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Wer ist es, der denkt?
Lichtenberg hielt dafür, lieber zu sagen: »Es denkt«, so wie man sagt »es blitzt«. Alles existiert ja nur, insofern es teil hat am unendlichen Bewußtsein; die Art, in der es teil hat, läßt es dann eben als Sonne, Planet, Vogel, Fels, Büffel oder Mensch erscheinen, ist schließlich nur eine der Umgruppierungen des großen »es denkt«. Ganz von Gott verlassene Sachen in den Kosmos gesetzt zu haben, ist füglich erst dem Menschen gelungen durch tote Ungeburten, die er »Güter« nennt: Schutzdeckchen, »Biskuit«gruppen, Haareinlagen, gedrechselte Klavierbeine, Konfirmationsbecher. Dinge, die jeder macht, um sie so rasch wie möglich wieder loszuwerden, mit denen Millionen Menschenleben eine Art wüsten Pfänderspiels treiben: rund um die Erde nur rasch, rasch mit Gewinn von Hand zu Hand und der sadistischen Schlußpointe: welcher glücklose Cretin bleibt endgültig damit hängen?
Sonst aber ist alles lebenswürdig vom urgleichen Geist beseelt und jeglicher Vollkommenheit – in seiner Art – offen.
Leben und Geist sind auch noch in den Dingen, die wir »gestorben« nennen, denn der Begriff des Todes existiert nur im Menschenhirn – nirgends sonst, und entstammt seiner Unfähigkeit, über das Ende eines leiblichen Ausdrucks der unendlichen Bewußtheit hinüberzublicken. Einen Baum, der aufhört, Blätter aus seinen Zweigen zu treiben und Saft durch seinen Stamm, nennt es »tot«. Aber Leben, Geist und Bewegung sind immer noch in diesem Baum; sie zerlegen ihn jetzt nur langsam – der Mensch nennt es Verwesung – und gruppieren ihn zu einem neuen Gedanken Gottes um. Denn Gott hatte sich versprochen, auch in der herrlichsten Eiche, dem kühnsten Tier, dem feurigsten Cherub: er wollte gewiß noch etwas viel Schöneres, Lieberes, Beglückenderes sagen – aber man ließ ihn halt wieder einmal nicht ausreden. Gott ausreden lassen, heißt Vollkommenheit.
Jedes freie lebendige Wesen soll eine besondere und einzigartige Form des Glücks verkörpern, das eben auf seiner Echtheit beruht. Alles Abirren von dieser Echtheit in irgendeine scheinbar vorteilhafte Lüge hinein, muß auch in letzter Linie eine Minderung an Glück zur Folge haben.
Die Vorstellung vom Tod aber ist die erste große Lüge.
Die wilde Eiche ist eine Facette der Wahrheit aus dem unendlichen Bewußtsein, sowie jedes Geschöpf, sei es Vogel, Fisch, Baum oder Alge, der planmäßige symmetrische Ausdruck einer Kraft ist, die der Mensch ebensowenig hervorbringen und begreifen kann, als er sich selbst zu erschaffen vermag. Diese Kraft wirkt sich im freien Tier, in der freien Pflanze aus der natürlichen Wechselbeziehung von Umwelt, Innenwelt und Wirkungswelt einen neuen Ausdruck für Glück. Alle wilden Geschöpfe haben in ihren natürlichen Lebensbedingungen eine Art Seligkeit, denn sie sind wahre Ausdrucksformen des großen Unbekannten, das wir in Ermanglung eines besseren Wortes, das unendliche Bewußtsein nennen wollen. Daß fast kein Tier in der Freiheit an Altersschwäche und eines natürlichen Todes stirbt, ist kein Gegenargument. In der wahnsinnigen jubelnden Ekstase des Liebesschreis, mit der der große Vogel einsam in der Morgendämmerung über die Tannen hin nach einer Unbekannten ruft: daß er gerade so gestaltet, so durchbebt an dieser Stelle rufen kann, ist seines Lebens Schönheit, Wahrheit und Glück, wie es gleichermaßen der unvergleichliche Sprung für die Wildkatze ist, mit dem sie, ein Dämon der Anmut, ihm den Jubelruf in der Kehle durchbeißt. Wo aber ist diese Wahrheit und Anmut, wenn der Mensch sein Geselchtes mit Bier hinunterschwemmt? Dann nähert sich sein Ausdruck in ganz verdächtigem Maße dem Geschöpft, in das er den behenden, reinlichen, starken, mutigen Eber infernalischerweise verzüchtet – verschweinzt hat ..., denn das Schwein ist Menschenwerk und zeigt so recht, was aus einer »Wahrheit« wird, die er in seine Pfoten bekommt, um sie aus kurzsichtiger Bauchperspektive zu »verbessern«. Nicht daß er vom Töten der Tiere lebt, ist das Schädliche, das heißt Sündige; vergossenes Blut ist lang nicht so arg, als zu Eiter verarmtes, zu Galle pervertiertes, zu Eis erstarrtes – – das Ende ist nur ein Augenblick; wie das Leben, nicht wie der Tod war, ist wesentlich. Darum, sagten wir, sei es Sünde wider das unendliche Bewußtsein, daß der Mensch es über sich bringen könne – – aus welchem Grund auch immer – einen »Fortschritt« darin zu erblicken, wenn aus einem starken, behenden, reinlichen Wesen ein schmutziger, aasfressender, viele hundert Pfund wiegender Fleischklumpen wird, dem er eine goldne Medaille verleiht, sobald die Beine das Monstrum nicht mehr aufrecht zu tragen vermögen. Das Schwein ist eine menschliche Lüge und muß sich, wie jede Lüge, schließlich am Lügner rächen. Die ebenmäßige, starkbeschwingte, sich selbst erhaltende Wildgans ist eine Wahrheit: ist einer der Ausdrücke des unendlichen Bewußtseins, um Glück und Kraft zu schaffen. Die watschelnde, hilflose, flügellahme, leberkranke, geschoppte Gans ist das, was von einer Wahrheit übrigbleibt, wenn der Mensch dazukommt. Freiheit, Kraft und Glück liegen in der vollen Entfaltung des Instinkts, und Instinkt heißt: eins sein mit den Dingen. Durch ihn wirkt höchste Weisheit und Wahrheit direkt auf diese besondere Form des Unendlichen ein, und gerade ihr bringt er, wo er sich frei entfalten darf, die größtmögliche Seligkeit: sie selbst zu sein.
Experimentiert der Mensch willkürlich mit einer solchen Verkörperung des unendlichen Bewußtseins, so beraubt er sie des Glückes, für das sie geschaffen war und lenkt zeitweilig eine ewige Wahrheit von ihrem Ziel ab. Denn Lüge ist eine Wahrheit, die von ihrem echten Ziel abgelenkt wurde. Sie kann es aber nur zeitweilig werden, denn die unendliche Kraft geht geradeaus und schiebt Willkür einfach zur Seite. Endlich muß sie doch ihren Willen haben, und alles, was der Mensch – sich selbst eingeschlossen – verunstaltet, verkünstelt, pervertiert hat, wird einfach nicht anders können, als schließlich zum reinen und untadeligen Ausdruck des Unendlichen zu werden.
Natürlicher werden bedeutet durchaus nicht eine Rückkehr zur Barbarei, sondern natürliche Verfeinerung, während, was wir bisher Zivilisation nannten, gekünstelte Roheit war: künstlich aufrecht erhaltene Roheit, wie sie unserem Niveau gar nicht mehr entspricht. Das unendliche Bewußtsein, nicht der Mensch, hat diesen Planeten mitsamt dem Menschen aus Chaos und Tumult in seinen gegenwärtigen, verfeinerten Zustand gebracht und schreitet darin, auf Wegen, die in ihrer Vielfalt hoch über unserem Verständnis hingehen, mit dieser Vergeistigung, die auch den Menschen sanfter, ätherischer und nobler formt, fort. Auch Ruskin sagt: »die Ruhe und Bereitwilligkeit, mit der wir es alle zulassen, daß etwas, weil es lange verkehrt gewesen, niemals richtig werden soll, ist eine der verhängnisvollsten Quellen des Elends und Verbrechens, darunter die Welt leidet«. Wann immer dir einer aus dem Grunde abrät das Gute zu versuchen, weil Vollkommenheit » utopisch« sei, so hüte dich vor dem Mann ... denn » utopisch« ist eins von des Teufels Lieblingswörtern.
Das große »Es denkt« besteht darauf, alles glücklich zu machen – – nichts bleibt ausgeschlossen. Je mehr von der elementaren Kraft, dem reinen Existenz- und Persönlichkeitsgefühl freigestalteter Tiere und Vögel in den geistigen Ozean strömt, desto mehr kann und wird der Mensch davon absorbieren. In kommenden Zeiten, wenn er gelernt haben dürfte, solch natürliche Ausdrucksformen in Ruhe zu lassen – – wenn er aufhören wird mit dem Versuch, sie umzulügen, dann wird er tatsächlich imstande sein, von diesem aufjubelnden Fluidum und Glücksgefühl zu leben. Der spirituelle Ozean wird von den Emanationen all dieser strahlenden Kraftgeschöpfe dicht genug werden, ihn und seine physischen Bedürfnisse allein zu tragen ... Er wird ihm zum Lebenselixier werden – – ihm Kraft verleihen und neue Möglichkeiten zeigen, um ohne den Totschlag an Tier, Vogel und Fisch zu existieren; vielleicht auch, um künstliche Verzüchtung an Pflanzen entbehrlich scheinen zu lassen.
Was ein Wesen an ungebrochenem Fluidum aussendet, wird von allen übrigen Wesen mitempfunden, strömt in das gemeinsame psychische Reservoir, das kommunistisch verwaltet wird. Die ganze Schöpfung soll saturiert werden mit schwebendem Geistglück: keine Orgie, vielmehr eine wunderbar organisierte Strömung wohliger Erregung wird ohne Unterlaß durch uns hindurchfließen. Willkürliche Eingriffe irgendwelcher Art – – wie das Einkerkern und Verkrüppeln der symmetrischen Kräfte lebendiger Wesen mindern vorübergehend ihr und unseren Weg zu dieser Seligkeit. Irgendwie wird sich der Schaden, den wir zufügen, an uns selbst fühlbar machen, denn alles Empfundene ist ein Gemeinsames. Mit Hinweglassung langweiliger Zwischenglieder als Gedankenstenogramm kurz: Paradoxon stilisiert, könnte man sagen: Weil sie die Gänse schoppen, müssen die Menschen nach Karlsbad. Vermöchten die Tiere Schadenfreude zu empfinden, Schwein, Gans, Ochse und Truthahn kämen vielleicht annähernd auf ihre Rechnung, zeigte man ihnen in imposanter Statistik die Stoffwechselerkrankungen, die verfaulten Gebisse, die lieblichen Harnsäurekristalle, zu denen ihr krankes und pervertiertes Fleisch in den Körpern ihrer frechen Schänder geworden. Nur die Pferde – – nein, die Pferde sind noch durch nichts annähernd gerächt. – Vielleicht muß das noch kommen; eine Prügel- und Jammerkur ohnegleichen. In irgendeiner Form strömt jedes ausgesandte Leid zurück; durch Schmerzen irgendwelcher Art werden wir daran erinnert, daß wir aus der Strömung des wahren Gedankens abgetrieben sind. Die Probe auf wahre Gedanken aber ist sehr leicht zu machen: sie müssen sich durch uns hindurch immer in dauerndem Glück auswirken. – Das Anzeichen der Lüge, wie sie durch uns ausgeheckt und zeitweilig wirksam wird, ist Schmerz in irgendeiner Form. In tiefem Ernst nach wahren Gedanken verlangen, heißt, uns mit dem unendlichen Bewußtsein in Kontakt setzen oder »eins werden«, das will sagen: immer klarer Mittel und Wege, die zu dauerndem Glück führen, erschauen lernen.
In beschränktem Maße haben wir ja schon gelernt, Freude aus der Landschaft, aus Seen, Wäldern und Wolken zu ziehen; alle Dichter aller Völker haben es von je intuitiv getan und in Liebe und Sympathie aus den Elementen dieses großen Lebens Inspirationen geschöpft, wie Wasser aus der Quelle. Aber von diesen lebendigen Wassern haben wir ja noch kaum zu trinken begonnen. Es gibt zu denken, daß in Japan, wo Kult und ekstatische Versenktheit in die Landschaft jedem Kind und jedem Kuli so natürlich und von selbst verständlich sind, wie die unbewußten Funktionen von Kreislauf und Atmung, bei einem uns fast unbegreiflichen Minimum an Nahrung, das ganze Volk an Gesundheit, Heiterkeit, Kraft und Freundlichkeit auf Erden nicht seinesgleichen hat. Der Anblick der Kirschblüte, wiewohl man sie nicht essen kann, hat vielleicht mehr zur Volksgesundheit beigetragen, als alle Reisernten zusammen. Der Japaner lebt nicht nur in der Natur, sondern in hohem Grade von ihr, denn der Mensch als größerer und feinerer Empfänger muß, einmal auf die Wellenlänge des unendlichen Senders eingestellt, besser und mehr von dessen Wesen zu erfassen vermögen als Baum, Vogel und Wild für sich. Dann wird er auch immer deutlicher empfinden, daß etwas hoch über ihm Wirkendes und Wirkliches darauf besteht, für ihn zu sorgen, ihn ganz eingehüllt in Glück, immer höher und höher zu tragen, und dieses Wirkende wird ihm immer wieder ins Herz sprechen: »Du kannst keine Wahrheiten schaffen – – das kann nur ich.« Nimm daher die Wahrheiten hin, wie ich sie dir gebe und sie werden dich in ein Entzücken geleiten, weit über dein gegenwärtiges Erfassen hinaus. Deine Art und Weise zu leben: von Verkrüppelung und Leid anderer zu leben, deine Erfindungen, deine Maschinen, deine sogenannte Gescheitheit und Zivilisation sind letzten Endes eine Blamage, denn sie haben versagt, dir das zu geben, was du doch allein suchst: Glück. Du hast dich soweit erniedrigt, um in Städten ohne Luft und Sterne zu vegetieren; deine Geschäftsmethoden machen die Leute irrsinnig vor Aufregung, die Nerven deiner besten Söhne reißen in der Mitte des Lebens. Du versuchst ausschließlich Lügen zu kaufen und Lügen zu verkaufen, Lügen zu schaffen und von ihnen zu leben – – aber sie bringen nur Leid.
Auch kann eine Unwahrheit nicht dauern. Sie kann nicht ewig so weiter Elend häufen, sei es auf Tier, Pflanze oder Mensch ... In dem Maße, als wir alles »veredeln«, »verbessern«, versteifen sich die Widerstände. Krankheiten und Degenerationserscheinungen befallen die verzüchteten Tiere. Ganz neue parasitäre Schädlinge erstehen den Ernten. Die gleichen giftigen Einspritzungen und Überspritzungen muß der degenerierte Mensch jetzt wie an sich selbst, so auch an seinen Kunstprodukten anwenden, denn eine Lüge will unaufhörlich gestützt, gehätschelt und gepflegt werden, sonst geht sie ein. Auch jede gedachte und gesprochene Unwahrheit braucht Pölzung durch eine zweite, und mit jeder falschen Hilfskonstruktion wird unsere Lage labiler und prekärer. In der Natur jeder Wahrheit aber liegt es, sich selbst erhalten zu können. Auch die freien Tiere erhalten sich selbst, bedürfen keiner Nachhilfe, weil sie wahre Formen sind in einer ihnen adäquaten Umwelt. In dem Maße als wir selbst freier, wahrer, feiner werden, wird sich die Anwendung dieses Gesetzes auf unser eigenes Leben deutlicher offenbaren. Bringen wir nur einmal den Mut auf, diesem unendlichen Kraftozean uns anzuvertrauen, jenem Unendlichen, das trotz unseres Sträubens, unseres hirnverbrannten Bockens darauf besteht, aus uns lebendige Wahrheiten statt Mißgeburten zu machen, wird alles für uns getan werden, neue Wege sich eröffnen, ungeahnte Möglichkeiten; alles für unser Glück Nötige muß kommen wie Licht und Wasser zur Pflanze.
Denn wir sind nicht die Erschaffer, wohl aber die Schöpfer wahrer Gedanken, insofern wir sie aus einem unendlichen spirituellen Reservoir schöpfen; an uns ist es, nur richtig geformtes Gefäß zu werden, wahren Gedanken weit geöffnet, im übrigen aber diesen das Werk anvertrauend. Sie werden uns kein müßiges, passives Leben geben, sondern eine neue Art glücklicher Aktivität in Kunst, Musik, Geschäft, Erfindung – in hundert neuen Arten, dem Bewußtsein heute noch fremd.
Sich einem neuzubildenden reinen Instinkt offen halten, der dann, individuell abgeschattet, wieder von uns strömt wie die Musik aus der Vogelkehle, darauf kommt es an. Ganz durchbebt werden von singenden Instinkten. Es wäre ja unser Privileg, dank höherer Organisation, diese strömenden Kräfte besser auszunutzen, wie Tier und Pflanze. Mächtigere und raschere Glücksresultate zu erreichen ... denn jedes Geschöpf besteht aus den Gedanken, die es in sich zu ziehen ... in seinen Organismus einzubauen versteht. Die Qualität seiner Wünsche und Aspirationen formt seinen Leib. Jede Zelle wird durch sie bestimmt an Art und Innervation. Nur Wahrheiten aber können dauernd eingebaut, Lügen müssen im Verlauf der Zeit wieder ausgeschieden werden. Was immer an Krankheit, Schmerz, Unrast und Sorge in uns arbeitet, es ist die Bemühung des Geistes, irgend etwas Verlogenes oder Fehlerhaftes herauszutreiben, nachdem es mikrobengleich sich dort festgesetzt hatte.
Wir kennen aber wahrscheinlich Lüge und Irrtum, die das Leiden verursachten, gar nicht – leben wir doch fast ausschließlich in ihnen – machen sie alle mehr oder weniger unsere Glaubenssätze aus. Sie zu finden, zu trennen, auseinanderzuhalten, ist daher auf einen Schlag unmöglich. Schon in dem Maße, als wir nach wahrer Einsicht streben, wird diese auch imstande sein, in uns zu strömen, und ihr proportional weichen die Irrtümer. Diese gehen und neue Gedankenelemente bilden neues, feineres Fleisch – reineres Blut. In dieser Weise regeneriert sich der Körper. Schmerz, leiblich oder geistig, ist das Warnungssignal, daß etwas Falsches versucht, sich unserem ewigen Wesen einzuverleiben; der große unbewußte Baumeister aber refüsiert das minderwertige Material.
Es wäre eine so große Hilfe, könnten wir uns nur dahin bringen, eine Wahrheit im Anfang wenigstens zu dulden, wenn wir zuerst auch nicht an sie zu glauben vermögen, fällt sie doch allzusehr aus dem Rahmen der gewohnten Lebenslüge heraus. Wir empfinden sie vielleicht sympathisch, erwünschen den Glauben, dieser aber bedeutet im höchsten Sinn etwas völlig in sich ausleben und auswirken lassen, ohne Frage oder Zweifel, in dem gleichen gradlinigen Vertrauen etwa, mit dem sich der Seefahrer auf Kompaß, Karte und Chronometer verläßt. Das scheint kaum möglich, ehe nicht eine Wahrheit sich in uns verkörpert hat – Teil unseres Leibes geworden ist. Wenn die wahren Gedanken vollkommener Gesundheit, ewiger Erneuerung und Unsterblichkeit im Fleische Teile unseres Hirns und Bluts geworden sind, erzwingen sie zugleich den Glauben ... erzwingen vollendete Gesundheit, ständige Erneuerung und Unsterblichkeit. Wirken sie aber einmal solcher Art, dann hören wir aber gleichzeitig auf, uns mit der Möglichkeit des Glaubens an sie noch weiter zu beschäftigen. Wir beschäftigen uns ja auch nicht mit dem Glauben, daß unser Magen wirklich Nahrung verdaue. Das von selbst Verständliche solchen Glaubens ist Kraft und Teil der Organe: Instinkt gewordenes Wissen. Ist doch ein Gedanke eine lebendige, bewegende, tätige Kraft – eine Realität, mächtig genug, um schließlich imstande zu sein, sich als Form niederzuschlagen oder mindestens durch sie hindurchzuwirken. Wunder würden wir das nennen; es ist aber nur die Auswirkung eines Gesetzes, dessen ersten, schwachen Kontur wir eben zu erahnen vermögen.
Je mehr Wahrhaftiges der Geist in sich zieht und einbaut, desto sensitiver wird er gegen alles Unechte, denn Unechtheit ist imitierte Wahrheit und daher noch schädlicher als schlichthin Erlogenes. Der durch und durch echtgewordene Organismus aber vermag das alles viel schneller auszustoßen, gleich wie ein gesunder Magen, ein gesunder Geschmackssinn Ungeeignetes einfach refüsiert ... es gar nicht erst zu assimilieren versucht. Gerade diese Umwälzung und Erneuerung – dieser gereinigte Instinkt aber mag dem Individuum eine Zeitlang erhöhte physische Störungen verursachen, denn der erweckte und durch Wahrheit gestützte Geist ist nun rastlos an der Arbeit, auszutreiben, was er vielleicht generationenlang gezüchtet hatte und unbewußt genährt.
Der Grund, warum man nicht lügen soll, ist also gar nicht so abstoßend » ethisch«, sondern einfach, um Krankheit und Elend zu vermeiden; weil Lüge und Tod eben identisch sind. In Lügen denken, heißt in einer falschen Richtung denken: Krummes, Unfruchtbares in unseren Körper hineinleben, das dem Aufbau seiner ewigen Elemente entgegensteht. Aus je mehr Unechtem wir bestehen, desto schwerer vermögen wir überhaupt noch eine Wahrheit zu erkennen, wenn sie uns begegnet ... grotesk ... kindisch ... lächerlich – oder am liebsten unwissenschaftlich werden wir sie nennen ... Letzteres schüchtert ja auch am besten die verstörte Herde der anderen Hereingefallenen ein; denn gar nichts zu glauben, verdeckt jede Unwissenheit und ist noch billiger, als alles zu glauben. Der Mut zur Wahl ist es, der den besseren Menschen charakterisiert: »Nicht Mangel an Verstand ... nicht Mangel an Vernunft ... Mangel an Urteilskraft ist, was man gemeiniglich Dummheit nennt« (Kant). Seit die Völker der weißen Welt mit den Dogmen ihrer Religionen so hereingefallen sind, ist eine förmliche Glaubenspanik ausgebrochen allem gegenüber, was nicht jeder sofort – zu jeder Zeit und in jeder Stimmung unausgesetzt riechen, sehen und tasten kann ... Auf Feineres auch nur hinhorchen dünkt ihn schon blamabel und halber Aberglaube. Bei solch geistiger Haltung aber müssen, in idealem Zusammenfluß mit einer lärmenden und, mechanisierten Umwelt auch dieses Sehen, Tasten, Riechen immer stumpfer werden, so daß er schließlich nur mehr imstande sein dürfte, das wahrzunehmen und an das zu glauben, was ihn gerade erschlägt.
Die unbehagliche, ja fast feindliche Stimmung des Menschen gegen einen Weg, der jedem die gleiche Möglichkeit zu dauernder Jugend und Schönheit eröffnen würde, kraft der aufbauenden Ströme von Willen, Traum, Wahrheit und Intuition aus dem Reservoir des unendlichen Bewußtseins, hat aber noch einen tief verhangenen, fast spaßhaft skurrilen Untergrund: im Candide von Voltaire fliehen auch der Held und sein Gefährte nach sechs Wochen ... ja wovor fliehen sie? ... sieh da ... vor dem Schlaraffenland, das sie zufällig gefunden. Halten's einfach nicht mehr aus, weil, nun – – weil es allen dort ebensogut gehen muß wie ihnen selbst.
Relativ echt und unverdorben ist der Mensch, der überhaupt noch weiß, wann er lügt. Bei ihm ist die Lüge gleichsam von Erkenntnis eingekapselt wie eine Trichine im Fleisch. Den meisten ist aber der ganze Organismus schon so völlig durchlogen, daß sie solch reinliche Scheidung gar nicht mehr vorzunehmen imstande sind. Das Wesen der Lüge ist eben die Täuschung, nicht nur das bewußt falsche Wort ... auch Selbsttäuschungen; eine Lüge, die wir im guten Glauben in uns hineinbauen, versperrt ebenso wie jede andere den in Wahrheit aufbauenden Elementen je und je den wertvollen Lebensraum. Viele Lügen, die sich kaum mehr auf den Beinen erhalten können, werden oft wieder zu Kräften gebracht mit dem frischen Blut einer Wahrheit; wie man völlig überzüchtete und nicht mehr lebensfähige Kaninchenrassen mit dem reinen Typus kreuzt, weil sie sonst rettungslos eingehen müßten.
»Eine Lüge, die eine halbe Wahrheit, ist aber der Lügen schlimmste.« Wenn wir z. B. Menschen in unserem Haus begrüßen, während wir sie hinwünschen, wo der Pfeffer wächst. Wenn wir lächeln, ohne im geringsten dazu angeregt oder amüsiert zu sein ... wenn wir uns und anderen ein Interesse für das Wohlergehen von Leuten vorspiegeln, weil sie Geld haben, von dem wir zu profitieren hoffen. Wenn wir einem Glauben, einem Verein beitreten aus Snobismus, Geschäftssinn, Prestige. Wenn wir von Plattform und Kanzel herunter Dinge künden, die unserer innersten Überzeugung nur halb entsprechen. Ein halbes Ja sagen, wenn wir ein ganzes Nein meinen. Das alles, und es ist nur ein magerer Ausschnitt und gar der Rede nicht wert, aus dem Weichselzopf der Alltagslügen wirkt sein Übel durch den Körper hin. Es ist das wie mit dem Alkohol: nicht so sehr der einmalige Exzeß, die unaufhörlichen kleinen Dosen des Giftes tagaus tagein unbewußt genommen – in den Kreislauf gebracht, ohne daß der Vergiftete sich ihrer bewußt wird, schaffen den hoffnungslosen Zustand. So ganz saturiert mit Unechtem, vermag der Körper es nicht mehr auszuscheiden – er glaubt und empfindet nur mehr Lügen. Das bringt ihm Krankheit und schließlich den Tod. Denn Unwahrheiten vermögen nicht zu dauern, was aus ihnen besteht, muß zerfallen, damit der Geist das seinem Ziel geeignetere Instrument erlange ... mit einem Wort: Es war wieder einmal eine verpatzte Inkarnation.
Was uns Übel und Verfall dünkt, ist eben des unendlichen Bewußtseins Aufgeben einer unhaltbar gewordenen Position.
Der zweite große Nachteil des Lügens ist, daß er uns in den Stromkreis aller anderen Lügner bringt, denen wir kraft einer inneren Verwandtschaft dann viel eher zu glauben geneigt sind, als einem lauteren Menschen. Der »smarte« Geschäftsmann in einer Branche wird sehr oft von einem nur gleich »smarten« der anderen Branche hineingelegt, denn ein echter und reiner Mensch ist ihm eher unsympathisch; ein stummer Antagonismus herrscht, ohne daß ein Wort zu fallen brauchte.
Die Lügen, von uns selbst alltäglich dem Kosmos in Wort, Atem, Gebärde und Leben geliefert, sind aber wieder gar der Rede nicht wert gegen alle jene, an die wir unbewußt glauben, um sie glaubend auszuwirken in uns, und dadurch wieder in andere um uns. Es ist eine psychische Seuche. Graue Haare, Runzeln, jedes Verfallszeichen der Körperzellen sind solch materialisierte Irrtümer; Zeichen, daß falsche Vorstellungen vorübergehend sich im Bewußtsein festgesetzt haben.
Eine dieser falschen Vorstellungen hält z. B. am Verfall, dem Unausbleiblichen, des Individuums fest – dem durch nichts Aufhaltbaren, Abwendbaren ... weil von Ewigkeit zu Ewigkeit als unveränderliches Gesetz je und je dem Kosmos eingeboren.
Das ist eine Lüge – die Haupt-, Erz- und Grundlüge. Die ganze Rasse hält sich derart festgesogen an ihr, daß sie überhaupt nie mehr in Frage gezogen werden darf. Wir füttern unsere Körper förmlich mit dieser Erwartung und man kann es nicht oft genug wiederholen: Gedanken sind Dinge, vom Geist dem Körper gesandt, wo sie als sichtbare Substanz kristallisieren. Der Körper ist ein Gedanke, der in substanzieller Form jenen Geist ausdrückt, der ihn erschuf. Wenn unser irrender Wille versucht, aus unechten Privatgedanken einen Körper zu schaffen, so kann dieser nicht dauern. Durch den Verfall wird eben seine Unechtheit offenbar. Wenn dagegen aus dem unendlichen Bewußtsein strömende Gedanken vom Geist dem Körper zugesandt werden, müssen sie sich dadurch erweisen, daß sie imstande sind, seine Zellen so dauernd zu erhalten, wie es das Leben des Geistes selbst ist – sind doch diese nun zu verdichteten, sich selbsterhaltenden Wahrheiten geworden. Der Weg heraus aus allen tödlichen Übeln, mörderischen Lügen aber ist so einfach und so wundervoll: nach wahren Gedanken verlangen, und nach Kraft verlangen, um sie auch glauben zu können, wenn sie kommen. Verlange die Fähigkeit, an ein unendliches Bewußtsein glauben zu können ... nicht nur so halb, sondern um es zu fühlen, wie wir den Atlantischen Ozean fühlen, in seinen Wellen schwimmend. Verlange andauernd und selbstbewußt, nicht als ein Almosen, nicht als eine Gnade etwas von jener Macht, deren Teil du doch bist, etwas, worauf sie besteht, daß du es haben sollst und haben wirst zur Vollendung ihres und deines absoluten Glückes – denn der mystische Wille zur Unsterblichkeit im Fleische ist eine Richtung des Gemütes.
Aber wo liegt diese Richtung – – – wie sich in sie einstellen – – – was tun? so höre ich all diese gescheiten, gebildeten, zivilisierten Leute sagen, weil sie ja in spirituellen Dingen noch hilflos herumtasten wie Säuglinge. Erst eine Gegenfrage: Wie würdest du dir die Haltung eines Menschen in folgender Lage denken: angenommen, du habest etwas für ihn bereit, das ihn fördert und veredelt, zugleich aber auch dich erhöht und beglückt; etwas, das nur zu diesem einen Zweck – – – und nur von diesem bestimmten Menschen verwendet zu werden vermag, wie würdest du erwarten, daß seine Haltung gegen dich sei? Wie müßte sein Gemüt auf Geber und Gabe sich einstellen? Genau so, wie du es von diesem Menschen erwartest ... verhalte dich dem unendlichen Bewußtsein gegenüber und der Wahrheit, die es für dich bereit hält. Würdest du wollen, daß er sich dafür demütige, – – daß er bettle und kröche für etwas, das, wiewohl von dir stammend, doch nur durch das Medium seiner Hände lebendigen Wert gewinnen kann? Nein, aber du wirst erwarten, daß er mit einer hellen und lebendigen Spannung sich zum Empfangen bereite und zugleich aktiv mache, denn er ist nicht Empfänger eines Vollendeten, sondern vollenden soll es sich ja erst an ihm – durch ihn.
Darum hat diese Richtung und Haltung des Gemüts nicht das geringste mit christlichem Quietismus gemein; kein einfach passives Sichleermachen, dasitzen, die Arme kreuzen und auf die »Gnade« warten.
Am ehesten könnte man den richtigen Zustand als lebendige Passivität kennzeichnen – im unendlichen Bewußtsein gibt es weder Bettelei, noch Abhängigkeit, noch Gnade – – auch diese sind noch Lügen. Sein Inhalt aber ist nichts als Wahrheit, und die Qualität unserer Geistigkeit hat der seinen so ähnlich wie möglich zu werden. Nur dieses heißt: Gott nahe sein.
Ernstes und serenes Verlangen beweist durchaus nicht Mangel an Ehrfurcht – ist weder Insolenz noch Insult. Je mehr wir in den Atem des unendlichen Bewußtseins eingehen, desto mehr werden wir es verehren lernen; Flehen und Betteln aber sind nicht Verehrung. Der Bettler verehrt dich durchaus nicht, weder wenn er um deinen Schilling winselt, noch wenn er ihn erhalten hat. Die unendlichen Ströme der Kraft lieben jenen Geist und neigen sich ihm, der spricht: »Ich verlange, ein vollkommener Mensch zu sein. Ich verlange, den rechten Weg zu erfahren.« Verlangen ist ja Forderung und Sehnsucht in einem, es ist dein gutes Recht, und das unendliche Bewußtsein will, daß du endlich deine Rechte kennst und geltend machst. Es sagt: »All dies ist dein, wozu zögern und betteln.«
»
Das ist rechte Einigkeit,
wo mich entsetzt nicht Lieb noch Leid,
ich bin entworden.«