesem mondhaften Wandel der Seele habe ich die menschliche Wertung des Lebens verlernt. Deshalb fragte ich dich, Daniel, und du scheinst mir recht zu haben.«

»Ja, ja«, nickte der Bart und sah seinen Herrn scheu an.

Oliver blieb stehen.

»Ich habe kein krankes Hirn, Daniel«, sagte er ernst, »ich dachte vielleicht noch niemals so klar wie jetzt. Es sind nur die Worte, die dich betroffen machen; aber ich weiß keine schlichteren im Augenblick – mein Schicksal ist nicht schlicht!«

Sie gingen schweigsam weiter. An der Ecke der Rue de la Barillerie, schon im Schatten des Parlamentspalastes, sagte der Necker weich:

»Es ist noch Zeit, mein Gesell, kehr um! Mein Leben hat genug Leben und genug Liebe verbraucht, warum auch noch mein Tod! – Ja!« rief er und blieb wieder stehen, »das Leben war schön, Daniel; denn es kannte doch auch Liebe – besondere Liebe, starke Liebe, die allen Haß der Welt aufheben kann! Claes und Eliza, Louize und die Anne ... die Anne und Ludwig – und du, mein Gesell durch dreißig Jahre, meine Schulter und meine Faust! – Ich danke dir, Daniel. Kehr um! Es ist noch Zeit!«

Bart war schon fünf Schritte voraus.

»Kommen Sie, Meister«, warf er über die Achsel hin, »es ist bald sechs Uhr.«

Im Schatten des Portals lösten sie die falschen Bärte ab und warfen sie in kleinen Strähnen in die Gosse. Das Tor war noch verschlossen. Sie läuteten die Wache herbei. Der öffnende Posten musterte ihre Gesichter; aber er kannte sie nicht. Oliver verlangte den Parlamentsaktuar in dringender Angelegenheit zu sprechen. Als das schwere Tor hinter ihnen ins Schloß fiel, schrak Daniel zusammen. Der Necker sah in sein blaß gewordenes Gesicht.

»Es ist immer noch Zeit, Freund«, flüsterte er. Doch Bart antwortete nur, ein wenig zwangvoll lächelnd:

»Ich will jetzt oft an die Meisterin denken.«

Sie schritten durch den Torbau zur Wachstube, die schwach erleuchtet war. Gerichtssoldaten lagen oder saßen gähnend auf den Pritschen. Der schlaftrunkene Polizeioffizier fragte nach Name und Stand.

»Geheimdienst des Königs«, sagte der Necker und zeigte eine unscheinbare Münze; »lassen Sie den Aktuar wecken.« Den Befehlshaber riß es zusammen; er wurde ganz wach. Er schickte einen Mann fort, den Befehl auszuführen, und nahm die Wachsfackel von der Wand, wohl um die beiden in das Innere des Palastes zu begleiten. Als er sich umwandte und ein wenig neugierig das Licht über die Ankömmlinge hielt, trat er beim Anblick des Bart zwei entsetzte Schritte zurück. Aber er bezwang sich und führte die Männer wortlos in das Dienstzimmer des Aktuars. Als er zurückkam, rief er seinen Leuten zu:

»Bei allen Heiligen! der Große war der Höllenhund und der andere vielleicht gar der Teufel in Person! Wir erleben etwas, ihr Tröpfe! Auf!«

Als verantwortungsbewußter Offizier alarmierte er ohne sonderlichen Lärm die gesamte Polizeitruppe des Justizpalastes, verstärkte Bewachung und Kontrolle des Tors und ließ unauffällig das Zimmer, in dem die Verdächtigen saßen, durch eine Postenkette sichern.

»Jetzt ist keine Zeit mehr, nach Portugal zu gehen«, hatte Oliver mit einem flüchtigen Lächeln gesagt, kaum daß der Offizier die Tür hinter sich schloß; »man hat dich schon erkannt, Daniel. Deine Popularität ist größer als die des Teufels.«

Bart machte eine geringschätzige Handbewegung und lenkte ab:

»Stammt eigentlich das Schauermärchen von der tückisch von mir benutzten Edelfrau und der zu ihren Füßen abgeseilten Leiche ihres von mir gemeuchelten Mannes von Ihnen, Meister? Fradin verwahrt sich hoch und heilig gegen die Autorschaft, obgleich sie seinem erfindungsreichen Hirn zuzumuten ist. Und die Geschichte hat in Paris dem Faß den Boden ausgeschlagen.«

»Ich weiß davon nichts«, entgegnete Oliver erheitert, »und das scheint mir ein so dramatischer Balladenstoff, wie ihn am ehesten die Phantasie der Gasse hervorbringt. Du wirst noch zum Mythus, Daniel, ich vielleicht auch ...«

Der Aktuar hastete herein. Sein verblüfftes Gesicht verriet, daß er über den unerwarteten Besuch bereits unterrichtet war. Er kannte den Bart, aber nicht den Necker, und wagte nur einen schnellen Blick aus seinen kurzsichtig zusammengekniffenen Augen auf den Breitschulterigen, murmelte etwas in seine blassen Lippen und rettete sich an sein Pult.

»Nehmen Sie das Folgende zu Protokoll«, befahl der Schmächtige mit dem grauen Haar; und daß jener sprach wie der Herr und der Höllenhund stumm und ergeben beiseite stand, ließ die Feder in der Aktuarhand zittern.

»Schreiben Sie«, begann der Graukopf wieder. »Ich, Oliver Necker aus Gent, Sieur Le Mauvais ...«

Die Feder legte sich auf die Seite wie ein kenternder Mast, das Aktuargesicht wurde grau.

»Ist das ein Scherz ...?« stotterte er: Oliver lachte leise.

»Sie werden noch Zeit und Gelegenheit genug haben, meine Angaben nachzuprüfen, Herr Aktuar«, sprach er; »schreiben Sie: ... Sieur Le Mauvais, Graf de Meulan, Seigneur de Crone, Rouvray, Senart, Hauptmann von Saint-Cloud, Burgvogt von Choisy, Profos der Marschälle Frankreichs und Rat des Königs, begleitet von meinem Leutnant Daniel Bart aus Gent ... Schreiben Sie, Herr Aktuar«, unterbrach er sich, als die Feder wieder schwankte, »... sage hiermit zu den Akten des Parlamentsgerichtshofes aus und gebe kund und zu wissen: Unser aller Herr und Allerchristlichster König, Ludwig von Valois, ist gestorben ...«

Die Feder fiel auf das Pergament; als sei sie glühend, sprang der Aktuar von ihr fort, den Mund aufreißend.

»Schreiben Sie!« herrschte ihn der Necker an. Der Aktuar kroch an das Pult zurück; sein Gesicht war fast gelb.

»... gestorben, gestern früh, am dreißigsten Tag des Septembers, in den Armen der Heiligen Römischen Kirche. – Ich, Oliver Necker, übergebe mich, meine Person und mein Gut, und meinen Leutnant Daniel Bart, seine Person und sein Gut, ohne jede Klausel der Gewalt des Höchsten Gerichts und überliefere mich und ihn in die Hände seiner hohen und gerechten Justiz ...«

 

Im Parlament herrschte bis zu dem Augenblick, in dem die Todesnachricht bestätigt wurde, eine nicht geringe Verlegenheit. Einige Räte vermuteten eine neue, ganz unheimliche und undurchsichtige Teufelstücke, deren Zweck durchaus nicht faßbar war, aber vielleicht auf die Beseitigung der Gerichtsautonomie überhaupt hinauslief, und empfahlen dringend, die Unliebsamen wieder hinauszukomplimentieren. Die Mehrzahl fühlte zwar – zumal nach der einstündigen Unterredung des Promotors mit Le Mauvais –, daß hinter der bedingungslosen und juristisch unzweideutigen Selbststellung der beiden wenig Platz sei für Intrigen oder gar für einen Angriff auf die Parlamentskörperschaft, aber sie wußten nicht, was mit ihnen in diesem verworrenen Augenblick anzufangen sei, ohne dem Gericht zu schaden. Schließlich entschied man sich, sie in eine Art ritterliche Schutzhaft zu nehmen, bis Nachrichten vom Hof kamen. Einige gut zu beaufsichtigende Zimmer wurden ihnen angewiesen, in denen sie sich frei bewegen konnten.

»Der Galgen zeigt noch Samtpfötchen«, sagte der Bart zum Necker.

Doch der ungewisse Zustand dauerte nur bis zum Abend des gleichen Tages. Die Eilboten, die das Parlament nach Plessis schickte, trafen schon wenige Meilen südlich der Hauptstadt auf der Straße nach Orleans die Kuriere der Regentschaft. Die amtliche Nachricht vom Ableben des Königs und dem Regierungsbeginn der Regentschaft, vor allem aber ihre ersten drei Ordonnanzen, schlugen mit ihrer Schicksalsschwere kaum faßbar, fast lähmend, doch dann schon erlösend und zur Tat stoßend ins Parlament. Noch in der Nacht wurden der Necker und der Bart mit Handfesseln als Staatsgefangene von einem hundertköpfigen Aufgebot Schwerbewaffneter in den Turm des Louvre übergeführt. Und der Schloßhauptmann, Sieur de Saint-Venant, erfuhr aus dem Munde des zum Generalprokurator dieses Prozesses ernannten Parlamentspromotors, daß ihn bei einem Entweichen der Gefangenen die gleiche Strafe träfe, die das Urteil über die beiden verhängen würde. Am folgenden Tag verkündeten die Rufer des Obersten Gerichts auf den großen Plätzen der Stadt den Tod des Königs, den Amtsantritt der Regentschaft, Absetzung, Verhaftung und Prozessierung des Le Mauvais und seines Leutnants, Wiedereinsetzung des Präsidenten Le Boulanger in sein Amt. Die beiden im Turm hörten das Volk schreien. Sie verstanden es nicht, doch sie waren neugierig; sie fragten die Posten. Man brachte ihnen nach einiger Zeit, etwas zögernd, die Antwort: der König solle leben und der Teufel sterben. Oliver lächelte.

»Da hast du meine ganze Rechnung auf die einfachste Formel gebracht, Daniel.«

»Welch eine gottesfürchtige Stadt«, sagte der Bart und wiegte den Kopf.

Am Tag nach der feierlichen Restitution des Altpräsidenten begann der Prozeß mit aller Schärfe und einer grausamen Genauigkeit. Der Erzbischof hatte, um das Andenken des großen Königs zu schonen, auf die Einsetzung der Inquisition gegen den Teufel verzichtet. Er begnügte sich, an der Spitze der zahllosen Kläger zu stehen, die das Oberste Gericht, ihre Geheimakten öffnend, gegen die beiden Staatsverbrecher aufrief. Sechs Tage waren nötig, um nur das gesamte Anklagematerial zusammenzustellen und unter die verschiedenen Untersuchungskommissionen zu verteilen. Am siebenten Tag erschienen die Angeklagten das erstemal vor dem Gerichtshof, der in der Grand-Chambre versammelt war, feierlich mit seinen schwarzen Roben den mächtigen Saal verdunkelnd. Nur das Scharlachrot der pelzverbrämten Prokuratorkappe leuchtete über dem erhöhten Sitz des Anklägers. Auf dem Präsidentenstuhl, der schwarz unter dem Hermelin mit dem Königswappen stand, saß der alte Le Boulanger, und auf seinem Geierkopf wiederholte sich das Schwarz und das Weiß im Gegensatz des Baretts und der Haare. Die Gefangenen schworen, daß sie die Wahrheit aussagen und nichts verschweigen würden. Le Mauvais bemerkte grundsätzlich, daß er die volle Verantwortung für alle Handlungen seines Leutnants trage, und bat um die eine Gunst, sie bis zum Tag der Urteilsverkündigung nicht zu trennen.

»Oliver Necker«, fragte der Präsident, »waren dir die Entscheidungen der Regentschaft gegen dich bekannt, als du dich dem Gericht stelltest?«

»Ja.«

Le Boulanger hob den Kopf und fuhr nach einer Pause der Überraschung fort:

»Auch die Rehabilitation meiner Person?«

»Ja«, sagte der Necker, ein wenig unruhig; »doch es liegt im Interesse des Staates und der Regentschaft, Herr Präsident, diese Fragen nicht fortzusetzen, die in keinem notwendigen Zusammenhang mit dem Prozeß stehen und auf die zu antworten ich durch meinen Eid gezwungen bin.«

Der Richter schwieg verblüfft. Durch die schwarzen Roben ging eine Bewegung des Unbehagens. Man schickte die Gefangenen hastig fort und beschloß, ihre öffentliche Vernehmung nach Möglichkeit zu vermeiden und die Durchführung der einzelnen Fälle den Kommissionen zu überlassen, die dem Gerichtshof die Protokolle einzusenden hatten, mit den Unterschriften der Angeklagten als Geständnis.

Die beiden wurden nicht in den Louvre zurückgebracht, sondern in einen Doppelkerker der Conciergerie gesteckt. Eine Sperrmauer in der halben Höhe des schwach beleuchteten Gewölbes trennte sie voneinander. So konnten sie sich nicht sehen, aber doch miteinander sprechen. Statt der erträglichen Fesselung im Louvre-Turm lasteten jetzt auf ihnen eiserne Ketten, die in einem Sperring um das linke Bein endeten; und damit er nicht auf den Fuß fiele, war er durch eine starke Verbindungskette an einem Eisengürtel aufgehängt, der eng die Lenden umspannte und schwer auf den Hüften lag.

»Die Herren sichern sich ihre Folter für jeden Fall!« polterten Daniels flämische Worte herüber.

»Wenn ich sie nur aushalte«, klagte der Necker. –

Drei Monate lang sah das Gericht die Prozession der Kläger – Bischöfe, Äbte und Mönche, Beamte, Bürger und Bauern, Witwen und Vormünder von Kindern; es hörte nicht auf; das in dem Geheimverfahren gesammelte Belastungsmaterial war nur der klare Auftakt einer immer verworreneren Symphonie von Haß und Habgier; halbe Städte und ganze Dörfer meldeten Entschädigungsansprüche an; wessen Feld der Hagel zerstört hatte und wessen Kuh krepiert war, sah das Werk des Teufels und klagte. Das Gericht war nicht imstande oder wagte nicht, die Schmarotzer von den in Wahrheit Geschädigten zu trennen. Es begriff zu gut die außerordentliche politische Wirkung dieses Prozesses, der dem Parlament eine noch niemals erreichte und in der Zukunft weidlich ausgenutzte Beliebtheit einbrachte. Es nahm jede Klage an. Die Kommissionen arbeiteten fieberhaft; täglich wanderten Protokolle in die Conciergerie und empfingen das Signum der gleichgültigen und niemals protestierenden Gefangenen. Bald war das große Vermögen des Neckers von den Entschädigungsansprüchen, verschlungen; man öffnete den Stadtsäckel. Erst als die Regentschaft, stutzig über den gar zu beflissenen Seelenfang des Parlaments und über seine kühn gewordene Sprache, den geforderten Verkauf der an die Krone zurückgefallenen Herrschaften mit klarer Entschiedenheit untersagte, entschloß sich das Gericht, sein ungeheuerliches Beweisverfahren abzuschließen.

 

»Noch ein prozessierter Teufel«, rief der Bart über die Mauer, »und die Frommen in Stadt und Land sind gemachte Leute! Sie sehen, Meister, es gibt Spekulationen auf den Himmel, die gelingen.«

Er bekam keine Antwort und wurde unruhig. Er wußte, daß der schmächtige Körper des Neckers unter der Dauerfolter des Kettengürtels zusammenzubrechen drohte. Er wußte, daß das Gewicht der Eisenmassen, die sein starker Leib ohne allzu große Beschwerden trug und die seine Muskeln nicht einzudrücken vermochten, in die Beine des Neckers tiefe und eitrige Wunden gegraben hatte und daß der Hüftring, der die Eingeweide zusammenpreßte, die bedenklichsten inneren Störungen hervorgerufen zu haben schien. In den letzten Tagen konnte Oliver kaum eine Speise mehr bei sich behalten; seine Schwäche war so groß, daß die Beine den belasteten Körper nicht mehr trugen. So blieb er auf der Pritsche liegen, nicht oft klagend; in der Nacht aber stöhnte er vor Schmerzen. –

»Meister!« rief Daniel beängstigt hinüber. Es blieb alles still.

»Wache! Wache!« brüllte Daniel und schlug mit der Kette gegen die Eisenplatte der Kerkertür. –

Man fand den Necker in einer schweren Ohnmacht. Der Gerichtschirurg, der ihn mit Mühe zum Leben zurückbrachte, konnte ohne Entfernung der Fessel die notwendige Behandlung nicht durchführen. Den Schlüssel zum Kunstschloß des Hüftrings trug der Präsident Tag und Nacht bei sich. Der Arzt verlangte von ihm die Entfesselung. Er wurde am gleichen Tag seines Dienstes enthoben.

»Ich darf hier nicht zugrunde gehen, Daniel«, klagte Oliver, »das Volk glaubt nichts, was es nicht sieht! – Ach, wie kläglich wiederholt sich Ludwigs Kampf!«

Er bat um den Besuch des Franziskanerpriors Fradin. Man verwunderte sich über den Wunsch; doch man ließ keinen bereitwilliger zu ihm als seinen bekanntesten Widersacher. Als der Schließer die Tür hinter sich geschlossen hatte, beugte sich Antoine erschüttert über die Pritsche.

»Meister!« flüsterte er, »mein guter Herr! Bei dem großen Gott im Himmel, wo liegt der Sinn von alledem?«

Oliver streichelte die Hand des Abtes.

»Hast du es nicht vernommen, Vater Toon?« lächelte er; »... es lebe der König! – Tod dem Teufel! ... Das ist alles – das versprach ich ihm.«

Gegen die Sperrmauer schlug klirrend Eisen. Fradin fuhr zurück.

»Mein Daniel«, beschwichtigte der Necker. Das Flämisch des Bart scholl herüber:

»Du mußt erreichen, Bruder Toon, daß der Meister aus seinem Eisen kommt. Das ist jetzt das Wichtigste!«

»Ja, Fradin«, sagte Oliver, »das ist sehr wichtig; sonst ist der Prozeß langlebiger als der Angeklagte. Und das Urteil muß vollstreckt werden können. Das Volk glaubt nichts, was es nicht sieht ...«

»Und wenn es den Teufel nicht am Galgen hängen sieht«, fiel Daniel wieder ein, »so möchte es ihn von neuem an der Krone hängen sehen – und glaubt daran! Verstehst du es, Toon, oder nicht?«

»Mein Gesell begreift mich«, sagte Oliver leise, »und du auch, guter Toon. Frage nicht mehr viel – versuche, den Präsidenten hierher zu bekommen. Er hat den Schlüssel und darf ihn nicht aus der Hand geben. Du hast großen Einfluß jetzt. Nutze ihn aus für mich – noch einmal. Eile dich, Toon. Denn sieh, wie spät es ist ...«, er zog den Abt an seinen Mund, daß der Bart nichts höre – »man wird keinen ganzen Teufel mehr hängen ... er betrügt sie wohl um ein Bein ... denn ich täusche mich nicht ... Wundbrand ...«

Fradin schrie auf, als er das Bein sah. Er antwortete nicht auf Daniels ängstliche Fragen und eilte fort.

»Haben Sie noch Geheimnisse vor mir, Meister!« schimpfte der Bart hinüber.

»Laß nur, Daniel«, begütigte der Necker, »ich erhitzte nur ein wenig seine Phantasie.«

Eine Stunde später kam der Präsident, allein. Er wies den Schließer mit einem kurzen Wort hinaus und trat, eine Fackel in der Hand, an die Pritsche. Die Männer sahen sich an. Oliver entblößte schweigend seinen Körper. Der Richter rührte sich nicht.

»Warum wollen Sie, Seigneur, daß ich hier sterbe?« fragte der Necker. Der andere antwortete ohne Zögern:

»Weil Sie Geheimnisse wissen und aussprechen könnten, fürchtet das Gericht, die nicht gehört werden dürfen.«

»Das Gericht fürchtet, was Sie fürchten, Seigneur. Und Sie fürchten Ihre Zweifel an meiner Teuflischkeit.«

Le Boulanger schwieg eine Weile; dann fragte er zurück:

»Die Ordonnanzen der Regentschaft sind Ihr Werk, Necker?«

Oliver hob den Kopf.

»Ich will Sie in Erstaunen setzen, Seigneur: die Verfügungen gehorchen dem Letzten Willen des Königs.«

Der Präsident trat einen Schritt zurück; die Fackel in seiner Hand warf flatterndes Licht.

»Der König befahl Ihnen, Necker, sich zu stellen?«

»Das tat er nicht, Seigneur; aber er legte sterbend das Leben des Königs, das Leben der Krone in meine Hände. – Jetzt wissen Sie mein Geheimnis, jetzt begreifen Sie meine Handlung, Präsident, jetzt denken Sie noch einmal an die Schreie der Straße, die mein Geheimnis erkannt hat, und jetzt wissen Sie Ihre Pflicht.«

Der Richter beugte sich langsam vor und die Fackel senkte sich mit ihm. Sein Gesicht war wie von einem inneren Lärm betäubt und die Augen selbst so von dem heimlichen Aufruhr gefangen, daß sie, groß sich öffnend, doch nichts zu sehen schienen. Als ducke eine Hand den Nacken, ihn doch auch haltend: so neigte sich der Kopf ganz langsam immer tiefer. Jetzt küßte er die Hände, die nebeneinander auf der groben Decke lagen.

Er sprach kein Wort. Daniel, den das lange Schweigen beunruhigte, rief gequält in die Stille:

»Schließen Sie ihn auf! Um unseres Heilandes willen, zögern Sie nicht, Seigneur!«

Der Präsident streckte den Rücken und hustete verlegen. Dann rief er nach dem Schließer und dem wachhabenden Offizier. – Der Zustand des Gefangenen, sagte er barsch, wie es seine Gewohnheit war, schließe jeden Fluchtverdacht aus; so könne er ihn, kraft seiner richterlichen Gewalt, von der Bürde der schweren Fesselung befreien. Man hole den jüdischen Leibarzt des Erzbischofs. – Mit zusammengepreßten Lippen beugte er sich über Le Mauvais, schlug Decken und Hemd zurück und schloß den Hüftring auf. Wie zwei Schließer den Körper hochhoben und zwei andere die Eisen abstreiften, war Oliver schon ohnmächtig. Als er zwanzig Stunden später erwachte, war sein linkes Bein bereits amputiert.

Der Präsident überraschte die Kommissionen durch den Befehl, innerhalb vierzehn Tagen ihre Arbeit beendet zu haben. Im Februar, dem fünften Monat des Prozesses, trat das Oberste Gericht, bestehend aus den beiden Vorsitzenden und sechsundzwanzig Parlamentsräten, zum Diktum zusammen. Sechs Tage lang dauerte die Lesung der Protokolle, am 19. Februar war die Beratung beendet. Der einstimmige Spruch verurteilte den Oliver Necker und den Daniel Bart, an den Galgen der Stadt Paris jedermann zur Schau ihrer unzähligen Missetaten wegen am Halse aufgeknüpft, gehängt und erwürgt zu werden. Der folgende Tag verging in geheimen Besprechungen des ungewöhnlichen Verlangens Le Boulangers, das Urteil zu vollstrecken, ohne der Regentschaft die Ausübung ihres Begnadigungsrechtes möglich zu machen; das Verdikt mit den Prozeßakten sollte erst am Exekutionstag nach Amboise, dem Sitz des Hofes, gebracht werden. Des Präsidenten Gründe, Zeitverlust, Hinweis auf die unveränderte Stellung Jean de Beaunes und vornehmlich auf die gute Gelegenheit, durch diesen selbständigen Akt die angestrebte Unabhängigkeit des Parlaments zu erreichen – verschaffte ihm schließlich den Sieg.

In der Frühe des 21. Februars erschienen der Erste Präsident Le Boulanger, der Zweite Präsident de la Vacquerie und der Generalprokurator Alligret in der Conciergerie und verlasen den Gefangenen das Urteil.

»Gut«, sagte Oliver, der wie ein Skelett zwischen seinen Krücken hing.

»Trefflich!« rief der Bart, der ihn stützte und eben noch geweint hatte wie ein Kind, als er, in den Nebenraum verbracht, den Meister wiedersah.

»Die Regentschaft«, sagte der Präsident, »hat auf ihr Begnadigungsrecht von vornherein verzichtet. Das Urteil ist ohne Gegenzeichnung rechtskräftig. Erhebt ihr dagegen Einspruch?«

Der Necker sah ihn mit einem langen Blick an. Er lächelte ein wenig. – Ahnt dieser Mann, dachte er, daß seine Vorsicht der Carlotta einen schlimmen Augenblick erspart?

»Nein«, sagte er schließlich, und leise setzte er hinzu, »ich danke Ihnen, Seigneur. Es ist alles gut so. – Scheint nicht die Sonne heute?«

Le Boulanger wandte sich hastig ab und verließ das Gewölbe, ohne zu antworten. De la Vacquerie und der Prokurator sahen sich an und folgten. Durch die Tür, die nicht geschlossen wurde, trat der Prior Fradin; ein zweiter Mönch von hohem Wuchs blieb im Schatten des Eingangs stehen.

»Scheint die Sonne heute, Vater Toon?« fragte Oliver wieder. Antoine und Daniel legten ihn sanft auf die Pritsche.

»Ja«, antwortete der Abt, »es ist wie im Frühling heute.«

»Gut, gut«, meinte Oliver.

»Das rechte Wetter für ein Volksfest«, sagte der Bart.

»Wollen wir nicht beten?« fragte leise Fradin.

»Ja«, sagte Daniel mit veränderter Stimme. Oliver schwieg und sah zur Tür.

»Wagt sich noch ein Gottesmann zum Teufel?«

Der Abt beugte sich an sein Ohr.

»Der Beichtvater der Königin«, flüsterte er. Der Hochgewachsene kam näher. Oliver sah scharf zu ihm hinüber. Jetzt rief er:

»Die Dogge hat Euch gebissen, mein Vater, nicht der Teufel! – Wißt Ihr es auch?«

»Ich weiß noch viel mehr, Oliver.«

»Wollt Ihr noch meine Seele fangen, Vater?«

»Nein, mein Oliver; denn ich weiß, daß ich sie nicht erreichen möchte. Aber dies will ich: dir sagen, daß der arme Leib nicht lange hängen wird im Wind, daß man ihn bergen und bestatten wird, dem rohen Gesetz zum Trotz. Das ist mein Auftrag. – Und dies noch will ich: ein gutes Wort von dir, Oliver.«

»Mein Bruder, auch du«, sagte Oliver. Der Wunderbare neigte sich über ihn und küßte seinen Mund.

Um zehn Uhr vormittags wurden die beiden Delinquenten in den inneren Hof des Parlamentspalastes gebracht und dort in feierlicher Amtshandlung dem Henker übergeben. Das war ein gutmütiger Mann, der den Krüppel sachte in den Karren hob und ihm, allem Brauch zuwider, erlaubte, sich auf den Boden zu setzen. So sah nur des Teufels graustruppiger, fleischloser Kopf über den Bord. Daniel, die Hände auf dem Rücken gefesselt, stand riesenhaft neben ihm und hielt mit den Knien seine Schulter, als der Karren davonpolterte.

Umgeben von Parlamentshäschern, ein starkes Aufgebot berittener Polizeisoldaten vor sich und hinter sich, bahnte sich das Gefährt durch die Volksmassen seinen Weg nach dem Galgen von Montfaucon. Der gutmütige Henker hielt sich neben Oliver und deckte ihn vor den Blicken der Menschen, die aus merkwürdigem Antrieb stumm blieben, vor Grauen, vielleicht auch vor Enttäuschung, weil sie zwischen Hellebarden und Pferdeköpfen nur das wilde Haupt und die breiten Schultern des Statthalters hin und wieder erkennen konnten. –

»Ich habe auf mehr Beifall gerechnet«, sagte der Bart. Oliver schwieg mit geschlossenen Augen. Er hatte wohl Schmerzen. Daniel preßte, ihn vor den Stößen der Räder zu schützen, fester noch die Beine an ihn. Sie sprachen nichts mehr.

Plötzlich doch johlte, brüllte, schrie das Volk am Fuß des Galgenberges, als oben der Teufel aus dem Karren gehoben wurde.

»Der Pferdehuf! – Links war der Pferdehuf!«

Dann wurde es wieder ganz still. Man hörte eine hohe Stimme, die eines Kindes oder einer Frau, kläglich aufschreien. Das Volk schrak zusammen und blinzelte in den Himmel. – Oliver stand am Fuß der Leiter, rechts und links die Arme um die Nacken zweier Profosknechte wie zweier hilfreicher Freunde geschlungen.

»Küß mich, mein Bruder«, sagte er zu Daniel. »Es gibt Schlechtere, als wir waren. – Ich werde dich ansehen

»Ach ...«, stöhnte der Bart, nicht mehr. Dann ließ er sich von dem Henker an seine Leiter führen und stieg ziemlich schnell hinauf, die eine Schulter gegen die Sprossen pressend. Er sah sich um und fand des Meisters Blick. Er lächelte noch, als der Sack über seinen Kopf fiel und die Beine schon nach hinten ausschlugen. Er pendelte durch die Luft, als kniete er.

Der gutmütige Henker lud sich den Teufel auf den Rücken und trug ihn vorsichtig die Leiter hinauf. – Über seinen Kopf griffen Olivers Hände in die Sprossen. – Wie seltsam mag es anzusehen sein, dachte er. Der Sack, der nach Erde roch, nahm ihm die Welt fort. Jetzt wollte er nach ihr schreien, greifen ... dieses Leben! Die letzte furchtbare Wollust schoß aus seinem Körper ... Der gutmütige Henker riß an dem einen Bein und brach ihm das Genick. –

Das Volk blieb still, von fremdem Entsetzen geschlagen. Es rührte sich nicht fort. Die Nacht kam. Das Volk zerstreute sich, kam wieder in der anderen Frühe. Seltsames war geschehen: nur der Leutnant pendelte im frischen Wind. Das Volk wurde unruhig vor Ungewißheit. Der Teufel war in die Hölle oder in die Menschen gefahren.


 << zurück weiter >>