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Die Jahre jenseits der Grenze wurden für die beiden Einsamen immer härter, kälter, strenger, als trügen sie sie aus dem Bereich der Sonne. Die Jahre rollten immer schneller, als wäre es die Sonne über der Erde und im Blut der Irdischen, die den Ablauf der Zeit gemächlich macht und den Tag mit der Wärme des Daseins und dem Hemmschuh des eben Vergangenen beschwert und verlangsamt. Da der König, der Vergangenheit gewaltsam sich entfremdend und selbst der Erinnerung auf merkwürdige Weise feind, das Alter nicht wie ein Geschenk empfing und bedacht genoß und da der Necker ihm die Treue hielt und nicht mehr von dem sprach, was war, auch nicht mehr von der Endlichkeit des Menschen, zählten sie die Jahre nicht an der Dauer des eigenen Lebens, sondern mißachteten sie mit der Hoffart von Unsterblichen. Und doch war Ludwig weiß geworden und Oliver grau; das Alter und die Unerbittlichkeit des herrschenden Berufs hatten den König ausgedörrt wie einen Felsgipfel, aus seinem Gesicht das Schlaffe, das Gedunsene, das Sinnliche gegerbt und es mager gemacht, die Haut mit Runzeln zerrissen und aus den Lippen die Wülste gelaugt. Olivers hageres Antlitz hielt der Zeit stand wie ein spröder Stein: es war knochig und zerklüftet gleich früher, nur grauer noch und durchfurchter von Falten. – Der König war dem Necker ähnlich geworden, nicht Oliver dem Ludwig. Sie glichen sich jetzt wie zwei Brüder; nur ihre Augen, die gleich schön waren, zeigten nicht mehr denselben Ausdruck: die Augen des Königs wechselten nicht mehr von der Kälte zur Güte und schienen heller geworden, oft auch schon trüb, Olivers ganz verdunkelter Blick blieb immer traurig, in der Ruhe, in der Arbeit, in der Brutalität.
Mit dem Willen, den Tod nicht einzulassen, war Ludwigs Menschenhaß und Mißtrauen ins Maßlose gestiegen. Es kam so weit, daß er es nicht mehr ertragen konnte, von seinem Schloß aus die Menschenhäuser der Stadt zu sehen. Er zog mit Oliver, den Gevattern, der Schottengarde und den notwendigsten Hofchargen in die einsame und ganz unzugängliche Feste Plessis bei Tours und sicherte sie mit der Wut des Verfolgungswahnes durch furchtbare Verteidigungsanlagen und durch die schärfsten Zutrittsverbote, deren Nichtbefolgung mit dem Tod bestraft wurde, wenn nicht schon die Unvorsichtigen und des Weges Unkundigen den zahllosen Wolfsgruben, Fußangeln und Selbstschüssen zum Opfer fielen. Von dort aus lenkte er mit Oliver das Reich, scharfäugig und mit harter Hand, und es kümmerte ihn das Stöhnen des eingespannten und geduckten Volkes wenig, noch erstaunte ihn je der heroische Gehorsam. Er lenkte es gut und sicher und mit einer solchen Kenntnis jeder politischen Entwicklung, daß das Land – zugleich bewundernd und entsetzt – den Hellsinn ihres unsichtbaren Königs als ein Geschenk seiner Verbindung mit dem Antichrist ansah und ihm heimlich den Namen gab, der seinem rätselhaften Ratgeber und Einflüsterer gehörte. Es war, als ob die beiden Dämonen auf ihrem menschenfernen Felsblock das europäische Schicksal schufen; die Geschehnisse verwunderten sie nicht mehr, weil sie die Bewegungen formten und die Resultate erwarteten wie sichere Chymisten. Die Frucht der Arbeit langer Jahre war reif geworden: Karl Burgund, auf der Höhe seiner Macht und bedenklich schon dem Valois das alliierte Mailand und den Erblasser Anjou entfremdend, klirrte endlich in die lange bereite Falle, von der Franche-Comté ins Waadtland, wurde von den Eidgenossen mit zwei mächtigen Hieben tödlich erschüttert und dann von allen kleinen Kläffern angefallen, die auf Ludwigs Pfiff hörten. Als er den Lothringer, der sich in Nancy festbiß, abschütteln wollte, wurde er zu gleicher Zeit von Campobasso verraten und von einer ungleich überlegenen Entsatzarmee überfallen, ein wilder Menschenhaufen überrannte ihn und zerstampfte ihn, ohne ihn in der Verwirrung zu erkennen: der Kriegsgott war eine arme, nackte, zerfetzte Leiche unter tausend anderen. –
Der König hatte im Reich eine ständige Post errichtet, die vor allem seinem persönlichen Kurierdienst zur Verfügung zu stehen hatte. So kam die Nachricht von Karls Fall schon wenige Tage später nach Plessis. Der Necker schenkte dem Boten einen Beutel mit Dukaten und ging zum König, der sich in der mächtigen Bibliothek aufzuhalten pflegte, wenn er nicht bei seinen Tieren war. Er fand ihn über einem kostbaren Vulgatadruck, den auf sein Geheiß Meister Ulrich Gerings Pariser Offizin für ihn verfertigt hatte. (Er schätzte die neue und seltsame Buchdruckkunst, die aus dem seltsamen Deutschland kam; er begriff auch sofort ihre ungeheure Bedeutung und hatte dafür gesorgt, daß die Sorbonne dem deutschen Meister eine Werkstatt einräumte.)
Ludwig sah auf und fragte sofort:
»Nachricht aus Lothringen?«
»Burgund ist tot«, sagte der Necker mit nüchterner Stimme.
»Tot«, wiederholte der König leise und lehnte sich zurück, »getötet, willst du sagen, gefallen. – Mein Larron ist auch tot; aber er ist gestorben, er muß sich überfressen haben.« –
Larron war ein Kranich. Er war der klügste und gesprächigste unter seinen Brüdern und zugleich der strenge, aber niemals bösartige Aufseher in dem geräumigen Vogelhaus des Tierparkes, den Ludwig hinter dem Schloß errichtet hatte und mit ungewöhnlicher Freude unterhielt. Ludwig hatte Tiere von je her geliebt, zumal Vögel und Hunde, und bereits in Amboise die Käfige und Zwinger stets gefüllt und gepflegt. Als er die Grenze überschritt, nahm sein Menschenhaß die Tierliebe mit wie einen notwendigen Ausgleich. Alle Gefühlsreste sammelten sich in der Freude an Vögeln, Hunden und Pferden. Die seelischen Reaktionen der ersten Zeit und des Neckers Mitfreude verstärkten die beschauliche Neigung zum tätigen Bedürfnis, zur reinen Freundschaft für die animalischen Wesen. Er war gut zu ihnen, wie er nie zu Menschen gewesen war – es sei denn zu Anne und zu Oliver; er erholte sich bei ihnen von der unausgesetzten Anspannung und abschürfenden Härte des politischen Geschäftes, er gab jeder zwitschernden, bellenden, wiehernden Kreatur einen Namen und fütterte sie, fast dankbar für ihr Zutrauen und das Geschenk ihrer täglichen hungrigen blankäugigen Erwartung. Er hatte für die Vögel ein lichtfrohes und luftreiches Glashaus bauen lassen, über das der Kranich Larron herrschte. Es war in zwei Hälften geteilt; in der einen, nur zur Nachtzeit verschlossen, lebten die großen und gezähmten Vögel, Ludwigs besondere Freunde: gemeine Kraniche, Jungfernkraniche, Kronenkraniche, anmutig auf den Stelzbeinen den kräftigen, schlanken Leib, den schmächtigen langen Hals und das langschnäblige Köpfchen tragend, zugleich klug und närrisch, würdig sinnend und in tollen Sprüngen tanzend, Menschenworte und wilde Wanderrufe kreischend, Steinkäuze mit schwefelgelben Augen, ungebärdige Uhus, lichtscheue Nachtkäuze mit dem tiefen Braun der Augen, grimassierende Schleiereulen, zutunlich und zu Späßen aufgelegt; freundliche, geschwätzige, braunäugige Stare. In der anderen Hälfte des Glashauses waren die Singvögel: Lerchen, Drosseln, Meisen, Edelfinken, Bachstelzen und Ammern. Als Ludwig einen seltenen Ortolan-König von wundervollem Schwarz und Gelb der Färbung bekam, hatte er ihn Anne getauft. Oliver schrak zusammen, wie er ihn den Namen das erstemal rufen hörte.
»Ist der Vogel nicht schön und selten genug?« hatte der König, seine Bewegung bemerkend, gleichmütigen Tones gefragt. –
Die Hunde liefen während des Tages frei im Park, im Schloß, in den Höfen umher: Windhunde aus Persien, Italien, Schottland, deutsche, dänische, englische, korsische Doggen, spanische Dachshunde, englische Jagdhunde; ihr gefürchteter und bedingungslos respektierter Aufseher war eine prachtvolle Tibetdogge von riesenhaftem Wuchs, ein Geschenk des Großherrn an den König; sie hieß Tristan. Ohne sie liefe Ludwig die tägliche Gefahr, zur Zeit der Fütterung durch die anbellende, andrängende, zuschnappende Dankbarkeit leiblichen Schaden zu erleiden. Sie gehorchte nur dem König und dem Necker und besaß das Privileg, im Schloß zu schlafen, vor der Tür zum Schlafzimmer Ludwigs.
Die Pferde hatten weite, umzäunte Weideflächen, neue Stallungen und erprobtes Bedienungspersonal innerhalb des Wildparks. Die edle Anmut, elastische Kraft und sanften Augen der kostbaren Araber, Berber, Turkomanen und Perser entzückten den König jeden Tag von neuem. Eine wundervolle schlanke milchfarbene Nedsch-Stute mit Märchenaugen, federnden Fesseln, Seidenmähne und einem Hals von frauenhafter Feinheit der Kurve, den sie im schnellen Traben wie den eines Hirsches aufbog, hieß Anne.
»Warum das?« hatte Oliver mit leisem Unwillen und den Kopf leicht schüttelnd gefragt. »Warum ein zweites Mal? – Ist es nicht genug mit der Ammer?«
»Nein, Freund«, antwortete Ludwig ruhig und bestimmt, »mein Ortolan-König ist ihre Singeseele; meine Nedsch aber ist vom Stamme der fünf Stuten, die der Prophet liebte, und hat das Grauwunder ihrer Augen. – Das Pferd heißt Anne.« –
Auch europäische Pferde hielt er: edle Pferde aus Limousin, Navarra und Calvados, aus Cleveland und Yorkshire, Neapel, Dänemark und Andalusien, schwere Gäule aus Percheron und Flandern. Sie alle trugen die Namen überwundener Feinde: Edward, Juan Aragon, Armagnac, Nemours, Saint-Pol, Franz von der Bretagne, Philipp von Savoyen und wie sie alle hießen. Mit der Hartnäckigkeit des Monomanen nannte der König sie nach den großen Namen der Grabsteine, die seinen Weg flankierten.
»Warum das?« hatte Oliver in der ersten Zeit staunend gefragt. Ludwig schien mit der Antwort zu zögern, wie ein Mensch, der mißverstanden zu werden fürchtet.
»Um die Menschen zu vergessen«, sagte er dann langsam und nickte bekräftigend, als er Olivers Skepsis sah, »ja, Freund, um das Schlimme, das sie mir taten und ich ihnen, mit ganz anderen Begriffen und Zusammenhängen zu ersetzen.« – Er flüsterte jetzt, die Brauen zusammenziehend. – »Es könnten für mich einmal Augenblicke der Schwäche und des entblößten Herzens kommen, in denen das Gift der menschlichen Namen gefährlich in mein Leben dränge: dann, Oliver, werden meine guten Tiere, also aufgerufen, gegen die Menschenschemen kämpfen und sie mit der Kraft der größeren Nähe und der Körperlichkeit überwinden – ja, Oliver, mit der christlichen Kraft, die das Gute stärker macht als das Böse.«
Der Necker hatte betroffen geschwiegen und in leichtem Schauder die Schultern gehoben, doch er schien den König begriffen zu haben und fragte auch niemals, warum kein Tier den Namen des Bruders Karl trug. –
Als Ludwig den Kranich Larron eigenhändig in dem kleinen Friedhof, der von ihm für seine Tiere in einem zypressenumwachsenen Platz des Wildparkes errichtet war, begraben und einen ungewöhnlich schönen Dongola-Rappen, welcher Sforza hieß, in Karolus Audax umgetauft hatte, führte er das große politische Programm durch, das sich auf den Tod Burgunds aufbaute und von ihm und dem Necker schon seit langem bis in die kleinsten Einzelheiten vorbereitet war. Das gesamte Sommegebiet, das Artois, der Hennegau und alle ehemaligen Länder und Städte des Konnetabels wurden sofort besetzt, fast ohne Widerstand. In wenigen Wochen war der König Herr der meisten französisch sprechenden Teile Großburgunds. Anjou schloß in Eile den endgültigen Erbvertrag ab. Vom Mittelmeer und den Pyrenäen bis zum Pas de Calais und Flandern herrschte Ludwigs Zepter. Die Einheit des Reiches war begründet. – Doch der König gab sich noch nicht zufrieden. Er gestand dem Necker neue gewaltige Pläne: die Verheiratung des neunjährigen Dauphin mit der zwanzigjährigen Maria von Burgund und die Verschmelzung des ganzen karolischen Reiches von Holland bis Savoyen mit Frankreich. Oliver schüttelte den Kopf.
»Das wird nicht gelingen, Sire, das schafft Ihnen einen gewaltigeren Feind, als es Burgund war: den Kaiser.«
Der alte König sah in die Leere, in die Zukunft.
»Zu dieser Auseinandersetzung wird es kommen, Bruder«, sprach er langsam, »und sie wird länger währen als ein Halbjahrtausend. Ich habe vorzusorgen ...«
Er schwieg eine Weile, sah plötzlich dem Necker in die Augen und sagte leise:
»Oliver, geh nach Gent, sprich mit der Maria, die dort residiert, und bringe mir die Stadtschlüssel, wenn du bei dem Mädchen und seinen Ratgebern taube Ohren findest.«
Des Neckers Gesicht zeigte eine solche Überraschung, fast schon Zweifel, ob er recht verstanden habe, daß Ludwig lächelte.
»Ja, geh nach Gent, Oliver«, wiederholte er, »und sei je nach Gelegenheit der Gesandte Frankreichs und der Necker aus Thielt.«
Oliver schüttelte bedenklich den Kopf.
»Die Genter haben den Teufel im Leib, Sire.«
»Gewiß«, sagte Ludwig mit flüchtiger Heiterkeit, »deshalb bist du der gegebene Mann für sie.«
»Sire«, sprach Oliver sehr ernst, »in Gent ist die Legende von meinem Tod durch Pèronne zerstört und hat sich seither – wie leider im Reich auch – zur Legende von meiner französischen Kronteufelschaft wiederaufgebaut. Und der Mann, der als erster gewußt hat, daß ich nicht auf meinem Delegiertengang nach Brüssel umgekommen bin, ist jetzt der Führer der herrschenden burgundischen Partei und regierender Stadtschöffe. – Es ist also möglich, Sire, daß man vor dem französischen Gesandten den Hut zieht und den abtrünnigen Thielter Necker totschlägt. – Wollen Sie es riskieren, Sire?«
»Nein!« sagte Ludwig heftig. – Doch nach einiger Zeit war es Oliver, der des Königs Gedanken wieder aufgriff.
»Ich habe erfahren«, sprach er zu dem aufmerkenden Herrscher, »daß die Genter Unabhängigkeitspartei durch Karls Tod mächtigen Aufschwung und Aktionsfreudigkeit gewonnen hat. Wenn Sie sich mit dem Abfall Gents und Flanderns von der burgundischen Herrschaft begnügen und den Annexionsplan aufgeben, geht der Sieur Le Mauvais – nicht der Necker aus Thielt – in die Stadt –, geht der Graf de Meulan hin, wenn Le Mauvais noch von Péronne und Lüttich her geschätzt wird.«
Ludwig hatte besorgt zugehört.
»Aber kehrt mir Le Mauvais zurück?« fragte er nach einer Pause. »Der König braucht zum Leben nicht Flandern, aber ihn! – Wer garantiert mir, daß man dich nicht erkennt und dir nichts antut?«
Der Necker hob die Schultern.
»Lassen wir die Garantien, Sire«, sagte er kalt, »und bedenken wir mögliche Vorsichtsmaßregeln. Werfen Sie im Hennegau an die flandrische Grenze genügend starke Truppenmassen, die zum Abfall Gents nicht nur neutral bleiben, sondern im Notfall die Stadt gegen eine burgundische Strafexpedition schützen; dann wird mir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nichts Widriges geschehen.«
Der König nickte. – Als sich etliche Tage später Oliver verabschiedete, fragte er leise:
»Du freust dich, Bruder, so wie irgendein kleiner Mensch, der die Heimat wiedersehen wird?«
»Ja«, sagte Oliver. Ludwig strich sich gequält über die Stirn.
»Soll ich dich zum unabhängigen Statthalter Flanderns machen, Bruder?«
Der Necker lachte laut.
»Wollen Sie das regierende Haus der Necker begründen, Sire?« – Dann setzte er ernst hinzu: »Le Mauvais braucht nicht Flandern zum Leben, sondern den König.«
Ludwig umarmte ihn.
»Zum Leben!« flüsterte er bedrückt, »aber du desertierst nicht in den Tod, Oliver?«
»Nein, Herr.«
Gent war keine gute Stadt. Der Geist der Empörung schlief nicht. Gent vergaß nichts und duldete unbedenklich die Nachbarschaft der Gastlichkeit und der Erpressung, der Huldigung und der Gewalt, Gottes und des Teufels. Gent liebte immer nur die Kronprinzen, immer nur die Zukunft, die es zu meistern willens war, und haßte immer den Herrscher, immer die Gegenwart, die es meisterte und gegen die es stets mit seinem rebellischen Sinn, oft mit dem unvermuteten Aufruhr der Muskeln kämpfte. So hatte Gent den kühnen Karl geliebt, als er noch Graf Charolais war und mit dem Vater selten gut stand. So liebte es das schöne Fräulein von Burgund, weil es freundlich war, voll anmutiger Hoheit und doch nur ein schwaches Mädchen. Die Nachricht von des Herzogs Tod schlug in das Willkommensgeläute – und schon dröhnten die Glocken von Sankt Jakob und Sankt Bavo anders, dunkler, unheilverkündend. Ein Beben, noch verdeckt, ging durch die Stadt, unheimliche Bewegung, nächtliche Beratungen der Parteien und Zünfte, Waffentransporte und Mobilisierung der Wehrfähigen. Pieter Heuriblocq, dessen Ernennung zum Stadtoberhaupt der Herzog vor etlichen Jahren mit der Freilassung der acht in Brüssel eingekerkerten Genter Delegierten belohnt hatte, besprach sich voller Sorge und in schlimmer Vorahnung mit den Schöffen und Mitgliedern der proburgundischen Partei. Ein nächtlicher Gewaltstreich, der die Führer der Unabhängigen beseitigen sollte, mißlang, die Häscher wurden mit blutigen Köpfen zurückgeschickt. Aber noch brach der Sturm nicht los; es schien, als ob die Insurgenten über Stärke, Schlagkraft und Standort der burgundischen Heeresreste im ungewissen waren, auch die parallelen Bewegungen in den anderen flandrischen Städten nicht übersehen konnten und die Folgen zu frühen und ungesicherten Losschlagens fürchteten. Heuriblocq war schon im Begriff, die Begleiter der Maria und Verweser des Reichs, den Kanzler Humbercourt, des verstorbenen Crèvecœur Nachfolger und den Großkämmerer Melchior van Busleyden, von der bedrohlichen Situation zu unterrichten, die rasche Entfernung der jungen Fürstin anzuraten und um die unverzügliche militärische Besetzung der Stadt zu bitten, als unerwartet ein französischer Herold die Ankunft eines königlichen Gesandten, des Grafen de Meulan, meldete, der wichtige friedliche Botschaft dem Fräulein von Burgund und dem Hohen Rat der Stadt Gent anzusagen habe. Die allgemeine Erwartung hob für den Augenblick die zur Entscheidung drängende Gespanntheit der Atmosphäre auf; jede der drei unterschiedlichen Gruppen – die Fürstin und die beiden Minister, die schon die Besetzung Brabants befürchtet hatten, Heuriblocq und der proburgundische Magistrat, die Zünfte und die radikale Faktion – erhofften von dem Legaten des Valois das Geschenk des Wohlwollens oder gar der Unterstützung. –
Oliver verließ die starke Truppe des Großmeisters nördlich von Tournai, nahe der wallonisch-flandrischen Sprachgrenze. Zwanzig Schotten der Leibgarde – persönlich vom König ausgewählte Leute, die sich ihm mit Handschlag verpflichteten, die Person des Meisters mit ihren Leibern zu schützen – und etliche bewaffnete Diener folgten ihm, auch einige Offiziere, die in Ronsse, Oudenaarde und Gavre unauffällig als Verbindungsleute zurückgelassen wurden. Durch diese gutberittene Stafette konnte im Notfall der Großmeister in wenigen Stunden alarmiert werden.
Als der Necker, der einen falschen grauen Spitzbart trug, durch die heimatliche Landschaft ritt, erlebte er die reine und schlichte Wiedersehensfreude, die er erwartet hatte. Er freute sich an den Windmühlen, dem flächigen Ackerland, den Bleichen der Leineweber, den ungefügen Backsteinkirchen der Dörfer und den derben Lauten vertrauter Sprache. Er empfand eine seltsame Zufriedenheit, fast etwas wie Stolz, daß solche Gefühle frei und natürlich zu ihm kamen. – Der König hätte sie nicht, erkannte er sich mit stillem Lächeln den Gewinn zu. – Er wandte sich an Daniel Bart, der schwarzbebartet und in stattlicher Kleidung als sein Leutnant neben ihm ritt.
»Das ist unsere Heimat, Daniel«, sprach er freundlich, »freust du dich nicht, sie zu schauen?«
Der Bart lachte grob.
»Wir beide sehen nicht gerade nach verlorenen Söhnen aus, Meister, und weder unsere Mission noch unser Troß, noch unsere Rückendeckung beweisen viel Heimatliebe. – Ehrlich gesagt, Herr, ich freue mich recht, das große Genter Maul wieder einmal lustig einzuseifen. Aber ich lege wenig Wert darauf, als Landsmann erkannt und gevierteilt zu werden. Das wären peinliche Sentimentalitäten!«
Oliver senkte betrübt den Kopf. – Auch der Geselle konnte sich nicht freuen! Auch Daniel hatte das eigene Herz vergessen! – Er dachte an die Wandlung des Bart seit Annes Tod, seit dem Blick unsäglicher Traurigkeit und dem in der Verzerrung des Schmerzes erstarrten Gesicht, als der Riese unter seinem Mantel die Leiche aus dem Turm trug. Seit jener Zeit war eine absonderliche Wildheit in dem Manne aufgebrochen, ein Besessensein von der eigenen Kraft, Rauflust und Raublust, ein heimlich aufgespeichertes Arsenal an Bosheit und Brutalität, bis der Necker seine ungebärdige Nähe nicht mehr recht ertrug und ihn zu seinem Statthalter in den ausgedehnten Herrschaften im Bannkreis von Paris ernannte, die er der Gnade des Herrschers verdankte. Dort hauste der Bart mit der Begabung des geborenen Tyrannen, der der eigenen Disziplinlosigkeit die zwangvolle Subordination der Untertanen entgegenzusetzen vermochte und sie um so erbarmungsloser in eine von ihm sauber konstruierte Ordnung und Abhängigkeit hineinpreßte, als sein mächtiger Körper über die Stränge schlug. Doch alles dies war nur eine andere Form der Liebe zu seinem Meister, dessen Geselle zu sein er niemals vergaß; er berauschte sich nur an der persönlichen, gleichsam körperlichen Macht, die sein Herr nicht beanspruchte; doch die außerordentlichen Gewinne aus seinem erpresserischen Regiment lieferte er auf Heller und Pfennig ab, willentlich oder ehrlich übersehend, daß der Necker auf sie gleich wenig gab wie auf die Ausübung seiner Herrenrechte. Bei den in der letzten Zeit sehr selten gewordenen offiziellen oder heimlichen Missionen Olivers war er mit aller Selbstverständlichkeit seines Meisters treuer Gefährte und Diener, wie früher, wie jetzt. – Oliver schüttelte den Kopf. Auch der Geselle konnte sich nicht mehr freuen! – Und ihn verlangte immer stärker nach den Gefühlen des menschlichen Herzens, je älter und menschenferner er wurde, und ihm glückte Freude des kleinen Menschen. Nährte er sich von seinen Kreaturen und ihren zubereiteten Schicksalen, gleich Saturn, der seine eigenen Kinder verschlingt? –
Dieser Gedanke legte sich wie ein grauer Schleier über die lieblich bunte Landschaft. Als sie Gent von Süden erreichten, sahen sie graue Mauern, das düstere Oval des Gravensteen, die böse Doppelwehr des Hobel, den gewaltig drohenden Viereckturm des Belfried, die ernsten und entrückten Silhouetten der Kirchen. – Ich bin aus keiner frohen Stadt, sann Oliver und zog die Stirn in Falten, das ist nicht die Heimat des Herzens! –
Das Fräulein empfing ihn im Schloß, mit der Freude an der Repräsentation und mit der Anmut der majestätischen Haltung, die des Vaters Erbe waren, das Gesicht, das Karls noble Züge und die weiche Schönheit der bourbonischen Mutter im weißen Licht der eigenen Jugend zeigte, selbstbewußt und der Wirkung gewiß erhoben. Der Graf de Meulan, in der kostbaren Kleidung französischer Standesherren, überflog rasch das gut gestellte Bild: das schöne Mädchen auf dem viel zu wuchtigen Thron, von ihrer Wohlgestalt und hellen Grazie besser erhöht und überglänzt als durch Krone, Estrade und Baldachin, zu beiden Seiten die prächtigen Köpfe und Gewänder burgundischer Granden. Oliver sah Busleydens nachdenklichen Blick, der sein Gesicht abtastete, und lächelte unmerklich. Nach der Begrüßung und der Übergabe des Beglaubigungsschreibens bat ihn die Fürstin – wie es bei offiziellen Empfängen und formellen Höflichkeiten üblich war, seinen Auftrag kundzugeben. Der Graf de Meulan zog ein wenig die Brauen in die Höhe und sagte nicht ohne Ironie:
»Mein Auftrag in diesem Thronsaal und vor allen diesen ehrenwerten Herren beschließt sich mit den guten Wünschen und Grüßen, die mein hoher Herr Ihnen, gnädigstes Fräulein, durch mich sagen läßt. Meine Mission aber, die ernster und wichtiger ist, als es die Zeremonie und ihre Öffentlichkeit zuläßt, beginnt im Beratungszimmer Ihrer verantwortlichen Minister. Ich warte in meinem Quartier auf die Nachricht Eurer Hoheit, wann die Verhandlungen anfangen.«
Er bat um Urlaub und ging, den Saal in Erstaunen zurücklassend. Busleyden beugte sich zum Ohr des Kanzlers:
»Ich glaube«, flüsterte er, »ich kenne diese Augen und diese Stimme. Ich glaube, wir werden einen schweren Stand haben.«
Im Vorzimmer, im Innenhof, am Fuße des vierstöckigen Bergfrieds und im befestigten Torbau warteten die Schotten und bewaffnete Diener, die sich um den zurückkehrenden Necker scharten und ihn in einer Weise deckten, daß auf dem Weg durch die Straßen ins Quartier kaum einer der zahllosen Neugierigen den Gesandten zu erblicken vermochte.
Am Nachmittag dieses Tages, als der Necker schon durch Daniel Bart und ein paar geschickte Flamen unter der Dienerschaft alles Wissenswerte über die gewittrige politische Situation und die Namen der prominenten Parteiführer und Demagogen wußte, erschien unter der Führung des zweiten Schöffen eine kleine Abordnung der regierenden Körperschaft, die mit geflissentlicher Höflichkeit den Legaten des Königs aufs Rathaus einlud, wo der Magistrat versammelt sei. Daniel, der sie empfing und seinen Herrn verleugnete, antwortete in dem förmlichen Französisch und mit der Hoffart, die ein Edelmann gegenüber Laienbürgern gerne annimmt, daß der Gesandte des Königs zunächst mit der Dame Burgund und dann mit dem Rat der Stadt Gent zu sprechen habe und daß er sich wohl zu dem fürstlichen Fräulein begebe, zur genehmen Zeit aber den Magistrat wissen lassen werde, wann er seine Wortführer zu empfangen bereit sei. – Die Abordnung entfernte sich sehr bedrückt und schlimmer Ahnung voll.
Doch Jehan Coppenhelle, der Lohgerber, jetzt Obermeister der Zünfte und Führer der Unabhängigkeitspartei – als alter Mann so redselig, leidenschaftlich und radikal wie in jener Zeit, da die böse Stadt vom jungen Herzog die Privilegien erpreßte – grinste zufrieden in den hochgeschlagenen Mantelkragen hinein, als er, schon in der Dunkelheit, das Haus des Gesandten nach kurzem Aufenthalt wieder verließ. Auch er hatte nicht den Grafen de Meulan gesprochen, sondern seinen vierschrötigen Leutnant, der ihm mit einem Augurenlächeln zuzwinkerte und in ziemlich flüssigem Flämisch bedeutete, guten Mutes des französischen Interesses sicher zu sein, für die letzte Bereitschaft zu sorgen und in der kommenden Nacht – unter Vorsichtsmaßregeln, die eine Kompromittierung des Gesandten ausschließen – sich wieder im Quartier einzufinden. Zu Einzelheiten zwar oder auch nur zu einer bestimmten Auskunft verstand sich dieser augenscheinlich cholerische Chevalier de la Barbe nicht, schien auch wenig Zeit mehr zu haben und stellte die dennoch aufsprudelnde Eloquenz des Altmeisters mit einem so unvermutet echten gentischen Fluch ab, daß jener über des fremden Diplomaten Kenntnis entlegenster Idiome sich baß verwundern mußte und gerne schwieg. –
Noch am selben Abend bat ein Sekretär des Kanzlers den Gesandten des Königs ins Gravensteen. Wieder begleiteten ihn die zwanzig Schotten und verteilten sich im Schloß vom Tor bis zum Vorraum des Beratungszimmers, in dem die junge Herzogin, der Kanzler und Busleyden den Necker erwarteten. Maria, die blasser noch schien als am Tage, verriet durch die Unruhe des Blickes und durch die etwas hastigen Bewegungen des Kopfes die Erregung, welche die ungewohnte Nähe des politischen Ernstes, personifiziert in dem selbstsicheren und unheimlichen Legaten, verursacht hatte. Der Kanzler, ein bedachter Mann in Olivers Alter, stand neben ihr und betrachtete den Eintretenden mit gemessener Kälte. Busleyden blieb im Schatten des Hintergrundes, um den Grafen de Meulan, der sich sorglos in den hellen Kreis des Lichtes stellte, beobachten zu können.
»Sie wissen, gnädigstes Fräulein«, sagte der Gesandte sachlich und entschieden, »und zumal Sie, Seigneurs, wissen, daß Ihre Lage und die Burgunds bedenklich zu nennen ist und daß Sie sich werden entscheiden müssen, dem Westen oder dem Osten sich zuzuneigen. Der König, mein hoher Herr, der nicht einmal auf seine verbrieften Rechte als Oberlehensherr des Herzogtums pochen will, der auch das billige Rasseln mit den Säbeln vermeiden möchte, bietet Ihnen durch mich die Stütze seines starken Armes an. Wollen Sie sich in seinen Schutz begeben, Hoheit?«
Das Fräulein schwieg und sah den Kanzler an. Humbercourt lächelte klug.
»Der Allerchristlichste König pflegt seine Hilfe nicht bedingungslos anzubieten«, sprach er zurückhaltenden Tones. »Nennen Sie seine Forderungen, Herr Graf.«
»Sie verkennen die Konstellation, Seigneur«, entgegnete der Legat kalt. »Mein hoher Herr pflegt nicht zu fordern, was er in der Hand hält. Es handelt sich nicht um diese oder jene Provinz, beileibe nicht um ein Ultimatum, nicht einmal um die Gegenwart, die der König nach seinem Belieben formen könnte. Es handelt sich um die Zukunft der beiden Reiche, die friedlich und zum Gewinn jeder der beiden Dynastien – wollen Sie es nur – zu Einem Reich werden können, zur europäischen Vormacht.«
»Wie soll diese große Zukunft erreicht werden?« fragte die Dame Burgund.
»Der König bietet Ihnen durch die Verbindung mit dem Dauphin die Krone der vereinigten Reiche an, Hoheit, und garantiert bis zur Ehefähigkeit seines Sohnes Ihre Unabhängigkeit als Herzogin von Burgund und die Unversehrtheit Ihrer Staaten.«
Nach der kleinen Pause der Überraschung begann das Fräulein ein leises, feines Lachen. Humbercourt sagte unverhüllt:
»Eines Mannes bedürfen wir, Messire, nicht eines Kindes. – Und Sie werden uns gestatten, die Idee des Königs ein wenig anders zu formulieren: das Haus Valois will auf die gemächlichste und billigste Weise der Erbe des Fürsten werden, dem es die Grube gegraben hat. – Glaubt die Majestät, daß es nach Karls Tod in Burgund keine Augen mehr gibt, die sehen können, und keine denkenden Gehirne?«
Der Graf de Meulan machte eine abwehrende oder beschließende Handbewegung.
»Genug, Seigneur, lassen wir das«, sprach er gleichmütig. »Ich gestehe Ihnen, daß weder mein hoher Herr noch ich über diese Abfuhr erstaunt sind.« – Er hob die Stimme und sah vom Kanzler auf die Fürstin. – »Aber wissen Sie auch, gnädigstes Fräulein, und Sie, Seigneurs, was es für das Schicksal Europas bedeutet, wenn das Haus Habsburg statt des Hauses Valois die Erbschaft antritt?«
»Wer spricht vom Hause Habsburg«, entgegnete der Minister ausweichend, »warum glauben Sie, daß wir nicht allein ...«
»Halt, Humbercourt«, unterbrach ihn Maria mit ihrer hellen Stimme, »wenn der Graf als Freiwerber für den Dauphin hier ist, verdient seine friedliche Mission auch den ehrlichen Grund für unser Nein zu erfahren. – Sie urteilen nicht falsch, Messire«, wandte sie sich an den Legaten, »unser hochseliger Vater hat uns kurz vor seinem Tod dem Sohne des Römischen Kaisers zur Ehe versprochen, und wir haben dem Versprechen durch unser schriftliches Jawort und durch das Symbol des Ringes zugestimmt. Melden Sie dies dem König. Und melden Sie ihm auch, daß wir bei aller Verehrung seiner hohen Person aus Gründen der Pietät seinem Vorschlag nicht folgen würden, auch wenn wir frei wären und der Dauphin kein Knäblein sein möchte.«
Der Kanzler biß sich auf die Lippen, der Legat verbeugte sich lächelnd.
»Ich danke Ihnen für Ihre freimütige Antwort, Hoheit; aber lassen Sie sich sagen, Mademoiselle, daß der Freimut die geringste der staatsmännischen Tugenden ist. Überlassen Sie die Führung der politischen Geschäfte Ihrem erfahrenen Kanzler und dem klugen Herrn van Busleyden dort, der seit heute mittag seine Péronner Erinnerungen aufzufrischen bemüht scheint.« –
Busleyden begleitete ihn hinaus und zog ihn in den Erker des Vorzimmers.
»So habe ich mich nicht getäuscht, Sieur Le Mauvais«, flüsterte er, »wir sind alte Bekannte, die einander in manchem Sinn verpflichtet sind. Und so irre ich mich vielleicht auch nicht, wenn ich glaube, daß Ihre Anwesenheit hier noch einen anderen Sinn hat als die Audienz eben. – Ich brachte in Péronne den Herzog zum König, denken Sie daran!«
Oliver verzog den Mund.
»Und ich machte Sie zum Großkämmerer von Burgund«, versetzte er spöttisch, »wollen wir noch weiter mit solchen Schuldscheinen handeln, Seigneur? – Aber ich habe Sie gern. Fragen Sie immerhin.«
Busleyden sah sich mißtrauisch um und sprach noch leiser:
»Hat der König in Wahrheit auf das Fräulein als Dauphine gehofft?«
»Nein«, antwortete der Necker kurz und undurchdringlichen Gesichts. Der Hofmann kniff die Augen zusammen.
»Wird der König jetzt vorrücken, Sieur Le Mauvais?«
»Die Antwort wäre Hochverrat, Herr van Busleyden.«
»Aber wenn ich Ihnen sage, Messire«, begann wieder der Großkämmerer, sehr erregt und mit geröteter Stirn, »daß ich aus Interesse an Ihrer Person mich ein wenig mit Ihrer Genealogie beschäftigt habe und dank des Ersten Schöffen dieser Stadt, der ebenfalls in Péronne war, auf merkwürdige Resultate gekommen bin, auf Ergebnisse, die überall in der Welt Ihnen gleichgültig sein dürfen, doch innerhalb der Genter Mauern Ihnen peinlich werden könnten: würden Sie sich auch dann nicht zu genaueren Informationen entschließen können, Meister Oliver Necker?«
Oliver sah ihm gerade ins Gesicht, zog langsam die Lippen von den Zähnen und lächelte böse.
»O gewiß, Herr van Busleyden«, sprach er nachdrücklich, »dann würde ich Ihnen gestehen: wäre es zwölf Stunden früher, so möchte es gut gewesen sein, verließe die Herzogin und ihr Hof sehr eilig die Stadt. – Jetzt ist es leider zu spät dazu.«
Er ließ den Verdutzten stehen, wurde schon von sechs Schotten umringt und eilte fort. –
»Ich habe mich nicht getäuscht«, sagte kurz darauf Busleyden zum Kanzler, »es ist der gentische Teufel, dem der Valois seine Seele verschrieben hat. – Ich ahne Schlimmes, Humbercourt.«
Er schickte trotz der späten Stunde einen Gardisten zu Pieter Heuriblocq, dem Ersten Schöffen, mit der Bitte, sich unverzüglich zu ihm zu begeben. –
Um diese Zeit schlüpfte Jehan Coppenhelle ins Quartier des französischen Gesandten. Der breitschulterige Leutnant empfing ihn und führte ihn zu seinem Herrn. Er fand einen hageren, graubärtigen Mann in Reisekleidung, der ihn mit einem befremdlichen Blick betrachtete und ihn auf das höchste verwunderte, als er mit seinen Worten das reine Gentisch, das der fluchende Chevalier de la Barbe vor wenigen Stunden hören ließ, in höflicherer Art fortsetzte. Das Gespräch währte nicht lange; denn schon nach den ersten Sätzen des Legaten drängte jede Minute zur Rebellion.
»Bereiten Sie noch diese Nacht den Schlag vor, Meister Jehan. Der König will Gents und Flanderns Unabhängigkeit. Seine Truppen stehen bei Ronsse und greifen ein, wenn Sie von Brüssel her bedrängt werden sollten. Schlagen Sie morgen los, ehe der Hof die Stadt verläßt. Halten Sie das Fräulein – mit allem Respekt – in Ihrer Gewalt, und trennen Sie den Kanzler und Busleyden von ihr, die einzig gefährlichen Köpfe. – Und vermeiden Sie unnützes Blutvergießen, Coppenhelle.«
Der Meister hob die Brauen in die Höhe.
»Sie sprechen Gentisch nicht schlechter als ich, Herr Graf«, sagte er flüchtig lächelnd, »und wollen die Genter nicht kennen? Sie haben den Teufel im Leib und können keine sanften Revolutionen machen.«
Der Legat runzelte die Stirn.
»Wenn dem Fräulein ein Haar gekrümmt wird, Meister«, sprach er ernst, »verliert die Stadt ihren königlichen Freund und die Deckung durch den Großmeister. Und wenn die Genter den Teufel im Leib haben, so mögen sie auf ihn hören.« – Er riß sich den falschen Bart ab. – »Kennst du mich nicht, Jehan? Ich bin nicht mehr Jahre älter geworden als du!« –
Coppenhelle fuhr zurück und griff sich an den Kopf.
»Necker!« rief er. – Daniel Bart legte ihm die schwere Hand auf den Mund. –
Eskortiert von Insurgenten, die die Straßen von städtischen Wachen gesäubert hatten, verließ zwei Stunden später, noch ehe der Morgen graute, der Legat des Königs mit seinem Gefolge die Stadt durch das Brügger Tor, das bereits in den Händen der Radikalen war. Gegen Morgen erschien der Stadtprofos mit einigen hundert burgundischen Soldaten und Gerichtsdienern vor dem verlassenen Quartier des Gesandten, um den Genter Bürger und Ratsmann Oliver Necker wegen Hochverrats und unerlaubter Bekleidung ausländischer Ämter zu verhaften. Sie fanden statt des Gesuchten einen Haufen bewaffneter Radikalen. Als der Profos sich ihnen näherte, um Erklärungen zu fordern, fielen Schüsse, die den Beamten und etliche Soldaten töteten. Das war das Signal zur Rebellion. Aus den angrenzenden Straßenzügen strömten gutbewehrte Parteigänger herbei und umzingelten die kleine Truppe. Zur gleichen Zeit fielen die Stadttore in die Gewalt der Rebellen. Rathaus und Gravensteen wurden von ihnen fast kampflos besetzt. Der Magistrat, fast alle bekannten Mitglieder der proburgundischen Partei, der Kanzler und der Großkämmerer Burgunds wurden verhaftet. Gegen Mittag war Jehan Coppenhelle Herr der Stadt; er proklamierte die Unabhängigkeit Gents und konstituierte die regierende Körperschaft. Am selben Tag noch wurden Pieter Heuriblocq, sein zweiter Schöffe und einige Ratsherren hingerichtet. Vierundzwanzig Stunden später führte man die beiden burgundischen Granden auf den Freitagsmarkt zur Richtstätte, die noch die Spuren der letzten Exekutionen zeigte. Wieder johlte das wilde Volk. Ein Fiskal verkündete Anklage und Spruch des Tribunals der Schöffen: die beiden Staatsmänner hätten als Vertreter der herzoglichen Gewalt Gents Privilegien behelligt; Satzung und Recht der Stadt bestrafe mit dem Tode jedermann, der die städtischen Vorrechte antastet. – Eine Bewegung ging durch die Menge. Die Herzogin in schwarzem Kleid und Schleier – noch erschüttert von dem vergeblichen Kampf, den sie um die beiden mit den harten Schöffen geführt hatte, von Bitten, Warnungen, Drohungen, Tränen – lief aus dem Rathaus auf den Markt, ohne Begleitung, ein Spitzentuch auf den Mund pressend, den anderen Arm verzweifelt und flehentlich ausgestreckt. Der Menschenhaufen teilte sich stumm, fast ehrerbietig vor ihr; sie war schon bei den Gerichtsherren, die in einiger Entfernung von den beiden Blutgerüsten standen. Sie packte den ersten besten an den Schultern, schüttelte ihn, hängte sich an ihn.
»Habt Mitleid! Habt Mitleid!« rief sie. »Gebt mir meine Freunde wieder!«
Der Mann sah verwirrt und etwas hilflos auf ihr Haar, das sich aus dem Schleier gelöst hatte, und hob die Schultern. Sie ließ ihn los und stürzte zum nächsten, zum dritten – sie lief auf die Mauer des zuschauenden Volkes zu, beide Arme hebend, und schrie: »Habt Mitleid! Mitleid!«
Es herrschte eine dumpfe Stille. Humbercourt auf dem einen Richtblock und Busleyden auf dem anderen versuchten in einer seltsamen Gleichzeitigkeit der Gedanken mit den gefesselten Händen die Binde von den Augen zu streifen. Ein paar Stimmen, irgendwo aus dem Haufen, zehn Stimmen jetzt, hundert Stimmen schrien:
»Mitleid! Mitleid!«
Joos van Eecke, der neue Stadtprofos, ein Sohn des ehemaligen Altmeisters, wurde dunkelrot im Gesicht, ballte die Fäuste und brüllte durch die immer mächtigeren Gnadenrufe des Volkes hindurch den Henkern zu:
»Macht fertig!«
Die beiden Köpfe fielen fast in der gleichen Sekunde. – Ein paar Weiberstimmen johlten. Wieder schon johlte das Volk mit. –
Der Necker war nach Thielt gegangen. Während der Reise blieb er ernst, wortkarg und in besonderer Weise traurig. Er hob auch kaum den Blick, um das bekannte Land zu betrachten.
»Ihre heimatlichen Gefühle scheinen sich verloren zu haben, Meister««, meinte Daniel Bart mit gutmütigem Spott, »und Sie könnten jetzt doch mit Gent zufrieden sein.«
Oliver bewegte verdrossen die Hand und antwortete nicht. Er mochte nicht die Enttäuschung gestehen, die die Stadt seinem Herzen bereitet hatte, den Widerwillen gar, den ihre schnell bereite Bosheit in ihm erweckte. Er wollte nicht zugeben, daß die kleine Freude, die letzte Menschenfreude, die er sich zudachte, schnell unter der Last seines politischen Berufes zusammengebrochen war. Er hatte so gleichgültig berechnet und als Fremder gearbeitet wie bei allen anderen diplomatischen Geschäften im Dienst des Königs. Keinen Augenblick rührte ihn das Heimatliche an. War es seine Schuld, war es Gents Schuld? – Er sehnte sich nach der versteinten Einsamkeit von Plessis zurück und nach seinen guten Tieren. Und er hatte sich den Besuch von Thielt nur aufgezwungen, um für das Herz keine Gelegenheit zu versäumen.
Er kam in das Dorf und sah es unverändert: die Backsteinkirche, die spitzdachigen Häuser, die sauberen, gepflegten, von Wohlstand zeugenden Gehöfte, hier und da eine neue Scheune, eine neue Leineweberei. Der Necker, mit ernsten Augen nach rechts und links schauend, schüttelte den Kopf.
»Ich bin fremd hier«, sagte er zu Daniel, »wir wollen uns nicht aufhalten.«
Der stattliche Zug erregte beträchtliches Aufsehen. Männer, Frauen und zahllose Kinder umlagerten ihn. Oliver musterte die Menge unfreundlich und auch unruhig. Der Gemeindeschreiber eilte herbei und bat um Auskunft über das Woher und Wohin.
»Trab!« befahl der Necker statt einer Antwort. Die Gaffer stoben fluchend auseinander. Die Kavalkade verließ Thielt in südwestlicher Richtung auf der Straße nach Roeselare, an der – einige tausend Schritte außerhalb des Dorfes – das Neckersche Gehöft lag. Vor der Toreinfahrt stand ein hübsches rothaariges Mädchen, fünfzehnjährig vielleicht, mit großen grauen, neugierigen Augen.
»Halt!« rief Oliver seinen Leuten zu und sprang vom Pferd. Das Mädchen lief in den Hof. Er wollte ihm folgen, doch ein großer gelber Hund, dessen Gebell in den Ohren gellte, ging ihn wütend an, an der Kette zerrend, und versperrte den Torweg. Oliver wich zur Einfahrt zurück, auf den Lippen ein bitteres Lächeln, und rief dem Mädchen nach:
»Gib mir ein Glas Milch, kleine Neckerin – Louize, Anne – oder wie heißt du?«
Das Mädchen blieb überrascht stehen und sah sich um, lächelte jetzt auch, seine schönen Zähne entblößend.
»Ja, ich heiße Anne Necker«, rief es mit heller Stimme, die das Gekläff übertönte. – Aus dem Haus war ein großer hagerer, etwas gebückter Greis getreten, dessen verwittertes Gesicht jetzt von Mißtrauen lebendig wurde. Er warf einen raschen Blick durch die Einfahrt, sah die bewaffneten Männer und schrie schon:
»Willem! Jaspar! Rasch! Das Tor zu!«
Zwei Knechte eilten aus dem nahen Stall herbei und schlugen krachend das schwere Tor zu. Oliver biß sich auf die Lippen, hörte, wie sich die schweren Sperrbalken vorschoben, hörte jetzt auch das Schimpfen der Alten, Schläge, Weinen des Mädchens – und dann die Stimme einer alten Frau, ja, Elizas Stimme:
»Was ist denn los, Henryk? Laß doch das Kind in Ruh!«
Oliver schüttelte sich, als ob ihm kalt sei, und klopfte mit dem Degenknauf gegen das Tor. Das Guckfenster wurde aufgerissen. Der böse Greisenkopf erschien und fragte grob:
»Was wollt ihr?«
Oliver wich zurück. Des alten Bruders Ähnlichkeit mit dem Vater Claes war so groß, daß sie die Jahre wie ein Blitz durchschlug und die Nacht des Selbstmordes furchtbar erleuchtete. – Ich trieb ihn in den Tod, dachte Oliver erschüttert; was verlange ich vom Schicksal Gutes?
»Was wollen Sie, Herr?« wiederholte Henryk. Neben seinem Kopf tauchte das runzelige Gesicht einer alten weißhaarigen Frau auf. Eliza sah mit ihren trüben, etwas erschreckten Augen den Fremden an.
»Ich bat um ein Glas Milch«, sagte Oliver leise. Der Greisin begannen die Lider zu flattern; sie faltete in der Anstrengung des Sehens und Suchens die Stirn.
»Sie finden zweihundert Schritt von hier rechter Hand eine Meierei, gnädiger Herr«, sprach der Alte abweisend, »ich kann keine Milch abgeben.«
Oliver sah Eliza mit einem traurigen Blick an, nickte und wandte sich um. »Ich danke dir, Bruder Henryk«, rief er über die Achsel und schwang sich auf das Pferd. Die Kavalkade trabte rasch weiter.
»Ach, Oliver!« flüsterte Eliza, sich an die Stirn fassend. Henryk warf stumm die Fensterklappe zu und hob die Schultern. –
Im Standquartier des Großmeisters, das noch bei Tournai war, erfuhr der Necker von den Ereignissen in Gent nach seinem Aufbruch, von der Hinrichtung des alten Stadtmagistrats und der beiden Minister, auch von der heldischen Intervention der Maria. Oliver krallte die Hände ineinander und senkte den Kopf.
»Ihre Landsleute sind Teufel, Sieur Le Mauvais«, sagte Dammartin mit dünnen Lippen und sah den anderen ein wenig seitlich an.
»Sie sind Tiere!« rief Oliver leidenschaftlich und mit dem Fuß aufstampfend. Der Großmeister betrachtete ihn verwundert. – »Nein, Graf«, fuhr der Necker nach der kleinen Pause fort, leiseren Tones, doch auch verbitterter, »nein, ich will die Tiere nicht kränken! Sie haben recht: sie sind Teufel.«
»Handelten die Rebellen nicht gemäß Ihrer Initiative?« fragte Dammartin boshaft. Oliver hatte die Erklärung auf den Lippen; doch er sah dann den anderen mit einem schweren Blick an und sagte kurz ja. Er kehrte in eiligen Märschen nach Plessis zurück.
»Bei der Mutter Gottes, Meister!« stöhnte einmal Daniel Bart nach einem zehnstündigen Ritt, »man möchte meinen, die Genter sind hinter uns her.«
»Gent liegt hinter mir«, sagte Oliver leise, »das Leben liegt hinter mir – und vor mir ...«
Daniel verstand die letzten Worte nicht, aber er fühlte ihre Schwermut und wurde selber traurig.
»Zum Teufel mit diesem Leben!« murmelte er. Oliver sah ihn an, mit einem kleinen Lächeln.
»Wem sagst du das, Daniel?« fragte er. –
Als er den König wiedersah, bemerkte er trotz seiner kurzen Abwesenheit zum erstenmal das tödliche Alter bei ihm, die drohenden Adern an der eingefallenen Schläfe und auf den Greisenhänden, den Blick, den schon die ersten Schatten der langen Nacht erreichten. Er fand ihn bei seinen Tieren. Ludwig fütterte die Singvögel mit Hanfsamen, die Eulen mit kleingehacktem rohem Fleisch, die Kraniche und Stare mit Getreidekörnern und Apfelschnitten. Oliver beugte sich voll Liebe über die alten Hände. Ludwig hob seinen Kopf hoch und küßte ihn.
»Ich bin froh, daß du da bist, Bruder«, sagte er weich; »das Leben drückt auf mich allein zu schwer.« – Er sah ihm in die Augen. – »Du hast deine Heimat wiedergesehen, Oliver – und Freude gehabt?«
Der Necker schüttelte den Kopf.
»Hier ist meine Heimat, Sire«, sagte er, zeigte auf die Tiere und streichelte die Dogge Tristan. Ein schöner, blaugrauer Jungfernkranich mit karminroten Augen und hornfarbenem Schnabel schritt würdig aus dem Käfig und untersuchte Ludwigs Hände.
»Mein Fils-de-putain macht sich nicht schlecht als Nachfolger des armen Larron«, erklärte der König, den schwarzen Hals des Vogels liebkosend.