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VI.

Bei der Heimkehr führte Fritz diesmal Bernerette in ihre Wohnung. Er fand diese in so ärmlichem Zustande, daß er leicht begriff, warum sie zuerst seine Begleitung abgelehnt hatte. Sie wohnte in einem wenig einladenden Miethause, dessen Eingangsthür am Ende eines dunklen Ganges lag. Ihre beiden Zimmerchen waren kaum möbliert zu nennen. Vergebens richtete Fritz einige Fragen an sie, um zu hören, wie sie in diese bedrängte Lage gekommen wäre. Sie antwortete ihm kaum darauf.

Als er sie einige Tage später aufsuchen wollte, und in den dunklen Gang trat, hörte er oben auf der Treppe einen auffallenden Lärm. Frauen schrieen, man rief um Hilfe und drohte, man würde nach der Polizei senden. Mitten aus diesem Gewirr von Stimmen klang die eines jungen Mannes hervor, den Fritz bald zu Gesicht bekam. Er war bleich, in zerrissene Kleider gehüllt und außer sich vor Trunkenheit und Wut.

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»Du wirst mir's bezahlen, Luise,« schrie er und schlug dabei auf das Treppengeländer, »Du wirst mir's bezahlen, ich werde Dich wieder finden und Du wirst meinen Willen thun, oder Du sollst meine Faust fühlen. Eure Drohungen und das Weibergekreische soll mich nicht hindern. Bald bin ich wieder hier!« Damit ging er die Treppe hinunter und eilte wütend fort. Fritz wollte nicht hinaufgehen; da sah er Bernerette oben stehen. Sie erklärte ihm, was die Scene zu bedeuten hätte. Der Trunkene, der sich eben entfernt hatte, war ihr Bruder.

»Sie haben den unglückseligen Namen Luise gehört,« sagte sie unter Thränen, »und Sie wissen, daß er mir Armen angehört. Mein Bruder war heute abend in der Kneipe und so behandelt er mich, wenn er von dort kommt, weil ich ihm kein Geld zum Weitertrinken gebe.«

Noch ganz aufgeregt und weinend erzählte sie nun Fritz, was sie ihm bis dahin immer verhehlt hatte. Ihr Vater war ein armer Schreiner; nach einer unter schrecklichen Mißhandlungen verbrachten Jugend hatten sie ihre Eltern im Alter von sechzehn Jahren an einen schon ziemlich bejahrten Mann verhandelt. Dieser, ein reicher und wohlgesinnter Mann, hatte ihr einige Ausbildung zu teil werden lassen; aber er war bald gestorben, und da sie gänzlich mittellos war, mußte sie noch froh sein, bei einer kleinen Schauspielertruppe Aufnahme zu finden. Ihr Bruder war ihr dann von Stadt zu Stadt gefolgt und hatte sie gezwungen, ihm ihren Verdienst zu lassen, oder sie beschimpft und mißhandelt, wenn sie sein Verlangen nicht befriedigen konnte. Als sie achtzehn Jahre alt geworden war, hatte sie sich endlich frei machen können; aber auch der Schutz des Gesetzes wahrte sie nicht vor den Besuchen dieses verhaßten Bruders, der ihr durch seine Gewaltthätigkeit Entsetzen erregte und dessen Aufführung eine Schmach war. Das war etwa der Inhalt der abgebrochenen Mitteilungen, die der Schmerz aus Bernerette herauspreßte und an deren voller Wahrheit Fritz nach allem nicht zweifeln konnte.

Wenn er nicht Liebe zu dem armen Mädchen empfunden hätte, so würde ihn doch das Mitleid erweicht haben. Er erkundete die Wohnung des Bruders; einige Goldstücke und eine entschlossene Sprache verfehlten bei ihm ihre Wirkung nicht. Der Portier erhielt den Auftrag, wenn der Bruder wieder käme, ihm zu sagen, Bernerette sei in eine andere Wohnung gezogen. Aber damit war erst noch wenig für ein Mädchen gethan, dem es an allem gebrach. Statt die eigenen Schulden zu tilgen, bezahlte er Bernerettes. Umsonst suchte sie es ihm auszureden. Er wollte gar nicht daran denken, wie unvorsichtig er handle, und welche üblen Folgen für ihn daraus entspringen könnten. Er folgte dem Zuge seines Herzens und versicherte hoch und teuer, was auch kommen sollte, er würde seine Handlungsweise nicht bereuen.

Dennoch mußte er bald einige Reue fühlen. Denn um seinen Verpflichtungen nachzukommen, war er genötigt, noch schwerere und drückendere auf sich zu nehmen. Es fehlte ihm von Natur die Sorglosigkeit, die in dergleichen Lagen mindestens die Besorgnis vor kommendem Unheil verscheucht. Ganz im Gegenteil war ihm von seinen soliden Eigenschaften, die er eingebüßt hatte, die klare Voraussicht allein geblieben. Er wäre traurig und menschenscheu geworden, wenn man das in seinem Alter sein könnte. Seinen Freunden entging die Veränderung nicht, aber er verschwieg ihnen den Grund. Um sie zu täuschen, suchte er sich selbst zu betrügen und ließ aus Schwäche oder weil er es nicht ändern konnte, den Dingen ihren Lauf.

Indessen wiederholte er Bernerette gegenüber regelmäßig die Versicherung, er werde nächstens Paris verlassen. Doch er blieb und besuchte sie alle Tage. Als er mit den Treppenstufen vertraut war, kam ihm der Gang nicht mehr so dunkel vor; die beiden Zimmerchen, die ihm erst so öde erschienen waren, hatten nun einen heitern Glanz. Die Morgensonne schien hinein, und ihre Kleinheit ließ sie schneller warm werden. Es fand sich Raum für ein gemietetes Piano. In der Nähe gab es ein gutes Restaurant, aus dem man sich das Mittagessen konnte holen lassen. Bernerette hatte ein Talent, das man nur manchmal bei Frauen trifft, sie war zugleich leichtherzig und sparsam; aber dazu kam eine noch viel seltenere schätzenswerte Eigenschaft, sie war mit allem zufrieden und fühlte sich immer getrieben, anderen ein Vergnügen zu bereiten.

Aber auch ihre Fehler müssen zur Sprache kommen. Ohne faul zu sein, gab sie sich doch einem unbegreiflichen Nichtsthun hin. Wenn sie ihren kleinen Haushalt mit überraschender Schnelligkeit besorgt hatte, brachte sie den ganzen Tag mit übereinandergeschlagenen Armen auf dem Sofa zu. Sie sprach von Nähen und Sticken, wie Fritz von seiner Abreise sprach, das heißt, sie that einfach nichts. Unglücklicherweise sind sehr viele Frauen so, besonders in einer gewissen Klasse, die gerade Beschäftigung mehr nötig hätte als jede andere. Es giebt in Paris solche Mädchen, die, in größter Armut geboren, niemals eine Nadel in der Hand gehabt haben und vor Hunger umkommen könnten, während sie sich die Hände mit Mandelseife waschen.

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Als die Karnevalszeit angebrochen war, stellte sich Fritz, der die Bälle eifrig besuchte, zu jeder Stunde bei Bernerette ein, bald bei Tagesanbruch, bald mitten in der Nacht. Manchmal fragte er sich, wenn er an der Thür schellte, unwillkürlich, ob er sie wohl allein finden würde. Und sollte ein Nebenbuhler seinen Platz eingenommen haben, hätte er da ein Recht, sich zu beklagen? Sicherlich nicht, da er nach seiner eigenen Erklärung dieses Recht nicht in Anspruch nehmen wollte. Sollte man es glauben? Was er fürchtete, das wünschte er fast zu gleicher Zeit. Dann hätte er doch den Mut zur Abreise gewonnen, und die Treulosigkeit seines Mädchens hätte ihn genötigt von ihr zu scheiden. Aber Bernerette war immer allein, tagsüber neben dem Feuer sitzend, kämmte sie ihre langen, über die Schultern herabwallenden Haare; schellte Fritz des Nachts, so kam sie halb nackt, die Augen geschlossen und ein Lächeln auf den Lippen herbeigeeilt; noch schlaftrunken warf sie sich ihm um den Hals, fachte das Feuer wieder an, brachte etwas Eßbares zum Vorschein, immer bereit und allen Wünschen zuvorkommend, und niemals fiel es ihr ein, zu fragen, woher ihr Liebster käme. Wer hätte einer so süßen Gewohnheit, einer so seltenen und fesselfreien Liebe widerstehen können? Mochte auch der Tag manchmal noch so sorgenvoll gewesen sein, Fritz schlief glücklich ein, und konnte sein Erwachen ein trauriges sein, wenn er seine heitere Gefährtin im Zimmer geschäftig sah, das Bad und das Frühstück zu rüsten?

Wenn es wahr ist, daß die Seltenheit des Beisammenseins und unaufhörlich neu erstehende Hindernisse die feurigsten Leidenschaften zeitigen und dem Vergnügen immer wieder den Reiz der Neuheit verleihen, so muß man aber auch zugestehen, daß im beständigen Umgang mit dem geliebten Wesen, in der Gewohnheit des Zusammenlebens ein eigener, vielleicht noch süßerer und gefährlicherer Reiz ruht. Diese Gewohnheit, sagt man, führt zur Sättigung; das mag sein, aber sie bringt auch Zuversicht und sorglose Sicherheit mit sich. Liebende, die sich nur in langen Zwischenräumen sehen, sind niemals sicher, daß sie einander verstehen; sie bereiten sich auf ihr Glück vor, sie wollen sich gegenseitig überzeugen, daß sie glücklich seien, und sie suchen, was sich nicht finden läßt, das heißt, Worte, die ihre Gefühle ausdrücken sollen. Die beisammen leben, brauchen nichts Besonderes auszudrücken, sie empfinden gemeinsam, sie tauschen Blicke, sie gehen Hand in Hand spazieren; sie allein kennen den köstlichen Genuß: die sanfte Mattigkeit des nächsten Morgens; sie erholen sich vom Taumel der Liebe in freundschaftlicher Hingebung. Ich habe wohl manchmal dieser reizvollen Fesseln gedacht, wenn ich zwei Schwäne sah, wie sie sich auf klarem Gewässer neben einander vom Strome hintreiben ließen.

Hatte sich Fritz zuerst durch eine Regung der Großmut leiten lassen, so hielt ihn der Reiz dieses für ihn neuen Lebens dauernd gefesselt. Leider kann nur die Feder eines Bernardin de Saint-Pierre dem Leser die Alltäglichkeiten einer ungestörten ruhigen Liebe anziehend erscheinen lassen. Auch konnte dieser gewandte Darsteller seine naiven Schilderungen durch die Beschreibung der wunderbaren Tropennächte auf der Île-de-France verschönern, er konnte uns erzählen, wie Virginiens nackte Arme unter dem Schatten der poesievollen Palmbäume erschauerten. Er malt uns seine Gestalten auf dem Hintergrund einer überreichen Natur; soll ich aber berichten, daß meine Helden alle Morgen zum Tivoli gingen, von dort zu ihrem Freunde Gerard, hierauf manchmal zu Very zum Diner und sodann ins Theater? Soll ich erzählen, daß sie, wenn sie sich ermüdet fühlten, beim gemütlichen Feuer Dame spielten? Wer würde solche Trivialitäten lesen wollen? Und wozu, wenn ein Wort genügt? Sie liebten sich und lebten beisammen; und das dauerte beinahe drei Monate.

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Da befand sich Fritz in einer so bedrängten Lage, daß er seiner Freundin die unabweisliche Notwendigkeit der Trennung ankündigen mußte. Sie war darauf seit einiger Zeit gefaßt und versuchte ihn nicht zurückzuhalten; sie wußte, er hatte ihr alle erdenklichen Opfer gebracht; es blieb ihr also nichts weiter übrig als Verzicht zu leisten und ihm ihren Kummer zu verbergen. Sie speisten noch einmal zusammen. Fritz ließ beim Hinausgehen ein kleines Papier in Bernerettes Muff gleiten, das alles enthielt, worüber er noch verfügte. Sie begleitete ihn bis zu seiner Wohnung und sprach auf dem ganzen Wege kein Wort. Als die Droschke hielt, küßte sie ihrem Liebhaber thränenden Auges die Hand, und sie trennten sich.


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