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Der Erbe


In der Gewitterwolke

Die Julirevolution war abgefangen und umgebogen, ihre Idee verwässert: aber die Funken der drei Tage Wunderfeuerwerk flogen über Europa, und es standen genug Pulverfässer bereit. Gab die Welt tatsächlich keine Ruhe? Hatte Louis recht? – mehr noch: begnügte er sich nicht mit dem Rechthaben, sondern arbeitete er auf seine verstohlene und verhängte Art mit dem neuen Element der Unruhe? Hortense dachte oft an seine halblauten und scheinbar launigen Bemerkungen von »Mitmachen« und »Mitrufen«. Täuschte nicht alles, so waren sie weder Ungezogenheiten noch widerspruchslustige Improvisationen gewesen. Die Mutter fühlte sich nicht ganz wohl dabei: der Sohn wuchs ihr über den Kopf und tat doch so, als sei er scheu und klein und gehorsam. Daß er nicht zu fassen war und trotzdem auf der Straße zu sein schien, die sie mühsam und leidenschaftlich für ihn gebaut hatte – daß er also auch nicht zu tadeln war und umhüllt von Vernunft, Betriebsamkeit und aufreizendem Schweigen, handgreiflich und ungreifbar zugleich, neben ihr lebte – neben ihr, aber eigentlich ohne sie, jedenfalls ohne ihren Rat und ihre Mitarbeit: das war das ärgerlich Verwirrende. Er hatte immer zu tun, zu schreiben, zu reisen: nach Thun, nach Konstanz, nach Mannheim. Fragte sie ihn, so wußte er stets eine Antwort, die glaubhaft klang und garnichts besagte. Aber sie kannte ihn doch einigermaßen. Unter seiner Schläfrigkeit, Artigkeit, Liebenswürdigkeit spürte sie die Unruhe, die aus der Zeit kam und die sein politischer Trieb an die Zeit zurück gab.

Stiftete er Unruhe? Es war nicht zu beantworten. Er hatte einem französischen Deputierten seinen Protest gegen die Erneuerung der Lex Bonaparte geschrieben, ein Dokument von ungewöhnlicher Prägnanz des Stils und Noblesse der Haltung, sehr verschieden vom Tenor Arenenberger Pronunciamentos. Hortense kannte es natürlich und es gefiel ihr, trotzdem sie es anders geschrieben hätte. Sie erkannte die andere Art, aber nicht die Qualität. Die andere Art kam von jenem Le Bas, den sie erst in dieser Zeit als die Quelle des Uebels zu sehen begann. Der sehr alte Abbé Bertrand, pensioniert, aber geistig regsam bis zur Schadenfreude, half ihr drauf. Er las schmunzelnd Louis' Protest und sagte: »Seine jakobinische Majestät fängt gut an und der Le Bas wird noch einmal Staatskanzler.« Hortense griff es auf, sie fragte den Alten aus: was ist dieser Le Bas? was war er eigentlich? Dem Abbé Bertrand gefiel es auf der Welt, weil sie nichtswürdig war, und nach der Julirevolution wurde er unausstehlich vor zynischen Bemerkungen. Jetzt machte er den ehemaligen Lehrer viel schlimmer als er war, und antwortete auf Hortenses Vorhaltungen, daß diese Charakteristik eines Menschen, dem ihr Sohn geistig ausgeliefert war, zehn Jahre früher am Platz gewesen wäre, mit dem hübschen Satz: »Ob Wolf im Schafspelz, ob Schaf in der Wolfshaut, Madame: wir können hoffnungsvoll sein; denn heutzutage und morgen und übermorgen rentiert das eine wie das andere.« Hortense verfehlte nicht, über den augenblicklichen Le Bas Erkundigungen einzuziehen, und sie erfuhr ohne Mühe, daß er zu den radikalen Republikanern gehörte. Doch damit hörte die Beziehung zu Louis' Aktivität auf; denn als sie dem Sohn ihre Entdeckung an den Kopf warf, lächelte er und meinte erstaunt: »Daß es möglich ist, Arenenberg so gründlich zu vergessen!«

Was trieb Louis? Der Protest war eine offene Karte, die er nicht einmal für sich, sondern für die neuerlich gemaßregelte Familie abgab. Es konnte sein, daß er ihn nur geschrieben hatte, um Gegner und Freunde und auch die Mutter von seiner eigentlichen Tätigkeit abzulenken. Gewiß war es nicht, gewiß war nichts bei diesem sanften Lächler. Hortense dachte immerzu an Le Bas, witterte, äugte und lauschte, vernahm nichts und ahnte nicht, daß Louis bereits über Le Bas hinaus war und ihn nicht einmal mehr als Informationsstelle benötigte. Er stiftete keine Unruhe, sondern glitt ihr nach wie einer Gewitterwolke. Das Gewitter rollte nach Süden, die Carbonaria brauchte sich nicht umzustellen, um ihr Ursprungsland wiederzufinden: Italien.

 

Im Spätherbst des wilden Jahres drängte er die Mutter plötzlich nach Italien. Das Gewitter stand schon über dem Kirchenstaat und die italienischen Aktivisten in Frankreich sammelten sich in Marseille, Lyon und Savoyen, zum Vorstoß bereit und von den juliköniglichen Behörden mit unsicherer Feindschaft behandelt. Die Carbonari-Chefs wußten, warum der verwertbare kleine Louis Napoleon nach Italien drängte, die Mutter wußte es nicht. Aber es war die gewohnte Jahreszeit, nach dem Süden zu wechseln, der älteste Sohn, der jetzt in Florenz lebte, mit industriellen Unternehmungen und nicht mit Politik beschäftigt, war jung verheiratet und wollte die junge Frau und den jungen Hausstand präsentieren: es lag also kein Grund vor, nicht nach Italien zu reisen – und im übrigen mußte man scharf aufpassen; denn daß es nicht diese gemütlichen Gründe waren, die Louis zur Fahrt reizten: das wenigstens schien gewiß. Abbé Bertrand umarmte ihn aufgeräumt zum Abschied: »Addio, Principe Carbonaro!« und nahm sich vor, noch lange nicht zu sterben. Die Mutter war dabei. Louis lachte.

In Florenz wartete auf ihn bereits die Einladung des Vaters, nach Rom zu kommen. Bei der ersten Gelegenheit also entledigte er sich der mütterlichen Aufsicht. Hortense war überzeugt, daß die römische Einladung von ihm von langer Hand vorbereitet war; und da ihr schrulliger Mann allmählich einen Narren an dem einst gehaßten Jungen gefressen hatte, gab es für sie neue Zweifel: war der Exkönig ahnungslos? tat er dem Sohn nur einen harmlosen Gefallen oder wußte er mehr als sie? Aber seit wann interessierte sich der krumme Mann, der unbeweglich und menschenfeindlich in seinem römischen Palazzo Mancini hockte, ängstlichster und unpolitischster aller Bonapartes – seit wann interessierte er sich für die Unruhe? Louis indessen hatte es eilig, weiter zu kommen, und Hortense besaß kein Mittel, ihn daran zu hindern. Mitzufahren war unrätlich: es würde den Aeltesten kränken, den Exkönig, der sie nicht eingeladen hatte und sie immer noch am liebsten in der Ferne wußte, verstimmen und den vertrackten Louis nicht viel stören; denn Rom war groß. Sie blieb also und machte gute Miene zum unguten Spiel. Louis umarmte sie, den Bruder, die neue Schwägerin, die bereits in Hoffnung war – und siehe, da war ja auch der Chevalier Armandi, mittlerweilen General, jener Offizier, der einmal unerfreulich oder sogar grausam, wenn auch immer im Auftrag des feindseligen Gatten, in Hortenses Schicksal eingegriffen hatte, für sie keine angenehme Figur. Armandi war jetzt nicht mehr Erzieher, sondern nur noch alter Freund des Prinzen Charles. Hortense war gegen Lehrerfreundschaften voreingenommen. Louis drückte auch dem General die Hand und lächelte verbindlich. Armandi war der stille und höflich energische Mann geblieben, so wie er einst im Palais Cerutti und in Aix-les-Bains seine harte Pflicht getan hatte. Wer hätte etwas bei diesem Händedruck merken können? Aber Louis' eilige Fahrt ging nur bis Siena. Dort blieb er in einem Albergo der Via di Città und wartete auf jemand. Drei Stunden später kam der General Armandi in Begleitung eines anderen hohen Offiziers. Die Drei besprachen sich stundenlang und geheimnisvoll, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß die angrenzenden Zimmer leer waren. Dann gingen sie gemeinsam zu einem Leutnant Mori aus Faenza, der zwei Tage vorher aus Marseille gekommen war. Dieser Leutnant Mori übergab dem Prinzen Louis eine größere Geldsumme. Louis war bezaubernd, von unaufdringlicher Intelligenz und stiller Leidenschaft für das Unternehmen. Die guten Vettern umarmten ihn, gerührt und zuversichtlich. Er fuhr nach Rom weiter, Mori in die Romagna, Armandi und sein Kamerad reisten nach Florenz zurück.

Hortense benützte die erste Gelegenheit, um mit ihrem ältesten Sohn unter vier Augen ihre Sorge um Louis zu besprechen. Charles war kühl: ein politisches Engagement könne schon möglich sein, er selber sei von Paris aus aufgefordert worden, für die Rechte des Wiener Vetters einzutreten; aber der Wiener Vetter gehe ihn nichts an und der Volkswille sei zu respektieren – das Volk habe sich nun einmal für Louis-Philipp entschieden.

»Nicht das Volk!« unterbrach Hortense; aber sie vermied doch die Debatte, es ging um Louis. »Ich glaube nicht,« meinte sie vorsichtig, »daß Louis sich für den kleinen Reichstadt engagiert …«

»Sondern?« fragte Charles.

»Ich weiß nicht …« Hortense dachte an Le Bas, an den boshaften Abbé, an die gespenstischen Carbonari, an das Wort Republik, das sie schon einmal aus Louis' Mund gehört hatte; aber sie sprach ihre wirren Gedanken nicht aus.

»Er wird an sich denken,« meinte Charles säuerlich, »er mag es in Arenenberg gelernt haben.«

Das sprach der Sohn des grämlichen Gichtikers, nicht ihr Sohn. Es wurden allerlei Gefühle offenbar, die die Mutter fast vergessen hatte. Die Debatte war unnütz, die Mutter wurde doch wieder Partei.

»Ich fürchte im Gegenteil, mein Lieber, seine Jugend läßt sich zu einer Uneigennützigkeit verleiten, die Arenenberg hintan setzt.« Charles hob die Schultern. »Gibt es hier Carbonari?« fragte sie geradezu.

»Natürlich,« meinte der Sohn beinahe verwundert, »die gibt es überall.« Er dachte nach, er war nicht so dumm, wie sein Bruder glaubte. »Du denkst, Mama, Louis gehört dazu?«

»Ich glaube es nicht,« antwortete sie unsicher.

»Ich könnte es unschwer herausbekommen.«

»Du?«

»Armandi ist Carbonaro, sogar Oberer.«

»Dein Armandi?«

»Ja – wie viele Militärs, wie alle Studenten, die Aristokratie, die Intelligenz, soweit sie nicht an der staatlichen Futterkrippe sitzt. Und ich wäre es auch – Armandi quält mich schon lange –, wenn es für mich einen Sinn hätte.«

Hortense sah ihn an. Es war ein schönes, aber ein weiches Napoleongesicht mit Koteletten.

 

Madame Mère

Rom war in heftiger Erregung. Das Heil kam aus Frankreich. Daß es dort nicht geblieben war oder sich in laue Kompromisse verkrochen hatte, machte dem gutgläubigen, kindlichen und vom Kirchenstaat übel zugerichteten Volk nichts aus. Jedermann, der aus Frankreich kam oder zu kommen vorgab, war ein Heilsbringer und konnte in jedem Café oder an jeder Straßenecke im Nu Popularität gewinnen, wenn er nur vom Pariser Juli erzählte und ein wenig von Belgien, von Polen, von irgendeiner Folge-Revolution phantasierte. Dann kamen die Nachrichten von den ersten politischen Erdstößen in Italien selber, von Piemont, Mittelitalien, Neapel. Die päpstliche Zensur arbeitete trefflich: umso heftiger arbeiteten die Gerüchte. Es wimmelte von politischen Agenten und Geheimnistuern. Dazwischen bestaunten die ewigen Fremden die Ewige Stadt, verschwitzt und ahnungslos. Und dann starb der Papst. Das war, als gäbe der liebe Gott, der hin und wieder seine rebellische Zeit hatte, selber das Signal.

Prinz Louis Napoleon Bonaparte tummelte sich in vollem Glanz seiner Namen und recht sichtbar durch die atemlose Stadt. Er selber war sich wohl über seine Sichtbarkeit nicht völlig klar: daß er nämlich auch gesehen wurde, wenn er glaubte, nicht gesehen zu werden. Gibt die Qualität der Polizei einen Maßstab für die Unbeliebtheit einer Regierung, dann mochte in Italien der Kirchenstaat wahrhaftig noch stärker gehaßt werden als die Bourbonen von Neapel: so hervorragend war die päpstliche Polizei. Vielleicht war sie nächst der Wiener die beste Europas. Louis, an Schweizer Gemütlichkeit gewöhnt, brauchte es nicht zu wissen.

Die Beliebtheit der Familie Bonaparte war durch die Ereignisse der letzten Zeit unheimlich gewachsen; die Familie selber wußte es kaum; denn sie tat gewiß nichts dazu und stand wiederum, dank des mächtigen und sehr klugen Kardinal Fesch mit der Regierung ausgezeichnet. Dem kleinen Mann aber genügte die Symbolik der Namen Elba und Korsika und daß sich die beiden Inseln sehen und niemals vergessen können und daß es keine sinnfälligere Politik gibt als den Gegensatz Bonaparte-Bourbon. Für den kleinen Mann, beinahe wie für Hortense, war die Julirevolution napoleonisch; und was in Paris nichts als Volkslied war, klang in der Entfernung den Ohren, die es hören wollten, als Kampfruf. Für den kleinen Mann war sogar die Carbonaria, der er leidenschaftlich angehörte, napoleonisch. Darauf begründete sich die italienische Verwendbarkeit des Prinzen Louis Napoleon Bonaparte.

Im übrigen war seine revolutionäre Aufgabe etwas unklar, jedenfalls sogar ihm selber. Er hatte die anvertrauten Gelder einer bestimmten Persönlichkeit abzuliefern; er hatte mit römischen Patrioten viele Zusammenkünfte, die mehr geheimnisvoll als staatsgefährlich waren; er zeigte sich überaus willig und liebenswürdig bestimmten Volkskreisen und benahm sich als präsumtiver Volksliebling mit einer noch vernebelten politischen Zukunft. Er war nicht böse, wenn ihm einige Kaffeehausliteraten zuraunten: er werde sicherlich der künftige König, zum mindesten doch der Präsident des geeinigten Italiens, und verrechnete es mit der anderen Unwahrscheinlichkeit, daß man sich auf den harmlosesten Bonaparte, auf ein Kind einigen würde, auf den zwölfjährigen Jungen seines Onkels Jerome, der von seiner einstigen westfälischen Herrlichkeit nur noch das Kommando über die Kokotten seines jeweiligen Aufenthaltsortes gerettet hatte. Möglicherweise wußte Louis sogar, wie falsch alle diese Prophezeiungen waren; denn die Carbonaria und ihre großen Chefs waren republikanisch und ihre Spekulation mit den Bonapartes nur eines ihrer vielen Mittel zum Zweck. Ihm genügte das Plätschern in dieser etwas sumpfigen Popularität und die verdeckte, sogar etwas gruselige Art des Aufsehens, das er erregte. Er war zweiundzwanzig. Das Abenteuer war neu und ganz lustig. Er fühlte sich wohl.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß von allen Beteiligten die päpstliche Polizei am besten über die Tätigkeit des Louis Bonaparte aus Arenenberg Bescheid wußte. Er war erst drei Tage in seinem römischen Betrieb, als bereits der Kardinal Fesch, zunächst noch belustigt, dem kleinen Großneffen mit der langen Nase den Rat gab, sich lieber mit hübschen Frauen als mit häßlicher Politik zu kompromittieren. Der alte Politiker hatte übrigens den Sohn Hortenses gern, zunächst wegen seiner Intelligenz und dann wegen des Geschmacks, den der junge Mann aus Thurgau, sogar schon der Augsburger Gymnasiast bei der Wahl seiner römischen Freundinnen bewiesen hatte. Der alte Politiker war ein großer Frauenfreund. Ihm schien, zumal nach den polizeilichen Mitteilungen, daß der kleine Louis die wichtigeren seiner Eigenschaften geerbt hatte – Eminenz lächelte: trotz der fragwürdigen Verwandtschaft. Er wollte dem jungen Mann noch sagen, daß die römische Polizei, die etwas von der Unfehlbarkeit ihres höchsten Chefs besitze, schon am Morgen den Namen und die Adresse der Dame wüßte, die ein so hervorragender Forestiero wie der Prinz Louis in der Nacht besucht haben mochte; aber er unterließ es, er wollte den Kleinen mit den schlauen Aeuglein nicht um seine offensichtlich gute Stimmung bringen und tat, als wisse er das Politische aus harmloseren Quellen. Louis lächelte, sagte Ja-ja und gab nichts auf die Warnung.

Die römische Polizei war sich ihrer Pflicht bewußt, den mächtigen Kardinal über seinen jungen Verwandten auf dem Laufenden zu halten. Zugleich aber spann sie das Netz weiter – Pflicht ist Pflicht, und der Kardinal-Staatssekretär wurde garnicht erst ins Vertrauen gezogen, um ihm jeden Gewissenskonflikt dem Freunde Fesch gegenüber zu ersparen – zugleich aber wurden alle römischen Mitglieder der Familie Bonaparte, der Kardinal Fesch nicht ausgenommen, unter Beobachtung gestellt, und zwar mit jener kriminalistischen Meisterschaft, die unsichtbar und gegenwärtig war wie Luft.

Als die polizeilichen Mitteilungen über das Treiben Louis' dringlicher und detaillierter wurden, mußte der Kardinal, der an der Sache keinen Spaß mehr fand, dem Vater des Carbonaro-Prinzen den Fall berichten und ihn um autoritäre Maßnahmen bitten. Der Exkönig war entsetzt. Er haßte Politik, weil sie ihm das Leben verdorben hatte und weil er von dem verbogenen Rest nichts weiter verlangte als Ruhe. Er war ein kranker Mann, er verlangte keinen anderen Respekt mehr als den vor seiner Krankheit. Außerdem begriff er nicht den Sinn von Louis' Unternehmen. Wenn die närrische Erziehung der Mutter wahrhaftig dem jungen Menschen den Fluch des Prätendententums und des unseligen Erbes aufzwang: was in aller Welt trieb ihn, sich und vielleicht auch die ganze Familie für ein fremdes Volk und eine fremde Sache unglücklich zu machen? Er humpelte in das Zimmer Louis', der noch im Bett lag. Er schrie und schlug sich den gelähmten Arm, so wie einer auf den Tisch schlägt. Louis schüttelte den Kopf und seine Augen waren trübe vor schmerzlicher Ueberraschung. »Eine Unterstellung, Sire, eine höchst bedauerliche Unterstellung,« sagte er endlich, mit sanfter Stimme.

»Was ist bei dir nicht Unterstellung!« schrie der Vater böse; »vielleicht ist deine ganze Existenz …« Er brach ab und verließ das Zimmer. Louis sah in die Luft. – Was war das? Was hieß das? – Ach Gott, es war grober Zorn und sogar ehrliche Besorgnis. ›Vielleicht ist deine ganze Existenz gefährdet‹ – so wäre der Satz vollkommen. Gefahr gehört dazu, warum nicht? Der Vater ist bekanntlich der Gefahr aus dem Weg gegangen und hat abgedankt, die Mutter nicht. Man hat das Glück, der Mutter nachzugeraten. – Louis beschloß indessen, vorsichtiger zu sein und dem Kardinalsrat zu folgen. Er lieh sich vom Onkel Jerome eine stadtbekannte Dame aus, fuhr mit ihr auf dem Pincio spazieren, machte tagsüber den unpolitischen Freund des schönen Lebens und konspirierte nur noch nachts. Der Vater Louis schrieb an die Mutter Hortense.

Der Papst starb am 30. November. Louis spürte wie alle den parteiischen Eingriff des Schicksals und rüstete sich auf seine Weise für die Entscheidung, indem er die Vorsicht wieder über Bord warf und noch dazu bei seinen Ausritten eine Satteldecke in den penetranten Revolutionsfarben der Trikolore verwandte. Louis ritt gut, wenn auch nicht sonderlich gern, wie er denn überhaupt körperliche Anstrengungen nicht gerade suchte; er ritt am liebsten, wenn er sich sehen lassen mußte; denn er machte mit seinem langen Oberkörper zu Pferd einen stattlichen Eindruck. Er ritt also durch Rom an die Entscheidung heran, von der er nur wußte, daß sie kam, nicht aber, wie sie aussah. Am 4. Dezember erfuhr er durch die anderen Führer den Befehl der Zentrale: Putsch in der Nacht des 10. Dezember, erstes Ziel: Besetzung der Engelsburg und der Staatsbank. Waffen wurden ausgeteilt. Louis erhielt eine verdächtig alte Pistole.

Am gleichen Tag, möglicherweise noch vor Eintreffen der carbonarischen Stafette, wußte die römische Polizei durch ihre Agenten Art, Ziel und Stunde der Erhebung. Da sie auch die Namen der Führer, Stand und Stärke der Sektionen und den ganzen Aufmarschplan kannte und das Unkraut mit der Wurzel ausreißen wollte, rührte sie sich nicht, ließ die Verschwörer bei ihrem eifervollen Handwerk und bereitete ebenfalls den Gegenschlag für den 10. Dezember vor, nur um eine Stunde früher, als der Abmarsch der Aufständischen aus ihren Quartieren erfolgen sollte. So konnte man schon die blanke Revolution arretieren und die Putschisten unter die unbarmherzigsten Paragraphen des Strafgesetzbuches einreihen.

Hortense las den aufgeregten und bitterbösen Brief ihres Mannes und bekam ein blutleeres, plötzlich altes Gesicht. Sie erhielt den Brief, der am 25. November geschrieben war, erst am 4. Dezember; aber sie dachte nicht daran, die Siegel zu prüfen; und hätte sie es getan, so würde sie nichts gemerkt haben; denn die Postüberwachung der römischen Polizei arbeitete technisch einwandfrei. Sie konnte den Brief wegen seiner Gehässigkeit und wegen gewisser Dinge, die einst geschehen waren – ach, man hatte dies alles fast vergessen und dachte wahrhaftig nicht mehr an den Ursprung großer Nase und kleiner Augen – und die schamlos beim Namen genannt wurden, nicht dem Sohn Charles zeigen; sie konnte auch nicht mehr warten, bis der unerfreuliche Armandi sich bequemte, selbst dem Freunde gegenüber das bedeutsame Schweigen zu brechen – so wenigstens schilderte ihr der Sohn seine vergeblichen Versuche; aber vielleicht trieb auch er schon in das Allerweltsgeheimnis. Hortense fuhr nach Rom.

Ein Kardinal vor dem Konklave wurde selbst von der römischen Polizei gefürchtet. Auch sie konnte nicht wissen, was kommen würde; und wenn auch Kardinal Fesch kaum für die Tiara in Frage kam, so gehörte er doch zu den Führern der liberalen Kardinalspartei, der »Diplomatici«, die im Gegensatz zu den Orthodoxen und Reaktionären, den »Zelanti«, der Zeitströmung gewisse Zugeständnisse machen würden. Wichtiger fast als die Person des künftigen Papstes war die Partei, der er angehörte. Und siegten die »Diplomatici«, so war Uebereifer schädlich. Da die Polizei ihrer Sache vom 10. Dezember gewiß war, brauchte der kleine Louis Bonaparte aus Arenenberg nicht mit den römischen Wölfen zu heulen – er durfte es nicht einmal, um die Eminenz, vielleicht gar künftigen Staatssekretär, nicht zu verstimmen und die Stellung des Polizeidirektors unter dem neuen Regime wegen eines nebensächlichen und nicht einmal ansässigen Nepoten nicht zu gefährden. Siegten die »Zelanti« und öffnete sich für die Polizei das freie Feld der Inquisition, dann würde man immer noch, sozusagen mit rückwirkender Kraft, die ansässigen Bonapartes, die gewichtigen also, für den Streich des zugereisten kleinen Unwichtlings zwischen die Zange nehmen können. So begab sich der Polizeidirektor am Abend des 4. Dezember persönlich in das pompöse Barockpalais des Kardinals zwischen Tiberufer und der Via Giulia und sagte ihm zugleich respektvoll und mit weltmännischer Grazie, daß man den charmanten kleinen Prinzen vor dem bösen 10. Dezember bewahren müsse, daß Gottseidank seine dreifarbige Satteldecke genüge, ihn auszuweisen, und daß der Ausweisungsbefehl auf den 6. Dezember laute, also nicht erst in Erscheinung zu treten brauche, wenn Monseigneur Louis Napoleon Bonaparte bis zum 5. Dezember nachts zwölf Uhr die Stadt Rom bereits verlassen habe: kurz, er werde sich erlauben, morgen vormittag eine Reisekutsche vor dem Palazzo Mancini bereit zu halten. Die Eminenz drückte der Exzellenz die Hand, dankte ihr und versicherte sie seines Wohlwollens. Hinter dem Armstuhl von wundervoller venezianischer Arbeit, auf dem der Kardinal mit Würde saß, gerade über seinem eindrucksvollen Kopf, hing Lionardos Heiliger Hieronymus, zur Linken hing ein Poussin, zur Rechten ein Van Dyck: der Polizeichef wußte das Wohlwollen zu schätzen. Fesch wiederum kannte den Wert der Polizei, und im Augenblick hatte der Politiker das Wort, nicht der Großonkel. Jetzt war der kleine Louis ein Außenseiter, der der ganzen Partei der »Diplomatici« gefährlich werden konnte. Der Kardinal durfte sich nicht mit dem Jungen kompromittieren. Selbst eine neuerliche Aussprache mit dem unsympathischen Louis-Vater war unratsam. Einen Augenblick schwankte er, in die politisch beste Parade zu gehen und mit catonischer Strenge dem Polizeidirektor die sofortige Verhaftung des Verschwörers, ob er ein Bonaparte sei oder nicht, anzubefehlen. Das hätte Eindruck gemacht – und diesem mit allen Wassern gewaschenen Polizeimann war natürlich nicht über den Weg zu trauen: ob nicht sein nächster Weg zum Kardinal Bernetti führte, dem großem Gegner und Kopf der »Zelanti«, und dann zum Kardinal Albani, dem Zünglein an der Waage – ob nicht beiden der dumme kleine Carbonaro-Dolch Louis zur guten Verwendung angeboten würde … – Doch Fesch widerstand, er hatte den Jungen gern, Gott weiß warum, er drückte der Exzellenz die Hand und schickte sie fort. Dann besann er die Art, dem Jungen den Kopf zu waschen und ihn fortzuschicken, ohne selber noch einmal mit ihm in Berührung zu kommen. Er ging zu dem einzigen Menschen auf der Welt, vor dem er Angst hatte, wie alle: zu seiner Halbschwester, Madame Mère, Mutter des toten Kriegsgottes.

Eine Stunde später, es mochte nach neun Uhr abends sein, kam ein Lakai in den Palazzo Mancini und traf noch im Portal mit Louis zusammen, der gerade in die römische Nacht verschwinden wollte. Madame Mère kannte nur eine Farbe: schwarz; ihre wenigen Diener sahen aus wie Totengräber, und doch scheute auch der Tod vor der alten Frau zurück. Louis erschrak, wie alle erschraken, denen die schwarze Unsterblichkeit der Letizia Bonaparte nahe kam. »Madame Mère wünscht Altezza sofort zu sprechen,« sagte der Lakai mit einer leisen und unausweichlichen Stimme. Nein, es war eine schaurige Stimme, weil sie schon den Greisinnenton der Herrin enthielt. Der Lakai war ein alter Mann und sprach wie die alte Frau und selbst sein Knochengesicht war schon nach dem ihren geformt. Wie anderes Gesinde Farben und Wappenknöpfe der Herrschaft trug, so trug die schwarze Suite der Letizia ihr Gesicht und ihre Stimme. Und alle sagten »Madame Mère« als den einzigen Titel, Rang und Namen, den es für sie gab, als ihre einzigartige Würde. Louis wagte keinen Widerspruch, keine Ausrede, er dachte nicht mehr an sein Ziel im Trastevere, wo er einer Führerversammlung zu präsidieren hatte (eigentlich war es mehr ein Ehrenpräsidium ): er sagte liebenswürdig, wie um den Totengräber versöhnlich zu stimmen: »Aber gewiß, mein Freund, gehen wir.« Der Lakai hielt sich drei Schritte hinter ihm, Louis hörte hinter sich den knöchernen und gewichtslosen Gang der Großmutter. Ihm war nicht wohl zu Mute. Der Geheimpolizist an der Ecke des Korso wunderte sich über das heutige Ziel des Carbonaro-Prinzen, den im Auge zu behalten es für gewöhnlich anstrengender war. Louis hatte kaum hundert Schritte zu gehen.

Madame Mère wohnte schräg gegenüber im Palazzo Rinuccini, letztem Haus am Korso vor dem Venedig-Platz; aber es war, als wohnte sie in einer anderen Welt. Ihr Haus stand noch im hellen Leben, mit reicher und beinahe freudiger Fassade. Ihre Räume aber waren schmucklos, lichtlos und lautlos. Es waren vergreiste Räume voller Unfreundlichkeit gegen das Leben, das verachtet wurde, aber doch nicht von der Schwelle wich, wie ein schlecht behandelter und umso anhänglicherer Hund. Der große, karge, trübe Salon, dessen Ecken sich immer im Dunkel verloren, war der Schrecken aller Bonaparte-Kinder, die hier allsonntaglich nach der Messe antreten mußten. Die alte Zaghaftigkeit beschlich auch den Erwachsenen, der in die graue Greisenluft des Zimmers zu treten hatte. Louis spürte wieder den Schauder von einst und das schwächende Gefühl, daß gegen diese Strenge des erstarrten Lebens sein geölter Menschenlasso, seine Liebenswürdigkeit, eine törichte Waffe war, und er fühlte wieder die alte merkwürdige Angst: die Angst vor ihrer Totenhand, die zu küssen war.

In der offenen Tür zwischen dem Vorzimmer und dem Salon stand, wie immer, der Cavaliere Colonna, erster Kammerherr. Er war sehr alt, hatte einen Kopf wie eine Mumie und trug eine gepuderte Perücke. Der Lakai blieb stumm im Hintergrund, der Cavaliere ließ stumm die Augenlider fallen und zog sie wieder auf: das war die Verbeugung. Zwischen dem schwarzen Lakai und dem schwarzen Kammerherrn war kaum ein Unterschied: beide sahen aus wie Madame Mère. Daß der Lakai keine Perücke trug, sondern noch eigenes weißes Haar hatte, fiel nicht auf. Louis ging von einem zum andern, und es blieb der gleiche morsche Mensch. Cavalier Colonna drehte sich auf seinen Filzsohlen um, seine Knochenbeine, auf denen die schwarzen Strümpfe Wellen schlugen, knackten ein paar Schrittchen in den Salon, sein böses Stimmchen knarrte in das Halbdunkel: »Louis«. Es konnte auch: »lui« heißen, »er« – man machte hier nicht viel Federlesens. Colonna zumal sprach außer solchen Rudimenten der Zeremonie fast nichts mehr. Er saß immer auf einem Sessel links von der Tür, er schlief immer, er hörte aber doch durch die hauchdünne Wand seines Schlafes jeden Atemzug der Herrin – und das genügte. Die Beiden verständigten sich durch den Atem, durch ein Hüsteln, kleines Stöhnen, durch ein Hm. Sie brauchten fast niemals mit einander zu sprechen. Sie konnten lange Stunden in ihrer Halbstarre hindämmern und wußten doch in jedem Augenblick über den Anderen Bescheid. Die Zeit zwischen ihnen stand still.

Louis ging vor, mit einem verwaschenen Lächeln, das keiner sah und das er selber nicht wollte. Eigentlich tappte er vor; denn sein Blick faßte sie noch nicht aus dem Dunkelgrau des großen Raumes. Aber er wußte, wo sie saß. Sie saß auf dem steifen kurzen Empire-Sofa, das aus Malmaison stammte und das gekrönte N auf der Rückenlehne trug. Man sah das N nicht, sie saß immer in der Sofamitte und verdeckte es, sie drückte sich gegen das N. Dank der geraden Lehne saß sie aufrecht. Auf dem Tischchen vor ihr brannte das einzige Licht im Raum, hinter einem alten Florentiner Blendschirm aus dickem Pergament. Der Schirm war so gedreht, daß das Licht gegen die nahe graue Mauer fiel. Das Pergament war mit Musiknoten und dem Anfang eines kirchlichen Textes bedruckt, es ließ sehr wenig Licht durch, ein ganz laues, graues Licht, das die graue Frau umrißlos machte. – Wenn sie es nur so ließe, dachte Louis, der sehr langsam herankam, auf Fußspitzen; dann sehe ich sie nicht so deutlich und sie mich nicht und die Hand sehe ich nicht so deutlich, und vielleicht schläft sie dann ein, wie sie immer einschläft, wenn Mama ihr vorsingt – und was will sie eigentlich von mir, was weiß sie denn … Louis hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen.

»Schneller!« knarrte Madame Mère und dann drehte sie den Blendschirm zur Wand. Vielleicht konnte sie Gedanken lesen. Louis schloß rasch die Augen und öffnete sie langsam. Madame Mère saß im vollen Licht, unerbittlich deutlich. Sie war achtzig, aber sie hätte auch neunzig Jahre alt sein können. Sie war schwarz gekleidet, hatte einen Kopf wie eine Mumie und trug eine gepuderte Perücke. Sie sah aus wie ihr Cavaliere Colonna, nur daß sie Röcke trug. Sie hatte ein winziges, knorpliges Vogelgesichtchen fast ohne Kinn und ohne Lippen mit scharf gebogener Nase und den berühmten großen Augen. Aber die Augen waren rot, mit roten schweren Lidern ohne Wimpern. Es schien, als habe sich das letzte Blut ihres Körpers in die Augen geflüchtet.

»Nur näher!« knarrte sie. Louis, mit dem vergessenen Lächeln, nahm ihre Hand zwischen die Fingerspitzen und beugte sich über sie. Die Hand war noch älter als sie, die Hand schien das Sterben zu kennen, das sie übersah. Die Sterbehand war zugleich feucht und knöchern, die Knochenfinger waren verbogen und verkrümmt und schienen mürbe wie Zunder, die schüttergraue Haut hatte dunkle Flecke, als sei sie rätselhaft beschattet, und der kleinste Stoß, der kleinste Druck erweiterte den Schatten; die gerillten Nägel waren wachsgelb. Louis berührte die Hand mit der Nasenspitze, nicht mit den Lippen.

»Guten Abend, Madame Mère,« flüsterte er und führte ihre Hand vorsichtig zur blechsteifen Seide über dem Schoß zurück, »ich bin glücklich, Sie so gesund und frisch …«

»Ta bouche!« knarrte sie scharf dazwischen, »bin nicht glücklich, machst mir Sorge, was höre ich da, was für Geschichten, Dummheiten, Dummheiten – ta bouche!«

Louis sagte garnichts, er drehte sich nur um, unwillkürlich, weil ihre abgehackten Sätze durch den Raum flogen und zurückhallten, so als würden sie von Colonna, der ja die gleiche Stimme hatte, tückisch wiederholt. Aber der Cavaliere saß fern und verschwommen in seinem Sessel, bewegungslos.

»Dummheiten,« hackte sie weiter, »und Kopf in der Schlinge, Dummkopf in der Schlinge – wer schnürt Schlinge zu – heh, wer?«

Die Stimme ging plötzlich in die Höhe, schrill wie von einem Papagei. Louis hatte Angst. Um den Hals war es schon wie eine Schlinge, er konnte keinen Laut von sich geben, er klappte nur den Mund auf und zu.

»Polizei-Schlinge!« kreischte sie, »10. Dezember! Engelsburg! Banco di Roma! Alles bekannt! Voilà!«

Louis riß die Augen auf und faßte mit dem Finger zwischen Hals und Binde, die ihn würgte. Das Licht auf dem Tisch flackerte, Louis schluckte und zerrte an der Krawatte, so eng lag sie auf Kehle und Schlagadern, alles in seinem Blick flackerte, die Mumie auch, und jetzt war Madame Mère verdoppelt – Louis schloß die Augen und hielt sich am Tisch fest.

»Pardon,« stöhnte er, »mir ist plötzlich etwas übel …«

»Riechsalz,« knarrte sie. Im Hintergrund knarrte der Sessel. Colonna kam, langsam und unhörbar. Er blieb dicht hinter Louis stehen, der ihn nicht spürte, griff in die Tasche, stellte derb ein Fläschchen auf den Tisch und kehrte um. Louis fuhr zusammen. »Riechen!« befahl sie. Louis nahm gehorsam das Fläschchen, entkorkte es und roch.

»Konspirieren,« pfiff sie viel leiser, »zu was? Was willst du eigentlich? König werden? König mit Rotznase? Wer bist du denn? Wer denn, Jungchen? Will es dir nicht sagen. Will nur das Eine sagen: Recht auf Ehrgeiz, gut – Recht, sich unglücklich zu machen, gut, jeder hat es, sogar du – – aber, Jungchen, Recht auf Glück und Unglück der Bonaparte, das hast du nicht, du schon garnicht – – ta bouche!«

Louis hielt nicht den Mund. Die Uralte sprach so viel, wie er sie noch nie hatte sprechen hören, und ihr winziges Kinn blieb im Schwung, auch wenn sie nicht redete, so als kaute sie sich die Worte vor. Doch Louis hatte keine Zeit mehr, mein Gott, nach ihren furchtbaren Worten von der Polizeischlinge hatte er kein Ohr mehr für ihre Papageipredigt. Er hielt nicht den Mund.

»Pardon, ich muß sprechen …«

»Nein!«

»Will man mich verhaften – großer Gott, verhaften …«

Madame Mère kaute lange, vor Verachtung stumm. Endlich knarrte sie: »Das nennt sich …« Sie kaute. – Sie knarrte: »Mit vollen Hosen konspiriert man nicht, Louis. Ist auch Meinung der Polizei. Geh nach Hause, pack deine Sachen, man läßt dich laufen – einen wie dich.«

Louis strich sich über die Stirn, er war plötzlich ruhig und sah die alte Frau aus den Augenspalten an. »Einen wie mich,« wiederholte er leise. Das war unbotmäßig.

»Ta bouche!« pfiff sie schrill, »Gefahr vorbei: Maul aufgerissen, bravo! Gefällt mir, bist …«

»Zweiundzwanzig,« warf Louis ein, leise und feindselig.

Madame Mère kaute, die roten Augen gingen ruckweise hin und her wie bei einem Vogel. Man hatte sie noch niemals mit der jungen Zeit erschreckt. Sie war erschrocken. Welche Ohnmacht gegen zweiundzwanzigjähriges Leben!

»Jungchen,« pfiff sie leise, »morgen früh neun Uhr Abreise. Polizei unterrichtet. Uebermorgen Ausweisung. Morgen noch Schein von Freiwilligkeit. Darfst uns dankbar sein.«

»Danke, Madame Mère,« sagte Louis und hatte seinen klaren Kopf, »ich bin Ihnen noch mehr verpflichtet als bisher, nicht weniger auch der gütigsten Eminenz. Aber ich fahre morgen nicht.«

»Was?«

»Ich fahre nicht freiwillig, Madame Mère.«

»Du wirst fahren.«

»Ich fahre nicht freiwillig, Madame Mère.«

»Dann wirst du ausgewiesen, Idiot.«

»Ich will ausgewiesen werden, Madame Mère.«

»Aber warum?«

»Warum …« Louis lächelte wie er es noch niemals vor ihr gewagt hatte. Er sagte mit sehr sanfter Stimme: »Die Bonapartes fliehen seit fünfzehn Jahren weder selten noch ungern, Madame Mère. Ich muß damit aufhören.«

Die Alte kaute lange. Dann knarrte sie nur: »Ta bouche!« Louis nahm sachte die Sterbehand und berührte sie mit der Nasenspitze.

Das war der Abschied fürs Leben. Er wußte es ganz genau. Er war guter Dinge. Die Uralte drehte wortlos den Blendschirm zwischen sich und das Licht.

 

Gewonnene Unruhe

Louis-Vater bat, schrie, jammerte: sein Sohn Louis bedauerte sehr artig, die Augen schmerzlich bewölkt, der väterlichen Majestät den unschönen Widerstand entgegensetzen und in Rom bleiben zu müssen; der Staatsgewalt würde er natürlich weichen. Es half nichts, daß ihn der Vater auf den doppelten Nutzen einer nach außen hin unbeeinflußten und ungezwungenen Abreise hinwies, auf den Nutzen nicht nur für ihn, sondern für die ganze in Rom lebende Familie, die durch seine Ausweisung den schwersten Belastungen ausgesetzt sein würde. Louis-Sohn meinte freundlich: erstens habe er, wie er versichern könne, gute Gründe für seinen Entschluß und zweitens sei die Polizei sowieso orientiert, für eine Bedrängung der Familie sei also seine Ausweisung nicht mehr ausschlaggebend; und siege dennoch die Revolution, so habe die Familie Aussichten, dank seines Märtyrertums zu ungeahnter Popularität zu gelangen. Er sprach dies, ohne zu verraten, ob er witzig sein wollte. Es half nichts, die Reisekutsche, die bereits seit Stunden auf dem Apostelplatz wartete, mußte leer abfahren. Der Exkönig ging zum Kardinal, der schon von Madame Mère über die Komplikation unterrichtet war. »Sie haben einen hoffnungsvollen Sohn, mein Teurer,« sagte er zu dem Krüppel, den er nicht leiden konnte. – »Er ist nicht mein Sohn!« schrie Louis-Vater. Die Eminenz vertrug kein Geschrei. »Offenbar nicht,« meinte er spitz; »denn ich habe ihn noch nie brüllen hören, und Sie wiederum haben niemals eine konspirative Begabung gezeigt …« – »Was tun?« unterbrach ihn der Erregte. – »Man wird ihm den Gefallen tun müssen,« meinte Fesch, »ich habe die Sache durchgedacht, ich glaube, ich weiß jetzt, warum er es will – der junge Mann ist nicht dumm, seine carbonarischen Vettern haben nämlich in der einen Hand den Lorbeerkranz und in der anderen den peinlichen Dolch. – Kurz, Ihr Herr Sohn gefällt mir trotz der Schwierigkeiten, die er mir macht.«

Louis blieb nicht etwa zu Haus. Er ritt aus, es war ein blanker Dezembertag. Prinz Louis Napoleon Bonaparte ritt den Korso entlang zur Piazza del Popolo und den Korso zurück zur Piazza Venezia, seine Satteldecke trug die italienische Trikolore und in der Linken trug er ein Fähnchen Blau-weiß-rot. Das Volk klatschte Beifall, den Verschworenen klopfte das Herz vor Stolz auf ihn und Angst um ihn. Die Exzellenz stürmte zur Eminenz. »Verhaften Sie ihn auf der Stelle und schieben Sie ihn ab,« befahl der Kardinal, streng wie ein mythischer Römer und voll neuer Hoffnung für das Konklave; und zu Madame Mère sagte er: »Dieser Junge wird sein Kaiserreich so billig kaufen wie sein römisches Heldentum.«

Prinz Louis Napoleon Bonaparte ritt durch die Via Condotta. Er sah ernst und mutig aus und sein mageres gelbes Knabengesicht zuckte nicht unter dem Beifall und den revolutionären Zurufen. Auf dem Spanischen Platz hielt eine Eskadron Gensdarmes mit blanken Säbeln. Der Prinz hob ein wenig den Kopf und ritt auf sie zu. Der befehlshabende Offizier kam ihm entgegengeritten und bat ihn höflich, ihm das französische Fähnchen auszuliefern und ihm zu folgen. Louis ließ sich wortlos das Fähnchen nehmen. Die Reiter schwenkten hinter ihm ein. Das Volk johlte und pfiff.

Man lieferte ihn im Palazzo Mancini ab und stellte eine Wache vor das Haus. Louis war guter Dinge. Sein Vater ließ sich nicht sehen. Am Abend kam ein Polizeioffizier mit dem Ausweisungsbefehl. Am folgenden Morgen stand wieder die Reisekutsche vor dem rückwärtigen Portal, eskortiert von sechs berittenen Gensdarmen. Louis stieg ein – mit dem festen und furchtlosen Gesicht eines Mannes, der nur der Uebermacht weicht. (Er hatte für Zuschauer Sorge getragen.)

In Viterbo war Pferdewechsel. Von der Poststation fuhr gerade ein Reisewagen ab, Richtung Rom. Louis erkannte ihn sofort und drückte sich in den dunklen Fond. Doch die Mutter Hortense schlief hinter den zugezogenen Gardinen ihrer vorbeirollenden Kutsche.

 

An der Grenze des Kirchenstaates verabschiedeten sich die Gensdarmes, Louis verteilte Trinkgelder, man nahm sie, das Verhältnis zwischen Wache und Bewachten war mittlerweilen gemütlich geworden. Louis besaß die Kunst, auch päpstlichen Polizeisoldaten als eine reizende Hoheit zu erscheinen – außerdem konnte man nicht wissen, was die Zukunft, nahe Zukunft, bringen würde. Man salutierte, man winkte, die toskanischen Zöllner, durch das augenscheinliche Ehrengeleit dieses jungen Kavaliers beeinflußt, waren äußerst höflich und wenig neugierig. Louis fuhr nur bis Siena weiter und stieg in einem winzigen Vorstadtgasthof nahe der Porta Romana ab. Er legte also keinen Wert drauf, in Siena gesehen zu werden, er wollte nicht einmal von den Seneser Bundesfreunden gefeiert werden: er wollte still und verschwiegen den römischen 10. Dezember abwarten. – Warum? Wußte er nicht, wie schlecht und aussichtslos die Sache stand? Hatte er es nicht am eigenen Leib erfahren! – Gewiß; aber jede Hantierung mit der Zukunft, selbst die der römischen Polizei-Hexenmeister, läßt dem Zufall Spielraum, und jeder Putsch kann gelingen, selbst ein von der römischen Polizei kontrollierter. Man kann nicht wissen, was geschieht und ob man nicht, gegen alle Wahrscheinlichkeit, mit einer anders uniformierten Eskorte nach Süden zurückreist, von Siena nach dem grün-weiß-roten Rom, und dort rasch und noch rechtzeitig in den Siegesstrom springt, an dessen Quelle man ja schließlich gesessen hatte. Die Historie ist unberechenbar, man braucht nur zu warten und nicht einmal lange. Man kann sich die paar Tage auf angenehme Weise vertreiben, man geht spazieren, und wenn es nicht die muschelförmige Piazza del Campo oder die männerreiche Via di Città sein darf, so sind es die hübschen Hügelwege nach Valli zu oder ins Val di Pugna und wenn es Abend wird, geht man ins Bordellchen ganz nahe von San Spirito; denn man war zu jener Zeit nicht wählerisch. So vergehen die zwei, drei Tage, der 10. Dezember kommt, man denkt an diesen und jenen in Rom, man lauscht auch auf sein Gewissen, aber es rührt sich nicht. Wie hätte man jemanden warnen können und wen? und war nicht seine Ausweisung Warnung genug? Der 11. kommt, man wartet, der 12. kommt, die Welt bleibt, wie sie ist, nichts stürzt um, nichts bebt, kaum erregte Kunde flattert aus dem Süden: da sei zu Rom für vorgestern ein Anschlag geplant gewesen, die Polizei hatte Witterung, anscheinend aber hatten auch die Verschworenen die polizeiliche Witterung gewittert; denn die meisten hatten sich zur festgesetzten Stunde an den geschickt zernierten Versammlungsstätten nicht eingefunden, exponierte Namen waren aus Rom verschwunden, die Wenigen, die zur Stelle waren, wurden verhaftet und in die Engelsburg geschafft, die sie erobern wollten. – Das war alles, und viel wichtiger schien der 14. Dezember, an dem das Konklave bezogen wurde.

Es war nicht viel, eigentlich zu wenig für den Aufwand an dramatischen Akzenten; denn selbst das Mißlingen hätte bedeutungsvoller und erschütternder sein können. Louis reiste nach Florenz. Der Bruder empfing ihn kühl und tat ahnungslos; Louis sagte ihm auch nichts. Armandi aber war über alles unterrichtet und hatte sich um ihn gesorgt. Er umarmte den jungen Helden und pries seine Rettung: noch sei nichts verloren, selbst Rom nicht, noch stehe alles am Anfang, und Louis werde nicht vergeblich gearbeitet haben; im Augenblick aber sei von der Zentrale Gefechtspause befohlen: man habe nach dem Mißlingen des römischen Handstreiches den Ausgang des Konklave abzuwarten.

Hortense blieb in Rom. Sie war mit dem kleinlichen Ausgang des 10. Dezember zufrieden und dankte dem Onkel Fesch, der ihren unbesonnenen Sohn vor Schaden bewahrt hatte. Louis war in Sicherheit, gebrannte Kinder pflegen das Feuer zu scheuen. Sie schrieb gute, sanfte, auch kluge Briefe an ihn nach Florenz: keinen Vorwurf, nur Warnung vor einer Revolution, die aussichtslos sei, weil sie, gelänge sie selbst partiell, sofort die Intervention Oesterreichs zur Folge haben würde; »Zurückhaltung, mein Kind, Klugheit, Geduld! Onkel Fesch arbeitet, die Papstwahl entscheidet über den europäischen Liberalismus, nicht der Dolch …«

Das Konklave beschäftigte die Gemüter, nicht mehr die Trikolore. Hortense, ein politischer Mensch, wollte im Zentrum der Ereignisse bleiben, um die Papstwahl abzuwarten. Sie war eine Bonaparte; der Sieg ihres Kardinals konnte bestimmte Folgen haben, die für die Gruppierung der politischen Kräfte bedeutungsvoll sein mochten, vielleicht auch für Arenenberg. Sie hatte wieder wirre Hoffnungen. Ihr Mann dagegen – ob allein wegen ihrer Anwesenheit oder aus Ruhebedürfnis oder gar aus einer intelligenten Vorahnung – verließ Rom und fuhr nach Florenz. Dort hatte er Zeit genug, mit seinem Sohn Charles über Louis' römische Streiche zu sprechen. Charles war aufmerksam und schweigsam. Louis war zumeist unterwegs, man wußte nicht wo, man dachte an neue Weibergeschichten. Das war nicht richtig: Louis organisierte mit Armandi die mittelitalienische Insurgententruppe; genauer gesagt: er reiste mit Armandi von einer sorglich verschworenen und verschwiegenen Führerversammlung zur anderen und ließ sich ausstellen, anstaunen und umarmen; denn sein Name trug außer der alten, die neue Gloriole römischen Märtyrertums.

 

Gewählt wurde der Camaldulenser-General Cappellari, Vertreter der schärfsten Orthodoxie und der unerbittlichsten Reaktion, gebürtig aus Belluno, sehr nahe Oesterreich. Der Kardinal Albani, Zünglein an der Waage, hatte sich mit seinen Freunden den »Zelanti« zugeneigt. – Stach mich doch der kleine Dolch Louis? fragte sich der besiegte Fesch und fühlte eine große Müdigkeit. Der Familie fuhr es in die Glieder, auch der Hortense, der mutigsten. Man hielt Kriegsrat ab. Mußte man wieder an Flucht denken? Mußte man wieder wandern? Die Polizei schob sich unsichtbar, hellhörig, scharfäugig und voreingenommen an ihre Paläste. Nur die Uralte wurde nicht erschüttert. »Allerlei für zweiundzwanzig Jahre,« knarrte sie; »aber ich bleibe, mich gehts nicht an, ich bin über achtzig.« Sie sprach zum ersten Mal von ihrem Alter. Sie lebte aber noch fünf Jahre.

Die Papstwahl war die große Herausforderung, die Kriegserklärung. Das war der 2. Februar. Die revolutionäre Zentrale setzte die mittelitalienische Erhebung auf den 5. Februar fest. Modena schlug schon am 3. los; doch sein berüchtigter Herzog, eben noch Carbonaro, in Wahrheit habsburgischer Provokateur, kartätschte gegen das Haus des Insurgentenführers, seines persönlichen Freundes übrigens, schoß es zusammen, verhaftete den verwundeten Carbonarochef und seinen Stab und schickte nach dem Henker. Die Nachricht revolutionierte Bologna, Parma, Reggio, Ferrara, Ravenna, am 5. brannte der Aufruhr in allen Städten der Legationen, der Marken, Romagnas und Umbriens.

Auch Florenz wollte unruhig werden; aber sofort legte sich die starke Hand auf die Stadt, die mehr zur Skepsis neigt als zur Begeisterung. Toskana hatte einen klugen Autokraten, eine zugleich feste und loyale Regierung und einen hervorragenden Polizeipräsidenten. Der große Guerra, toskanischer Carbonaro-Chef, eben noch unsichtbar, unauffindbar und von unheimlichen Sagen umwoben, wurde verhaftet, ehe er sichtbar und gefährlich werden konnte. Louis, der sich ihm niemals hatte nähern können, wußte von ihm nur, daß er, im Gegensatz zur Zentrale, den kleinen Prinz-Carbonaro ungern in der italienischen Revolution plätschern ließ.

Louis war die letzten Tage in des Bruders Villa in Montughi gewesen, ein paar Kilometer nördlich der Stadt, in der Richtung auf Rifredi. Er wartete. Der Februarnebel kappte den Fiesolaner Hügel, die Landschaft war undeutlich und mißgestimmt. Louis wartete: vielleicht klappte auch dieses Mal die Historie zusammen, kaum daß man sie anstieß. Er wollte klüger sein als in Rom und nicht beim Vorspiel dabei sein, sondern bei den großen Szenen. General Armandi war schon in Bologna, als Deus ex machina. Der Vater Louis lebte in der Stadt, in einem Hotel am Lungarno, kümmerte sich jetzt nicht um die Söhne und suchte nach einem Haus; denn er wollte sich in Florenz ansiedeln. Der Bruder Charles war kühl und schweigsam und doch auch geheimnisvoll geladen. Der Bruder Charles gefiel ihm nicht.

Dann kamen die Ereignisse Schlag auf Schlag. Es kam Armandis erwarteter Eilbrief, der von Emilia, glücklicher Geburt, dem Onkel A. als Paten und der herzlichen Einladung zur Taufe handelte. Das bedeutete, daß die Provisorische Regierung in Bologna mit Armandi als Kriegsminister gebildet und der Weg für Louis frei sei.

Louis ging auf sein Zimmer und packte seine Sachen. Der Anfang schien vielverheißend, der Ausgang blieb natürlich dunkel. Armandis Einladung war ein Befehl oder doch ein Wechsel, zur Einlösung vorgelegt. Gewiß wird er ihn einlösen; aber Krieg ist keine Konspiration, Krieg ist etwas schonungslos Deutliches und – Gefährliches … Ist es die Gefahr, die mit einemmal die Stimmung drückte? War Rom nicht gefährlich? – Louis blickte aus dem Fenster. Die Hügelwellen liefen in die liebe, schöne Stadt, und hinter der Domkuppel, die mächtig und mütterlich über den Dächern schwebte, fiel die Februarsonne, von Nebeln getüncht und geschwächt, in den frühen Abend. – Jetzt fällt auch die Arenenberger Sonne in den Untersee, dachte Louis; und heute nacht, in dieser nassen Schauernacht, muß sich die Kutsche in das Gebirge tappen, das man schon jetzt nicht mehr sieht; und man muß mindestens bis Borgo San Lorenzo kommen, man wird die Knochen spüren …

Charles trat ein, blaß und geladen. Louis blinzelte an ihm vorbei.

»Du fährst fort?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Ein wenig ins Gebirge.«

»Im Februar?«

»Meine Besteigungen sind von der Jahreszeit unabhängig.«

»Ach laß das doch, Louis, mich brauchst du nicht anzulügen.«

»Warum nicht?« lächelte Louis.

Charles hielt an sich. »Weil ich Bescheid weiß, mein Lieber.«

»Na also,« meinte Louis, »dann spar dir die Inquisition.«

Auch Louis war gereizt; er wußte nicht, was der Bruder im Sinn hatte, er konnte es nicht vertragen, wenn er in andere so wenig hineinsah, wie die anderen in ihn. Charles war größer als er, schöner als er, kräftiger als er, napoleonischer. Louis sah aus bösen Aeuglein in das erregte Gesicht des Bruders.

»Rom war keine Heldentat!« fuhr Charles plötzlich auf, vielleicht durch seinen Blick gereizt. »Es gehört kein Mut dazu, durch die Straßen zu reiten, wenn Onkel Fesch die Polizei am Rockzipfel hält.«

»Richtig,« sagte Louis leise, »richtig.«

Charles hatte Hortenses große Augen und lange Wimpern, er riß sie auf wie die Mutter. »Es ist billig,« rief er unnötig laut, »es ist verdammt billig, den Helden zu markieren, mit der sanften Ausweisung in der Tasche, und sich die armen Teufel in die Engelsburg krakeelen zu lassen!«

»Richtig,« flüsterte Louis, »es sollte auch billig sein, man ist eben ökonomisch veranlagt.«

»Und jetzt,« schrie Charles außer sich, »jetzt schacherst du dich in die neue Revolution hinein!«

»Gut gesagt,« sagte Louis sehr sanft, »gut gesagt. Ich nehme sie billig und gebe mich möglichst teuer. Das kann man Schachern nennen.«

Charles hielt sich zusammen, er mußte sich an die knochenlose Redensart dieses Menschen gewöhnen, er mußte vorsichtig sein, um nicht durch seine gefährliche Widerspruchslosigkeit hindurch zu fallen, wie durch eine tückisch geöffnete Falltür. »Louis, was willst du eigentlich? Was planst du eigentlich?«

Louis lächelte. »Schachern. Du weißt es doch. Aber nicht mit Heroismus, wie du meinst. Weißt du womit? Mit Unruhe. – Du wirst es jedenfalls nicht verstehen.«

»Ja und nein,« sagte Charles, »aber das ist kein Ziel.«

»Ach Gott, mein Lieber, ich habe Zeit, ich bin erst zweiundzwanzig.«

»Zeit wofür?«

»Für das schöne Leben, Charlot.«

»Ich weiß es besser, Louis.«

»Sieh da.«

»Weil in Frankreich die Bewegung stagniert, soll dich die italienische Revolution in die Höhe tragen.«

Louis hob die Brauen, aber nicht die Augenlider. »In den Cafés des oberen Korsos sagte man mir, ich würde König von Italien, in den Bodegas um die Piazza Venezia herum war ich nur der künftige Präsident – sei nicht böse, Charles.«

Der Bruder zupfte an seinem dunklen Backenbärtchen. »Und was meinst du selber, Louis?«

Louis lachte leise. »Wenn es schon sein muß: zuerst Präsident und dann König, weil es die richtige Reihenfolge ist. – Aber sei ganz ruhig: so heftig ist mein italienischer Ehrgeiz garnicht. Mir genügt schon die gewonnene Unruhe durch den Namen.«

»Durch welchen Namen?«

»Sei bitte nicht überrascht: Napoleon Bonaparte.«

»So heißen wir beide.«

Louis schwieg eine Weile und sein Lächeln fror allmählich ein. Er sagte endlich: »Das erfahre ich in diesem Zusammenhang erst heute, Herr Bruder.«

»Aber nicht zu spät,« warf Charles ein und hatte mit einemmal rote Flecke auf der Stirn.

»Bedeutet das die Kooperation?« spottete Louis.

»Zunächst die Warnung.«

»Warnung?«

»Vor Ueberheblichkeit, überhaupt vor Arenenberg.«

»Ach mein Lieber, der gute Thurgau ist eher demütig als hoffärtig.«

»Man scheint trotzdem in Arenenberg allerlei vergessen und gestrichen zu haben, was war und was ist und was besinnlich stimmen sollte.«

»Wie merkwürdig!« staunte Louis. »Ich finde im Gegenteil, Arenenberg starrt so unverwandt auf das, was war, daß es an veritabler Steifhalsigkeit leidet.«

Charles' Augen waren blank vor Abneigung. »Lassen wir lieber das, was war,« sprach er erregt, und sein Atem lief laut neben den Worten, »ich will dich schonen.«

Louis hob den Kopf mit einem Ruck, über seine Augen gingen böse Wolken; aber er sagte nichts. Charles wartete eine Weile, er staunte über solchen Mangel an Neugierde, es war ihm verdächtig, dieser ganze Mensch war verdächtig und so glatt, daß jeder Griff abrutschte. Charles griff von neuem zu: »Ja, man hat dort auch die Gegenwart verleugnet – zum Beispiel meine Existenz. Ich bin nämlich da, ich, der Aeltere und außerdem der … Aber das will ich ja unterdrücken.«

Er schlug dem Bruder wieder die Andeutung um die Ohren; aber Louis zuckte nicht, er spitzte nicht einmal die Ohren, er war nicht neugierig. Er lächelte sogar. »Ach mein Lieber, du betonst dich wohl so sonderbar, weil du an das sogenannte Erbe denkst oder wie du unser Hausmärchen betiteln willst – ja?«

»Ja, Louis.«

»Aber mein Bester, wenn du solche Sorgen hast …« Louis lachte leise und schloß dabei den Mund; er lachte durch die lange Nase, »... wie muß dich da erst der Wiener Vetter deprimieren, auch Adlerjunges genannt und sehr viel mehr angedichtet als du und ich …«

»Falsch!« unterbrach Charles heftig; »denn ich erkenne Tatsachen an, im Gegensatz zu Arenenberg, wo eure krummen Illusionen wachsen. Ich weiß, daß er noch lebt und daß er in der Nachfolge vor mir stünde, er, nicht du. Ich weiß aber auch – wie du, Louis –, daß eine Doppelwand zwischen ihm und dem Erbe steht: Metternich und – seine Krankheit.«

»Du meinst: sein Tod, du stramme Erstgeburt, du kannst es ruhig aussprechen, der Arme hört es nicht.«

»Und du,« rief Charles kehlig und seine weichen Frauenhände zitterten plötzlich, »und du hast seinen Tod schon lange in deine Kalkulation gestellt – aber hier ist der Fehler, Verehrter! Nach ihm komme ich! Du wirst es einsehen müssen! Es mag dir nichts Anderes übrig bleiben als die Hoffnung auf noch einen – auf meinen Tod …«

Er brach ab und sein Mund blieb etwas offen. Louis protestierte nicht, er sah ihn nur mit den verhängten Augen an, er sah ihn verhängnisvoll an, jetzt gleichgültig, jetzt schon müde vor Gleichgültigkeit, er sagte eine Weile nichts, dann flüsterte er nur: »Böses Märchen das Hausmärchen …«, drehte sich um und packte weiter.

 

Die Brüder waren sehr still. Louis packte so leise, als müßte er sein Tun vor mißtrauischen Nebenzimmern geheim halten. – Er ist für die Geheimnistuerei geboren, dachte Charles, der aus einem Fenster sah; aber er dachte noch anderes.

Louis wandte sich wieder zu ihm, recht freundlich. Scheinbar war er mit dem großen Feldkoffer fertig.

»Also, Charles, komm mit,« sagte er. Er sprach es so leicht hin, als sei es nichts Unerwartetes.

Der Bruder blieb am Fenster stehen.

Louis redete zu, ganz gutwillig und freimütig: »Damit ich dir nicht den ganzen schönen Revolutionsrahm abschöpfe, Charles, und alle Möglichkeiten für die glorreiche Zukunft fortnehme: was bleibt dir anders übrig? Geteilter Ruhm ist nur ein Ruhm – und der geht natürlich nach der Anciennität. Was ich vorgearbeitet habe, billig, aber wirksam, gilt dem Namen, unser beider Namen, nach der Anciennität zuerst deinem Namen. – Was willst du mehr? Komm mit.«

Charles drehte sich nicht um. »Du bist vor Freundlichkeit und Brüderlichkeit beinahe redselig, Louis, vielen Dank. Ich darf dir jetzt eine Entdeckung machen, Louis. Unser Freund Armandi wird es jetzt ebenfalls schon wissen. Ich stehe seit einiger Zeit mit dem Grafen Pepoli in Bologna in Verbindung. Ich habe mich bereits der Provisorischen Regierung zur Verfügung gestellt, auch ich.«

»Na also,« sagte Louis voller Gleichmut.

 

Die junge Frau ließ ihren Mann, der ebenso plötzlich wie dringlich von seinem Bankier nach Genua gerufen wurde, nicht los. »Ich weiß nicht …« weinte sie, »ich weiß nicht, warum ich solche Angst … und das Kind tut mir weh …« Charles küßte sie und begütigte sie – er sei in einer Woche wieder zurück – und weinte auch. Er war ein weicher Mensch. Er riß sich los und ging. Aber er wartete, bis seine Augen nicht mehr gerötet waren, ehe er sich dem Bruder zeigte.

Der Wagen ratterte durch die sumpfige Nacht neben dem Mugnone, der sogar Wasser führte, dem Appenin zu. Die Brüder sprachen nicht. Louis dachte, daß sie noch bis Borgo San Lorenzo fahren mußten, immer bergauf, immer durch die Nacht, die jedes Licht verschluckte – irgendwo waren doch Bauernhäuser, brannte doch Licht – und daß das endliche Bett dort jämmerlich sein würde. Weiter dachte Louis nicht, er war trübe gestimmt. Er liebte solche Schauernächte nicht, die einen einmauerten, als wäre es für immer, und die Aussicht selbst auf gewissere Tage versperrten als die, denen er entgegen fuhr. Da war es fast schon wieder gut, den fatalen Bruder neben sich zu haben, doch ohne den Prolog zu dieser Kameradschaft zu rekapitulieren … – Charles dachte an seine Frau. – Sie ließ mich gar nicht fort, dachte er immerzu, und schließlich sprach er es aus, beinahe unbewußt. Louis sagte nichts dazu. Was war auch dazu zu sagen? Charles hatte wieder Tränen in den Augen. Das konnte Louis im Dunkeln nicht sehen.

 

Am 6. Februar wurde der neue Papst Gregor XVI. gekrönt. Als Krönungsgeschenk kam die Nachricht vom Aufstand und Abfall Bolognas nach Rom. Onkel Fesch, der es Hortense sagte, fügte hinzu: »Wissen Sie genau, meine Tochter, ob Ihr jüngster Sohn in Florenz ist?« Hortense riß die großen Augen auf. Madame Mère knarrte: »Allerlei für zweiundzwanzig Jahre …« – Sie beginnt, im Geiste nachzulassen, sagte die Familie unter sich, und sie beschloß, den Ausgang der Revolution abzuwarten, ehe sie sich für die Aufgabe der römischen Residenz entschied.

Hortense, den Schrecken im Herzen und von schlimmen Ahnungen gehetzt, wollte sofort abreisen. Doch es dauerte zwei Tage und bedurfte eines Machtwortes des neuen Staatssekretärs Bernetti (eines großzügigen »Zelante« also), ehe die wütig gewordene Polizei, die am liebsten alle Bonapartes verhaftet hätte, ihren Paß visierte. Hortense fuhr ab und hetzte den Kutscher. In Orvieto kam sie in die Revolution; aber es war wie ein Volksfest. Studenten und Arbeiter und einigermaßen phantastisch uniformierte Insurgenten, lachende und singende und jubelnde junge Menschen, rissen gerade die päpstlichen Wappen herunter und hißten grün-weiß-rote Fahnen. Die Reisende wurde angehalten, ihr Name wirkte Wunder. Das Wunder erschreckte sie, die allgemeine Ehrerbietung, die sich dennoch nicht erklärte, folterte sie. Sie hetzte weiter. In Siena mußte sie Station machen, todmüde und krank vor Aufregung und Angst. Aber sie schickte einen Diener voraus, der die Nacht durchreiten und sie in Florenz anmelden sollte. Sie konnte nicht schlafen: vielleicht ängstige ich mich umsonst, vielleicht steht Louis morgen Abend an der Porta Romana und erwartet mich und lächelt – und alles ist gut …

Am folgenden Abend: hoch zur Linken zeigte sich die Feste der Certosa mühsam durch Dämmer und Straßenstaub – Gottseidank, jetzt ist es nicht mehr weit. – Schon in Galluzzo beugte sich Hortense aus dem Wagenfenster. Schneller! Vorstadthäuser blinzelten mit ihren Lichtchen durch das Dunkel, böses Pflaster begann, endlich schob sich der wuchtige Umriß der Römischen Tore heran.

Nur der Diener war zur Stelle. Louis war nicht da, nicht einmal Charles. Hortense, sehr blaß, fragte nicht.

»Seine Majestät erwarten Ihre Majestät im Hotel, Seine Majestät sind unpäßlich,« sagte der Diener und gab ihr einen Brief. Die Torwache lieh höflich eine Laterne. Die Adresse zeigte die kleine, dünne, fahrige, intelligente Handschrift Louis'. Hortense öffnete ihn hastig und las: »Ihre Liebe und Ihr hoher Sinn werden uns verstehen: wir sind Verpflichtungen eingegangen, wir müssen sie erfüllen: der Name, den wir tragen, zwingt uns, den unglücklichen Völkern, die uns rufen, zur Hilfe zu eilen.« Es war ein dummer Brief. Hortense zerknitterte ihn und preßte die Lippen zusammen. – Beide, dachte sie, er und der Andere …

 

Der Wagen ratterte durch die laute Serragli, erkletterte den steilen Berg der Carraia-Brücke und bog nach links in den Lungarno. – Warum schleppt er ihn mit? fragte sie sich.

Sie stieg im Hotel Nuova York ab und ging die Bücklinge des Personals entlang. Der Exkönig von Holland lag in seinem Salon auf dem Sofa. Als sie allein waren, fing er an zu weinen. – Natürlich um Charles, dachte sie und sah ihm lieblos zu.

 

Zerstörung der Gesichter

Was war das für eine quicke und springlebige Revolution und welchen guten Zug hatte sie! In vierzehn Tagen standen vier Fünftel des Kirchenstaates gegen Rom auf, von Bologna bis Umbrien. Der Wiederstand war schwach, der Jubel groß. Die beiden Napoleons waren in großer Fahrt. Louis drückte sofort nach Süden, Charles begriff es nicht gleich; denn ihr Freund Armandi regierte doch in Bologna. »Sieh dir die Karte an,« blinzelte Louis, »Bologna liegt verflucht nördlich und in Verona lauern die Oesterreicher; wir gehören zur Familie und erobern Rom, schon aus Rücksicht auf deinen vorgesetzten Wiener, der einmal König von Rom war.« Er war guter Stimmung, warum auch nicht? Jeder Tag war ein guter Revolutionstag. Der General Sercognani, Führer der Südarmee (ach, es waren vielleicht zweitausend Mann), jener Offizier, der im November mit Armandi zu Louis und dem kleinen Leutnant Mori nach Siena gefahren war, umarmte die Brüder in Rimini und ernannte sie zu Führern der freiwilligen Studentenbataillone. Freiwillige gab es die Menge, Waffen waren viel knapper, der Begeisterung genügten rostige Hellebarden, Käsemesser und Knüppel, auf zehn Mann kam doch eine Flinte, auf die ganze Südarmee zwei Geschütze – und siehe, die paar päpstlichen Soldaten, die man in Pesaro, in Fano, in Senigallia, in Ancona aufstöberte, liefen ohne großen Nachdruck über, schon war das Hauptquartier in Macerata, Freiwillige überall, die beiden Napoleons kamen nicht dazu, sich zu zanken, so lustig und glückhaft war dieser Krieg ohne bösen Feind, Charles sang mit seiner hübschen dünnen Stimme die Marseillaise, sooft das Vergnügen es erforderte, und erntete Beifall, Louis hatte zwar keine Stimme, aber einen trefflichen Gedanken: er öffnete die Gefängnisse, wohin er auch kam, ließ die politischen Gefangenen frei, hin und wieder auch Kriminelle, wenn die Zahl der anderen nicht ausreichte, gewann heftige und merkwürdige Sympathien und ein Freiwilligenkorps, in dem alle sozialen Schichten vertreten waren, vom Altphilologen bis zum Zuhälter. Camerino, Foligno, Spoleto, Terni – das Tempo war napoleonisch, nur die Schlachten fehlten, man scharmützelte bis Viterbo und Civita Castellana – Rom lag schon in der Luft.

Rom war entsetzt. Sogar der Karneval wurde abgebrochen. Der Name Bonaparte lag in der Luft, Demonstranten brüllten ihn durch die Straßen, Putschisten stürmten mit ihm als Kriegsruf die Engelsburg und das Kapitol. Die Polizei schoß und traf und versprengte und verhaftete; daneben belagerte sie die Paläste der römischen Bonapartes, die nicht wußten, ob ihre letzte oder ihre große Stunde schlüge. Die Eminenz trug die kostbarsten Bilder in den Keller. Die Familie schickte, mit Erlaubnis der Regierung, einen Kammerherrn des immer noch vergnügten Jerôme, als Unterhändler zu den wilden kleinen Napoleons nach Civita Castellana: was sie eigentlich wollten. Charles, nicht Louis – Charles, bereits größenwahnsinnig, gab dem Parlamentär einen Brief an den Papst mit, in dem er den Heiligen Vater höflich, aber bestimmt ersuchte, der weltlichen Herrschaft zu entsagen. Der Brief gelangte nur bis zum Onkel Fesch, der ihn zerriß und zu Madame Mère sagte: »Ein Unglück für den Kleinen, daß der Andere, der Gimpel, dabei ist und beinahe genau so heißt und daß er so aussieht, wie der Kleine aussehen möchte.« Madame Mère schüttelte lange das Vogelköpfchen und pfiff endlich: »Hat kein Unglück – bringt nur Unglück – allerlei für sein Alter …« Sie löste sich langsam, ganz langsam auf.

Jetzt, Ende Februar, bat der Papst den Kaiser von Oesterreich, dessen Untertan er einmal war, um die bewaffnete Intervention.

 

Welches Temperament des Erfolges steckte in dieser Revolution! Und was steckte in dem versteckten Louis? War es wahrhaftig das ungeheure Spürglück des großen N? Ging wirklich schon der Samen von Arenenberg auf, der doch – man darf es sich gestehen – einen schwierigen und widerwilligen Boden gehabt hatte und, zumal nach der Julirevolution, eine viel längere Zeit der Reife zu beanspruchen schien? – Hortense war eine politische Frau. Die mütterliche Angst wich mit den ersten Siegesnachrichten, und als jeder neue Tag die Revolution mit Siebenmeilenstiefeln nach Süden schickte, ähnelte sie als napoleonische Mutter der Madame Mère um 1800. Ihr Mann stellte es mit rüdem Spott fest, wenn er nicht jammerte. Zumeist jammerte er, in peinlicher Weise weinerlich geworden – natürlich um Charles, den armen Verführten. – »Mit einemmal!« pflegte sie hochmütig zu bemerken, »mit einemmal ist Charles der Subalterne. Er ist doch der Aeltere und der Schönere und aus deiner Schule.« – »Diese Langnase ist ein Dämon und hat ihn verführt – das ist für mich so gewiß wie der Teufelsschmerz in meinem Körper.« – »Aber du selber hast doch an Louis einen Narren gefressen, mein Lieber.« – »Gewiß, gewiß, er hat mich eingefangen wie meinen armen Jungen, wie alle Welt. Wenn er dieses Talent von seinem Vater hat, dann begreife ich beinahe, daß du dem seligen Herrn – ich weiß nicht mehr, wie er heißt – ins Bett geraten bist.« Die Bosheit traf nicht mehr, sie ließ ihn greinen und lästern, sie hatte über dem Gesicht den Glanz, den er kannte und haßte, – den Empire-Glanz, wie er ihn hämisch nannte. Er verlangte, daß sie zu den Insurgenten gehe und Charles zurückhole oder beide, wenn der Aeltere sonst nicht von seinem Posten wiche. Er verlangte dies und das, er selber rührte sich nicht: er war ein gelähmter Mann. Hortense ließ ihn reden. Arbeitete die prachtvolle Revolution nicht für Louis, wie er für sie? Der Exkönig glaubte das Gegenteil, oder er hoffte es. Es war wie zur Zeit des großen N: sie hißte die Flagge des Glücks, er hoffte auf das Unglück.

Dieser Mann war im Unglück zu Hause, es war sein Element, er kannte sich in ihm aus – er hatte zeitlebens Recht, wenn es sich um Unglück handelte. Die prachtvollen Revolutionen der Zeit waren Theaterstücke, einige Dichter schrieben die guten, die Historie selber die mittelmäßigen. Hortense hätte vom letzten Juli lernen können. Sie tat es nicht, sie nahm, wie oft in ihrem Leben, Wechselbäder des Gefühls, vom Kalten ins Heiße, vom Heißen ins Kalte, von der Angst in den Triumph, vom Triumph in die Angst. Daß sie durchhielt und immer noch von der Angst in den Mut, in ihren mütterlich heldischen Mut aus Angst um ihn, den unheimlichen Sohn, zu springen vermochte, zeugte nicht nur von ihrem Wert, sondern auch von ihrer guten Konstitution. Ihr Mann hatte eines Morgens, Ende Februar, den Glanz im Gesicht, den sie selber noch trug, weil sie eben eines der vielen Louis'schen Siegesbulletins gelesen hatte; das graue, fette Gesicht des Exkönigs war ganz hell vor Glück über das Unglück, das er ihr mit zwei Worten entgegen warf: »Oesterreich interveniert!«

Noch erschrak sie nur, noch glaubte sie nicht an den Einbruch des Unglücks, weil sie niemals an die unseligen Prophezeiungen ihres Mannes zu glauben im Stande war. Schließlich war noch Frankreich da, das über das Nichtinterventionsprinzip zu wachen hatte. Und gibt es nicht einen revolutionären Schwung, der auch mit fremden Hilfskorps fertig wird? Noch rührte sich Hortense nicht; aber sie brauchte auf den neuen Gang der Ereignisse nicht mehr lange zu warten. Oesterreich marschierte, ohne auf Frankreichs Ja oder Nein zu warten, und Frankreich warf der Division des Feldmarschalleutnants Bentheim nur papierne Proteste nach. Am 6. März stellte Bentheim in Ferrara die päpstliche Gewalt wieder her, am 9. war Oberst Geppert in Modena. Jetzt glaubte Hortense an das Unglück. Ihr Mann kolportierte entsetzt das Wort des österreichischen Gesandten in Florenz: die beiden Bonapartes werden wie gemeine Insurgenten behandelt. Oesterreichische Feldgerichte pflegten rasch zu hängen. Louis-Vater lag zu Bett, krank von seinem Sieg über das Glück. Er hatte Recht behalten und weinte um Charles – mehr war von ihm nicht zu erwarten. Das Rettungswerk fiel der Mutter zu, wem sonst? Hortense begann es mit der Kraft der Verzweiflung, ihrer plötzlichen und starken Kraft. Jetzt war kein Tag mehr zu verlieren; denn an jedem Tag gewannen die Oesterreicher. Hortense wandte sich an die toskanische Regierung, trotzdem sie wußte, daß der Großherzog aus dem Hause Habsburg nicht ihr Freund war. Sie kehrte sich nicht an Antipathien, sie ging geradeswegs zu dem unerfreulichsten Machthaber, dem rothaarigen, rotbärtigen, rothäutigen Polizeipräsidenten Caminer, Genie in seinem Fach, Held des Tages, der die toskanische Revolution abgetrieben hatte, ehe sie geboren war, und den mystischen Guerra im Ghetto aufstöberte und einfing wie eine der vielen Ratten, die es dort gab. Er hörte der berühmten Bonaparte mit den schönen Augen freundlich zu – daß die gefährlichen Menschen zumeist freundlich sind! sagte sich Hortense und dachte unwillkürlich an ihren freundlichen Sohn Louis – Caminer stand höflich vor ihr auf seinen strammen Beinen und hatte schon einen Plan, einen unangenehmen Plan natürlich: Majestät möge an die Herren Söhne einen Brief schreiben oder schreiben lassen, daß sie schwer krank, in irgend einem südlichen toskanischen Grenzort liege, in einem den Herren Rom-Stürmern möglichst nahen Ort, Radicofani zum Beispiel; es sei kaum zu bezweifeln, daß sich die Herren Söhne, bekanntlich gute Söhne, daraufhin von der Front Urlaub nähmen und nach Norden eilten; an der Grenze würden sie dann, statt von der kranken Mutter, von gesunden handfesten Dragonern in Empfang genommen und in die Hauptstadt transportiert werden – das wäre höchst einfach, Majestät. – Hortense sah den roten Mann an: ob vielleicht, von dieser Kriegslist abgesehen, ein Haftbefehl gegen ihre Söhne erlassen sei, möglicherweise laut Verabredung mit der alliierten Doppelmonarchie oder ihrem recht penetranten Florentiner Vertreter? – Caminer lächelte in den roten Bart: wo Majestät hindenke! politische Flüchtlinge werden nicht ausgeliefert, sondern nur, sind sie unbequem, abgeschoben … – Hortense dachte an die nördlichen und östlichen Nachbarländer Toskanas – Oesterreicher überall –, sie begriff schnell und gut die niederträchtige Unterscheidung zwischen Ausliefern und Abschieben, sie dankte der Exzellenz für den freundlichen Rat, sie wolle ihn durchdenken. Sie ließ sich die Hand küssen und ging. Sie war in großer Not. Sie verschaffte sich einen englischen Paß und fuhr über Arezzo nach Perugia. Dort saß sie fest und schrieb Briefe: an den Papst, an Kardinal Fesch, an den Kriegsminister Armandi, den peinlichen Mann, immer wieder an Armandi.

 

Die Provisorische Regierung, von Ferrara und Modena her bedroht, schrie nach Truppen. Die Südarmee des Generals Sercognani erhielt den Befehl, in Eilmärschen dem gefährdeten Norden zu Hilfe zu kommen.

Was geschah mit der quicken Revolution? Man saß angesichts Rom, gewiß, man war seit zwanzig Tagen keine zwanzig Meter weiter gekommen – aber man atmete Rom, man scharmützelte frisch und ungefährlich mit den Römischen; Charles, der leidenschaftlichere Soldat, ritt zwischen Civita Castellana und Nepi, das von den Päpstlichen gehalten wurde, hin und her und gab täglich seine paar Schüsse ab, weil es zum Handwerk gehörte; Louis hielt sich mehr zurück, weil es ihn ein wenig langweilte, aß in Bolsena die berühmten Aale, die schon Dante erwähnte, trank in Montefiascone den Est-est-est, hatte ein kleines Mädchen in Orte, und der junge März leuchtete über den Olivenhügeln. Jetzt sollte man zurück?

Es war Charles, der dem Oberkommando den Gehorsam verweigerte. Louis sagte weder ja noch nein; doch es war ja seine These, daß sie nach Rom gehörten, nicht nach Bologna; auch er blieb. Das Hauptquartier war schon in Foligno. Charles hatte seinen Kriegsplan: im Norden geht Oesterreich vor, gut: wir nehmen Rom. Sercognani zuckte mit den Achseln: das Freiwilligen-Bataillon der Bonapartes zählte 400 Mann und 50 Gewehre. Der General wollte die Prinzen noch nicht hart anfassen; er ließ sie zurück, ging nach Foligno und meldete die Insubordination nach Bologna.

Armandi beantwortete Hortenses Briefe nicht; denn er wollte diese Frau keineswegs im Spiel haben. Gewiß hatte er größere Sorgen, die Dinge standen schlimm; aber die beiden Bonapartes waren nicht die kleinste Sorge. Er fühlte sich für sie verantwortlich und wollte sie vor dem bösen Ende bewahren; aber er hatte kein Mittel, sie auszuschalten, wenn sie bei der Truppe bleiben wollten. Sercognanis Meldung von ihrem eigenmächtigen Verharren an der Südfront war ein Geschenk des Himmels. Jetzt konnte er, der Kriegsminister, eine Strenge anwenden, die die Beiden noch rechtzeitig aus der Gefahrzone des Aufstandes reißen mochte. Er jagte einen Stabsoffizier nach Civita Castellana mit dem Dekret der Provisorischen Regierung: Auflösung des Freiwilligen-Bataillons, Enthebung der Bonapartes von ihrem Posten zugleich mit ihrer Entlassung aus dem Verband der Insurgentenarmee und ihrer Konfinierung in Ancona. (Armandis Plan war, sie von dort aus nach Corfu in Sicherheit zu bringen).

Charles war sonderbar, er wechselte vom Größenwahn zum Kleinmut, im nächsten Augenblick trieb er wieder den Schießsport auf der Landstraße nach Nepi, in den letzten Tagen klagte er über Hitzen und Augenschmerzen, plötzlich auch erzählte er weinerlich von seiner süßen kleinen Frau, die ihn nicht fortlassen wollte. Louis beobachtete ihn beunruhigt.

Der Gegner wurde mit einemmal ungemütlich, ging schroff vor und eroberte Civita Castellana im Nu. Der Auftrieb durch Oesterreich war unverkennbar. Charles galoppierte weinend nach Orte zurück. Er weinte aus Wut über das wendige Kriegsglück, vor Schrecken über den Anblick eines Unteroffiziers, der neben ihm einen Schuß in den Hinterkopf erhalten und den Mund zu einem grausam stummen Todesschrei aufgerissen hatte – und dann weinte Charles vor einer unerklärlichen Angst, die heiß und kalt aus seinem Körper kam. Louis war zur Zeit wieder einmal in Montefiascone, erschien ein wenig betrunken und riet zum weiteren Rückzug, zumal das durchgeschüttelte Bataillon keinen widerstandsfähigen Eindruck machte. Charles hatte entzündete Augen, konnte keine Helligkeit vertragen und benahm sich kopflos. In dem Felsennest Narni, wo die Brücke des Augustus in grandiosen Trümmern über die Schlucht der Nera setzte – allzu heroische Landschaft bedrückt Rückzügler –: in Narni stießen sie auf den Stabsoffizier mit dem Dekret und fünf Lanciers, die die Widerspenstigen zähmen sollten. Das war unnötig. Louis zeigte sich durchaus gefügig: an dem Bataillon sei nicht mehr viel aufzulösen, Absetzung und Ausschluß seien hart, jedenfalls gerecht und vielleicht nicht unwiderruflich, und nach Rimini wären sie früher oder später von selber gekommen. – Ahnte Louis den zutunlichen Kern, der in der rauhen Schale des Dekrets steckte? Vielleicht dachte er an die römische Formel, die ebenfalls die Strenge strapaziert hatte, um Nachsicht zu üben. – Aber übersah er die Lage in ihrer ganzen Schwere? Hatte er schon eigene Pläne für den Fall, daß das Abenteuer böse endigte? – Gewiß war, daß er sich wenig entmutigt und kaum enttäuscht zeigte. Mit Charles, der in eine merkwürdig schweigsame und versponnene Willenlosigkeit gefallen war, brauchte nicht gerechnet zu werden. Charles schien krank.

Da Terni und jedenfalls auch schon Foligno von den Truppen des Kirchenstaates genommen waren, mußte das Tibertal gewonnen und die elende Straße über Todi nach Perugia benützt werden, in ziemlicher Angst vor dem Feind. Die beiden Brüder trugen schon Zivil, selbst die dreifarbige Armbinde mußte auf Befehl des Stabsoffiziers entfernt werden. In Perugia machte Louis den Vorschlag, freundlich und etwas gewunden, ob man sich hier nicht trennen sollte, unter der ehrenwörtlichen Versicherung, daß sie, Charles und Louis, Zivilisten sowieso, über die nahe toskanische Grenze nach Arezzo führen, also auf neutralen Boden überträten. Der Offizier lehnte ab, Befehl sei Befehl. – »Oder,« lächelte Louis, »oder vielleicht kommen Sie gleich mit uns mit, Hauptmann – ich könnte Ihnen einen Zivilanzug von mir geben …« Der Offizier drehte ihm den Rücken.

Charles hatte unheimlich rote Schläfen und wollte die Augen nicht mehr aufmachen.

 

Hortense war acht Tage in Perugia gewesen. Sie wohnte in einem kleinen Gasthof nahe der Porta Santa Croce, um nicht den vielen Engländern, die hinter den Peruginos und Pinturicchios her waren, als falsche Engländerin aufzufallen. Sie wartete auf Nachricht und bekam keine. Sie hörte von dem Rückmarsch der Südarmee durch Foligno, sie eilte hin und kam einen Tag zu spät. Waren die beiden jungen Bonapartes bei General Sercognani? Sie fragte so lange durch die Stadt, bis sie verdächtig wurde. Als sie nach der Ostküste weiter fahren wollte, wurde sie von der Behörde zurückgehalten. Der Paß stimmte und Engländer sind merkwürdige Leute. Leider aber konnte man sie nicht entlassen, weil von Terni her die Kirchenstaattruppen anrückten und die Tore wegen der Spionengefahr geschlossen werden mußten. Hortense eilte zum Erzbischof und entdeckte sich: sie wolle ihre Söhne retten, sonst nichts – sie sei Mutter, sonst nichts. Der Erzbischof, ein gütiger Mann, wußte, daß die Rom-Stürmer noch nicht abgezogen seien, und gab ihr einen Freibrief durch das südliche Operationsgebiet. In Terni meldete ihr der päpstliche Ortskommandant Niederlage und Flucht des Bataillons Bonaparte in Richtung Todi-Perugia. Das höhnische Schicksal machte aus der Revolution der Söhne einen Irrgarten für die Mutter. Hortense weinte und sah aus wie eine alte Frau.

 

Rimini brodelte vor Erregung: der österreichische General Frimont rücke mit 23+000 Mann von Ferrara und von Modena her gegen Bologna, die Provisorische Regierung sei im Begriff, sich nach Ancona zurückzuziehen. Rimini liegt in der Mitte.

Der Stabsoffizier ließ die Napoleons mit zwei Lanciers in einem Albergo nahe der Pescheria zurück. Sein Auftrag war erfüllt, die Pflicht rief ihn in die bedrohte Hauptstadt. Außerdem gefiel ihm der Zustand des Aelteren wenig und er hatte für Komplikationen unvorhergesehener Art weder Zeit noch Beruf.

Charles lag zu Bett, vertrug doch keine Decke, war fiebrig unruhig und hatte eine große Scheu vor Tageslicht. Er hustete auch. »Da schachert er mit Unruhe,« hustete er, »und ich habe sie …« Was hatte er nur? Louis war gelb und mager. Diese Revolution wurde gemach ein Morast, in dem man zu versinken drohte, und Rimini war eine Mausefalle. Man bleibt doch nicht in der Falle, wenn man noch entschlüpfen kann, und nicht im Morast, wenn man genau weiß, wo man den festen Boden gewänne! Er hatte seinen Plan, und es war keiner von kurzer Hand, kein Einfall der Verzweiflung – nein, es war die Ueberlegung auch für diesen Fall des derben Fehlschlags, der Rettungsplan, der älter war als der ganze Unabhängigkeitskrieg und zur Ausrüstung gehörte wie die Zivilanzüge im Feldkoffer. Es war noch nicht zu spät, so bedenklich man im Norden steckte, es stände immer noch nicht ausweglos für sie, wenn dieser arme Rom-Stürmer nicht so böse versagte. Was hatte er nur? Die Röte war von den Schläfen über Gesicht, Hals, Brust und Arme gekrochen, und sah man genauer hin, so waren es winzige rote Pünktchen. Ein Arzt kam, warf einen Blick auf den Kranken und sagte: Masern. – Masern? – Nichts anderes, aber bitte etwas Vorsicht, der junge Mann sei ja kein Kind mehr, also Vorsicht vor Entwicklungen, Neben- und Nachkrankheiten, die für Erwachsene bösartig seien – der Arzt untersuchte: hm ja, Kehlkopf, Luftröhre, nicht so einwandfrei – er verordnete: Ruhe, Ruhe, leichte Decke, kühlendes Getränk, oft Wäsche wechseln, frische Luft ins Zimmer – er wolle morgen wiederkommen.

Masern sind eine Kinderkrankheit, wegen Masern wartet man nicht auf die berüchtigten ungarischen Husaren der österreichischen Avantgarde, wegen Masern bleibt man nicht in der Falle, Ruhe gibt es nicht in Rimini, sondern in Florenz bei der süßen, kleinen Frau, die sich an der etwas lädierten Schönheit des Napoleongesichts nicht stoßen wird; bis Forlì sind es sieben Meilen, von dort ist man im Nu im Gebirge, in Toskana und gerettet, aber Zeit ist nicht zu verlieren: denn wer weiß, ob die Via Emilia in zwei Tagen noch frei ist. Louis war entschlossen und Charles fieberte nach Hause, kalt und heiß vor Sehnsucht. »Sie wollte mich nicht fortlassen …« krächzte er, »Kind tut weh …« und war schon nicht mehr ganz bei sich.

Louis bekam mit je zwei Goldstücken die Lanciers los, die ohnedies keine Lust hatten, wegen der beiden Konfinierten den österreichischen Vormarsch in Rimini aufzuhalten. Sie besorgten sogar einen Reisewagen, und als sie dem Kranken die Treppe hinunter und in den Wagen hinein halfen, trugen sie bereits keine Uniform mehr. »Es fehlen ihnen nur noch die Masern,« scherzte Louis, »und sie könnten ehemalige Bataillonsführer der ehemaligen Südarmee sein.« Charles, den Schulterkragen des Reisemantels hochgestülpt, antwortete nicht; hin und wieder schüttelte es ihn.

Sie fuhren in die Nacht hinein. Auf der breiten, guten, schnurgeraden Landstraße kamen die Pferde schnell vorwärts. Mit ein wenig Glück konnte man in aller Frühe schon in Forli sein und die Pferde wechseln, dann schwenkt man ins Gebirge ab, wird um elf Uhr schon die Grenze hinter sich haben, in Rocca zu Mittag essen, und am Abend kann man bereits in Florenz sein oder doch in Pontassieve, wenn Charles zu müde ist – und man kann das böse Ende vergessen und den guten Anfang in der Erinnerung behalten – und beides, Anfang und Ende, wird ausmünzbar sein, jedes in seiner Art – mit ein wenig Glück … – Wenig Glück – es gibt Menschen, die keinen Einsatz wagen sollen, weil sie kein Glück haben – und mit Verlierern spielst du gern, nicht wahr? und du hast ihn dazu animiert, nicht wahr? und sein einziger Gewinn sind die Masern – armer Teufel … – Louis war schläfrig, die Gedanken schwappten in ihm hin und her wie Wasser in einem unruhigen Gefäß – ja, er war unruhig, der Kopf war ruhiger als das Herz, vielleicht dachte der Kopf falsch und das Herz fühlte richtig, mein Herz ist mir lieber als mein Kopf, mein Kopf denkt bis ins Böse hinein, mein Herz macht da nicht mit, ich habe ein halbwegs gutes Herz, sagte der gute Le Bas, aber einen bösen Kopf, sage ich, und ich bitte das gute Herz, diese schlechten Gedanken totzuschlagen, diesen alten, schlechten Gedanken … – Der Wagen ratterte gleichmäßig, Louis schlief ein. – Er wachte auf, es pfiff etwas im kleinen geschüttelten Wagenraum, es war ein schauriges Pfeifen. »Charles!« schrie Louis, »Charles, was hast du!« Eine sehr heiße, feuchte Hand packte seine suchende Hand, fingerte in entsetzlicher Angst zum Arm hinauf, zur Hand zurück, auf und ab, auf und ab, klammerte sich am Aermel fest, riß am Stoff, fiel ab. Die Wagenlaternen ließen kein Licht nach hinten in das Innere. Louis sah nichts, er hörte nur das Pfeifen und das Rasseln der Atemnot, er tastete nach Charles' Gesicht. Es lag ganz zurück auf dem Rückenpolster, heiß, voll Schweiß, den Mund weit offen, die Zunge in wilder Bewegung. Louis riß das Wagenfenster herunter und hielt den Kopf des Bruders hoch. Die kühle Nachtluft schien ihm gut zu tun, er wurde still. Louis tastete über seine geschlossenen Lider. Er hielt ihn im Arm, sein Haar kitzelte ihn am Kinn, er berührte das Haar mit den Lippen. – Ich liebe ihn ja! beruhigte er sich.

Der Anfall geschah kurz vor Cesena. Louis hatte nicht halten lassen, der Kranke verlangte es ja nicht, die anrennende Luft tat ihm gut und jeder Aufenthalt trieb einen Keil zwischen die böse Nacht und den Tag, der die Rettung bringt, Louis beschwichtigte sich mit den besten Gründen, wie vorhin. Der Wagen lärmte jetzt über das holprige Pflaster des Städtchens. – Wird Charles aufwachen oder, wenn er garnicht schläft, aus seiner stummen Schwäche auffahren und gegen die laute Schüttelfahrt aufbegehren? – Louis drückte ihn an sich und fast auf sich, um mit seinem Körper die Stöße abzufedern. – Ich bin doch gut zu ihm, dachte er. Aber es ist ja, fühlte er, um die Weiterfahrt zu sichern … – Charles rührte sich in seinem Arm. »Florenz …« suchte er schwach die Silben zusammen. Das war wohl eine Frage. »Bald, Charlot,« begütigte Louis, »bald sind wir da.« Charles rührte sich. »Halten …«, stieß er aus der engen Kehle. – Louis umklammerte ihn fester, Charles war schwer und lag auf ihm, Louis schwitzte, aber es war auch Schuldgefühl dabei. – Mein Gott, man kann es auch so auffassen – ich halte ihn, wie er es vielleicht will – aber der Wagen hält nicht, wie er es vielleicht will … Er hielt ihn, mit angespannten Muskeln und geschlossenen Augen: endlich, endlich rollten die Räder wieder über die sandig sanfte Landstraße, ohne Stoß und Lärm. Charles war ruhig. Louis bettete ihn vorsichtig in seine Ecke zurück.

Jetzt kroch der Morgen grau und vorsichtig durch das rechte Fenster, das offen war. Es mochte halb Sechs sein – ein Stündchen noch, und man war in Forli; noch zwei Stunden, und man hatte die Heerstraße mitsamt der geborstenen Revolution hinter sich, den Apennin vor sich, mit ein wenig Glück. – Warum immer das Glück anrufen: du korrigierst doch das Unglück, wenn es das Programm zu stören droht … – Louis quälte sich. Darf man den Kranken durch die Nacht, die ihn würgt, und durch den Tag, der ihn ätzen wird, fort und fort schleppen und ihn festhalten, wenn er ausbrechen will, und es noch Bruderliebe nennen? – Es wurde heller, ein breites Band junges Licht rollte herein. Louis sah den Bruder an und erschrak: Charles' Gesicht war nicht mehr punktiert, sondern gefleckt, mit rotbraunen Inseln und Halbmonden übermalt, die scheußlichen Tätowierungen rannen den Hals hinunter und kamen auf den Händen wieder zum Vorschein. Die Hände hatten Schatten wie die von Madame Mère. Charles fingerte gegen das Licht. Louis zog die Gardine vor den Fensterausschnitt. Das neue Halbdunkel war wohltätig, auch für Louis, der das zerstörte Gesicht nicht mehr deutlich sah.

»Louis, wo sind wir?«

»Schon in Forli, Charlot, und dann …«

»Louis …«

»Was denn, mein armer Indianer?«

»Muß ins Bett.«

»Gewiß, Charlot, heute abend in Montughi …«

»Forli!« unterbrach Charles, und plötzlich weinte er.

Louis umfing ihn wieder; es war das alte Mittel, vielleicht verfing es nochmal. Charles hielt sich ruhig.

Sie fuhren in Forli ein, der Wagen krachte über Pflaster, Charles stöhnte, Louis schrie aus dem Fenster dem Kutscher zu: »Langsamer!« Der Wagen hielt vor der Poststation, der Kutscher sprang vom Bock und begann die Pferde auszuspannen. Charles bewegte den Körper der Tür zu: »Louis …«

»Wir müssen weiter, mon vieux,« flüsterte Louis und preßte ihn an sich.

»Nein!« keuchte Charles.

»Noch ein bißchen Mut!« flehte Louis, »die Oesterreicher …« Er streichelte ihm das Haar. Charles warf den Kopf herum und biß in die streichelnde Hand. »Aussteigen!« krächzte er. »Hier geblieben!«

»Wie du willst,« sagte Louis und sein Kinn bebte. Er befahl dem Kutscher, wieder aufzusitzen und vor einen Gasthof zu fahren: man bleibe. Der Wagen ratterte dem Domplatz zu. Louis schlug dem Bruder den Schulterkragen hoch und setzte ihm den Hut tief in die Stirn, um das Gesicht zu verdecken. Ich bin doch nicht schlecht zu ihm, dachte er.

 

Charles schlief den ganzen Tag. Der herbeigerufene Arzt hatte es eilig, blickte auf den Schlafenden und sagte: Masern. Das wußte man bereits. – Louis ging den ganzen Tag im Nebenzimmer auf und ab, durch die offene Tür sah er den Kranken. – Warum hat er eine Krankheit, die ihn so entstellt und die berühmte Aehnlichkeit besudelt? – Louis blickte fort, er hatte das Napoleongesicht zeitlebens gehaßt, nicht den Bruder; es war häßlich, jetzt die dynastischen Retuschen der Krankheit festzustellen. Louis blickte aus dem Fenster. Die Stadt hatte es eilig wie der Arzt. Der Domplatz quirlte von unruhigem Hin und Her. Die Stadt erwartete die Provisorische Regierung und ihre Armee auf dem Rückzug nach Ancona. Vielleicht waren die Oesterreicher schneller. Man saß wieder in der Falle – und schon hakte sich ein neuer Plan ins Hirn: allein weiter fahren – einem Kranken tut man nichts. – Aber darfst du den kranken Bruder im Stich lassen? Darfst du auch nur daran denken? – Das Zimmer war klein und schmutzig, gelangweilte Passanten hatten auf die Kalkwände Namen und Daten gekritzelt, auch Zahlenkolonnen, über dem Bett hatten sich Liebespaare mit Herzen, Initialen und dankbaren Ausrufezeichen eingetragen. – Wie leicht läuft man Gefahr, lächerlich zu sein, dachte Louis, und den Schutz der Anonymität hat unsereiner nicht und ich sitze in der Falle, die noch offen ist – das ist doppelt lächerlich; denn die Spötter geben keinen Pfifferling für den Anstand und die Politik will Glück oder korrigiertes Glück. Fangen mich die Oesterreicher und geben sie mir, dem Nichtser, einen Tritt in den Hintern zum Land hinaus (wie neulich die römische Polizei), so lacht die Welt zeit meines Lebens, und es wird keine Arenenberger Polstertür geben, die mich vor diesem Lachen schützt: und mein Leben wird an diesem Gelächter eingehen. Fangen mich die Oesterreicher und machen sie mit mir das Drama wie verlautet, so wird man weinen, statt zu lachen, und aus dem Drama eine neue Legende oder eine neue Partei machen: aber ich werde von der posthumen Glorifizierung nichts haben – ich will nicht durch den Tod, sondern durch das Leben wirken – ich will auch nicht, daß die Masern nebenan von meinem Ende an einer Kasemattenmauer oder auf dem Brünner Spielberg profitieren …

Charles rührte sich. Louis ging ins Zimmer. Der Bruder blinzelte durch die roten Lider.

»Das wäre kein Heldentod,« flüsterte er und bewegte auf der Decke den ausgestreckten Zeigefinger hin und her.

»Wer spricht vom Tod, Charlot!«

»Man denkt daran, Louis.«

Louis klopfte plötzlich das Herz. Kam jetzt eine Abrechnung? Er fühlte sich wehrlos, er hatte Angst vor dem Gespräch. »Du darfst nicht so viel sprechen, Charles.«

»In Rimini wäre ich noch gesund geworden, Louis.«

»Hier wirst du es auch, mein Lieber, und ich wollte dich über die Grenze bringen …«

»Dich über die Grenze bringen …«

»Du bist ungerecht, Charles; aber das macht die erhöhte Temperatur.«

»Bist kalt wie ein Fisch, Louis – bist ein Haifischchen …« Charles gluckste, als wollte er lachen.

Er phantasiert vielleicht, beruhigte sich Louis.

»Einen Spiegel,« verlangte Charles plötzlich.

»Aber, Charlot, warum denn? Du bist immer noch ein schöner Mann, und deine Frau …« Louis brach ab; vielleicht war die Erwähnung der kleinen süßen Frau von schädlicher Wirkung. Doch Charles schien es überhört zu haben. »Spiegel!« krächzte er und klopfte mit den Fingern auf die Decke. Louis brachte ihm einen Spiegel. Charles sah sich an und blieb ganz ruhig. Schließlich sagte er: »Jetzt sieh dich an.«

»Ich weiß ja, wie ich aussehe, Charlot.«

Charles winkte widerspenstig mit dem Spiegel. Louis nahm ihn an sich und sah hinein; man soll erregbaren Kranken den Willen lassen. Er sah sein gelbes müdes Gesicht mit der langen und etwas schiefen Nase. Er fand sich häßlich wie noch nie. – Wie ein kleiner Levantiner, dachte er, dem die gestohlenen Felle davon schwimmen. – Er fand sich lächerlich. Er fühlte plötzlich eine große, eine betäubende Hoffnungslosigkeit. – Mit diesem Gesicht – mein Gott, mit diesem Gesicht …

»Der Erbe,« krächzte Charles und gluckste.

Louis ließ den Spiegel sinken und senkte das Gesicht. Charles sog den Atem mühsam aus der Tiefe. Louis zitterten die Knie: er wußte mit einemmal, was der Bruder sagen würde. Es ging ein Stich durchs Hirn, er drückte die Augen zusammen. – Jetzt schont er mich nicht mehr – ein böses Märchen …

»Folgt das Erbteil,« rasselte Charles, »für alle Fälle – daß du's hast und kapitalisieren kannst, Prince Impérial. – Mein Vater, nicht deiner, hat mir eröffnet – bist ein Bankert, mon petit, tut mir leid – mein Vater hat mich ermächtigt, gegen eine Prätendentenschaft des illegitimen Sohnes der Hortense Beauharnais zu protestieren – tut mir leid, mon petit, sind genau seine Worte – ›et sa femme fait de faux Louis‹ – das ist ein Liedchen von 1808 – mein Vater sang es mir vor, mon faux Louis; aber das war weniger schön, Vater unmusikalisch – ich habe nicht schlecht gesungen – allons enfants de la patrie – du weißt, Louis – und ich protestiere, protestiere, protestiere …«


Charles rasselte das eine Wort, immer das eine Wort, bis die Stimme in schwerem Husten unterging; und dann schlug noch die geballte Rechte den Takt des Protestes auf die wild schmerzende und berstende Brust. Louis war in das Nebenzimmer gelaufen, hatte sich auf das Bett geworfen und das Kissen über den Kopf gestülpt, um nichts mehr zu hören – um im Lärm, der außen und innen tobte, sich zu hören. Was hörte er? Sein eigenes Weinen? Oh, er weinte nicht, er hörte alles Zweifelhafte und Zweideutige und Andeutende, das jemals sein scharfes Ohr über seine Abstammung aufgefangen hatte: der Knabe hatte Geflüster der Dienstboten gehört – der Vater hatte in Marienbad rätselhaft gewitzelt – ein Augsburger Gymnasiast hatte Münchner Hofklatsch umher getragen: von Napoleoniden, die keine seien – und ganz fern, ganz fern: der Große N nahm ihn nicht auf den Balkon hinaus, auf irgend einen wichtigen Balkon, nicht ihn, sondern den Protestierenden, und alles vom großen N war vergessen, nur nicht die Abweisung vor der Balkontür – und jetzt, jetzt in Rom: wieder der Vater, der den Satz abbrach, den Satz von der Unterstellung – und dann Madame Mère, die wie ein Papagei vom Recht auf die Bonapartes pfiff: ›du schon garnicht …‹ – und dann in Florenz der Bruder, der ihn noch schonen wollte und ihm die gröbste Nadel ins Fleisch stieß (aber er tat, als fühle er nichts) – ja, und jetzt wollte er ihn nicht mehr schonen, jetzt gab er ihm das Erbteil, jetzt habe ich mein Teil, mit Masern pflegt man nicht zu sterben, als Bastard pflegt man nicht zu erben, im Schwung pflegt man nicht anzuhalten, ich nicht, ich nicht! – Was jetzt? Was hörte er jetzt? Louis warf das Kissen ab. Er starrte auf die Wand. Vor seinen Augen stand: Leone-Rosa, Maggio 21, daneben ein durchbohrtes und flammendes Herz mit vier Ausrufungszeichen. Im Mai 21 starb Napoleone, für die beiden Liebenden war es gleichgültig gewesen, für den Augsburger Gymnasiasten auch? – Nein, o nein, man kannte schon seine Pflicht, wenn auch die Tränen nicht gerade locker saßen. Aber das Zeichen der Verliebten war stumm, und jetzt war alles still. Was hörte er vorhin? Er lauschte. Nein, es war nicht still. Aus dem Nebenzimmer pfiff es. Louis rannte hinein. Charles' Gesicht war vor Anstrengung dunkelrot, so daß die braunen Flecke, Inseln und Halbmonde zurücktraten; sein vorgestreckter Hals war ganz lang und dünn – er rang um Luft. Louis reichte ihm die Hände, die der Kranke gierig packte und knetete. Der Arzt, neuerlich gerufen, gestellt und durch den Namen des Kranken plötzlich um seine Eile gebracht (»Wissen Sie, wer das ist?« hatte ihn Louis angeschrien, als er es zunächst wieder eilig hatte) – der Arzt stellte Masern-Pneumonie fest und verbarg nicht seine Sorge.

Es folgte eine böse Fiebernacht, die ganze Stadt schien krank und verworren. Louis war noch am Abend auf die Ortskommandantur gegangen und hatte sich gemeldet, mit vollem Namen, rücksichtslos gegen sich, so als sei die Zeit für Glückskorrekturen vorbei. Vielleicht beantragte er in seinem Innern so etwas wie ein Gottesgericht gegen sich und sein junges Schicksal. Klappte die Falle zu, dann war er gefangen, gut, dann war es aus, gut, dann mußte es sein. – Aber noch blieb sie offen, überraschend genug, der Kommandant wußte nichts von der Konfinierung der beiden Bonaparte, er war sehr höflich, soweit es die aufregenden Stunden erlaubten. Louis gab ihm ein Billett für Armandi und beschwor ihn, es dem Kriegsminister persönlich zu übergeben, wenn die Provisorische Regierung die Stadt passierte. »Es geht um Leben und Tod, Colonello!« – »Das geht es bei uns allen, Prinz,« sagte der Offizier; aber er verbürgte sich, den Brief an Armandi, der mit den anderen Mitgliedern der fliehenden Regierung heute nacht oder morgen erwartet würde, abzuliefern.

Der Kranke lag hochgebettet, quälte sich, phantasierte, schlug den Takt des Protestes auf die Decke, schlief auch hin und wieder mit lärmendem Atem. Der Arzt saß am Bett und beobachtete den Puls. »Das Herz,« sagte er zu Louis, der im Schlafrock auf einem Sessel saß, nahe dem offenen Fenster, »das Herz ist leider nicht das stärkste und das Herz trägt die ganze Last – poverino – und im übrigen wäre es mir lieber, er hustete mehr und schluckte weniger – ja, und Sie, Hoheit, sollten ins Bett gehen, Sie sehen auch nicht gerade blühend aus.«

Louis winkte ab. Er wollte weder angeschaut noch beachtet werden, er hatte genug mit sich zu tun: jeder Gedanke an sein Gesicht, jeder Blick auf sein Gesicht tat ihm weh. Das Gesicht war wie eine Wunde, es war verletzt von Grund auf, und dieses Leiden am Gesicht war die einzige Aehnlichkeit mit dem armen Zerstörten neben ihm; aber dort war es die Krankheit, hier die erhaltsame Natur des Gesichts: es war nicht nur unschön, sondern auch ungehörig, ein Dokument fremden Blutes, Quittung über die Unterstellung fremden Lebens – nicht einmal eine Fälschung – ach, falsche Louis mußten den echten wenigstens ähnlich sein, um in Umlauf zu gelangen. Ach, er wird nicht in Umlauf kommen oder nur in den Umlauf des Gelächters – und warum hat die Mutter, warum hat die Mutter … – Hier blieb der triste Gang der Nachtgedanken stehen, kehrte um und war wieder bei dem Kranken.

Auch die Stadt war krank und warf sich unruhig hin und her. Durch das Fenster drang das laute Fieber der Masse, die, auf dem nächtlichen Domplatz hin und her geschüttelt, keine Ruhe und keinen Ausweg fand. Es war ein großes Fieber allerorten, es wurde heftiger, je später es wurde, neben ihm und auf der Piazza. Charles begann einen heiseren wilden Wortwirbel des Protestes, die Stadt begann zu schreien – Louis hielt sich die Ohren zu und schloß auch die Augen. Der Arzt ließ den Kranken zur Ader; und durch die große Straßenader, die als städtisches Stück der Via Emilia von Nordwesten nach Südosten lief, vorbei am unteren Domplatz, rollte der neue Lärm an, erwartet und seltsam traurig. Charles war still, die Piazza war still, Louis hob den Kopf. Er hörte den trockenen Trauermasch des beginnenden Rückzuges: Pferdegetrappel, Marschtritt, Räderrollen, Marschtritt, Pferdegetrappel.

Charles und die Piazza blieben still, wie betäubt. Die Brust des Kranken ging kurz und schnell auf und ab, auf dem Platz irrlichterten Laternen – das waren die Zeichen von Leben. Der Arzt war jetzt nicht mehr zu halten, versprach sich für morgen vormittag und empfahl sich. Der kleine runde, rollende Mann trieb zum Platz, dem anderen Patienten. Louis schlief im Sessel ein. Er träumte wirr, böse und hoffnungslos – aber dennoch, er fühlte es, küßte ihn jemand auf die Stirn.

Wie er aufwachte, beugte sich Armandi über ihn. »Mich auf die Stirn …« sagte Louis wirr. Es sollte eine Frage sein. – »Mein armer Freund,« flüsterte Armandi, der verändert aussah, übermüdet und durch die Aufregungen älter. – So spricht der Kriegsminister mit einem Degradierten, ging es Louis durch den Sinn. Armandi fragte leise und hastig nach der Krankheitsgeschichte, man merkte, daß ihm die knappe Zeit im Nacken saß. Louis antwortete leise und hastig, noch nicht ganz bei sich. – Lebensgefahr? – Mein Gott, Lungenentzündung … – Transport unmöglich? – Unmöglich! – Was tun? – Louis hob die Schultern.

Armandi schüttelte den Kopf. »Uebrigens,« sagte er, »Ihre Mutter sitzt auf der Suche nach Ihnen Beiden in Spoleto bei dem Erzbischof, einem apostolischen Geist scheinbar; denn er schickt ihre Briefe durch Parlamentäre zu uns. Man wird sie unterrichten müssen.«

»Gewiß,« sprach Louis müde.

»Soll ich sie bitten, herzukommen? Man wird sie durch die Linie lassen …«

»Aber nicht durch die oesterreichische,« unterbrach Louis beinahe heftig; »sie nützt hier nichts und gefährdet sich nur.«

»Was sind Sie für ein guter und tapferer Mensch!«

»Ich?« rief Louis und fuhr aus dem Sessel. Es war ein lauter Ruf. Nebenan bewegte sich Charles. Armandi legte den Finger auf den Mund. Louis ließ sich zurückfallen.

»Ihr seid hier stecken geblieben?« flüsterte Armandi an seinem Ohr.

»Ja.«

»Ihr wolltet nach Toskana übertreten.«

»Ja.»

»Jedes Schlechte hat sein Gutes, Prinz, ihr wäret verhaftet worden, ich weiß es, und als lästige Ausländer abgeschoben – nach Modena …«

Louis legte die Hand auf die Stirn. – Freue ich mich noch über diese Kehrseite des Unglücks? fragte er sich. Dann sagte er: »In Forli werden es die Oesterreicher noch einfacher haben.«

»Sie dürfen natürlich nicht hier bleiben, Prinz.« Louis zeigte kurz zum Kranken hin. »Ich will wenigstens Sie mitnehmen, Prinz. Von Ancona schaffe ich Sie nach Korfu – das war ohnedies mein Plan für Sie beide und für Ihre Mutter auch.«

Louis preßte die Augen zusammen. »Was Sie ihm helfen können, Prinz, vermag ein Barmherziger Bruder auch oder noch besser. Und Sie haben beinahe die Pflicht, an sich zu denken, an Ihre Berufung, an Ihren Namen …«

»Ich bleibe!« unterbrach Louis verbissen, »es ist selbstverständlich. Ich bleibe bei Charles.«

Armandi nahm seine Hand. Louis wandte das Gesicht ab. »Louis,« flüsterte der Kriegsminister, »da darf ich Ihnen nichts befehlen, da wird Ihnen der liebe Gott helfen. Sie sind ein Held …«

»Hören Sie doch damit auf!« bat Louis gequält.

Armandi sah ihn an, demütig und bewundernd. Louis' magerer Körper verschwand in dem weiten Schlafrock. Aus dem kleinen gelben unrasiertem Gesicht fuhr die Nase, groß wie noch nie, und die Aeuglein gingen nicht mehr auf.

»Wie schlecht Sie aussehen, Louis, um Gotteswillen …«

»Ach, das sind nur die Stoppeln,« wand sich Louis, »ach Gott, der Held läßt sich einen Bart stehen …«

Der Adjutant trat ein und drängte zum Aufbruch.

Der Kriegsminister küßte den Prinzen Louis ein zweites Mal auf die Stirn.

 

Noch ein Tag und noch eine Nacht: durch Forli rollte der Rückzug, dann hörte er auf. Charles stöhnte den Berg zur Krise hinauf. Louis sprach kaum ein Wort, er hielt still und wartete auf das Ja oder Nein des Schicksals. Er nickte dem Arzt zu, wenn er ging oder kam. Der Arzt ließ den Kranken Essig riechen und verbrannte auch Essig im Zimmer. Das war eigentlich alles, was er tat. Aderlässe wagte er nicht mehr. Auch er sprach nicht viel, nur etwas gewundene Bemerkungen wie diese: »Ich wünschte, ich wäre mit den Masern unzufriedener und mit der Lunge zufriedener.«

Noch ein Tag und noch eine Nacht: durch Forli klapperten Pferdehufe. Die Piazza flüsterte: »Die Ungarn! Die Husaren!« und war im Nu menschenleer. Louis schloß Laden und Fenster. Die Nacht hindurch tobten ungarische Offiziere in dem Albergo. Der Arzt bat um Ruhe: siehe, man war ruhig. Die Offiziere schickten eine Flasche französischen Cognak für den Kranken und waren am Morgen fort. Auch die Husaren waren fort. Louis schüttelte den Kopf mit den Bartstoppeln. – Mein Stern, irgendwo über den Wolken mein Stern!

Die Male der Masern wichen. Charles wurde ein eingefallener bläulicher Napoleon. Louis stand am Bett und weinte. Charles öffnete ein Auge und hauchte ganz ohne Stimme: »Tut mir leid.« Er protestierte nicht mehr, er sagte auch nicht: »Bankert,« wie oft im Fieber. Er machte eine schnappende Bewegung, durch den ganzen Körper ging noch eine heftige Welle der Auflehnung, durch den Körper ging ein Zittern, durch den Körper ging das Nichts, die Glieder vereisend und das Kinn herabdrückend. Der Arzt sagte, er sei tot. Louis ging in sein Zimmer, warf sich aufs Bett, aber er weinte nicht mehr. Er horchte wieder. Er hörte sein Herz schlagen, rasch und stark. Als er die Leiche wieder sah, war sie bereits rasiert, gewaschen und umgekleidet. Charles trug wieder Uniform. Man hatte ihm auch die Kotelleten abgenommen, irrtümlicherweise. Er sah streng, knochig und schaurig aus. Es war, als sei Napoleon hinter der Brücke von Arcole an Lungenentzündung gestorben. Louis wandte sich ab.

Das war am 27. März. Am gleichen Tag unterschrieb der Präsident der Provisorischen Regierung die Akte der Unterwerfung unter die päpstliche Macht. Das Fieber war erloschen, die Kirche vergibt immer, Oesterreich nie.

 

Magie der Geduld

Oesterreich rückte weiter vor. Die Maschine, einmal in Bewegung, war schwer zu bremsen. Wien wollte auch nicht bremsen. Die Revolution hatte ja nicht allein den Kirchenstaat bedroht, sondern auch die österreichischen Provinzen und Sekondogenituren in Italien. Man konnte auch im alliierten Kirchenstaat Hochverräter und Attentäter gegen die Monarchie den eifrigen Feldauditeurs überliefern, und Rom hatte sehr dankbar und still zu sein. – Auf der Proskriptionsliste ständen leider auch die beiden Prinzen, sagte der Kardinallegat zur Königin Hortense, die mit ihm nach Ancona gefahren war, und er müsse sie dringend warnen, sich des Schutzes des Hauptquartiers zu begeben und weiterzufahren. Doch Hortense hatte schon Armandi gesehen und gesprochen – der peinliche Mann, immer mit Unheil bepackt, so oft er in ihrem Leben auftauchte, war jetzt ein besiegter und erledigter Mann, gut, aber er hatte für sie die Unglückslast mitgebracht und lud sie ab, er berichtete bewundernd und demütig von Forli, von Charles' Krankheit und Louis' Heldentum. – Ach was nützt Heldentum und Bruderliebe, wenn ihn die Maschine packt! Hortense reiste weiter, eine verzweifelt mutige, unsinnig mutige Frau, und kämpfte gegen die Maschine mit ihrem falschen englischen Paß.

 

Zwischen Wiener Deutschmeistern, Tiroler Kaiserjägern, Artillerie und Train schwamm ein zweirädriger Karren mit einem sanften Eselchen, einem alten glattrasierten Bauern, der umsichtig und pfiffig lenkte, und einem jungen stachelbärtigen, langnasigen, gelb und elend aussehenden Bauern auf der Via Emilia, von Forli nach Cesena, von Cesena nach Rimini, langsam und unschuldig. Wenn die Straße verstopft war, wartete man geduldig; wenn man die Straße frei machen mußte, fuhr man ins Feld; man aß und schlief im Karren, der Junge sprach kein Wort, der Alte sang und pfiff und sprach mit sich selber, man kam vorwärts, langsam und unschuldig, dem Eselchen tat die Kriegsmaschine nichts zu Leide.

Louis hockte neben dem Alten oder lag auf dem Stroh unter der gewölbten roten Plane, schweigsam, nachdenklich, im Anfang noch unruhig, wenn er rechts und links, vor sich und hinter sich die Weißröcke sah, dann tief erstaunt über die unerschütterliche Huld des Schicksals, immer ruhiger, auch – und er fühlte wie noch nie das Geschenk des lieben Gottes: Reichtum an Geduld, einen Vorrat an Geduld, der viel zu groß war, um allein für diese endlose Straße zu gelten. – Ich kann warten, ich kann warten, und es wird alles gut gehen; denn es muß einen Sinn und ein Ziel haben, daß ich mit solcher Sicherheit geduldig sein kann – geduldig und geduldet: das Schicksal ist ja auch geduldig zu mir. – Louis fühlte sich körperlich nicht einmal gut, er hatte Gallenschmerzen, wie immer nach starken Aufregungen; vielleicht würde er auch wieder Gelbsucht bekommen: aber er wurde immer zuversichtlicher, schaukelte langsam weiter, sah die rote Leinenkuppel über sich oder die Kruppe des sanften Eselchen vor sich. – Eselchen, Karren und Lenker: Louis rollte im Gleichnis der Geduld.

Man kam vorwärts. In Rimini war das Oesterreichische Hauptquartier; so wurden Einfahrt und Ausfahrt ziemlich scharf kontrolliert. Aber das Eselchen schlüpfte unschuldig durch die Porta Bologna in die Stadt hinein und durch die Porta Romana aus der Stadt heraus. Das Eselchen trippelte an einem Reisewagen vorbei, der nach Rimini hinein wollte, augenscheinlich aber nicht hinein kam. Ein österreichischer Offizier beugte sich durch den offenen Schlag ins Wageninnere, sagte abwechselnd: »Mi dispiace!« und »Bedauere lebhaft!« und selbst sein breiter Rücken sah unnachgiebig aus. Drinnen betonte eine erregte Frauenstimme auf deutsch, italienisch und französisch, daß sie Engländerin sei. Louis fuhr auf – das Eselchen war schon vorbei. – Sollte er wieder an der Mutter vorbeifahren, hatte er ihr immer noch auszuweichen, durfte er sie nach Forli irren lassen, daß sie dort nichts finde als das Grab, oder es nicht einmal fände, weil es wegen der Oesterreicher nur ein stummes Holzkreuz trug, keinen Namen? – Louis legte dem Alten die Hand auf den Arm: »Ferma!« Der Bauer hielt, Louis stieg aus, trat in den Schatten eines Vorstadthäuschens und wartete. Die Debatte zwischen Hortense und dem Wachhabenden dauerte lange. Schließlich hatte der Offizier genug, trat zurück und ging, dem Kutscher ein ungeduldiges Wort zuwerfend, zur Torwache. Der Reisewagen machte langsam und störrisch kehrt. Louis kam näher. Doch es erschienen zwei Dragoner, ihre Gäule führend und jetzt aufsitzend: wahrscheinlich die Zwangseskorte für die abgewiesene Engländerin. Louis schlenderte zu seinem Karren zurück, stieg auf und bat den Alten, die Fahrt fortzusetzen. Ein Eselchen trippelt langsam, der Reisewagen zwischen den beiden Dragonern holte bald den Karren ein – man hatte sie schon hinter sich, der Alte wollte demütig an den Straßenrand fahren. »In der Mitte bleiben!« befahl Louis. »Nicht vorfahren lassen!« Der Alte blinzelte ihn verwundert an und blieb in der Straßenmitte. »Via! Via!« schimpfte hinten der Reisewagenkutscher, ein Dragoner pretschte schimpfend neben den Karren; aber er schimpfte wienerisch und machte auf den Alten, der mit kunstvollen Lenkmanövern die Schuld an dem Vorfall auf das Eselchen übertrug, wenig Eindruck. Louis sprang ab und drängte das verwunderte Tierchen mit Not und Mühe und reichlichem Zeitaufwand beiseite. – Warum blickt sie nicht aus dem Wagen? fragte er sich. Er stand neben dem Eselchen, der Reisewagen fuhr ganz nahe an ihm vorbei, Hortense saß in einer Ecke, das Taschentuch vor dem Gesicht, Louis wagte kein Wort und keine Bewegung, weil der andere Dragoner unmittelbar hinter der Kutsche ritt. Die Mutter rollte vorbei, die Mühe war vergebens gewesen, das Eselchen trippelte hinterher, der Alte schüttelte den Kopf, Louis dachte geduldig: wenn nicht hier, dann in Pesaro oder in Ancona oder in Korfu – die Route für uns beide ist ja vorgezeichnet.

Die österreichischen Vorposten hielten den Engpaß von Cattolica, hier trennten sich befehlsgemäß die Dragoner von der Engländerin. Der Wagen fuhr noch eine halbe Stunde weiter über die Vorhügel des Appennins, der hier bis ans Meer tritt, und blieb wieder störrisch stehen. Hortense wollte umkehren, um aufs neue gegen die Maschine anzurennen, der Kutscher verweigerte den Gehorsam, Hortense machte immer höhere Angebote, des Kutschers Widerstand schmolz langsam, er wendete – aber nach hundert Metern sank wieder der Mut: »Ein Wahnsinn, Signora!« Hortense ersteigerte den Rückweg hundertmeterweise. Und schließlich kam das Eselchen, zierlich bedächtig und unschuldig. »Ferma!« befahl Louis, als er den Reisewagen entdeckte. Nicht daß er ihn wiederfand: daß die Mutter aufs Neue gegen die Oesterreicher rollte, erstaunte ihn. – Was für eine wundervolle Frau! dachte er voller Liebe, und er vergaß das Gesicht, das sie ihm gegeben hatte, den falschen Louis, den sie in Umlauf gesetzt hatte.

Der Kutscher des Reisewagens schaute betroffen und ängstlich auf den stachelbärtigen Bauern, der vom Karren sprang und auf ihn zukam. Da der Karren von den Oesterreichern kam, war Vorsicht geboten: der Kutscher hielt an, wie Louis nur die Hand hob.

Louis trat an den Schlag und steckte den Kopf in den Wagenkasten. Hortense fuhr zurück; dann machte sie die großen Augen und flüsterte: »Mon Dieu – toi …« Mehr sagte sie nicht, sie nahm sich zusammen. Sie dachte an den Kutscher, sie hielt sich am Fenstergurt fest, sie fiel ihm nicht um den Hals. »Chéri …« flüsterte sie.

Louis lächelte.

»Allein?« flüsterte sie.

Louis nickte und preßte den Mund zusammen.

»Und er?« flüsterte sie.

Louis schüttelte langsam den Kopf.

Sie sah ihn an, sie versank in ihn. – Sie weint nicht einmal um ihn, dachte er.

»Armer …« flüsterte sie.

Wer ist arm – ich? nein, der Tote – Louis kniff abweisend die Augen zusammen.

»Pesaro!« sagte er und trat zurück. Sie nickte. Louis ging zu seinem Karren.

»Pesaro!« befahl Hortense dem Kutscher, der erleichtert nickte und mit dem Wagen kehrt machte.

Die Kutsche fuhr langsam voraus, das Eselchen trippelte hinterdrein.

 

Später, in Pesaro, in einem kleinen Gasthof zwischen der Kirche San Francesco und der Porta Fano – diese immergleiche Albergo-Kammer! dachte Louis, als ob sie mit mir herumzöge wie ein Alp dieser Revolution – später weinte Hortense auch um Charles; aber es war das Napoleon-Weinen von Anno 21, Louis kannte es noch, doch er weinte es nicht mehr mit. »Für den Vater wird es am schlimmsten sein,« sagte sie schließlich, ruhig und ehrlich.

»Ja,« nickte Louis, er konnte sie plötzlich nicht ansehen und wiederholte ihren Satz mit einer winzigen Korrektur: »für seinen Vater wird es am schlimmsten sein.«

Jetzt war die Stille so groß, wie noch nie zwischen ihnen. Sie schauten sich nicht an. – Er weiß es, dachte sie unter den Schlägen des Herzens und zitterte vor seinem nächsten Wort. Er fühlte ihre Angst. – Was hat mein böser Kopf für einen bösen Mund! dachte er. Dann hob er das Gesicht und lächelte sie an, ihre Hände streichelnd.

 

Louis wollte in Pesaro zwei Tage das Bett hüten, um die Gelbsucht los zu werden, ehe sie ihn kräftiger packte. Doch schon am folgenden Morgen sahen sie Weißröcke durch die Porta Fano nach Süden marschieren. Sie reisten weiter, die Engländerin im Wagen, der Bauer im Karren. In Ancona würden sie ein Schiff nach Korfu finden, Armandi habe es gesagt und sei zuverlässig, und er, Louis, sei zuversichtlich.

»Armer Junge,« meinte Hortense, »was für Enttäuschungen!«

»Enttäuschungen?« fragte Louis und hatte undeutliche Augen.

Von dem Fenster ihres hochgelegenen Albergo nahe San Domenico sahen sie die österreichischen Kreuzer, die den Hafen von Ancona blockierten und auf die Schiffe mit flüchtenden Rebellen Jagd machten. Armandi bestätigte ihnen die Unmöglichkeit, über die Adria zu entkommen, und fügte hinzu, daß jetzt auch der österreichische Gesandte in Rom, der Mutter und Sohn sehr gut kenne und ein sehr böses Gesicht mache, wenn man vom Sohn spreche, im Hauptquartier sei, daß die militärische Besetzung von Ancona eine Frage von Stunden sei und daß der Kardinallegat selber die Königin bitte, mit seinem Schutz nicht mehr zu rechnen und die Stadt lieber heute als morgen zu verlassen.

»Es ist bald wie Anno 15,« lächelte Hortense schmerzlich.

»Geduld,« sagte Louis, »wir kommen durch.«

»Wohin?« fragte die Mutter. Der Sohn hob die Schultern. Er reiste als ihr Diener. Der Stachelbart war verschwunden, ein Kinnbart und ein Schnurrbart mit dünngedrehten Enden blieben. Hortense nahm das fremde Gesicht für die neue Fluchtmaske, der Rolle etwas sonderbar angepaßt. »Es gibt zwar unrasierte Bauern, Louis,« meinte sie, »aber wenig Diener mit Spitzbärten.« – »Laß nur den Bart, Mutter,« antwortete er. Er war sehr gelb. Er saß auf dem Bock neben dem Kutscher, und Hortense nannte ihn Jean. Es regnete viel. Macerata, Camerino, die Abbruzzen – es war der Weg, den die quicke Revolution genommen hatte, um Rom zu erobern. Louis dachte daran und wie hier und dort sein Bruder mit der dünnen, hübschen Stimme die Marseillaise gesungen hatte, zur Steigerung des kriegerischen Vergnügens. – Gab es einen Augenblick, wo er sich den Tod des Bruders gewünscht hatte? Ehrlich, Louis, ehrlich! – Vielleicht in Florenz, als ihm Charles nicht die Revolution gönnte und sich ins Hausmärchen drängte, in einem winzigen Augenblick des Hasses – nein, es war kein Wunsch, es war eine Spekulation mit möglichen Zwischenfällen, – nein, es war schon die schwarze Magie der Geduld, die den Weg von den Ungeduldigen frei macht. – Es scheint nicht ratsam, auf meinem Weg zu sein, dachte er – und plötzlich sprang der Gedanke auf den Wiener Vetter – Louis schüttelte sich. »Ich müßte drei Tage Bettruhe haben,« sagte er zur Mutter, »sonst liege ich ernstlich auf meiner großen Nase.«

Hortense sagte: »Also bleiben wir bei Mastai. Wenn einer uns helfen kann, ist es Mastai.«

»Wer ist Mastai?«

»Der Erzbischof von Spoleto, ein großer Mann und ein gütiger Mann, ich habe es erfahren dürfen.«

Der Erzbischof half. Er ließ die Flüchtlinge in den Gästezimmern seines Hauses wohnen und schickte dem erkälteten und gelbsüchtigen Carbonaro-Prinzen seinen Leibarzt. Louis mußte acht Tage das Bett hüten, vom Bett aus sah er den schlanken schlichten Glockenturm des nahen Doms und rechts dahinter auf dem Felsen die Rocca, die Festung, die böse drein schaute und sich boshaft in seine Träume mischte; und inzwischen kamen die Oesterreicher auf der Linie Camerino-Foligno-Perugia heran. Mastai hatte blanke gute Augen und ein immergutes Lächeln um den großen, klugen Mund. Er gab der Königin Hortense, der das Geld ausgegangen war, einen beträchtlichen Betrag für die Weiterreise, stellte Mutter und Sohn einen erzbischöflichen Wagen zur Verfügung und gab ihnen einen päpstlichen Offizier mit, der sie durch die österreichischen Linien und durch Toskana an die ligurische Küste bringen sollte. Louis küßte ihm die Hand. »Danken Sie nicht mir, mein Sohn, sondern der Kirche, unser aller Mutter,« sagte Mastai sanft und klug, »und vielleicht wird es Ihnen gut tun, auch Ihren politischen Ambitionen, wenn Sie über die Dankbarkeit nachdenken; denn dann werden Sie dankbar bleiben.«

»Eminenz,« lächelte Louis, »ich habe gelernt, geduldig zu sein und auf Gottes Güte zu hoffen; und Ihre gütige Person ist schon eine Erfüllung.« Er dachte dabei: ich werde nicht über die Dankbarkeit nachdenken – das verwirrt –, sondern über diesen Mann, dem die noch größere Zukunft aus den Augen leuchtet: ich werde mir den Namen Mastai merken.

Der Erzbischof dachte: ich werde mir diesen charmanten Undankbaren merken und es mir niemals verargen, daß ich zu ihm gutmütig war. –

 

Es ging alles gut, der erzbischöfliche Wagen war ein Stück rollende Exterritorialität, die Oesterreicher salutierten, die toskanischen Grenzsoldaten salutierten, der päpstliche Schutzoffizier fand nirgends Schwierigkeiten, nicht einmal zurückzuweisende Neugier auf die Insassen, Siena durchfuhr man vorsichtigerweise in den Abendstunden, Florenz blieb weit im Osten, denn man fuhr wohlweislich über Empoli-Lucca, bei Pietrasanta sahen sie die Grundmauern der Sommervilla, die sich der arme Charles bauen ließ – Hortense zeigte Tränen in den Augen, die den Schutzoffizier zu artigen Sätzen des Beileids veranlaßten; Louis wandte sich ab und dachte an die süße, kleine Frau, die ihren Mann nicht fortlassen wollte, und noch im letzten Fieber hatte sich Charles mit ihrer Ahnung gequält – ach, stecke ich auch in ihrem Unglück? – In Spezia war Mastais gute Tat getan, der Schutzoffizier verabschiedete sich mit freundlichen Wünschen, der Schutzwagen fuhr zurück: man war in Piemont.

Und jetzt? Piemont war die Wiege der italienischen Revolution; aber die Revolution war mißlungen, man durfte die Besiegten bedauern, doch man durfte sie nicht feiern. Der österreichische Thronfolger hatte eben eine der Zwillingstöchter Viktor Emanuels geheiratet, Metternich war auch hier der starke Kontrolleur, Vorsicht auch hier am Platze – und zur Vorsicht gehörte der englische Paß und Louis als Diener. Sollte man versuchen, quer durch das erregte Land, dem Metternich ein österreichisches Hilfskorps aufdrängen wollte, an die Schweizer Grenze zu gelangen? War nicht der Große St. Bernhard mit Sicherheit noch unpassierbar und der Simplon mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit?

»Wir reisen durch Frankreich,« entschied Louis.

»Aber die Lex Bonaparte!« wandte Hortense ein.

»Wir fliehen vor Oesterreich,« lächelte Louis, »also vor dem gebrochenen Nichtinterventionsprinzip. Das sollte uns die berühmte französische Großmut in hohem Grade einbringen. Außerdem umfangen wir Louis Philipps dicke Beine. Wenn er dumm ist, schüttelt er uns ab: das wäre für gewisse Ideen, die ich habe, von großem Vorteil. Wenn er großzügig ist, hebt er für uns die Lex Bonaparte auf: das wäre erst recht gut. Und schließlich habe ich in Frankreich Freunde, mit denen ich zu sprechen hätte.«

Was ist das für ein Mensch? fragte sich Hortense. Ein Besiegter, ein Abgewiesener, ein Flüchtling, ein durchgefallener Verschwörer, ein politischer Debütant von tragikomischem Mißerfolg: und diese stille Selbstgewißheit, Zuversicht, die recht behielt, denn man war durchgekommen – diese souveräne Art, sich Enttäuschungen vom Leib zu halten, ja, auch Leid von der Seele – diese Widerstandsfähigkeit des politischen Triebes, der jetzt ganz wie von ungefähr nach Frankreich überwechselte! »Louis, mein Kind, hast du noch nicht genug?«

»Genug?« fragte er zurück, sehr erstaunt den Kopf schüttelnd, »genügt dir das, was war? Hat der Hungrige genug, wenn er noch nichts gegessen hat? Genügt ein Ausgleiten, um die Lust am Gehen zu verlieren?«

 

Genua-Nizza, der April sonnte sich in der süßen Landschaft, die immer wieder ins Meer lief und zurück wich, Kaps, Buchten, weiße Häuser, Blumen, Blumen, auf und ab die biegsame Straße, die Grenze hinter dem sardinisch-piemontesischen Nizza (»Nizza heißt Nice und müßte wieder Frankreich gehören,« sagte Louis) – die Engländerin mit Diener und Kutscher überschritt die Grenze, Frankreich, Frankreich! Ach, der Vierblattklee von Arenenberg: wie stiehlt man sich ins Land hinein, wie lügt man sich hinein – wie wird man sich hinausstehlen und hinauslügen müssen! Cannes. Hier ging der Elba-Kaiser an Land; er stahl sich nicht hinein, aber er mußte sich nach hundert Tagen hinausstehlen. – Toulon. Toulon? Hortense zog die Stirn zusammen. Die Nacht damals, Augustnacht, Lügennacht, Kampf mit dem Krüppel, bis er bei ihr im Bett lag – was war ich für eine Frau, was wundere ich mich über diesen Sohn, um den ich damals kämpfte und seither kämpfte und jetzt nicht mehr zu kämpfen brauche; denn er besorgt es selber und wird es besser machen als ich. – Man könnte hier übernachten, schlug Louis vor. – Nein, o nein! – Warum nicht? – Böse Erinnerungen. – Louis lächelte: »Das würde mich nicht stören.« – Marseille. Louis war oft fort, er schien hier viele Freunde zu haben, Besprechungen, vielleicht neue Verschwörungen. »Was sind das eigentlich für Freunde?« fragte sie schüchtern. – Ach, natürlich nur politische Freunde, Carbonari, Zentrale der italienischen Emigranten. – Sie betrachtete ihn: »Dein Bart fällt doch hoffentlich bis Paris, Louis.«

»Warum denn, Mutter?«

»Der Bart macht dir ein fremdes Gesicht.«

»Sagen wir: ein neues Gesicht – vielleicht hat es seinen Sinn.«

»Kein napoleonisches Gesicht.«

»Und ohne Bart, Mama?«

Sie wich aus: »Die Bonapartes tragen keinen Bart, Louis.«

Er lachte: »Gewiß; aber jetzt beginnt die Zeit der bärtigen Bonaparte – aus Dankbarkeit für den italienischen Fluchtbart …« Er wurde ernst. »... und Charles hat man für das Grab ganz glatt rasiert, Mutter.«

Sie schwieg. – Ich bin jetzt ganz wehrlos gegen ihn, dachte sie.

 

Am 1. Mai fuhren sie durch die Porte d'Italie in Paris ein. Wann ist Paris schöner? Die Bäume der Place d'Italie flirrten vor hellstem Grün, der hellblaue Himmel hing leichtsinnig über dem Tumult des Bastilleplatzes und riß den muffigen Häusern die Fenster auf, die Rivoli strahlte vor Sonne, lautem Leben und guter Laune. Hortense war sehr erregt, von Erinnerungen belagert, von guten und schlechten, und in den Lücken saß die Angst vor dem eigenen Mut, nein, vor dem Mut des Sohnes. Louis, neben ihr, lachte glücklich und bewegte die großen Nasenflügel, als atme er den Glanz dieser Stadt mit ihrer linden Luft. Der Wagen bog in die Castiglione, das umhütete Juwel des Vendôme-Platzes zeigte sich. Dort, im Hotel de Hollande, stiegen sie ab. Das große und offene Spiel begann sofort, man schrieb sich ein: S. M. Hortense, Reine de Hollande – Le Prince Louis Napoleon, A. I. – Aus dem Hotel flatterten die großen Namen wie große Fahnen.

Louis setzte sofort das Handschreiben Hortenses an den König auf, eine höfisch demütige Phraseologie der Erbarmungswürdigkeit. Hortense schrieb es ab; sie stockte: »Aber du bist doch nicht mehr krank, Louis.« – »Nein, Mama; doch da ich nicht weiß, wie lange die Pariser Zeit dauern wird, habe ich zunächst keine Zeit für die Sentiments. Du mußt mir also die Kniefälligkeiten abnehmen.« Hortense schrieb weiter und schickte das Gesuch durch den sehr geschmeichelten Maître d'Hotel, eine Botschafterphysiognomie, in die Tuilerien. Zwei Stunden später kam ein Flügeladjudant des Königs und bat sie ins Schloß. Louis lag zu Bett, Hortense richtete es ein, daß der Offizier einen Blick in sein Schlafzimmer tun konnte. Als der königliche Wagen mit ihnen abrollte – es standen schon Neugierige auf dem Platz –, erhob sich Louis und bestellte für sich einen Wagen. Er stieg ein, ein bärtiger dünner junger Elegant, einige Leute klatschten, er dankte betroffen.

Der König empfing Hortense ohne Zeugen, wie sie es erbeten hatte. Das war ein gutes Zeichen. Der König begrüßte sie äußerst höflich, er kam ihr bis zur Vorzimmertür entgegen und küßte ihr die Hand. Hortense sah gut aus, verjüngt durch die Erregung des Augenblicks, ein wenig befangen oder nicht einmal völlig bewußt nach den Waffen greifend, mit denen sie einst die Männer besiegte. Sie riß hinter dem Schleier die berühmten Augen auf und fühlte, daß sie weinen könne, wann immer sie wollte. Sie begann ziemlich dramatisch: sie wisse, sie habe das Gesetz überschritten, er wisse, daß sie es nur getan habe, um den Sohn zu retten; er habe das Recht, sie verhaften zu lassen – ce serait juste. – Louis Philipp war sehr gutmütig und sehr klug. – Welche niedliche Dialektik, nachdem ich sie empfangen und ihr die Hand geküßt habe, dachte er. Um nicht zu lächeln, drückte er aus dem Fleischkissen des Doppelkinns ein drittes Kinn heraus und sagte gemütlich: »Juste, non; légal, oui.« – Soll ich jetzt weinen? fragte sich Hortense; und weil sie nichts Besseres wußte, weinte sie ein wenig. Der König, der Tränen nicht sehen konnte, tat, als sähe er sie nicht. Er faltete die Hände gegen den Bauch und redete gegen das gedunkelte Gold der Kasettendecke. Er sprach sehr gütig und recht unverbindlich. Das war seine große Kunst. Er war ein gefürchteter Rhetor des Unverbindlichen, seine Rede plätscherte sanft und lau und unaufhörlich, bis die Hörer benommen und ganz zufrieden in ihr ertranken. Paris kannte das, Hortense nicht. – Er kenne das Leid des Exils, wer besser als er? er fühle mit ihr mit und es liege nicht an ihm, daß sie sich noch als Verbannte betrachten müsse; doch er wolle zusehen, was zu tun sei, er wolle sich gleichsam zu ihrem Geschäftsträger machen; er sei überzeugt: man werde sich gewöhnen, sie und ihren ebenso tapferen wie bedauernswerten Sohn in Frankreich zu sehen – und nehme man zum Beispiel an – es ginge ihm gerade durch den Kopf –, daß sich der Herr Sohn einen anderen Namen zulege, so würden die Schwierigkeiten sich rasch verringern … – So ging es eine kleine Stunde. Hortense war etwas benommen, aber doch recht zufrieden, als sie sich verabschiedete. – Den Vorschlag der Namensänderung will ich ihm noch nicht sagen, überlegte sie mit ruhigem Kopf. Louis war nicht im Hotel.

 

Louis war bei Le Bas. Der Lehrer geriet außer sich. »Was für eine politische Feuertaufe, mein Louis! Was für ein Mut, aus der Hölle herauszukommen und ins Fegefeuer hineinzustürmen! Wir sind stolz auf Sie, die ganze europäische Freiheitsbewegung ist stolz auf Sie! Wir werden Ihnen hier kein Haar krümmen lassen!«

Louis schüttelte abwehrend den Kopf: »Philipp, ich sehe die Dinge etwas anders. Ich bin gar nicht so stolz auf mich. Aller Anfang ist schwer. Mein Anfang hat viel Unglück verursacht. Charles ist tot, wie Sie wissen. Daß Sie mir nicht kondolieren, rechne ich Ihnen hoch an. Daß ich trotz allem guter Dinge bin, ist nicht lobenswert. Ich lasse mir mit einigem Glück und ziemlicher Begabung das dicke Fell wachsen, das Fell über jenes halbwegs gute Herz, Maître Le Bas, daß Sie einstmals entdeckt haben wollten. Außerdem lerne ich Geduld. Passen Sie auf, Le Bas, ich werde noch ein besserer Spezialist meiner Geduldlehre als Ihrer Oppositionslehre. – Das ist zunächst alles. Aber diese Konfidenzen gelten allein Ihnen, ganz allein Ihnen. Zu den versammelten Führern der republikanischen Opposition spreche ich heute Abend natürlich anders.«

 

Kabinettssitzung vom 2. Mai.

Der König: »Was Neues, meine Herren?«

Marschall Soult: »Eine sehr schwerwiegende Neuigkeit, Sire. Ich weiß durch die Rapporte der Gendarmerie, daß die Herzogin von St. Leu und ihr Sohn unter falschem Paß durch Südfrankreich reisen.«

Der König lächelte gemütlich.

Ministerpräsident Casimir-Périer: »Sire, ich kann die Meldung des Marschalls vervollständigen. Die Königin Hortense ist bereits in Paris und Eure Majestät haben sie gestern bereits in geheimer Audienz empfangen.«

Der König: »Sie sind so trefflich informiert, mein lieber Minister, daß ich weder Zeit noch Grund habe, Ihnen etwas dazuzusagen.«

Ministerpräsident Casimir-Périer: »Aber ich darf Ihnen noch etwas dazusagen, Sire. Die Herzogin von St. Leu hat Ihren Sohn entschuldigt, mit einer Indisposition, die ihn ans Zimmer fessele.«

Der König: »Richtig. Er liegt krank im Bett, er hat sich in Italien etwas übernommen.«

Ministerpräsident Casimir-Périer: »Er liegt nicht im Bett, er ist nicht krank. Der Polizeipräsident Gisquet meldet mir, daß er in der gleichen Stunde, in der Eure Majestät die Mutter empfing, das Hotel verlassen habe, von der Menge akklamiert, und gestern Abend noch mit den Chefs der republikanischen Partei im Hause des Professor Le Bas, Rue du Sentier 12, zusammengekommen sei.«

Die Birne sah mit einemmal nicht mehr gemütlich prall aus, sondern böse runzlig. »Gisquet hat schärfste Ueberwachung einzurichten. Gisquet hat mir alle vierundzwanzig Stunden persönlich zu rapportieren.« – Die Birne glättete sich: »Was gibt es sonst, meine Herren?«

 

Louis trieb durch Paris. Er nahm die Stadt und gab sich ihr hin, als müßte sein Leben aufhören, wenn er sie wieder verlöre. Aber es war kein Rausch, kein Verschwenden, kein Austoben: es war Politik, Vertrieb der Unruhe, Umsatz seiner selbst, ungemein geschickte und intensive Propaganda der alten Legende seines Namens und der neuen Legende seiner italienischen Revolution, genau verteilt und vertan, wohin die eine oder andere gehörte. Er arbeitete durch alle Quartiere und alle Schichten, fing Popularität, ohne ihr nachzulaufen, und blieb bei alledem ruhig und geduldig; denn er arbeitete nicht für die Gegenwart, und das machte ihn überlegen und unangreifbar. Er ließ sich sehen und fing Menschen. Er fing bei der Gesellschaft an und hörte bei der Unterwelt auf. Er fuhr auf dem Korso von Longchamps und im Bois, er erschien im Cercle des Etrangers im Hotel Aguado und spielte nicht (denn er hätte hoch spielen müssen, um dem Aufsehen, das er erregte, gerecht zu bleiben – und dazu fehlte ihm das Geld); die Aristokratie flüsterte: das ist der tolle kleine Louis Napoleon, der beinahe Rom erobert hat. Er ging ins Palais Royal, wo die Halbwelt verkehrte; er liebte die Halbwelt, weil sie auf die frechste und unverbindlichste Art das griffige Glück des Lebens zugleich verbesserte und verhöhnte, zugleich stahl und wegwarf; er liebte ihre Frauen, die wie Motten um ihn herumflogen und mit Anmut taten, als möchten sie an ihm verbrennen. Le Prince! Le Prince! Im Café Milles Colonnes saß die schöne Madame Romain an der Kasse, und da ihr Kassenstuhl bekanntlich der Thronsessel der Napoleonsschwester Elise Bacciochi war, lächelte sie dem kleinen neuen Napoleon zu wie eine Herzogin von Lucca. Das Café Lamblin war zu meiden, weil es der Treffpunkt der legitimistischen Offiziere war und weil man Bewunderung brauchte, keine Duelle; so kam es, daß er einem Stammgast, dem Unterleutnant Graf August de Morny nicht begegnete. Im Riche, im Café Anglais, im Café de Paris saßen die Viveurs und Snobs, die man mit einem Lächeln zu Bonapartisten machen konnte, wenn sie es noch nicht waren. Bei den Frères Provençaux und in den Rochers de Cancale, wo man die besten und billigsten Austern bekam, klatschten die Literaten, Liberale oder Republikaner, ihren Beifall zur italienischen Revolution, wenn sie ihn sahen. Im Café des Circassiens bedienten maskierte Kellnerinnen, kleine Huren in hohen Lederstiefeln, die wild wurden oder mädchenhaft rot vor Glück, wenn sie den Prinzen bedienen durften – und eine sehr hübsche, die er küßte, wurde berühmt und heiratete bald; und ihr Mann, Bonapartist, Oberkellner in einem Tanzlokal in Auteuil, erzählte den Stammgästen, daß der Prinz sie sehr geliebt habe. Im Café Tortoni aber geschah dies: vor Louis' Tischchen stand plötzlich ein junger Mann, sehr elegant, beinahe zu elegant gekleidet, und sein Gesicht war wie das Gesicht Bonapartes auf der Brücke von Arcole; es ähnelte auch dem Bruder Charles, wenn man wollte. Der junge Mann sah ihn aufmerksam an, fast dreist. Louis war das Anstarren gewöhnt; aber er lächelte nicht, er sah fort, es war ihm nicht wohl unter diesem Blick. Der junge Mann begann zu pfeifen, leise, aber deutlich, und ging langsam weiter und pfiff dabei sein Liedchen weiter. Was war das für eine Melodie? Louis kannte sie nicht – oder doch, er kannte sie. Er war unmusikalisch, es ging ihm mit vielen Melodien so. Und was für ein Gesicht, was für ein beschämendes Gesicht! – Louis ging nicht mehr zu Tortoni. – Le Prince! Paris lief in die üblen Napoleonstücke des Vaudeville und des Theaters an der Porte St. Martin. Der Schauspieler Gobert sah wahrhaftig aus wie der Kaiser, auch wenn er ihn nicht spielte; seine Aehnlichkeit mit dem Kriegsgott verschaffte ihm ein ungeheueres Einkommen als Schauspieler und eine tolle persönliche Popularität. Er wandelte als lebender Napoleon-Kitsch durch die Straße, mit allen Requisiten – Hut, grauer Mantel, Haarsträhne im Gesicht, welthistorischer Adlerblick – und ließ sich von den uralten Garde-Ueberresten grüßen. Und Gobert, in jener sensationellen Vorstellung der Porte St. Martin, brüllte an einer passende Stelle: »Vive Napoleon II.!« und zeigte auf die Loge des Prinzen. Das Publikum raste. Louis verzog keine Miene. Das Theater gefiel ihm nicht. Es war nicht nur plump, sondern auch gefährlich und konnte seinen Aufenthalt in Paris dramatisch abkürzen. Er wollte Unruhe hinterlassen, nicht um sich herum entfachen. Er arbeitete nicht für die Abendkasse, sondern für die Bühne der Zukunft, die noch leer und dunkel war. Er freute sich, daß er die Mutter nirgends hin mitnahm, auch nicht zu den harmlosen Spielen des Geschäfts; denn Hortense hätte jetzt gelächelt und sich verbeugt. Er wäre gegangen, wenn es nicht unhöflich, also unpolitisch gewesen sein würde. Doch er ging nach dem Aktschluß. Kaiser Napoleon stürzte ihm nach, verschminkt, verschwitzt, und dennoch, selbst in der Nähe, quälend echt: »Sire, bleiben Sie noch bis zur Schluß-Apotheose! Es wird eine phantastische Demonstration!« Louis streifte ihn mit einem schrägen Blick und dachte wieder an den jungen Bonaparte vom Café Tortoni. Es war, als gäbe es Napoleons in allen Lebensaltern, Gesichter und Masken, beschämende und quälende. »Ich kann Ihnen sowieso keine Konkurrenz machen, Herr Kaiser,« sagte er und ging weiter. Es war gegen zwölf Uhr nachts.

Er fuhr zu Le Bas, wie alle Abende um diese Zeit, vertauschte dort Frack und Zylinder mit Bluse und Mütze und trieb durch das andere Paris, durch die bebenden Proletarierviertel im Norden und Osten, durch den radikalen Faubourg St. Antoine, – Estaminets, Schnapsschenken, Animierkneipen, Kellerwirtschaften und stickige Versammlungszimmer im Schutz von Hinterhöfen und Geheimparolen. Hier war die große Unruhe, das Beben unter dem Pflaster, das Feuer unter dünner Erdkruste. Hier saßen die betrogenen Julikämpfer, Carbonari, Republikaner, politische Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Italien, Spanien und konspirierten, organisierten Geheimbünde, Gesellschaft der Menschenrechte, Gesellschaft der Volksfreunde – und die Sektionen hießen »Marat« und »Tod den Tyrannen« und »Krieg den Schlössern« –, hier wurden die Streiks, Attentate und Erneuten vorbereitet, die in den nächsten Monaten und Jahren Paris und Lyon und Marseille erschütterten, hier saßen die Agitatoren und Strategen der Broschürenkriege und Flugschriftenbombardements. – Hier trieb Louis um, Prinz Carbonaro, der eben mit den italienischen Kameraden kämpfte, ein Junge nach den aufbegehrenden Herzen, mutig, freundlich und bescheiden, und sein Französisch war zugleich komisch und mitreißend (»béble« statt »peuple«, man konnte es prachtvoll imitieren, der Junge lächelte gutmütig und war ein ganzer Kerl), seine Stimme ging weich in die Ohren und hakte sich plötzlich fest, daß das Herz schlug und man in die Höhe ging, und seine Nebelaugen regten die Frauen auf. Er trieb durch die Unterwelt, mit Arbeitern, Handwerkern, Ausländern, Hetzern, Mitläufern, Desparados, Gläubigen, Lumpen, Zuhältern und den vielen Mädchen. Er tauchte auf, wurde bejubelt, verstand zuzuhören und zur richtigen Zeit zu sprechen, sprach nicht viel, versprach nichts, verschwand – und die Wellen der Unruhe hinter ihm gingen höher. Das wird meine Grande Armée, sagte er sich. In dem Zeiteckchen zwischen später Nacht und frühem Morgen ging er mit einem Mädchen mit und nahm zärtlich ihre schnelle, kleine, eifrige Liebe. Am Vormittag schlief er im Hotel de Hollande bis zwölf Uhr. Die Mutter war leise.

 

Am 5. Mai, dem Todestag des Kaisers, pilgerten die frömmsten der Bonapartisten mit Blumen zur Vendôme-Säule, die noch von der Lilie der Restauration gekrönt war, und bekränzten die Adler des Säulenfußes. Das war in aller Frühe. Die Pilger erhielten Zuzug, der Platz war auf der Seite des Hotel de Hollande voll von Menschen, der Schauspieler Gobert als Kaiser Napoleon trat auf; die Menge wurde entflammt, und da das große Geschäft wichtiger war als der kalte Rücken, den ihm neulich der kleine Bonaparte gezeigt hatte, überwand sich der Kaiser Gobert und brüllte mit seiner Tragödenstimme: »Vive Napoleon II.!« Die Menge nahm es auf, es war ein lustiger Wechselgesang. Louis schlief noch. Hortense stürmte in sein Zimmer, wirr vor Glück: »Louis! Louis! Hör doch!« Louis wachte ungnädig auf. »Hörst du sie, Louis? – Du mußt dich zeigen!«

»Eine Verwechslung,« sagte Louis und gähnte, »ich bin nicht der Gesuchte.«

Hortense machte böse Augen; aber sie wagte keine Entgegnung. Draußen schrie die Menge. Hortense ging ein paar Schritte zum Fenster hin »Halt, Mama,« sagte Louis, »sie rufen weder den Roi de Hollande noch sa femme.« Hortense blieb mitten im Zimmer stehen. – Er weiß auch von dem Lied, dachte sie; dann ging sie hinaus. Am 9. Mai gab es Streikunruhen, Zusammenrottungen und Schießereien im Faubourg St. Denis, im Belleville-Viertel und natürlich im Fauburg St. Antoine. Am 10. Mai war wieder eine Massendemonstration auf dem Vendôme-Platz, die aber nicht nur »Hoch der Kaiser!« sondern auch: »Nieder der König!« schrie, Spottlieder auf die Birne sang und die Polizei, die endlich die Geduld verlor, zu verprügeln sich anschickte. Der Stadtkommandant war klug genug, aus der nahen Kaserne der Rue de la Paix keine Kanonen und Gewehre, sondern eine Feuerspritze kommen zu lassen und die Menge mit einem kalten Strahl zu verjagen. »Die Schreier tun uns keinen Gefallen,« sagte Louis zur Mutter und verließ nicht mehr das Hotel. Die Unruhe, die er gesät hatte, ging ihm viel zu früh auf.

»Schluß machen!« befahl der König, runzlig vor Zorn, »Abschieben, nicht Einsperren, sonst weiß der Bengel nicht wohin mit dreifarbigen Märtyrerkronen!«

Am folgenden Tag erschien der Ministerpräsident im Hotel de Hollande mit dem Ausweisungsbefehl auf Grund der Lex Bonaparte. Auf dem Platz johlte wieder die Menge. Hortense protestierte mit rotem Kopf, berief sich auf die königliche Zusage und auf die Krankheit des Sohnes. Louis lag in der Tat im Bett, für alle Fälle. Draußen schrie es: »Vive l'Empereur!«, dann hörte man Pfiffe, Geschrei und den scharfen Hufschlag der Eskadron Nationalgarde, die den Platz säuberte. »Hören Sie, Madame?« fragte der Ministerpräsident; »das ist unsere Entschuldigung. Und Ihr Herr Sohn wird bis morgen früh seine nächtlichen Exerzitien ausgeschlafen haben, sodaß Sie Beide morgen abend in Calais sein können.«

Während der Ueberfahrt sagte Louis: »Ich habe keinen Grund, unzufrieden zu sein. Ich freue mich auf London.«

Hortense dachte an Louis' nächtliche Pariser Exerzitien, von denen die französische Regierung mehr wußte als sie. Aber sie fragte nicht, weil sie wußte, daß der Lächler nicht antworten würde.

 

Kehrseite des Glücks

Arenenberg empfing sie im Goldpanzer des August und umhüllte sie mit der bienendröhnenden Stille des Hochsommers. Hortense war müde und begann graue Haare zu bekommen. Louis lebte im Glück der Geduld, so schien es. Er hatte Zeit und die Zeit ließ sich trinken wie der leichte gutmütige Arenenberger Wein. Er hatte Zeit und begann zu schreiben: »Politische Träumereien.« Es handelte von einer Ideal-Republik mit einem Kaiser-Präsidenten oder einem republikanischen Kaisertum: es wurde nicht völlig klar. Der große Dichter Chateaubriand, Arenenberger Gast, half ihm ein wenig.

Louis war beinahe ein berühmter, zum mindesten ein eben noch aktueller Mann, dabei liebenswürdig, wohltätig und gegen sein Gastland dankbar. Der Kanton Thurgau sandte ihm den Bürgerbrief ehrenhalber, das Eidgenössische Kriegsdepartement ernannte ihn zum Hauptmann der Artillerie ehrenhalber, der Kantonal-Schützenverein ernannte ihn zum Präsidenten. Louis hielt Dankreden auf Schwyzerdütsch.

 

Der alte Abbé Bertrand konnte nicht mehr von seinem Lehnstuhl aufstehen; aber sein Geist war noch wach und boshaft. »Schade, schade,« meinte er »wenn ich mich schon verabschieden müßte – meine Neugier reichte noch für zehn Jahre.«

Louis war gerne bei ihm. »Worauf sind Sie so neugierig, Herr Abbé?«

»Auf Ihr Glück, Louis, oder vielmehr auf die Kehrseite Ihres Glücks. Das ist nämlich das Unglück für die anderen.«

Louis schwieg.

»Dem kleinen Reichstadt,« sprach der Abbé, »soll es nicht gut gehn.«

Es schien, als wollte Louis ablenken. »Sie haben doch ein gutes Gedächtnis und ein gutes Gehör, Vater Bertrand?« fragte er überraschend. »Da gab es doch einmal das Lied vom Roi de Hollande, Sie erinnern sich vielleicht. Können Sie es mir nicht vorsingen oder vorpfeifen?«

Der Abbé war nur einen Augenblick sprachlos; dann lachte er leise. »Le Roi de Hollande …,« summte er vergnügt und ein paar Mal, die Augen schließend, um die Worte und die Melodie einzufangen. Jetzt hatte er sie und sang sie mit seinem dünnen, sauberen, kanonischen Stimmchen.

»Ja, ja,« nickte Louis schläfrig, »das hat mir in Paris ein unverschämtes junges Kaisergesicht in die Ohren gepfiffen. Es gibt ja nicht nur falsche Louis, sondern auch echte Napoleoniden, nicht wahr?«

»Ach, es gibt da alles Mögliche,« bestätigte der Alte kichernd: »aber da der kleine Walewski in Warschau ist und ebenfalls ein bißchen Revolution macht, wird es der kleine Leon gewesen sein, ein großer Tunichtgut.«

»Wir sind eine sonderbare Familie, scheint mir,« meinte Louis.

»Eine umständliche Familie,« kicherte Bertrand, »seltsame Vettern, seltsame Brüder …«

»Mein Bruder ist tot,« sagte Louis, »ich kann nichts dafür.«

»Gewiß nicht,« gab der Abbé zu, »den einen trifft es, den anderen nicht – es kommt auf das Glück an. Doch da gibt es noch ein halbes Brüderchen, ein linkes Brüderchen zu Paris, einen kleinen falschen Louis – haben Sie ihn nicht getroffen?«

»Ich habe nur echte und falsche Napoleons getroffen.«

»Dann merken Sie sich seinen Namen. Er heißt August Morny und ist jetzt einundzwanzig Jahre, so alt wie der kleine Reichstadt. Und sein Vater heißt Flahaut, General und Graf und einmal ein schöner Adjutant der schönen Königin. Merken Sie sich den Namen, Louis; denn ihr hängt alle an der Schnur dieser Zeit, an der verknäulten Schnur dieser unordentlichen Zeit – und ich möchte noch zehn Jahre leben …«

Abbé Bertrand aber lebte nur noch bis zum Juni und starb zu früh. Seit Junianfang ging es dem jungen Reichstadt sehr schlecht. Er lag in Schönbrunn, im gleichen Zimmer, in dem das große N vor dreiundzwanzig Jahren gewohnt hatte. Er wollte dieses Zimmer haben. Er bekam Eselsmilch mit Selters und Blutegel an die Stirn. Er war ganz mager und nicht mehr schön. Man benachrichtigte die Mutter, die niemals in Wien war. Endlich kam sie, Ende Juni – Abbé Bertrand lag schon im kleinen Friedhof von Mannenbach, Hortense und Louis sprachen oft von ihm, niemals von Schönbrunn. – Die Hitze war grausam, auch des Nachts, Reichstadt schlief nie, er hatte Stickhusten, die weißen, blutlosen Beine schwollen immer mehr an. Seit dem 13. Juli sprach er vom Sterben. »Den Tod will ich!« kommandierte er heiser. Am Morgen des 22. Juli zwischen dreiviertel Vier und Vier schrie er: »Ich gehe unter!« Sie rissen ihn hoch. [Er] ging unter.

 

Ende des ersten Buches

 


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