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In der »Leipziger Illustrierten Zeitung« las ich eines Tages das begeisterte Lob eines Buches über deutsche Volkstrachten und ließ es mir kommen. »Die beste Kennerin der deutschen Volkstrachten,« so hieß es da, »habe dieses Werk geschrieben. Die Verfasserin habe mit der Kamera in der Hand und mit dem geschärften Blick der Sachverständigen das deutsche Vaterland durchwandert und den Stand des Trachtenwesens am Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen.« Ei, wie interessant!
Hinter den Ofen warf ich das Buch, nachdem ich es durchblättert hatte. Nie hat ein Titel, nie eine Kritik mich so in die Irre geführt. Mag es nur ja kein Deutscher außerhalb der reichsdeutschen Grenzpfähle in die Hände nehmen, denn er wird nichts damit anzufangen wissen. Der Titel lautet wörtlich: »Die deutschen Volkstrachten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach dem Leben aufgenommen und beschrieben.« Mit keinem Hauch ist angedeutet, daß die dreißig Millionen Deutschen, die politisch nicht zum Reich gehören, aber kulturell untrennbar von ihm sind, von der Ehre, in diesem Buche dargestellt zu werden, ausgeschlossen wurden. Da der Verlag ein sehr angesehener ist, darf man annehmen, daß die Absicht einer Täuschung des Publikums fehlt. Das macht die Sache aber nur noch schlimmer, denn gerade die Selbstverständlichkeit, mit der wir von reichsdeutschen Skribentinnen und Verlegern als nicht zum deutschen Volke gehörig angesehen werden, ist das Betrübende und Verletzende. Wer kann sich eine Geschichte des deutschen Volkstrachtenwesens denken ohne uns? Voll Hohn durchblättern wir dieses schmalbrüstige Büchlein einer Schriftstellerin, die als beste Kennerin des behandelten Gebietes ausgerufen wird. Wo ist Oberösterreich mit seinen herrlichen Trachten, wo die Wachau, wo Salzburg, wo Tirol in all seiner Farbenfreude? Wo Kärnten und Steiermark? Wo sind die Siebenbürger Sachsen, wo die südungarischen Schwaben, wo die Heanzen, die seit mehr als tausend Jahren in Westungarn sitzen? Sie alle haben die alten Volkstrachten reiner bewahrt als die Deutschen im Reiche. Sie waren viel weniger dem Einfluß von Moden unterworfen und haben in ihren überlieferten Trachten immer ein Stück ihres Volkstums erblickt, das sie nicht aufgeben durften. Wer den wahren Stand der deutschen Volkstrachten am Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts feststellen will, der wird sich schon zu uns bemühen müssen. Will er das nicht, dann kündige er im Titel seines Buches eine reichsdeutsche, nicht aber eine deutsche Sache an.
Das Beschwerdebuch der Deutschen in Oesterreich über eine nebensächliche und ungerechte Behandlung in so vielen gesamtdeutschen Angelegenheiten datiert seit alten Tagen. Die darin verzeichneten Klagen führen zurück bis auf die Kirchenspaltung, die wie ein Riß durch das deutsche Volk ging. Und am auffälligsten trat die Erscheinung immer in der deutschen Literaturgeschichte hervor. In ihr kamen wir immer zu kurz. Vieles hat sich gebessert, das jüngere Geschlecht der Germanisten kam der Unhaltbarkeit der Phrase, daß wir katholischen Süddeutschen keinen Anteil hätten an der Geschichte des deutschen Geistes seit der Reformation, längst auf die Spur. Man sucht neuestens alte Sünden gutzumachen und ist bestrebt, die jüngere Generation beizeiten in ihre Rechte einzuführen. Am weitesten nach dieser Richtung ist Adolf Bartels gegangen, der die Oesterreicher nicht nur in seiner deutschen Literaturgeschichte, sondern auch in seinem dreibändigen Werke »Einführung in die Weltliteratur im Anschluß an das Schaffen Goethes« mit ungewöhnlicher Auszeichnung behandelt. Er war es, der schon vor Jahren die Voraussage wagte, daß die überlieferte Dreieinigkeit der deutschen Klassiker Lessing, Goethe, Schiller künftig zugunsten Grillparzers würde umgebildet werden. Er scheidet Lessing als einen kritischen Geist und Kulturträger ersten Ranges, dessen Schwerpunkt jedoch nicht im Dichterischen liege, aus und sagt: Goethe, Schiller und Grillparzer seien die drei großen deutschen Dichter. Dieses kühne Bekenntnis eines weimarischen Literarhistorikers entschädigt uns für manche Unbill. Aber es könnte uns nicht bestechen, wenn es ein vereinzelter Lichtblick wäre, wenn derselbe Mann sich nicht bestreben würde, auch den Nachfolgern Grillparzers in Oesterreich gerecht zu werden. Und sein Beispiel wirkt auch auf andre, es ist eine beginnende allgemeine Besserung fühlbar in den Beziehungen der protestantischen Literaturgeschichtsschreibung zur süddeutschen »katholischen« Literatur. Diese gegensätzliche Bezeichnung ist keine Erfindung von heute, sie kommt von Grillparzer, der in der Kirchenspaltung den Ausgangspunkt so manches Ueblen sah, das ihm widerfuhr. Grillparzer holte eines Tages zu dem Bekenntnis aus:
Von unsern Kunstrichtern die bestgenannten
Sind gegen mich gar strenge Richter;
Sie protestieren eben als Protestanten,
Und ich bin ein katholischer Dichter.
So wie im staatlichen Leben hat dieser Gegensatz der Bekenntnisse sich heute auch in der Literatur und in der Kunst gemildert, das Uebelwollen aus religiösen Vorurteilen ist geschwunden, das Nichtverstehenkönnen aber ist vielfach übrig geblieben. Zu lange war die Entwicklung von Nord und Süd eine gesonderte. Und einige protestantische Literaturgeschichtschreiber sind so durchdrungen von der Ueberzeugung, daß die alten Gegensätze zu geistigen Merkmalen geworden und als solche unlösbar sind, daß sie neuestens das religiöse Bekenntnis jedes Dichters, den sie behandeln, nennen. Besonders auffällig geschieht dies bei Adolf Bartels und Otto Hauser. Der letztere geht auch darauf aus, jede nachweisbare Blutmischung im Stammbaum eines Dichters festzustellen. Auf diesem Wege ergeben sich aber oft die sonderbarsten Widersprüche und Ungerechtigkeiten. Wir in Oesterreich lassen Chamisso, Brentano, de la Motte Fouqué und andre für deutsche Dichter gelten, wir tun den Berliner Herren sogar den Gefallen und sehen in Fontane einen unverfälschten Märker, sie aber wittern hinter jedem bei uns eingedeutschten Geist, dessen Name einen fremden Klang hat, einen Fremden. Der Weg, den diese Literarhistoriker betreten haben, ist interessant, aber an ein unfehlbares Ziel führt auch er nicht, und es bleibt vieles übrig für unser Beschwerdebuch. Auch sie spalten die Deutschen, anstatt sie zu einigen, und lösen wieder auf, was schon eingeschmolzen zu sein schien.
Mit Theorien aber läßt sich rechten; wenn sie sachlich und folgerichtig durchgeführt werden, kommt man schließlich in ein leidliches Verhältnis zu ihnen. Schlimmer sind die naiven, die halb unbewußten Sünden, die an uns begangen werden. Eine deutsche Trachtenkunde schreiben zu wollen, ohne unser deutsches Volksleben in Oesterreich zu kennen, ist wohl eine der auffälligsten und lächerlichsten dieser Sünden, aber es fehlt auch an andern nicht. Vor einiger Zeit erschien ein stattlicher Band von auserwählten Charakterbildern, die der deutschen Jugend als Muster voranleuchten sollen. »Deutsche Männer« heißt das Werk, und es behandelt fünfzig Lebensbilder. Von Armin, dem Befreier, bis Bennigsen, Gräfe und Bodelschwingh, deren Namen niemand bei uns geläufig sind, reicht die Liste. Zweitausend Jahre deutscher Geschichte wird da in Charakterbildern deutscher Männer vorgetragen, und auf diesem weiten Weg ist der Verfasser auch nicht einem einzigen Mann aus der alten Ostmark des Reiches begegnet. Nur Mozart, der Weltbürger, dessen Genius zu allen Völkern in der gleichen Sprache redet, erscheint in der Reihe. Ist das nicht wunderlich? Die Auslese von fünfzig Männern ist klein, und der Verfasser hat recht, wenn er den zu erwartenden Einwänden im vorhinein damit begegnet, daß er sagt, sein Buch wäre auch bei der Ausdehnung auf hundertundfünfzig Charakterköpfe dem Vorwurf der Unvollständigkeit kaum entgangen. Gewiß! Je größer die Liste, desto mehr Kandidaten, die auch noch würdig gewesen wären, in dieselbe aufgenommen zu werden. Aber trotzdem ist die Ausscheidung aller großen Deutschen, die nicht zur heutigen Atmosphäre des Deutschen Reiches gehören, eine auffällige. Wie reich hätte das Buch werden können, wie weltumfassend, wenn der Verfasser den Weitblick und das völkische Herz gehabt hätte für die großdeutsche Geschichte. Er ist auf seinem Wege nicht einem einzigen Habsburger begegnet, aber vier Hohenzollern. Rudolf I. von Habsburg, Karl V., Josef II. sind ihm keine Vorbilder für die deutsche Jugend. Er schaltet eine Dynastie, die dem deutschen Reiche durch sechshundert Jahre die Kaiser gab (es waren nicht weniger als fünfzehn), einfach aus. Zehn deutsche Dichter nahm er auf in seine Galerie. Genug! Vielleicht zu viel. Aber es ist keiner darin, der außerhalb der heutigen deutschen Reichsgrenzen gelebt hat. Walther von der Vogelweide, Grillparzer, Gottfried Keller sind neben Fritz Reuter und Theodor Fontane durchgefallen. Der Verfasser hat auch Generale, Staatsmänner, Maler, Architekten und Erfinder in Lebensbildern vorgeführt, aber nicht einen Mann, der sich auf dem Boden des einstigen größeren Deutschland betätigt hätte. Sind die alle tot und begraben? Sind unter ihnen keine Vorbilder mehr für die heutige reichsdeutsche Jugend? Wie bettelarm ist doch dieses Buch in unsern Augen. Es scheint, daß wir die Groß-Deutschen sind, die weiter sehen, die die größeren Ziele des deutschen Volkes im Herzen tragen. Und wer uns aufgibt, erscheint uns als ein unsinniger Verschwender.
Auch in der reichen Literatur über die Befreiungskriege, die die letzten Jahre auf den Markt gebracht haben, sind wir als nicht vorhanden anzusehen. Der Drill auf den besonderen preußischen Patriotismus ist so tief eingedrungen in die Seelen, daß man heute mit der größten Naivität hinwegschreitet über unsren Anteil an der Bekämpfung Napoleons, der doch wahrlich kein unerheblicher ist. Erzherzog Karl erschütterte bei Aspern als erster den Wahn von der Unbesiegbarkeit des großen Korsen. Und 1813? Die diplomatische Führung hatte Metternich, das militärische Oberkommando lag in den Händen Schwarzenbergs, der Generalstabschef der Völkerschlacht von Leipzig hieß Radetzky. Das kann doch kein Zufall sein. Von allen den Gelegenheitsschriften aber, die mir in die Hand kamen, hat nur das bedeutsame Büchlein von Karl Lamprecht den Beginn der Befreiungskriege auf 1809 zurückdatiert und uns den Vortritt eingeräumt. Die andern tun, als ob Erzherzog Karl und Andreas Hofer nie gelebt hätten, als ob die Weltgeschichte vor hundert Jahren in Breslau gemacht worden wäre.
Man muß von Zeit zu Zeit eine solche Eintragung machen in unser altes Beschwerdebuch. Es scheint, daß es der gute Genius des deutschen Volkes doch manchmal durchblättert und dann einzelne Köpfe erleuchtet. Er hat noch ein großes Stück Arbeit zu leisten, wenn er die Erkenntnis von der Kulturgemeinschaft aller Deutschen auf der Erde zum Siege führen will.