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Heute war mein Jagdtag in der Woche. Die Jagd in Sumatra ist etwas andres wie in Deutschland. Ich meine nicht der andern Tier wegen. Tiger, Elefanten, wilde Kühe und Rhinozerosse sind gewiß um viele Grade wilder als bei uns die Füchse und die Wildsau. Aber Tiere sind im Grunde Tiere, hier und drüben. Grade trennen sie, nicht Gräben.
Den Menschen in Europa aber trennt vom gleichen Menschen in der Südsee eine Welt, ein tiefer Graben. Keine Brücke führt darüber. Der Europäer hat die Jagd nicht nötig. Versetze ihn nach Sumatra und verhindre ihn am Jagen, wenn die große Stimme aus den Wäldern ihn zum Tanze ruft: Er wird schwammig werden, aufgedunsen und verkommt.
Der Spursucher und ich hatten den ganzen Tag gejagt. Ohne etwas zu erlegen. Darauf kommt es drüben gar nicht an. Nicht das auszählbare, auswägbare Ergebnis eines Unternehmens ist dort drüben wichtig. Mit einem Worte, nicht das Ziel macht in den Tropen unser Leben lebenswert. Nein, der Weg dazu.
Durch Wälder, Sümpfe, Wiesen, über Berg und Täler hatte uns der Jagdweg hin- und hergetrieben. Wir jagten – oder wurden wir gejagt? Niemand kann das unterscheiden, der sich eingeflochten fühlt, Natur, in deinen Tropenteppich. Mag dein Finger immerhin am Drücker deiner Flinte vor dir liegen, 37 Jäger, hinter dir hörst du's von einer größeren, einer unsichtbaren Flinte knacken, die auf dich gerichtet ist – du schrickst zusammen. Einen Augenblick nur, und schon lächelst du und fühlst dich zwischen Jagen und Gejagtsein plötzlich wohlig eingebettet und geborgen: Du bist eingeschlagen zwischen Schuß- und Kettenfäden, welche unaufhaltsam hin- und widerflitzen, nichts geschieht im All, woran du keinen Anteil hättest, woran dein Schicksalsfaden zitternd nicht mitwebte – niemals wird Natur die Masche, die du darstellst, fallen lassen, so als seist du nicht gewesen. Wenn dich das nicht tröstet, Mensch im Urwald, bist du nie ein Mensch gewesen, in Europa nicht und nicht in Sumatra.
»Herr, fünf Uhr ist es,« schlug im wilden Jagen des Spursuchers melodisch sanfte Stimme an mein Ohr.
Ich hörte nicht, ich wollte ihn nicht hören – jagen will ich, jagen.
»Herr, halb sechs Uhr ist es.«
Mochte es. Was war im Jagen Zeit.
»Herr, weißt du nicht, was es bedeutet, wenn man um halb sechs nicht auf dem Heimweg ist im Urwald?
»Der Gehörnte soll dich holen – zeig mir, wo der Urwald aufhört und das Feld beginnt, wo es noch hell ist, wenn der Wald schon schläft.«
Der Spursucher gab mir keine Antwort. Er zeigte leichthin in die Richtung, wo mir der Wald am dunkelsten und tiefsten schien. Hundertfünfzig Meter weiter, und wir schritten über freie Felder. Ach nein, wir schritten nicht, wir jagten.
»Herr, sechs Uhr ist es.« 38
»Meinetwegen sieben – laß mich jagen.«
»Herr, weißt du, was es heißt, nach sechs Uhr noch nicht überm freien Felde seine Farm zu sehn?«
Ich ergrimmte: »Hab' ich dich als Prediger oder als Spursucher mitgenommen, he?«
»Als Spursucher,« sagte er, nein, sang er mild und schwieg von da ab, wie ein Kind schweigt, das um keinen Preis, auch um den des Unterganges nicht, zum zweitenmal gescholten werden will.
Wieder ging es kreuz und quer. Der Spursucher lief geschmeidig vor mir her und äugte, roch und tastete nach Spuren des gejagten Wildes.
Plötzlich blieb er stehen, wendete sich um und legte mir die Hände auf die Schultern, lind, wie Mädchen dem Geliebten: »Herr, halb sieben ist's, ich sehe keine Spur mehr.«
»Dann taste sie!« fuhr ich ihn an.
»Herr, im Dunkeln bringt auch Tasten nicht mehr weit.«
»Zum Donnerwetter: rieche sie!«
»Herr, die Nacht kommt und Gerüche führen in die Irre. Kannst du –?«
Er unterbrach sich, schwieg und starrte eine kurze Weile in die Weite. Während dieser Zeit fiel die Nacht ein. Die Nacht fällt ein, sagt man in Deutschland. Unter dem Äquator fällt die Nacht nicht ein, sie überfällt dich. Wie mit einem Schlage ward es dunkel.
Man kann das nicht beschreiben. Ich könnte sagen, daß es sei, wie wenn am lichten Tag der Henker die Kapuze über einen Armensünder auf der ersten 39 Leitersprosse schlüge. Aber auch ein Mensch in seinen letzten Todesängsten sieht es durch die Poren der Kapuze leise schimmern.
Die Tropennacht hat keine Poren. Die Tropennacht gießt um dich die metallne, porenlose, mitleidslose Kugel so eng, so ehern, daß du Angst bekommst, beim nächsten Schritte splittere die Schale deines Hirns an der Schale einer Tropennacht in Trümmer. Man kann die eigene Hand nicht vor den Augen sehen, sagst du in Europa – in der Tropennacht berührt dich deine eigne Hand wie eine fremde, daß du aufschreist . . .
Ich durfte nicht schreien. Ich war der Herr. Ich bezwang mich, während des mechanischen Weiterschreitens zu sagen – ruhig, meinte ich – heiser krächzend, meinte der Spursucher: »Noch eine Weile, Jan, dann wollen wir im Freien übernachten.«
»Wollen,« lächelte er durch die Metallschale der Nacht, »wollen? – müssen, Herr.«
Ich fuhr ihn nicht mehr an. Kindlich scheu wie ihn hatte mich die Tropennacht gemacht. »Weshalb müssen, Jan?« sagte ich langsam und suchte in der Nacht in einer Weise nach seiner Hand zu tasten, daß ich hätte sagen können, nur durch Zufall habe ich sie berührt.
Dreimal griff ich in die Irre. Beim vierten Male stieß ich auf die Hand. Jetzt schrie ich trotz des Zwanges meiner Herrscherwürde: Mir war, als wäre ich auf eine Mörderhand gestoßen.
»Ich bin kein Mörder,« lächelte Jan, der die Gedanken aus dem Schrei erriet, »nur meine Hand hat 40 auch nach dir getastet,« er zögerte und setzte flüsternd hinzu: »Um dir zu helfen.«
Der alte Europäerhochmut packte mich: »Ich brauche keine Hilfe!«
»Ich weiß – du bist der Herr, verzeihe.«
Wieder nach einer Weile des planlosen Vorwärtstappens wiederholte ich die vorhin abgebrochene Frage: »Warum müssen, Jan?«
»Der Sumpf beginnt . . . hat begonnen . . . wir stehen mittendrin, Herr.«
Ich schlug mir vor die Stirn, damit die Antwort ehern und gefaßt erklingen möchte: »Ich weiß es.«
»Ich weiß, Herr, daß du's weißt – es gluckst – mir geht es übern Knöchel –«
»Das lügst du, Jan.«
»Ja, ich lüge – bis zur Wade geht's mir . . . Jetzt zum Knie – wir wollen stehen bleiben, Herr.«
»Wollen?« konnte auch ich auf einmal lächeln, weil die Schicksalshaftigkeit der Tropen auch von mir Besitz ergriffen hatte, »wollen? – müssen, Jan.«
»So ist es, Herr.«
Er hatte meine Hand gefaßt. Die andere tastete im Sumpf nach festen Gegenständen. So beschrieben wir kleine Halbkreise, die langsam immer größer wurden wie es Jagdhunde machen, denen die Spur eines im Winkel abgesprungenen Hasen verloren ging . . .
Es mochte der hundertste Halbkreis sein – wer kann in Tropennächten zählen –, den wir Hand in Hand zurückgelegt hatten, als Jan einen kleinen, vorsichtigen Pfiff ausstieß: »Hier ist es, Herr.«
»Was ist hier?« 41
»Ein umgefallener Baumstamm – nein, der Baumstamm selber ist wohl längst versunken – aber die herausgerissene Wurzelkrone ragt noch aus dem Sumpfe – hierher setz dich, Herr.« 42
Er drückte mich sachte in die Wurzelknollen.
»Zieh dich dran herauf, Herr.«
Ich zog mich folgsam dran herauf. Dann erst fiel mir's ein: »Und du, Jan?«
»Du bist der Herr – ich komme nach.«
Als er nachkam, sagte ich erfreut: »Jan, über meine Schuhe streicht die Luft – wir sind im Trocknen – ha, im Trocknen!«
»Ja, für eine Weile, Herr.«
»Warum für eine Weile, Jan?«
Er sagte nichts. Erst nach undenklich langer Zeit – so schien es mir – fügte er hinzu: »Jetzt wirst du's selber spüren.«
»Was soll ich spüren, Jan?«
Aber noch während der Frage machte es wieder Gluckgluck in meinen Schuhen. Die Wurzelkrone war durch unser beider Gewicht Zoll um Zoll tiefer in den Sumpf gesunken.
»Verloren,« dachte ich.
Gleichzeitig glitt Jans Hand aus meiner.
»Jan, was machst du?« schrie ich. Als ob ich's nicht vor meiner Frage gewußt hätte – es werden viel zu viel der Fragen in der Welt getan, auf neunundneunzig unter hundert wissen wir zuvor die Antwort – nicht gewußt hätte, daß er die Wurzelkrone von seinem Gewicht entlasten wollte, um sie, mit mir allein belastet, etwas langsamer sinken zu lassen.
»Jan, du bleibst!«
Er antwortete nicht.
»Jan, wenn du in den Sumpf gehst, geh ich mit.« 43
Keine Antwort. Vielleicht hat er sich gedacht: »So was sagt man, aber leben tut man.«
»Jan, du bist ein Dummkopf!«
»Ja, Herr,« scholl es unter mir vom Sumpf.
»Weißt du auch, warum du dumm bist?«
»Nein, Herr.«
»Weil die Krone, nur mit mir allein belastet, auch sinkt, Jan.«
Schweigen. Im Schweigen spürte ich Jans Zweifel an meinen Worten.
»Jan, gib Antwort.«
»Ja, Herr – wenn sie sinkt –«
»Ich spür' es an den Waden – nein, am Knie, Jan.«
»– so sinkt sie doch langsamer ohne mich.«
Ich wußte vorher, daß er solches sagen würde. Vorher auch war es durch meinen Sinn gefahren: Was liegt daran, ob Jan jetzt für sich und ich für mich um Mitternacht versänke, oder ich und er zusammen eine Viertelstunde vor Mitternacht . . .
»Jan, weißt du, was Physik ist?«
»Ein geheimes Wissen von euch Weißen, das wir nicht verstehen,« hörte ich seine Stimme etwas weiter weg – der Sumpf hatte wohl nach seinem Leibe jetzt gegriffen.
»Du sollst es verstehen!« schrie ich, »und wenn du's nicht verstehst, sollst du es glauben: Laut physikalischen Gesetzen sinkt ein Körper, wenn er überhaupt sinkt, ganz genau so schnell im Wasser, ob er nun mit einem Zentner oder mit zwei Zentnern belastet ist –«
»Aber ich wiege mehr als einen Zentner, Herr, ich wiege anderthalbe –« 44
»Jan, wer ist der Herr!«
»Du, Herr, du,« kam's ferner.
»Gut, ich, dein Herr, befehle dir: Komm her!«
Die Wurzelkrone fing leise an zu zittern. Gehorsam hatte sich Jans Körper aus dem Sumpf heraufgeschoben: »Da bin ich, Herr – du bist ein guter Herr.«
»Nur in manchen Sachen klüger, in andern bist es wieder du – weißt du noch, wie du mich lehrtest, Jan, aus einem trüben Wassertropfen an den Zweigen zu bestimmen, ob ein Rhinozeros, auf das wir jagten, fünf Minuten vorher oder eine Stunde vorher dort vorbeigekommen war?«
»Dafür bin ich dein Spursucher, Herr.«
»Gib mir deine Hand, Jan.«
Er gab mir ruhig seine Hand.
Unendlich lange hockten wir untereinander im Wurzelgeknoll.
»Ob wir die Nacht hier überstehen werden, Jan?«
Keine Antwort. O, ich wußte, was er dachte: »Daß ihr Weißen immer reden müßt, und da am meisten, wo es nichts zu reden gibt!« Ja, das dachte er. Man spürt Gedanken in der schweren Dunkelheit der Tropen, wie man Fledermäuse am Gesicht vorbeihuschen spürt im Abendlande, manche weichen Flügelschlags und freundlich, manche grauenhaft.
»Wieviele Kilometer wir von unsrer Farm wohl entfernt sein werden, Jan?«
»Es kann auch nur ein Steinwurf sein, Herr.«
»Dummes Zeug, das hätten wir doch wissen müssen!«
»Im Dunklen weiß man nichts, keinen Kilometer, 45 keinen Steinwurf.« Unterdessen sanken wir weiter.
Aber sank die Wurzelkrone nicht langsamer? Ach, es wird ein Wunsch sein, weiter nichts. Wir hatten wohl ein Maß des Tiefereintauchens, jetzt am naßgewordnen Oberschenkel, dann am Unterleib, doch ein Zeitmaß gab es nicht.
Doch, eines gab es: Meine Uhr.
Ich zog sie hastig aus der Westentasche. Ja so, die Uhr allein genügte nicht.
»Herr, du suchst Streichhölzer?«
»Ja, Jan, hast du welche?«
»Du hast sie uns verboten, Herr – hast du denn vergessen, daß ein verrücktes Kulimädchen im letzten Monat einen Tabakschuppen in Brand setzte?«
»Das ist wahr – ha, jetzt hab' ich sie gefunden,« schrie ich voller Freude, »Jan, wir werden wissen, wieviel Uhr es ist!«
»Und dann?« kam seine sanfte Stimme freundlich überlegen aus dem Dunkeln.
»Dann? Dann werden wir Geäst in Brand setzen.«
»Auf verbrannten Wurzeln läßt sich nicht mehr sitzen, Herr.«
Mich ärgerte sein Widerspruch. Hastig strich ich ein Streichholz an: »Verflucht, die Reibfläche ist feucht geworden!«
»Gott will es, Herr, mache kein Feuer mehr.«
»Nun gerade!« Das Leuchtköpfchen eines zweiten Streichholzes zerbröselte, ein drittes brach, ein viertes . . .
»Wenn du ruhiger bist, Herr, wird das letzte zünden.«
»Woher willst du wissen, daß das letzte –?« 46
»Es ist mir so gekommen, ich weiß es nicht.«
Ich wurde ruhiger. Ich strich die Hölzchen langsam an, dann umständlich, dann wieder rasch, schließlich blitzschnell – es zündete.
Armseliges Fünkchen in dem Meer der Nacht! Nicht so armselig, daß Jan, sich reckend, nicht in meine – leere Streichholzschachtel hätte schauen können: »Das letzte,« sagte er.
Ich hatte einen Blick auf meine Uhr getan: »Halbelf Uhr, Jan.«
Er nickte nur.
Aus meinem Notizbuch riß ich ein Stößchen Blätter.
»Eins ist mehr als viele, Herr.«
Ich hörte nicht darauf. Zitternd schob ich das Blätterbündel an die schwelende Streichholzflamme. Ein Eckchen des Papiers fing Feuer.
»Hurra, Jan!«
»Hurra am Ende, Herr, nicht am Beginn!«
»Du – du Besserwisser!«
Das Papiereckchen leuchtete mit hellerer Flamme. Ich konnte sehen, daß es beschrieben war. Eine Bleistiftnotiz war es: »Nächsten Monat um Gehaltserhöhung eingeben.«
Bei »Gehaltserhöhung« wurde die Flamme kleiner, bei »eingeben« stieß sie von unten auf die andern Blätter und – erlosch. Übrig blieb ein Glühen. Stark genug, daß man den Wurzelsitz erkennen konnte, wo wir saßen. Noch einmal stach eine bläuliche, dann hellrote Stichflamme aus dem Blätterbündel, einen scharfen Lichtkreis um den Sumpf unter uns werfend 47 – die metallene Finsternis war wieder unumschränkter Herr.
Wieder langes Schweigen. Wir sanken tiefer, Zoll um Zoll.
»Gleich elf Uhr, Jan.«
»Woher weißt du das, Herr?«
»Ich habe den oberen Uhrendeckel aufgesprengt, ich fühle den Stunden- und Minutenzeiger nach.«
»Was bist du klug, Herr – aber doch nicht klug genug.«
»Klug genug wozu, Jan?«
»Um das Zählen den Sternen droben still zu überlassen.«
Er zeigte langsam aufwärts, ich konnte es an seiner andern Hand – sie lag in meiner – spüren.
Ich sah diese Nacht zum erstenmal zum Himmel. Der Tropenhimmel wird in Reisewerken überschwänglich schön geschildert. Manche schreiben »strahlend«. Es ist nicht wahr. Der Himmel unsrer Abendwelt ist schöner und ist heller. Aber mehr der Ruhe gießt der milde Tropenhimmel in die Herzen, das ist wahr.
Wir sprachen nichts mehr. Wir sanken tiefer. Ich wußte, wie Jan sterben würde. Lautlos.
Ich, sein Herr, ich würde nicht stumm sterben können, ich würde in der letzten Viertelstunde schreien, jammern, heulen, gurgeln – waren wirklich wir die Herren, waren es nicht unsre Diener, welche stumm versinken konnten? Herr oder nicht Herr – größer waren sie!
Ob ich nicht mit einem Sprunge in den Sumpf die Qualen kürzen sollte? Ach, das war kein Kürzen, das 48 würde ein gurgelnder Kampf von Minuten werden, die mir Stunden dünken würden. Ich würde um mich schlagen, und Jan würde alle Ehrfurcht vor den Weißen verlieren und den Todeskampf seines Herrn den tausend Kulis unsrer Farm erzählen, in ganz Sumatra würde es sich verbreiten, wie ein Europäer starb und wie ein Eingeborener. Die Herrschaft der Weißen würde erschüttert werden. Die Regierung würde neue Truppen senden müssen. Der Generaldirektor unsrer Farmen in Amsterdam würde mir verächtliche Worte schreiben, würde mir kündigen – Ich schlug mir vor die schweißbenetzte Stirne: Schwachkopf, der ich wurde! Wird ein Generaldirektor einem toten Weißen Briefe schreiben? Wird ein toter Eingeborener seinen Kameraden was erzählen können? Die Gedanken schienen sich in meinem Hirne zu verwirren.
Aber daß ich es erkennen konnte, richtete mir noch einmal meine Wirbelsäule gerade. Dabei klirrte es metallisch in meiner oberen Rocktasche: Ha, mein Revolver! Ich konnte rasch ein Ende machen, wann ich immer wollte.
Das gab mir vollends meine Haltung wieder.
Jan mit seinen feinen Ohren hatte das Klirren vernommen und gedeutet: »Herr, das wäre unrecht.«
»Ich weiß es, Jan.«
»Du wirst dich nicht erschießen, Herr?«
»Ich glaube nicht, mir genügt es, daß ich's könnte.«
»Ihr seid doch sonderbar, ihr Weißen, ihr denkt immer hinten rum auf Zickzackwegen – der gerade Weg ist besser, Herr.« 49
»Welches ist der gerade Weg, Jan?«
»Zu denken, Gott kann immer alles – mit und ohne Revolver –, darum können wir, die wir in Gott beschlossen sind, auch immer alles – auch mit und ohne Revolver, Herr.«
Es gab eine lange Pause. Dann bekannte ich es. Demütig, wie der Gläubige im Beichtstuhl: »Das ist wahr, Jan.«
In diesem Augenblicke gab es einen Stoß. Jan und ich sahen uns trotz der samtenen Dunkelheit offen ins Gesicht. Wir wußten es gleichzeitig: Die Baumkrone war auf Grund geraten. Wir würden nicht mehr weiter sinken. Wir würden bis zum Bauch im Sumpf verharren können, bis der Morgen käme. Wir würden gerettet werden.
»Siehst du, Herr?« sagte Jan.
»Ja, ich sehe, Jan,« sagte ich.
Dann kamen die Moskitos. Sie hätten schon viel früher kommen müssen, denn es war schon Mitternacht vorüber. Vielleicht hatten sie einen Kadaver im Sumpf gefunden. Ein Kadaver ist ihnen lieber als ein Lebender. Es ist der Moskitostandpunkt. Der Menschenstandpunkt ist: Ein lebender Esel ist mir lieber als ein toter Löwe. Wir haben darüber einmal einen Aufsatz in der Schule machen müssen. Doch sonderbar, wie alles in der Welt sich überkreuzt und überschneidet.
Ja, die Moskitos. Es gibt eine Suggestion. In Europa habe ich einen Menschen auf der Vortragsbühne einem Menschen beibringen sehen, er fahre jetzt im Luftschiff. Der Mensch beugte sich über seine 50 Stuhllehne wie durch ein Flugzeugfenster, schaute hinunter und sagte: »O, wie wunderbar die Erde daliegt!« Dann gab er ihm ein Glas Wasser zu trinken und sagte, es sei Champagner. Der Mensch trank und sagte verklärt: »O, wie herrlich der Champagner schmeckt!« Damals glaubte ich, dieser Tausendsassa mit seiner Rederei und seinen magnetischen Schläfenstrichen kann alles aus allem machen. Heute weiß ich es besser. Das Moskitostechen kann er nicht in ein Streicheln von der Geliebten Hand umsuggerieren. Moskitos sind Moskitos. Sie sind menschlichen Zauberkünsten unzugänglich.
Auch der Wille, der feste Vorsatz, der Charakter kann nicht gegen sie an. Vor Moskitos werden alle Menschen rasend. Auch Jan wurde es.
»Ich halte es nicht mehr aus, Herr,« sagte er.
»Ich auch nicht, Jan,« sagte ich, »ein Tod ist besser als zweimalhundertfünfzigtausend Tode – soviel Stiche hab' ich, glaub' ich.«
»Nicht zählen, Herr, wir wollen uns bis an das Kinn ins Wasser strecken und mit den Kleiderstücken unsern Kopf verhüllen – darf ich dir helfen, Herr?«
»Erst hilf dir.«
Er half sich und ich hatte mir schon geholfen.
So lagen wir, so wachten wir, so sahen wir dem tropischen Morgengrauen entgegen.
Es war eine lange Nacht. Es war die längste Nacht meines Lebens.
Meine Taschenuhr hatte ich in den Mund genommen. Im Wasser wäre sie stehen geblieben. Von Zeit zu Zeit nahm ich sie unter der Kleiderkapuze aus dem 51 Mund, stemmte mit den Fingernägeln den Oberdeckel auf und fingerte an beiden Zeigern unsre Zeit ab.
»Halb zwei Uhr, Jan.« – Jan sagte nichts.
»Halb drei Uhr, Jan.« – Jan sagte nichts.
»Jan, juckt's dich auch am Körper unter den Kleidern – das können doch keine Moskitos sein – oder gibt's im Wasser auch –?«
»– Sumpfegel, Herr, sie sind dünn wie Striche – aber haben sie sich angesetzt und vollgesogen, werden sie wie Kugeln – dann fallen sie ab.«
»Das ist wenigstens ein Trost, Jan.«
»Aber das Blut fällt mit ab und ihrer sind viele, Herr.«
Eine lange Pause wieder. Dann hörte ich Jan leise und unterdrückt weinen.
»Warum weinst du, Jan?«
»Wenn dein Blut nicht reichen sollte bis zum Morgengrauen – Herr, du warst immer gut zu mir – du hast mich, als mein Vater mich verstieß und du mich fast verhungert fandst im Wald, zu dir genommen – ich wollte, du hättest mein Blut noch dazu, daß es reichte.«
»Es reicht auch so, Jan, mach dir keine Sorge. Und dein Blut ist jetzt ohnehin auch meins geworden – sag nicht mehr Herr zu mir, sage lieber Bruder.«
»Ja, Herr, ja.«
»Halb vier Uhr, Jan.«
»Ja, Herr – Bruder Herr – um vier Uhr wird's mit einem Schlage hell – knapp vor der großen 52 Helligkeit wird man auf unsrer Farm den großen Morgengong anschlagen, Bruder Herr.«
»Ich weiß es, Jan – ach, wenn wir ihn hören könnten!«
»Es kann alles sein – man weiß es nicht.«
»Jan, gleich vier.«
»Horch!«
»Ich höre nichts.«
»Aber ich – der Schlegel – der Gong –«
Durch die rabenschwarze Nacht drang es wie Engelsposaunen: Gongschläge – ganz nah.
»Es ist unser Gong!« schrie Jan. Es war das erste Mal, daß ich Jan habe schreien hören. Und das letzte Mal.
Mit einem Zauberschlage ward es hell. Vier Augen starrten nordwärts: Dort drüben, zwei Dutzend Katzensprünge weit, lag unsre Farm. Vor unsrer Farm hatten wir die ganze Nacht gelegen.
Kurz nach fünf Uhr lag ich in meinem Bungalow, Jan in seinem.
Ich war ins Badezimmer gestürzt, hatte mich ausgezogen. Noch immer fielen Sumpfegel ab. Blut floß von Beinen, Rumpf und Händen. Ich warf mich in die Badewanne. Das Blut floß weiter . . . Ich schlug mich in zwei, drei große Leinentücher. Ganz fest wickelte ich mich hinein. Blut schlug durch. Noch ein letztes großes Badefrottiertuch drüber und dann – eine ungeheure Erschöpfung überfiel mich mächtig – 53
Mächtiger noch ein Gedanke. Ich lief, nein, ich taumelte, wie ich war, ins Bungalow der Dienerschaft hinüber: »Jan, wo ist Jan?«
»Er stöhnt, er kann nicht aufstehn.«
»Tragt ihn hinüber in mein Badezimmer!«
»Aber Herr, in euer Badezimmer?«
Ich schrie sie an: »Tragt ihn oder – oder –!«
Erschrocken trugen sie ihn in die Wanne, die ich schon vorher aufs neue hatte vollaufen lassen.
»Zieht ihn aus!«
Sie zogen ihn aus. Er hatte keine Egel mehr. Aber Blut floß dunkler als das meine von den zitternden Gliedern, von dem sich bäumenden Leib.
»Ins Wasser! Sacht, ihr Himmelhunde, sacht!«
Sie betteten ihn ins Wasser. Dunkles Blut floß weiter.
Jan hatte die Augen fast geschlossen. Jetzt schlug er sie auf. Ich habe nie mehr einen solchen Blick aus Menschenaugen brechen sehen: »O Herr –«
»Bruder, meinst du?«
»O, Bruder Herr –«
Dann sanken ihm die Augen wieder zu vor Schwäche.
»Neue Leinentücher – meinen zweiten Bademantel – rasch – rasch!«
Wir wollten ihn einschlagen.
»Halt!« rief ich entsetzt und schaute auf seine Beine. Er hatte sich die schmerzenden Stellen mit den Nägeln aufgerissen. Unter der Haut gingen dunkle Strahlen aufwärts, zielten nach dem Herzen.
»Blutvergiftung! Wo ist der Arzt?«
»Gestern fortgeritten, Herr – auf Jaspersfarm.« 54
»Verflucht, hundertfünfzig Kilometer«
»Soll telephoniert werden?«
»Natürlich! Aber bis er zurückkommt, wird es morgen früh – mein Rasiermesser – Alkohol – geht auf die Seite!«
»Herr, ihr schneidet in sein Fleisch – warum wollt ihr Jan ermorden?«
»Ich will ihn nicht töten, ich will ihn retten.«
Ich schnitt ihm die schwarzen Streifen auf wie lange Nähte, ich stopfte alkoholdurchtränkte Watte in die Rinnen.
Jan tat nicht einen Schrei. Er hatte die Augen wieder aufgeschlagen. Diese Augen verfolgten jede meiner Bewegungen, wie Kinderaugen im Krankheitsbettchen der Mutter zusehen, wenn sie mit ihnen tut, was ihr der Arzt gesagt hat.
»Jetzt wickelt ihn ein – straff – genau wie mich . . . tragt ihn hinüber in sein Bett – paß mal auf, Jan, morgen bist du wie ein Fisch im Wasser – gute Nacht, Jan,« suchte ich zu scherzen.
»Gute Nacht, Bruder Herr,« sagte er ernst.
Sie trugen ihn hinaus. An der Türe drehte es ihm nochmal den Kopf mit einem Ruck zurück. Er sagte nichts mehr. Er nickte nur und seine Augen schauten, schauten . . .
Dann schmiß es mich vor Müdigkeit ins eigene Bett. Die Decke über mich – schon schlief ich.
Kirchenglocken läuteten in meinem Schlaf. Es war der Gong.
Der Hausbursche stand an meinem Bett. Unbeweglich. Er mochte schon seit Stunden dort stehn. 55
»Laß mich schlafen, Junge.«
»Herr, es ist Abend – hast du keinen Hunger?«
»Hunger? Hunger? – freilich hab' ich Hunger! – Was habt ihr in der Küche?«
»Reis –«
»Bringe den Reis!«
»Und Fisch –«
»Bringe Fisch!«
»Und Milch –«
»Bringe Milch, Milch, kalte Milch –o, was hab' ich Durst!«
Sie brachten mir, was ich verlangte. Ich aß alle Teller leer, trank alle Gläser aus, sank zurück in meine Kissen, fuhr wieder in die Höhe: »Und Jan – Jan?«
»Er stöhnt noch etwas.«
»Gebt ihr ihm zu essen und zu trinken?«
»Ja – er will nichts.«
»Er muß wollen, hört ihr – laßt nicht nach – die verlorene Kraft muß aufgefüllt werden, sonst – sonst –«
Schon schlief ich wieder.
Wieder Kirchenglocken. Wieder unbewegt der Junge an meinem Bett: »Herr, es ist Morgen – dürfen wir –«
»Bringt, was ihr habt –geschwind – ich verhungere ich verdurste!«
Sie brachten, was sie hatten. Es war mir nicht genug. Ich brüllte sie an. Sie rissen Konservenbüchsen auf. Ich schlang in mich hinein, ich stürzte Flüssigkeit wie einen Bach in mich hinunter. Dann sank ich ebenfalls zurück. 56
»Und – Jan – Jan – Jan?«
Ich hatte es zu spät gerufen. Sie waren alle draußen. In sonderbarer Eile, dachte ich noch – und schon schlief ich wieder.
Als ich abermals erwachte, war es wieder Morgen.
Ich fühlte mich so frisch, so kerngesund, so tatenlustig. Ich ging leise in mein Badezimmer, nahm ein Bad, kleidete mich sorgfältig an.
Plötzlich, beim Krawattenschlingen, schämte ich mich meiner Sorgfalt. Halbgebunden ließ ich die Krawatte hängen, läutete, läutete stärker.
Der Junge stürzte herein.
»O, der Herr! – gesund – o – ein Wunder – wir so froh und –«
»Wo ist Jan – wie geht es ihm – lauf hinüber, sag ihm, daß ich komme – gleich – sofort – so lauf doch. Lauf!«
Er lief nicht. Er hatte sich abgewendet.
»Schau mich an – was ist?«
Er wendete sich langsam, langsam um: »Jan ist tot, Herr.« 57