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Landgut und Schlößchen Arenenberg, nicht weit von Ermatingen, Kanton Thurgau, liegt wunderschön auf einer Felsterrasse über dem unteren Bodensee und seinem Buchtenreichtum und der entzückte Blick sieht von Konstanz bis Stein am Rhein und Radolfszell. Man sagt, daß der sanfte Name von Haus und Hügel sich von den Arnhalden ableite, altem Namen für den Abhang zum See; man sagt aber auch, daß er von einer seltsameren Bezeichnung des einstigen Rebgutes herrühre: Narrenberg.
Das Schloß liegt still im Park. Ulme, Eiche und Buche stehen als schützender Waldsaum vor den übergrünten Abhängen zum See. Auf der anderen Seite sind abschwingende Hügel, Wiesenland, Obstgärten, Weingärten: der Samt des Rasens läuft bis zum Hausportal. Der Wein, der auf dem Arenenberg wächst, ist leicht und wohlschmeckend und wie die Landschaft, gutmütig und angenehm.
Hier war Ruhe. Man sah den See behäbig, anmutig, blau oder farblos; wenn er böse wurde, hörte man ihn auch; man sah vom östlichen Teil des Parkes aus die Kirchtürme von Konstanz und hörte die Glocken, wenn der Wind günstig stand; man sah von der Seeterrasse des Schlosses aus ganz nahe unter sich die Reichenau, Häuser, Wiesen und Hügel und die mächtige Benediktinerabtei, und im Hintergrund die Basaltkuppen des Hegaus. Hortense wollte nichts als Ruhe und fand in der Landschaft die milde Melancholie, die ihr im Sinn stand. Sie kaufte Arenenberg für einen günstigen Preis, für vierundvierzigtausend Franken, von einer Familie Streng; sie baute allerlei an dem hübschen, ein wenig verwahrlosten Haus: einen einstöckigen Vorbau nach Art einer Gartenterrasse, auch eine Kapelle gegenüber der Rückfront, und richtete es mit Muße ein, mit einem etwas sentimentalen Geschmack, der sie unter anderem verleitete, die Decken ihrer persönlichen Wohnräume mit blau-weiß-rot gestreiften Stoffen in Form eines Zeltdaches zu bekleiden. Warum ein Zelt? Ach, es war immer das Kriegszelt des großen N, es war auch im Pariser Palais Cerutti und in Malmaison über ihrem Kopf gewesen; und sah sie auf ihre Zeltdecke, so sah sie in seinen Zelthimmel: die Legende war aufgespannt wie ein Schirm, über sie und für sie. Schließlich baute sie auch eine Laube in Gestalt des napoleonischen Kriegszeltes auf dem Ostabhang des Arenenberger Parkes, dort, wo man Konstanz sieht und sogar die Alpen – und das wurde ihr Lieblingsaufenthalt.
Hortense hatte viel Zeit vor sich; denn Louis war immer noch ein Kind. Viel Zeit haben und dahinter das große Ziel, noch nicht zu sehen, aber brennend seit je, ein ungeheures Maß von Geduld nach der maßlosen Ungeduld des vergangenen Lebens, zu große Ruhe nach zu großer Unruhe: das macht schwermütig. Hortense kannte sich mit der Schwermut aus, die sie sich jetzt wünschte und schuf. Aber früher war sie eine Laune oder eine Mode oder ein Kleid, anzuziehen und abzulegen. Jetzt war sie Dauer und saß fest auf dem Leben wie eine neue Haut. Sie ging ins Blut. Hortense entsagte den Männern, die sie früher so nötig hatte wie ihre Kleider und die sie ähnlich behandelte. Sie wurde eine ernste Frau und lebte sich in den heroischen Sinn ein, den sie ihrem Sohn beibringen wollte und der anders zu sein hatte wie der kokette Mut als Königin unter dem Kaiser.
Die Zeit kroch. Das war das Unabänderliche und Bedenkliche. Denn Hortense wollte ja nicht rasch und heftig alt werden, o nein, sie wollte den Sohn groß haben und mit sich äußerst sparsam sein. Sie wollte seine Jahre vorwärts treiben, nicht ihre. Sie durfte nicht – nein, sie durfte nicht zu früh zu Ende sein.
Die Zeit kroch, und manchmal dröhnte die Ruhe, daß es kaum auszuhalten war. Ihr winziger Hofstaat bot nicht viel Anregung, die Weltpolitik stagnierte, Arenenberg schien überall: in den Tuilerien, in der Hofburg, im Winterpalais, in Potsdam – auch in St. Helena. Lyrik gehört zur Melancholie, Hortense kehrte zu ihren kleinen Künsten zurück. Sie dichtete Romanzen und komponierte sie und malte sie sogar. Es fanden sich unter den Auslandsfranzosen, die allmählich nach Arenenberg pilgerten, ein Dichter, ein Maler und eine Komponistin, die sich loyal als musische Helfer zur Verfügung stellten und den Produktionen Hortenses diskreten Schliff gaben. Oder sie führten kleine neckische und nichtssagende Komödien auf: dafür gab es sogar ein Theaterchen in einem Flügel des langgestreckten Oekonomiegebäudes. So ging die Zeit hin, mit winzigen Schrittchen, unbedeutend und für den vorgefaßten Ernst etwas lächerlich. Noch war Arenenberg kein politisches Zentrum, noch nicht bonapartistischer Wallfahrtsort. Louis war noch ein Kind. Noch suchten Hortense und ihre Damen vierblättrigen Klee, wenn sie die Wiesen nach der Gemeinde Salenstein zu hinaufstiegen. Fand sie eines zu einer bestimmten Zeit innerhalb eines bestimmten Abschnittes, so bedeutete es, daß sie nach Frankreich zurückkehren würden; fände sie zwei, so würde es bald sein; fände sie drei, so wäre es sicher, daß Louis einmal … Sie fand nicht drei vierblättrigen Klee auf einmal. – Vielleicht erlebe ich es doch nicht, dachte sie. Sie zweifelte unter Umständen an sich, niemals an dem Sohn. An den anderen Sohn, in Rom beim Vater, dachte sie nicht in diesem Zusammenhang; denn er gehörte ihr nicht mehr.
Louis blieb zart, sanft und undeutlich. Er war manchmal überraschend intelligent, manchmal so stupid, daß man versucht war, es als Absicht auszulegen, gar als Verhöhnung. Die Kultform von Arenenberg, ob ernst oder lächerlich, aber doch um seinetwillen begründet, nahm er weder an, noch lehnte er sie ab. Gewiß war er zu jung, um den Sinn des heldischen Erbes zu begreifen und die Konstruktion des Gerüstes zu begutachten, in das seine Zukunft hineinzupassen hatte. Aber er hätte nach allem, was er immer und immer hörte, mit kindlichen Aussprüchen, hübschen Sentiments und kleinen Fanfaronaden sehr wohl die Arbeit der Mutter belohnen oder doch Aufmerksamkeit zeigen oder wenigstens den Mechanismus des Gehörs und der Gewohnheit wie jeder Papagei spielen lassen können. Das tat er nicht. Er lächelte, schwieg oder redete gewunden und sagte, gestellt, immer Ja, wenn er auch dabei den Kopf schüttelte. Hortense nannte ihn in lyrischen Momenten den »doux ténébreux,« sonst aber den »sanften Dickkopf«; für den Abbé Bertrand, der mit ihm nicht weiter kam und ihm doch niemals zürnen konnte, blieb er der kleine Ja-ja, »notre petit oui-oui«, dem man nicht auf den Grund sah. Der alte Abbé hatte noch Voltaire gekannt, hielt das Leben für wert, widerspruchsvoll zu sein, liebte das kopfschüttelnde Kind Ja-ja und glaubte an seine zukünftige Bedeutung: nicht als Held, wie die Mutter, sondern als großer Spötter und Widersprecher. Denn vom Ja-ja zum Nein-nein war es nur ein zynisches Schrittchen.
Er war ein schwieriges Kind, weil die Schwierigkeiten, die er machte, nicht an die Oberfläche kamen oder nur für Augenblicke – weil sie gleichsam versenkbar waren. Er war von einer graziösen und oft geistreichen Durchtriebenheit oder, beim Lernen, von einer durchtriebenen Geistlosigkeit. Dem Abbé gefiel der Junge auch in seinen Unarten viel zu gut, als daß er ihn je hätte scharf anfassen können. Das ging auf die Dauer nicht an. In dem Augenblick, in dem Louis die innere Ohnmacht des Lehrers fühlte, tat er, was er wollte – gewiß nicht laut und herausfordernd, sondern sehr geschmeidig. Daß Lehrer und Schüler nicht im Schloß, sondern im Wirtschaftsgebäude untergebracht waren, nützte Louis von Anfang an aus. Er verschwand oft und plötzlich aus dem Studierzimmer, um sich draußen herumzutreiben, allein oder mit Bauernjungen, mit denen er sich beängstigend demokratisch abgab und deren Dialekt er von allen Sprachen am schnellsten lernte. Das nun war von Hortense sehr streng verboten; Gefahren lauerten überall, vom See bis zu den schlechten Einflüssen der Landkinder. Der Abbé schrie durch Haus und Park. Louis kam oder kam nicht. Einmal stöberte ihn Hortense auf: er watete barfuß und ohne Joppe durch die Regenpfützen. Das Verhör war streng; denn zu dem übertretenen Verbot des Umtreibens kam noch der schwere Verstoß gegen die Kleiderordnung. Ein Prinz zeigt sich nicht in reduziertem Zustand. Louis sah von der Mutter auf den Lehrer und lächelte schmerzlich. – Ja-ja, sagte er, aber er habe eine Erklärung. Er hatte kleine und immer trübe Augen und konnte sie noch vernebeln, mit einer Oberschicht Trübsal versehen, mit einer Wolke Erbarmungswürdigkeit übersegeln. Der Abbé lachte heimlich, wenn er diese Künste sah: sie pflegten Durchtriebenes einzuleiten. Die Erklärung: an der Taxushecke spielend, nahe dem Fußweg zum nahen Weiler Mannenbach, sah er eine augenscheinlich arme und unglückliche Familie, die übrigens in Mannenbach wohne, vorüber gehen, bestehend aus Mann, Frau und zwei Buben, von denen der eine weder Schuhe noch Strümpfe, der andere keine Jacke besaß. Er gab sie ihnen aus der Erinnerung an die Christenpflicht, wie sie ihm beigebracht wurde. Das war die Erklärung, die Augen entwölkten sich und der Mund lächelte wieder. Hortense war sehr unsicher, wie oft dem Kind gegenüber, und verlangte den Nachweis der guten Tat, ehe sie gelobt und belohnt würde. Der Abbé, vergnügt lachend und die Frage, ob die Erklärung das gute Herz zur Folge hatte oder umgekehrt, gerne offen lassend, unterdrückte den Vorschlag, zunächst einmal in der Garderobe des Kindes nach den Sachen zu fahnden. Eine halbe Stunde später erschien Louis mit zwei rotznasigen und entgeisterten Bauernjungen, die die Kleidungsstücke trugen. Der Abbé, der inzwischen zur privaten Kontrolle in Louis' Schrank gestöbert hatte, war enttäuscht worden: die Sachen fehlten und der Fall, wie viele andere, blieb ungewiß. Louis erhielt seine Belohnung.
Der Abbé selber war es dann, der auf die geringen Erfolge seiner pädagogischen Bemühungen hinwies und einen Lehrerwechsel vorschlug. Er tat sich damit nicht weh, weil er Hortense als Gesellschafter, Diplomat, Bibliothekar, Enzyklopädist und Sachverständiger für Küche und Weinkeller unentbehrlich war. Er beschaffte auch den Nachfolger für das Lehramt, Herrn Philipp Le Bas, einen jungen Humanisten, Gymnasiallehrer für Lateinisch und Griechisch. Diese Wahl war sehr merkwürdig, sehr voltairisch, sehr kühn – vielleicht der Versuch, ein besonderes Schicksal zu korrigieren oder doch zu beeinflussen, beinahe diabolische Parade gegen Hortenses Heldenkult und Suche nach dem Vierblattklee. Denn Le Bas war der Sohn des großen Konventmannes und Freundes Robespierres. Le Bas war Republikaner jakobinischer Tradition.
Hortense wußte es nicht oder sah nur auf die Fachleistungen des neuen Magisters. Seine Zeugnisse waren so ausgezeichnet wie der persönliche Eindruck, den der ernste, bescheidene und energische junge Mann machte. Er wurde angestellt. Es wurde kein Wort über die politische Gesinnung gesprochen. Für Hortense gab es auf der Welt nur Royalisten oder Bonapartisten. Da Le Bas das bourbonische Frankreich verließ, um als Lehrer das Exil des Prinzen Louis Napoleon zu teilen, war die Gesinnung fraglos dokumentiert.
Le Bas ging mit Eifer und reiner Seele an die Arbeit. Louis war sein Schüler, sonst nichts. Daß er auch Napoleon hieß, stand damals noch nicht zur Debatte. Er war schwierig, träge und vollkommen undiszipliniert; aber er war liebenswürdig. Er hing von Gesichtern ab, von den Augen, die ihn anschauten. Das schmale, kluge, nicht zu überrumpelnde Gesicht des neuen Lehrers nahm ihn ein. Die Augen nahmen ihn ein, weil sie nicht vom kunstreichen Wechselspiel des eigenen Blickes berührt wurden – wie Hortenses oder Abbé Bertrands Augen – und doch gütig blieben. Der Anstand des Herzens, der immer auch in den Augen ist, fing ihn ein, fast schon am ersten Tag.
»Louis, ich darf dir sagen, ich bin hartnäckiger als du – du bist nicht einmal das. Du hast ein halbwegs gutes Herz – das ist alles, was du hast. Damit ist nicht viel Staat zu machen. Aber weil du es hast, sage ich dir: es wird an dir liegen, nur an dir, ob ich in aller Hartnäckigkeit dein Feind oder dein Freund bin.«
Louis sah den Lehrer an und war sehr ernst. Solche Worte hatte er noch nie gehört.
»Bitte mein Freund,« antwortete er leise. Sie wurden auch Freunde.
Hortense hatte Glück bei Menschen, Louis erbte es zu einem gewissen Teil: er erregte die Menschen, die mit ihm zu tun hatten, sei es zur Freundschaft oder zur Feindschaft. Man konnte ihn nicht mit Gleichgültigkeit abfertigen, nicht so sehr wegen der auffallenden Umstände seiner Geburt und seiner Stellung, sondern wegen seiner merkwürdigen Person. Le Bas, der seine Neigung erobert hatte, wurde im Nu auch von ihm erobert. Die Liebenswürdigkeit des Jungen lag wie Blattwerk über einem Abgrund, das wußte der Lehrer. Das Unten war unheimlich, aber nicht abstoßend, sogar anziehend. Vielleicht konnte man in die Tiefe gelangen und sie mit Wert und Würde ausfüllen. Le Bas ging es wie dem Abbé und schließlich auch wie der Mutter: der Junge konnte das Gefäß eines bedeutsamen Inhalts werden. Hortense dachte an das Erbe N, Bertrand an die großen Skeptiker seines Dixhuitième, Le Bas an eine Humanität, die zunächst mit der Bildung anzufangen hatte. Ihn interessierte das Kind über seine Lehrpflicht hinaus, die er eigentlich nur eingegangen war, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu gewinnen. Ihn reizte der junge Mensch, der sich mit einemmal geistig anstrengte, um seine Freundschaft zu verdienen, gewiß nicht aus Ehrgeiz oder Wissensdurst.
Le Bas mußte sehr bald merken, daß der Kult von Arenenberg verdarb, was die Neigung des Knaben für ihn an Fortschritten brachte. Es gab nur einen Gott: den auf St. Helena, und Louis wurde wohl oder übel zum Gottessohn. Le Bas dachte nicht ans Politische, als er begann, für Augsburg zu plädieren, wo Hortense ungefähr zur gleichen Zeit, als sie Arenenberg erwarb, ein Haus gekauft hatte, (man konnte damals noch nicht wissen, ob der brave Kanton Thurgau nicht doch der unentwegten Hetzarbeit des französischen Gesandten in der Schweiz nachgeben würde): für Augsburg, eine Stadt mit berühmtem Gymnasium, zudem in Bayern, dessen König dem Krongeber dankbar genug war, um auch seiner verbannten Familie Gastfreundschaft zu gewähren: Le Bas dachte nur an die Erziehung des Knaben, der aus der sakralen Isolierung von Arenenberg heraus mußte, um weiterzukommen. Abbé Bertrand, der die Entwicklung der Dinge mit Vergnügen sah, unterstützte Le Bas nach Kräften. Hortense willigte schließlich ein. Sie hatte ein sehr feines Gefühl für das Politische, das ihre Herzenssache war; sie begriff also das sachliche Argument des Erziehers, mit dem sie zufrieden war und den sie damals noch nicht zu fürchten hatte. Vielleicht lag ihr auch daran, für sich eine bestimmte Freizügigkeit zurück zu gewinnen und die Lehrjahre des Kindes, das sie in guten Händen wußte, zu benutzen, um die gerissenen Fäden der napoleonischen Idee in der Schweiz, in Süddeutschland und vor allem in Italien vorsichtig wieder zu verknüpfen.
Im Herbst 1820 fuhr sie mit Louis, dem Abbé und Le Bas nach Augsburg, wo sie ihr zweistöckiges Patrizierhaus in der Heiligengeiststraße bezog und den Winter über blieb. Die Ruhe in Arenenberg war allmählich zu groß geworden, hier war sie wenigstens in einer Stadt, die zwar weder lebhaft noch abwechslungsreich war, aber sie mit unverhohlenem Respekt behandelte und dann auch die Nähe des liebenswürdigen Münchner Hofes bot.
Le Bas hätte es wohl lieber gesehen, wenn Hortense in Arenenberg geblieben wäre. Aber er verstand es, seinen Schüler, mit dem er den zweiten Stock des Augsburger Hauses bewohnte, durch einen straffen Stundenplan von dem Salon der Mutter fernzuhalten; und als Hortense im Frühling wieder nach Arenenberg übersiedelte, erlebte er die Genugtuung, daß der Junge von der Trennung wenig berührt schien. Louis sagte ein so unbefangenes Adieu, daß es der Mutter weh tat und sie zum ersten Mal den Gedanken hatte, er könne ihr entfremdet werden.
Der Knabe wurde nach vorbereitenden Kursen zu Ostern in die Tertia des St. Anna-Gymnasiums aufgenommen. Er sprach ein etwas holpriges Deutsch mit Schweizer Rachenlauten, er sprach allmählich auch ein holpriges Französisch; aber seinen Cornelius Nepos las er ziemlich einwandfrei. Die Lehrer behandelten ihn als Tertianer, auf dringende Bitten Le Bas', jedoch mit heimlichen Verbeugungen vor der Legende seines Namens. Das war nun einmal nicht zu vermeiden. Für die Mitschüler war er eine Art Märchenprinz; sie wagten ihn kaum zu duzen und statteten ihn mit einer Außerordentlichkeit aus, die so gefährlich gewesen sein würde wie der Kult von Arenenberg, wenn nicht Louis selber die Scheu seiner Kameraden durch anmutige Freundlichkeit überwunden hätte. Er tat es ungemein geschickt, ohne sich des Nimbus zu begeben, den man ihm anhängte. Er nahm die Verehrung der Knaben an und steigerte sie zur Anhänglichkeit, indem er sich beliebt machte. Er tat, als lehne er die Erhöhung ab, und nahm sie doch als gegeben, wenn er lächelnd und loyal zu den anderen hinunterstieg oder sie zu sich heraufbat – nicht für zu kurze und nicht für zu lange Zeit. Herrn Le Bas verschwieg er, so gut es ging, die liberale Monarchie, die er in seiner Klasse eingerichtet hatte. Er liebte seinen Lehrer nach wie vor; aber auch für den Freund durften kleine Vorbehalte gelten, die der Freundschaft nichts schadeten und für das eigene Wohlbefinden nützlich waren. Es gab bei ihm in jedem Lebensalter Zellen, die für das Privatgeheimnis reserviert waren. Daß er sich frühzeitig und leidenschaftlich – wenn auch nur in Gedanken oder, seltener, mit zwei ehrerbietig lasziven Sekundanern – mit dem Körper der Frau beschäftigte, wußte der gute Le Bas ja ebenfalls nicht. Uebrigens hatte die Ausnahmestellung, die Louis in der Klasse vorfand und einnahm, auch ein Gutes, das Le Bas nicht mit vollem Recht auf das eigene pädagogische Gewinnkonto schrieb: der Junge wurde ehrgeizig und sogar fleißig. Er bemühte seine deutliche Intelligenz, um unter den gewiß nicht günstigen Bedingungen seiner halben Vorbildung, seiner halbwegs verlassenen Muttersprache und der eilig aufgegriffenen Sprache des Gastlandes, nicht nur mitzukommen, sondern auch aufzusteigen. Als er in die Klasse eintrat, war er von vierundneunzig Schülern der vierundfünfzigste, nach einem Monat der vierundzwanzigste und nach einem Jahr der vierte. Das waren erstaunliche Fortschritte, und Le Bas lobte sich und ihn. Louis lächelte liebenswürdig und verschwieg das private Motiv der Anstrengung: daß nämlich ein anerkannter Märchenprinz schon aus Prestigegründen eigentlich auf den Platz des Primus gehöre.
Im Algebra-Heft seines Schülers fand Le Bas die Aktzeichnung einer liegenden Frau, in säuberlichem Kursiv, zugleich kindlich und rund, mit »Louis« signiert. Der Junge zeichnete gern und von jeher; es war die einzige der unterschiedlichen Begabungen seiner Mutter, die er geerbt hatte (denn er war völlig unmusikalisch und grinste schon als Kind, wenn er Verse hörte oder aufsagen mußte). Bisher aber beschränkten sich die zeichnerischen Themen, soweit sie der Lehrer zu Gesicht bekam, auf die übliche klassische oder auf die Arenenbergische Mythologie: griechische Göttin, homerische Kriegerköpfe, bei denen der Helm die Hauptsache war, Veduten von Arenenberg und eine Menge Kaisergarde und symbolische Adler.
Die Zeichnung im Algebra-Heft war überraschend und bedenklich. Wäre es eine akademisch diskrete und distanzierte Kunstübung gewesen: man hätte sie hinnehmen oder übergehen können und dem Dreizehnjährigen die sehr frühzeitige Freude an der weiblichen Linie, eben als die Freude des früh begabten Zeichners zugebilligt. Aber das Blatt zeugte nicht von besonderer Begabung, sondern nur, mit aller Deutlichkeit, von besonderer Sinnlichkeit und einer durchaus fertigen Anschauung der Situation. Die Perspektive war zeichnerisch so schwierig wie nur möglich – deshalb war die Zeichnung unreif –, geistig aber von einer Frühreife und einem beinahe brutalen Wissen, das für den Lehrer erschreckend genug war. Man sah die nackte und volle Frau hart und genau von oben, mit zurückgeworfenem Kopf und einem zugleich leidenden und verlangenden Ausdruck des Gesichts, mit aufgebäumtem Leib und gelösten Gliedern – man sah sie, wie der Mann sie sieht, der im Begriff ist, sie zu nehmen. Le Bas prüfte das erregt verzeichnete Gesicht, in dem das aufgereckte Kinn dominierte und die Augen sehr groß, lang bewimpert und beinahe kalt vor Erwartung nach oben blickten: wahrhaftig, wenn es eine Aehnlichkeit zu verraten hatte, dann war es die mit Hortense.
Le Bas betrachtete das Blatt, kniff die schmalen Lippen ein, wie er es zu tun pflegte, wenn eine Erschütterung oder ein Problem zu meistern war, und dachte nach. Der neue Abgrund, den er eben aufdeckte, war nicht so sehr wegen seines Inhalts, als wegen der dreizehn Jahre des Abgründigen gefährlich. Mit dem ewigen Problem aller jungen Menschen hatte er gerechnet, aber noch nicht jetzt. Sein systematischer Geist hatte auch für diesen Fall kluge, vernünftige und allmähliche Maßregeln vorgesehen: sie waren vor der Zeit überholt. Rannte ihm der Junge davon? War er, der Lehrer, schon zu sicher geworden und zu vertrauensselig?
Es war eine drückende Julinacht. Weil Le Bas nicht schlafen konnte, war er aufgestanden und ins Studio gegangen, um sich mit der Durchsicht der Schulaufgaben zu zerstreuen. So geschah der Fund. – Warum bin ich nicht liegen geblieben? fragte er sich und tupfte mit dem Taschentuch die Stirn trocken. – Warum? Weil er immer an seine junge Frau dachte, von der ihn der elende Beruf getrennt hielt. Der elende Beruf? Le Bas war durcheinander.
Er betrachtete das Blatt. Er dachte nach: Es gab Nächte, wo ihn der stöhnende und verängstigte Junge nicht zum Schlaf kommen ließ, wo er sich an ihn klammerte, verwirrt, leidend und doch auch tief verstockt, auf keine Frage eine Antwort gebend. Waren es die Nerven oder die zarte Konstitution oder die Ueberarbeitung oder wie man derlei zu erklären pflegt – oder war es die Frau auf dem Blatt? Es gab Nächte, wo er ihn hatte lachen hören, ganz für sich, voll von Geheimnis – ob wach oder im Traum: er erfuhr es von ihm nicht. – Die auf dem Blatt war kein Mädchen, sondern eine schwere Frau …
Le Bas war durcheinander. Er wollte als Pädagoge den Fall durchdenken; aber er glitt aus, er glitt über das Blatt aus und fiel in die Gedanken, die ihn nicht hatten einschlafen lassen. Ich sehne mich nach Clémence, das ist doch nur natürlich …
In Louis' Zimmer knarrten die Bohlen, Le Bas fuhr zusammen, die Tür ging auf, Le Bas – plötzlich rot, plötzlich feige – schlug das Algebra-Heft mit der Zeichnung zu und versteckte es unter irgend einem Buch, in dem er emsig blätterte.
»Monsieur Le Bas …«
»Aber Louis – wirst du schlafen gehen …«
»Ich kann nicht schlafen – Sie doch auch nicht …«
Louis trat an den Tisch, im langen Hemd, mager und dürftig, das Gesicht klein, gelb, mit der großen, etwas schiefen Nase, die in jenen Jahren am raschesten wuchs und jetzt in die Luft schnüffelte, ob sie geladen sei; die umränderten Augen schienen müde, aber sie gingen flink und suchend über den Tisch. Er lächelte.
»Es ist in der Tat sehr heiß heute Nacht,« sagte Le Bas verlegen.
»Da kommt man auf merkwürdige Gedanken,« lächelte Louis und sah ihn an.
»Zum Beispiel?«
»Ob der Kaiser in St. Helena ohne Frau lebt?«
Le Bas hob den Kopf. Durchschaute ihn der Junge?
»Warum interessiert dich das?«
»Ich weiß nicht – wenn man nicht schläft, kommt man auf merkwürdige Gedanken …«
»Du weißt doch, daß die ehemalige Kaiserin in Parma lebt.«
»Nun eben,« lächelte Louis. Es war ein freches Lächeln.
Le Bas schleuderte das Buch fort, riß das Algebra-Heft auf und schlug auf die Aktzeichnung. »Und das, mein Lieber?« schrie er aufgebracht.
Louis blieb ganz ruhig und sah ihm in die Augen. »Ach Gott,« lächelte er, »eine Frau für den Kaiser …«
Le Bas wollte ihn schlagen, zum ersten Mal. Er packte mit der Linken das dürre Aermchen des Jungen und hob die Rechte.
»Warum denn, Herr Lehrer?« fragte Louis leise, wie verweisend, und sah die erhobene Hand sehr verwundert an, »Sie kannten das Blatt doch schon, als ich herein kam …«
Le Bas ließ ihn los und war sehr verlegen. »Wir sprechen uns noch deswegen,« stotterte er. Louis sah ihn mit seinen trüben Augen an, als suche er nach dem Sinn dieser Szene. Plötzlich umarmte er ihn und küßte ihn auf die Backe, stumm und innig.
Sie sprachen nicht mehr darüber, es fiel ein Ereignis auf das nächtlich fatale Gespräch, wie ein Felsblock in eine Pfütze, und deckte es zu. In aller Frühe lärmte ein Eilbote an der Klingel und brachte Le Bas einen dringenden Brief von Abbé Bertrand aus Arenenberg. Der Abbé war ein großer Briefschreiber und eleganter Stilist, wie es sich für einen Enzyklopädisten ziemte; aber er hatte noch nie einen Eilbrief durch Sonderboten versandt. Le Bas, noch die nächtliche Begebenheit im Kopf und nach allen möglichen Gründen der dringenden Botschaft fahndend, riß unruhig den Umschlag auf. »Ich bin beauftragt, Monsieur, Sie zu bitten, …« Noch nie begann ein Brief des Abbé so steif und feierlich – »... mit der allergrößten Rücksichtsnahme auf ein melancholisches und anhängliches Gemüt und mit möglichstem Zartgefühl Ihrem jungen Schüler eine traurige Botschaft zu vermitteln …« Le Bas flog über die üppig geschweiften Buchstaben …
Der Kaiser ist gestorben.
Der Kaiser sei am 5. Mai auf St. Helena gestorben. Madame beweine den großen Mann, der ihr ein Vater war und seinem Neffen den unsterblichen Namen als Vermächtnis hinterließ. Madame befehle, nach Empfang dieses Schreibens unverzüglich dem Prinzen Trauerkleidung anzulegen, wie sie auch Herrn Le Bas ersuche, analog den Bestimmungen für den Arenenberger Hofstaat, für sechs Monate schwarze Anzüge mit Trauerflor zu tragen. – Le Bas schüttelte den Kopf: das geht zu weit, mein lieber Abbé, und du selber, von dem man nicht recht weiß, was du Anno 89 getrieben hast – du selber wirst bei dem »Trauerflor« den kahlen Kopf schütteln oder dir boshaft das Doppelkinn kratzen. – Aber es ging ja nicht um den Trauerflor für Le Bas.
Louis war im Gymnasium. Ob die Kunde ihn treffen wird? Was trifft eigentlich dieses Kind – nein, es ist kein Kind: Le Bas dachte an die Nacht. Diese Erinnerung war peinlich und verwirrend. Das Blatt mit der nackten Frau, das Louis stumm zerriß, nachdem er Le Bas geküßt hatte, war beziehungsreich gewesen; es reichte bis zum toten Kaiser und störte noch jetzt die Stimmung für den Epilog. Was trifft eigentlich diesen jungen Menschen, der gewiß kein Leichtsinniger war, eher ein Schwermütiger und bei alledem kalt – wird ihn der Tod des Kaisers treffen?
Louis kam und wußte nach dem ersten Blick, daß etwas geschehen war. Auch er dachte sofort an die Nacht und bekam unruhige Augen. Es war merkwürdig: die Sicherheit, gar die Dreistigkeit, die er in der Nacht offenbarte, war verschwunden. Es war, als hätte Le Bas jene Entdeckung jetzt erst gemacht und als stellte sich das schlechte Gewissen jetzt erst ein. Er zwinkerte mit den Augen und zuckte nervös mit den Brauen.
Le Bas merkte das Mißverständnis, es war ihm unangenehm, er fand weder das Mittel, es klarzustellen, noch die rechte Einleitung für das, was zu sagen war.
»Louis, im Leben jedes Menschen sind Schmerz und Trauer eingebaut wie Pulverminen. Wenn es eine schlimme Nachricht für dich gäbe, die nichts mit deiner Mutter und deinem Bruder zu tun hat: welche träfe dich wohl am tiefsten?«
Das war keineswegs geschickt formuliert, Le Bas fühlte es. Louis aber erschrak kaum; er hatte auch sofort die Antwort bereit: »Wenn Sie mir nicht mehr gut wären, Herr Le Bas.«
Das war verlogen oder doch ein ganz billiger und handgreiflicher Opportunismus, der die Affäre der Nacht erledigen wollte. Le Bas ärgerte sich. »Schade,« sagte er, »ich schätze die Aufrichtigkeit, du leider nicht immer. Es handelt sich um etwas sehr Anderes. Der Kaiser ist schwer krank.«
»Ach,« machte Louis; er sah den Lehrer aus kleinen Augen an, und plötzlich wurde er dunkelrot. Le Bas wußte, warum er sich schämte ›... eine Frau für den Kaiser …‹ Beide dachten daran.
»Ach Gott,« quälte sich Louis, und dann entschuldigte er sich schon: »Ich kann mich gar nicht mehr an ihn erinnern, denken Sie, Herr Le Bas, und wenn ich ihn mir vorstellen will, sehe ich immer nur die vielen Bilder von Arenenberg – und das sind eigentlich ebensoviel verschiedene Gesichter …«
»Louis,« unterbrach Le Bas, beinahe scharf, »mir scheint, du kannst die Wahrheit vertragen. Der Kaiser ist am 5. Mai gestorben.«
Der Knabe, gesenkten Kopfes, fühlte den forschenden Blick des Lehrers. Wäre nicht vorhin das Wort von der Aufrichtigkeit gefallen, so hätte er wohl jetzt schon, dem Mann ins Gesicht, den Eindruck gezeigt, der zu zeigen war. In diesem unbarmherzig klaren Augenblick aber ging es nicht. Louis stand bewegungslos. Er dachte an Arenenberg und wußte, daß etwas geschehen müßte. Er drehte sich hastig um und ging hinaus. Schon in der Tür schluchzte er, ein wenig gewaltsam.
Le Bas ließ ihn gehen, er ließ ihm Zeit, er begriff ihn ja und seinen nicht ganz glatten Anlauf in die Trauerpflicht. Schließlich hatte er selber, Le Bas, mit großer und grober Einleitung nicht gespart. Aber die Art gefiel ihm nicht, er war mit ihr und mit sich so unzufrieden, wie in der Nacht. – Bin ich eine Schranze wie dieser und jener, nur ohne den Sarkasmus des Abbé, dem die zelebrierende Hortense soviel Spaß macht wie der schiefe Zuschnitt des Jungen? Mache ich die gefährliche Theodizee von Arenenberg mit? Geht mich der arme Oui-oui immer noch so wenig an? Ist jetzt nicht der Moment, zuzupacken und das junge Leben gerade zu biegen?
Er ging in Louis' Schlafzimmer hinüber. Der Junge lag auf dem Bett, das Gesicht im Kissen; und als er den Lehrer eintreten hörte, fingen seine Schultern an zu beben. »Louis!« rief Le Bas zornig; er hatte von der Komödie genug. Der Junge hob den Kopf, sein Gesicht war verweint – gleichsam ehrlich verweint, stellte Le Bas fest und wurde wieder unsicher. Louis stand langsam auf und schien vom Leid geschwächt. Le Bas schüttelte unwillig den Kopf; doch er mahnte sich zur Vorsicht und schlang den Arm um die Schulter des Knaben, weil er wußte, daß eine kleine Zärtlichkeit zur richtigen Zeit ihre Wirkung tat. Louis aber glaubte, wieder weinen zu müssen.
»Mon petit oui-oui,« sagte Le Bas gütig, »was mir jetzt weh tut, ist die Vorstellung, daß du mir oder vielleicht auch nur dir die Tränen um den Kaiser vorweinst, weil es sich so gehört …«
Er stockte. Louis schaute ihn an, etwas seitlich, noch mit tropfenden Augen – und lächelte wie ein Augur. Le Bas war versucht, das magere Schulterchen loszulassen und sich abzuwenden; aber er bezwang sich.
»Nehmen wir den Fall an, Louis, ich wäre nicht da und du hättest von deiner Mutter einen Brief mit der Trauernachricht bekommen, du ganz allein, ohne Zeugen: hättest du auch geweint?«
»Ja, Herr Le Bas.«
»Warum? – Sage es möglichst präzis, es interessiert mich.«
»Weil mir der Brief zusieht.«
»Der Brief hat keine Augen – das ist keine präzise Antwort.«
»Weil der Brief von Mama ist.«
»Gut, sagen wir, der Brief ist vom Abbé – sagen wir, der Brief ist von einer ganz unpersönlichen Amtsstelle.«
»Dann hätte ich auch geweint, weil ich, weil ich doch der Neffe des Kaisers bin und …«
»Und?«
Louis lächelte verlegen und sagte ganz leise: »Der Erbe.«
Er hatte dieses Wort aus dem sakralen Sprachschatz von Arenenberg noch niemals vor seinem Lehrer ausgesprochen, als sei er selber seiner Gültigkeit nicht sicher. Er sah jetzt Le Bas ängstlich an. Der Lehrer verzog nicht das Gesicht und fragte sachlich: »Was verstehst du darunter?«
»Das Kaiserreich,« flüsterte Louis.
»Das Kaiserreich existiert nicht mehr, wie du weißt – also ist auch das Erbe hinfällig.«
Louis starrte auf den Mund, der klar und streng und einleuchtend etwas aussprach, das sich nicht gehörte; denn es gehörte zu jener anderen Welt, die die Mutter böse, falsch und feindselig nannte. Und was sagte die Mutter von der Pflicht und der Aufgabe des Erben? »Herr Le Bas, ich muß es doch wieder aufrichten.«
Der Lehrer lächelte nicht. Er sagte sehr ernst: »Napoleon hat in zwanzig Jahren zehn Millionen Menschen gekostet. Erscheint dir das nicht genug?«
Zehn Millionen Menschen! Das Kind faßte die Zahl nicht, aber sie verwirrte ihn. Die Opfer zu addieren statt der Siege: was für eine neue Art, vom Kaiser zu sprechen! Was für eine ungehörige Art wieder!
»Herr Le Bas!« stammelte er, rot und blaß, »der Kaiser war der größte Held seit Cäsar!«
»Meinethalben,« gab Le Bas zu und tat, als bemerke er weder des Knaben Erregung (endlich ist er erregt! dachte er für sich) noch die einfältige Arenenbergiade, »oder sagen wir: er war der cäsarischste Mensch seit Cäsar, das heißt der bewußteste, raumweiteste und willenreichste Tatmensch seit Cäsar, vielleicht noch tatwütiger als er, aber sicher nicht so göttlich hell und glücklich, trotz des phantastischen Glücks von siebzehn seiner zwanzig Tatjahre … – Kommst du mit?« unterbrach er sich, als sei es Geschichtsstunde.
Louis blinzelte nervös und angestrengt und seine große Nase zuckte. Er antwortete nicht, er wiederholte nur leise und dringlich: »Göttlich hell und glücklich,« wie Vokabeln, die zu lernen waren.
»Cäsar, nicht Napoleon,« griff es Le Bas auf und betrachtete aufmerksam das unhelle und unglückhafte Gesichtchen. Spürte das Kind schon unklar und unheimlich das große Manko seines Wesens und die Satire seiner Erbschaft? Geht die Le Bas'sche Heilkur nicht gut an? »Und was den Helden betrifft,« dozierte der Lehrer, im tiefsten erregt und kampflustig, »so ist das ein dehnbarer Begriff und meiner Meinung nach nicht einmal ein cäsarisches Epitheton. Cäsar ist zu groß, zu gabenreich, zu glücklich, meinethalben zu übermenschlich, um Held zu sein. Held ist eine menschliche Angelegenheit, Cäsar ein Weltereignis. Der cäsarische Napoleon war ein Weltverhängnis, sein Ende keineswegs heldenhaft. Held ist der idealische und tugendsame Geist, der meistens kein Glück hat und immer in der Minderzahl ist, also unter tragischen Voraussetzungen kämpft. Heldisch ist die Opposition gegen Cäsar. Jeder Cäsar hat seinen Cato. Held ist Cato, der für die Republik stirbt.«
Verstand ihn noch der Knabe? Louis sah ihn an und sprach nichts. Er schien wieder ruhiger, die Aeuglein bewölkten sich, man sah nicht mehr in sie hinein. Le Bas wurde heftiger.
»Napoleon hatte seinen Cato; aber er hatte das ungeheure Glück und die Republik das Unglück, daß jener starb, als Napoleon noch Bonaparte, beinahe noch Buonaparte war. Weißt du, wer das war?«
»Nein,« sagte Louis unbeteiligt.
»Robespierre!« rief Le Bas.
Louis hob den Kopf. »Das Ungeheuer, sagt Mama.«
Was war das? Der Schüler wurde immer kälter, der Lehrer immer hitziger. Louis blickte aus schmalen Augenschlitzen zur Seite und sah widerspenstig aus. Le Bas wurde rot, er rief wie in einer Diskussion im politischen Klub: »Ein Ungeheuer an Reinheit, sittlicher Strenge, Kraft des Herzens und der Ueberzeugung! Er vergoß Blut, um die Republik zu verteidigen, Napoleon vergoß Blut, die Welt zu erobern!«
»Dem vergossenen Blut ist das ganz gleich«, warf Louis ein.
»Dem wahrhaftigen Helden ist das nicht gleich!« rief Le Bas und merkte noch nicht, daß er verlor, »die Catos vergießen auch das eigene Blut und retten sich nicht auf das Kriegsschiff ›Bellerophon‹, den Erzfeind anwinselnd! Und wenn dich der Name Robespierre irritiert, so will ich dir das heldische Ende seines Freundes erzählen, eines stillen und großen Mannes, Retters des Elsaß und Menschenwürdenträgers – das Ende von Le Bas …«
»Von wem?« unterbrach Louis erstaunt.
»Von meinem Vater Philipp Le Bas!« rief der Lehrer und stand auf, mit rotem Gesicht. – Er ist fast so, dachte Louis und unterdrückte sein Lächeln, fast so wie die Mutter im Arenenberger Salon, die auch nicht sitzen bleiben kann, wenn sie den »Adler« deklamiert. Le Bas sah in die Luft und sagte leidenschaftlich: »9. Thermidor, Robespierre, Le Bas, Saint-Just, Couthon und ihre Freunde sind außerhalb des Gesetzes gestellt, das Stadthaus ist von den Kanonieren und Sektionen blockiert, das Ende ist da, das Ende der Idee, Robespierre zieht das Pistol und drückt es gegen sich ab, aber er zerschmettert sich nur das Kinn. Le Bas glaubt, er sei tot und schießt sich eine Kugel in den Kopf. Le Bas ist tot, Robespierre kommt noch auf den Karren.«
Le Bas schwieg und wollte die Wirkung auf den Knaben abwarten. Louis sah ihn nicht an und rührte sich nicht. Le Bas wurde unsicher: »Ja, Louis, so starb mein Vater. Was sagst du dazu?«
Louis hob nicht den Kopf und sagte: »Helden, die sich totschießen, nützen garnichts, finde ich.«
Der Lehrer war enttäuscht und etwas verlegen. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
Louis lächelte. »Doch, Herr Le Bas. Sie sind der Sohn Ihres Vaters und ich bin der Neffe des Kaisers.«
Der Angriff war abgeschlagen. Le Bas wurde in der Niederlage grob. »Der Kaiser hat noch einen Sohn, Louis, und dein Bruder ist der Aeltere – vielleicht der Kräftigere. Und wird dein Wiener Vetter nichts als Oesterreicher und will ein Neffe schon erben oder, besser gesagt, den Prätendenten machen, dann pfeift er auf den Senatskonsult von 1804.«
Louis schüttelte unerschüttert den Kopf. »Der Wiener ist eingesperrt, sagt Mama, und hat es auf der Brust, sagt Mama, und Charles ist gar nicht kräftiger als ich, Herr Le Bas – er tut nur so, er ist, unter uns gesagt, ein Maulheld.«
– Aber vorhin schien es ihn doch zu treffen und mitzunehmen, dachte der Lehrer, warum vermag er jetzt, mich abzuschütteln? »Das ist alles gleichgültig, Louis,« rief er gekränkt, »du bist noch zu dumm und zu jung, um es einzusehen. Die Zeit pfeift auf Sohn und Neffe, mein armer kleiner Cäsar – und das sage ich dir, Louis, das Volk pfeift auf das Erbe, und steht es wieder einmal auf, dann schlägt die Uhr von neuem neunundachtzig …«
Louis schüttelte widerspenstig und etwas töricht den Kopf. »Dann erbe ich die Republik, Herr Le Bas,« sagte er sanft und lächelte; er ging auf den Lehrer zu, umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Haben Sie keine Angst vor Mama, ich sage nichts, ich habe Sie viel zu lieb, Herr Le Bas … – und Sie sagen nichts von dem Algebra-Heft …«
Le Bas wurde rot.
N hatte verfügt, daß sein Herz nach Parma komme. Die Witwe zu Parma hatte keinen Raum für das fremde Herz: sie erwartete ein Kind von Neipperg. Gab das fremde Herz, das endlich zu schlagen aufgehört hatte, immer noch keine Ruhe? Sie schrieb an den Kaiserlichen Vater nach Wien: »Mein einziger Wunsch geht dahin, daß man die Asche des armen Seligen nun einmal in Ruhe lasse und auch sein Herz in seiner Gruft verbleiben könne.«
Der Trauerfall war gegeben, er war sogar in Wien willkommen. Wer tot ist, rührt sich nicht mehr. Es erhob sich aber die Frage der Trauerkleidung für den Sohn des Toten, ein schönes zartes engbrüstiges Kind, Herzog von Reichstadt. Er lernte schlecht und recht den österreichischen Kavalier, der er zu werden hatte. Er trieb seine Lehrer zur Verzweiflung, weil ihn Oesterreich nicht interessierte, sondern nur die napoleonische Legende, die in der Hofburg keinen Kurs hatte. Das erledigte Phantom saß ihm im Blut, es brannte in ihm – vielleicht wird er daran verbrennen, dachte der allmächtige Kanzler. Und da es ihm die brutal pazifizierte Zeit und jetzt der Tote erlaubte, in kleinen Dingen großzügig zu sein, ließ er den Knaben in Schwarz gehen. Der Militärgouverneur meldete, der Knabe weine beängstigend, er habe wieder Temperatur.
Der Exkönig in Rom trug Schwarz, sein Sohn Charles trug Schwarz; er wurde dem toten Kaiser immer ähnlicher. – Ein Geschenk des Himmels oder der Hölle, aber ein Geschenk, sagte sich der Vater, Sieger und Stratege von besonderer Art.
Die Gräfin Walewska war vor vier Jahren im Kindbett gestorben. In ihrem Testament stand, daß der Sohn Alexander Walewski Trauerkleider zu tragen habe, wenn der Kaiser stürbe. Der Mann, mit dem sie sich verheiratet hatte, führte ihren letzten Willen aus; denn er war Bonapartist, als Alexanders Stiefvater beinahe Familienmitglied. Der Schüler Alexander Walewski ging in Schwarz, von Kopf bis Fuß, und war etwas verlegen.
Zu Leon, einem eleganten Gymnasiasten, kam der Vormund, ehemaliger Sekretär des Kaisers. »Herr Baron, ich brauche dringend hundert Francs.« – »Sie tragen immer noch keinen Trauerflor, Leon.« – »Geben Sie mir die hundert Francs und ich trauere, cher Baron.«
Der Fürst Talleyrand dinierte mit dem Grafen Flahaut im Café de Paris. »Mein Junge,« sagte er zu ihm, »die Deszendenz ist nicht unkompliziert: aber der große Tote und ich kleiner Lebende, haben den gleichen Enkel, dank deiner Vermittlung. Wir haben also Familientrauer.« Flahaut schwieg. Talleyrand sagte: »Ich werde meinen verblichenen Kaiser ehren, indem ich meinen augenblicklichen König bitte, unseren gemeinsamen Enkel zum Grafen zu machen. Das sei der Ersatz für den Trauerflor.« Flahaut schwieg. Er liebte den Vater nicht.
Die großen Ferien begannen wenige Tage später. Le Bas und Louis fuhren nach Arenenberg, Hortense stand in tiefer Trauer, schwarz und etwas dramatisch, zwischen den eisernen Säulen des Portals, Mutter und Sohn umarmten sich, der Lehrer trat zur Seite, um seinem Schüler das Weinen zu erleichtern; Hortense aber, in Tränen scharfsichtig, hielt ihn mit der Frage an, ob er an die Trauerkleidung für sich gedacht habe; er trage stets schwarze Anzüge, entgegnete Le Bas, und glaube nicht, unangenehm aufzufallen; Hortense vermißte den befohlenen Trauerflor an Hut und Aermel; er habe in seiner Familie keinen Trauerfall, bemerkte Le Bas bündig und ging mit einer kleinen Verbeugung ab. Der Anfang verhieß nichts Gutes. Louis lenkte die Entrüstung der Mutter zur Trauer zurück, indem er nachdrücklich weinte und Hortenses Mund mit Küssen verschloß. In den feierlichen und etwas langweiligen Gesprächen, die die Mutter dann mit dem Sohn führte, getragen und gedämpft wie am offenen Grab – sie war ganz allein mit ihm, im verdunkelten Salon, in dem nur die schwarzen Kerzen rechts und links vor den Kaiserbildern brannten –, gelang es Louis, seinen Lehrer wieder in Gunst zu bringen: er erfand einen hingegebenen Augsburger Epilog Le Bas' auf den großen Toten, er deklamierte ihn sogar, er fand alle Worte des Kultes, der in Arenenberg zu Hause war, und legte sie dem Lehrer in den Mund. Hortense ließ dann Herrn Le Bas zur Abendtafel rufen und drückte ihm mit bewegten Worten die Hand. Louis sah aufmerksam zu. Le Bas wurde rot.
So ging alles gut, Louis handhabte die Trauer wie befohlen, blieb auf dem Posten und sprach selbst zu Le Bas nicht von der Volte, die er geschlagen hatte. Der Lehrer schätzte es, daß der Schüler keinen Dank von ihm erpreßte: er hätte es ihm zugetraut. Ganz im Innern aber war er unsicher geworden: der Knabe war ein schwieriges Instrument. Die Hoffnung, es zu meistern, war gering geworden. Vielleicht war der Weg der richtige, den Louis gehen würde. – Der See lag wie blaues Glas unter dem Augusthimmel, sie spazierten auf der Reichenau, Platte voll Gold des Getreides. Die Sonne summte in den Ohren.
»Herr Le Bas,« flüsterte Louis, weil es so still war, und faßte nach seiner Hand, »göttlich hell und glücklich sein wie Ihr Cäsar: kann man es lernen?«
Le Bas blieb stehen. Sollte er ja sagen, als Dank für den ersparten Trauerflor? Louis hatte ihn losgelassen und war weiter gegangen. »Ich weiß schon, Herr Le Bas,« sagte er über die Schulter, »das kann man nicht lernen.« Er trug die eine Schulter etwas höher als die andere und hatte einen sehr kurzen Hals. Sah man genauer hin, so mochte man meinen, er sei ein wenig verzeichnet.