Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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17.

Breuers drängende Sehnsucht ging nach keinem bestimmten Ziel. Er hatte einmal in seinen Schriften über das Wort Sehnsucht gesprochen in dem Sinne, daß nicht erst der Gegenstand da sein müsse, der Sehnsucht und Verlangen im Menschenherzen erweckt, sondern daß vielmehr von Periode zu Periode in jedem mit Verstand und Gefühl genügend begabten Menschen gewisse Mächte, die eine starke treibende Kraft besitzen, erwachen, daß man solche Triebe mit poetischen Worten wie »Sehnsucht, Verlangen und dergleichen« benenne, und daß das Ziel derselben im tiefsten Grunde ganz nebensächlich bleibe. Entweder sei es vorhanden oder aber man bilde sich eines zurecht. Nichts ist leichter als einem Menschen, dessen äußere Form sympathisch wirkt, kraft seiner Phantasie das zu geben, was man an und in ihm sehen möchte.«

Er hatte auch damals, als er über solche Dinge dachte und schrieb, mit Magdalene darüber gesprochen und sie hatte ihn verstanden.

Nun aber, da er selbst von der Krankheit, deren Wesen er einstmals so vernünftig und sachlich zergliedert hatte, befallen war, versagte die Schärfe und Kühle des zersetzenden Verstandes. Das Fieber raste in seinem Körper und nahm ihm die Kräfte; er glaubte jetzt in der Tat an seine übergroße Liebe zu der Frau, deren Haar, deren Stimme und deren geschmeidige Bewegungen ihm gefallen hatten, und wenn er wieder und wieder in Kälte und Dunkelheit wie ein armer Bettler an der Pforte ihres Gartens stand, dann sah er in ihr eine Göttin, in deren Hand es lag, ihn in überirdische Höhen zu ziehen oder ihn in Höllen hinabzuschleudern.

Frau Ralling war nicht wieder zu den Breuers gekommen und Magdalene hatte auch nicht wieder den Weg zu ihr hingefunden. Und doch begegneten sich beider Gedanken unablässig, und weder im Herzen der einen noch der anderen lebte etwas von Haß, Neid oder bösem Ingrimm; sie litten beide um den Mann, die eine als die treu zu ihm stehende, die nichts mehr von ihm begehrte, und die Andere mit dem Gefühl: »Und wenn ich selbst gewähren wollte, es würde dir doch nicht helfen können!«

Bald nach Weihnachten war es, an einem besonders kalten, aber klaren Winterabend. Der Himmel hochgewölbt und dunkelblau mit dem blitzenden Geschmeide von zahllosen Sternen, der Mond fast voll, wie ein weißes Tuch, das schaukelnd die Erde bedeckt, alles still und feierlich und ohne die leiseste Bewegung in der Luft, nur das unhörbare Zittern und Wogen einer heranziehenden Kältewelle! Die Vorbereitung der Natur auf die Nacht ... Breuer stand am Eisengitter. Seit mehr als einer Stunde stand er da, wußte nichts von Kälte, wußte nichts von Zeit und von der Möglichkeit, daß die Frau, die zu ihm gehörte, in Angst und Qual seiner wartete, weil er heute zu einer späteren Stunde als sonst gegangen war.

Er wußte überhaupt nicht mehr, was er tat und warum er es tat, wußte nur, daß da aus einem Haus am See aus ein paar Fenstern Licht schimmerte, und daß er hingehen und in dieses Licht hineinsehen mußte, solange es ging, solange der Körper standhielt und solange die Augen es vermochten von dem Licht zu trinken.

Unzählige Male hatte er nun schon da gestanden und immer war alles still und unbeweglich, wie erstarrt in tiefster Lautlosigkeit geblieben! Ohne Scheu, ohne Angst, jemals von einem Menschen gesehen und befragt zu werden, stand Breuer da. Noch niemals hatte sich in dieser Stunde die Tür des Hauses geöffnet, noch nie war ein Mensch an ein Fenster getreten, noch nie ein Schatten im Garten sichtbar geworden.

Und daher mochte es kommen, daß ein Schrei sich auf seine Lippen drängte, daß er fast zu Boden gestürzt wäre, als da plötzlich jemand dicht neben ihm stand, ihn ins Gesicht blickte und dann seinen Namen nannte. Ehe er begreifen konnte, ehe seine Augen zu erkennen vermochten, verging eine geraume Zeit, dann drang es plötzlich in ihn ein, daß eine heiße Welle durch den erstarrten Körper fuhr, daß jedes Glied an ihm bebte, daß er fassungslos, wie einer, der aus tiefstem Schlaf erweckt wurde, in das helle Gesicht vor ihm blickte.

Sie war es selbst. War aus der Stadt zurückgekehrt; der Mann, mit dem sie am Mittag gefahren war, befand sich jetzt auf einer Geschäftsreise; sie war allein.

»Mein Gott, Herr Doktor, hören Sie denn überhaupt, was ich zu Ihnen sage? Wie sehen Sie denn aus? Bleich wie ein Leinentuch, oder ist's der Mond, der Sie so aussehen läßt? Und wie kommen Sie hierher? Wollten Sie zu uns herein? Waren vielleicht schon im Haus? Nein? Ja, was denn sonst? Es ist ja so bitter kalt! Wollen Sie mit mir kommen? Weiß Ihre Frau, daß Sie hier sind? Sprechen Sie doch; ich bitte Sie, sagen Sie doch ein Wort!«

Ihr Haar flimmerte vor ihm im weißen Mondenschein; ihre Augen blickten tief und mit einem Ausdruck von Besorgnis in die seinen. Es war jetzt nicht der leiseste Versuch in ihr, ihm gefallen zu wollen; sie sah einen Kranken, vielleicht einen Verwirrten vor sich. Eine Angst überfiel sie; am liebsten wäre sie ins Haus gelaufen, hätte sich eine Hilfe geholt und hätte dann den Doktor zu seiner Frau, die wahrscheinlich in marternder Sorge auf ihn wartete, gebracht.

Aber dann kam plötzlich das Leben und das volle Erkennen in Breuer zurück. Die Züge seines Gesichts verloren den starren Ausdruck, die Augen hatten jetzt einen tiefen Glanz. Das Wunder war gekommen! Der Himmel öffnete sich über ihm.

»Wollen Sie mit mir hereinkommen?« fragte Frau Ralling, aber es lag keine große Freude im Ton ihrer Stimme. Sie hoffte auf ein »Nein!«, doch Breuer stieß ein kindlich frohes »Ja« heraus und schritt dann neben ihr den Gartenweg entlang dem Hause zu.

Frau Ralling führte ihn die Treppe hinan; sie traten in das Zimmer, aus dem das Licht geleuchtet hatte. Aus einem Sessel erhob sich jemand.

»Meine Tante,« stellte Frau Ralling vor; Breuer grüßte die ältliche Frau, die vor ihm stand, erwiderte den Gruß und verließ dann das Zimmer. »Ich werde für Tee sorgen, Herr Doktor. Sie müssen ja ganz erstarrt sein. Lassen Sie sich ansehen, ob es draußen wirklich nur das Mondlicht gewesen ist, das Ihr Gesicht so weiß machte! Nein, ich hab' mich also nicht geirrt, Sie sehen erbärmlich aus. Kommen Sie, legen Sie den Mantel ab und dann setzen Sie sich da in den Sessel. So, ich gebe Ihnen eine Decke über die Kniee und nun entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich will nur dem Mädchen Bescheid sagen.«

Breuer nickte zu allem. Sein Gesicht war jetzt wie das eines müde gewordenen Kindes. Es war wohl irgendeine große, eine kaum zu erfassende Freude in ihm, aber die Müdigkeit war größer als alles andere. Eine Viertelstunde später saß Frau Ralling auf dem Sessel, der dem seinen gegenüberstand. Sie trug ein helles, loses Hauskleid, die Haare leuchteten, die Augen strahlten, der Mund sprach und landete wie an jenem Abend bei Lerchs, als er sie zuerst gesehen hatte.

Zwischen ihnen stand ein kleiner Tisch mit dem Teegerät. Frau Ralling goß ihm ein, tat Zucker und irgendeinen stark duftenden Alkohol in seine Tasse und schob ihm eine Schüssel mit Backwerk zu.

»Trinken Sie, Herr Doktor, Sie müssen trinken, solange der Tee heiß ist. Gott im Himmel, wie lange haben Sie denn da draußen gestanden? Sagen Sie doch, Doktor, geben Sie mir doch eine Erklärung.«

Er trank seine Tasse in einem Zuge leer; in seinem Hause litt er keinen Alkohol, weil er ihn als Feind des klaren Denkens betrachtete. Darum war die Wirkung des starken Getränkes, das er hier genoß, fast eine augenblickliche. Die Müdigkeit verflog, der Geist lief wieder auf den seinen geölten Bahnen.

Frau Ralling füllte ihm die Tasse von neuem.

»Kennen Sie die Geschichte von der blauen Blume? Die Sehnsucht nach Unerreichbarem, die einen Menschen befallen kann und ihn auf Wege lockt, die er nie gehen würde, wenn der Verstand und die Vernunft in solchen Zeiten nicht ausgeschaltet wären?«

Frau Rallings Mund lachte; aus ihren Augen war der Ausdruck von Sorge verschwunden. Des Doktors feines, schmales, geistvolles Gesicht übte wieder die große Wirkung auf sie aus, wie damals im Pastorenhaus. »Trinken Sie!« Und Breuer trank und das Herz schlug ihm warm und voll gegen die Brust; die Augen hatten einen überirdischen Glanz. Die Göttin hatte ihn in ihr Paradies geführt.

»Ich kenne das Märchen von der blauen Wunderblume aus Büchern nur!« sagte sie leise mit einem Ton von Wehmut in der Stimme. »Mich selbst hat das Leben immer nur nüchterne Wege geführt, bis ...«

Sie vollendete nicht, und er sah sie groß und erwartungsvoll an.

»Bis?«

»Nun, vielleicht bis zum heutigen Tag, nein, bis vor ein paar Wochen!« Der Kopf senkte sich; Breuer sah jetzt nichts anderes als das leuchtende, zitternde, blonde Haar. Die Sehnsucht, es mit seinen Händen berühren zu dürfen, war übergroß in ihm. Magdalenens Bild stand plötzlich klar und groß vor ihm. Die Hand, die sich schon erhoben hatte, sank herab. Es war, als ob ein kühler Wind ins Zimmer gekommen wäre.

»Wie sie lähmt!« dachte Breuer verzweifelt. »Wie sie selbst in solchen Augenblicken die Stimmung nimmt!«

Frau Rallings Kopf hob sich, ihr hübsches Gesicht beugte sich zu ihm hin.

»Sagen Sie, was Sie denken, was Sie fühlen! Sagen Sie, wie Sie sind, wer Sie sind!« bat er flehend. »Ich weiß nichts von Ihnen, als daß Sie dies blonde Haar haben, kenne nichts, als diese Stimme, die mich zittern macht, diesen Duft, der von Ihnen ausgeht, und der mich berauscht. Was Sie denken, warum Sie so wirken, daß alles andere neben Ihnen verblaßt, das weiß ich nicht. Ich kann Magdalene, kann meine Frau kaum noch ertragen, seit ich Sie kenne!«

»Sprechen Sie nicht so! Sagen Sie nichts von Magdalene. Nennen Sie ihren Namen nicht!« bat Frau Ralling, und Breuer nickte.

»Nur das eine noch: es ist, als sei das ganze Leben ein riesengroßer Irrtum gewesen bis zu jenem Tage – bis ich Sie sah.«

»Wie ist das möglich, da Sie doch ganz in Ihrer Geisteswelt gelebt haben?«

»Vielleicht gerade deshalb. Ja, gerade deshalb. Die wirkliche Welt, das Reale hatte noch keine Macht über mich gewonnen bislang.«

»Und jetzt?«

»Jetzt möchte ich Mensch sein! Herrgott, Mensch sein wie Ihr Mann zum Beispiel; nur mit mehr Bewußtsein.«

»Mein Mann lebt sehr bewußt!« lächelte Frau Ralling.

»Ich verstehe unter ›bewußt‹ etwas anderes. An jedem Tag, in jedem Augenblick wissen, fühlen, in jedem Nerv empfinden, wie glücklich man ist, wie fähig, auszukosten, was geboten ward.«

»Sind Sie nicht glücklich?«

Breuers Gesicht bekam den verbitterten Ausdruck, den es an Magdalenens Seite seit langem hatte.

»Ich will kein Glück in dem banalen Sinne, den die Allgemeinheit in diesen Begriff legt. Ich will ein Herausgehobensein, ich will das Höchste, das natürlich nicht von Bestand sein kann.«

»Und dann?«

»Dann das Nichts!« sagte Breuer. »Aber das Nichts – wir Menschen können es nur durch den Tod erreichen – ist eben ein Ziel, vor dem alles, was gesund in uns ist, zurückschreckt. Und selbst in einem kranken Körper und in einem kranken Geist muß viel Gesundes zurückbleiben, denn sonst könnte so viel körperliches und seelisches Elend doch nicht das Leben dem erlösenden Nichts vorziehen. Es ist traurig und beschämend, daß es so ist und ist vielleicht doch auch wieder gut und notwendig so. Alle Geistesprodukte, die den Durchschnitt überragen, alle Kunst, die Tiefen aufwühlt und hinzureißen vermag, kann nur einem mit Krankheit behafteten Hirn entspringen. Ich möchte fast sagen, insbesondere in bezug auf die Kunst: Je mehr Krankheitsstoff, um so gewaltiger, hinreißender, eindringender ist das Werk. Ein Mensch, der glatt an den Krankheitserscheinungen des Geistes und der Seele vorüberkommt, hat überhaupt nicht gelebt, er hat vegetiert. Vielleicht, nein, ich möchte sagen, ganz bestimmt, ist er der Beneidenswertere, denn ihm blieben die Qualen des armen Geistigen erspart.«

»Wenn Sie so sprechen,« sagte Frau Ralling leise, »fällt mir das Leben, das ich seit vielen Jahren lebe, jählings in Trümmer. Es war jedesmal so, nach jenem Abend bei Lerchs, als wir uns zum erstenmal sahen, dann nach dem Besuch in Ihrem Hause, und nun zum drittenmal. Ich muß dann jedesmal mit vieler Mühe und Ueberwindung die Scherben wieder zusammensuchen und ineinanderfügen, es bleibt mir ja etwas anderes nicht übrig!«

Ihr Kopf senkte sich wieder, während sie sprach.

»Wollen Sie mir damit sagen, daß ich Ihnen Unglück bringe?«

»Vielleicht ›Gift‹!«

»Ist es ›Gift‹, wenn ich Sie lehren möchte zu denken, Ihr Leben zu erkennen?«

»Es würde kein Gift sein, wenn Sie Macht hätten, es anders zu gestalten, wenn Sie mir helfen könnten.«

»Ein Mensch wie ich kann niemandem helfen – ich kann nur herniederziehen!« sagte Breuer bitter. »Ich kenne ja wenig Menschen, aber bei diesen wenigen habe ich immer dieselbe Erfahrung gemacht, nämlich, daß sie nicht heiterer werden, wenn ich auf sie wirke. Magdalene war einstmals ein heiteres Mädchen. Ich meine nicht ›heiter‹ im oberflächlichen Sinne. Aber sie war so, daß sie ohne Kämpfe durch ein normales Leben gekommen und zufrieden geblieben wäre!«

»Und jetzt?«

»Jetzt ist sie krank: ich glaube sehr krank.«

Frau Ralling sah den Doktor groß und mit einem Grauen in den Augen an.

»Quält Sie das nicht?« fragte sie, »können Sie ruhig ansehn, wie sie an Ihrer Seite dahinsiecht?« »Ich fühle nichts mehr für sie!« sagte Breuer kalt, »habe vielleicht niemals etwas für sie gefühlt. Es war Täuschung von Anfang an. Ich hatte vor Jahren das sichere Gefühl, sie im Triumph in meine Welt hinüberzuziehen und mit ihr ein rein geistiges Leben führen zu können. Aber sie hängt an der Materie. Nein, ich will nicht undankbar sein! Sie hat Opfer für mich gebracht, große Opfer für ihre Begriffe. Aber in ihrem tiefsten Innern hat sie sich nie zu mir bekehrt«

Frau Rallings Gedanken flogen zu Magdalene, sie sah das bleiche, schwermütige Gesicht vor sich. Keine Freude war in ihr darüber, daß der Doktor bei ihr saß und ihr zu sagen versuchte, daß Magdalenens Bild vor dem ihren verblaßt und versunken sei. Im Gegenteil, ein seltsames Schmerzgefühl ward von Minute zu Minute größer in ihr.

»Doktor,« sagte sie, nachdem sie sah, daß er wieder völlig Herr seiner selbst geworden war, »Sie haben eben die Frage an mich gerichtet, wer ich sei und wie ich sei. Nun, die Antwort darauf ist schnell gegeben: Ich bin eine Frau, die sich immer etwas anderes wünscht, als das, was sie gerade hat. Ich möchte genießen, und ich weiß, daß ich fähig wäre, alle möglichen Dinge zu begehen, wenn die Gelegenheit sich mir dazu böte. Ich bin nicht besser und nicht schlechter als Tausende und aber Tausende meiner Mitschwestern. Aber im tiefsten Grunde verdorben und schlecht bin ich nicht, und es gibt Dinge, die mir heilig sind und die ich nie profanieren würde.«

»Und was wären das für Dinge?« fragte der Doktor.

»Das sage ich Ihnen später. Ich möchte jetzt nur die Gegenfrage an Sie richten, über die ich unzähligemal, seit ich Sie kenne, nachgedacht habe, nämlich die Frage: Wer sind Sie? Wie sind Sie? Was bezwecken Sie mit der Art Ihres Lebens, mit Ihrer Arbeit, mit sich selbst?«

»Darauf würde die Antwort nicht so einfach sein, wie die Ihre es gewesen ist,« gab er zurück. »Aber deshalb sitzen wir ja auch nicht hier zusammen. Ich kam zu Ihnen, Sie müssen wissen, daß ich heute nicht zum erstenmal vor Ihrer Gartenpforte stand, ich kam zu Ihnen, weil Sie mich riefen, weil Sie einen Zwang auf mich ausübten, weil Sie die Macht hatten, alle Werte meines Lebens wertlos zu machen, weil ich einsehen mußte, daß kein Mensch sich selbst die Gesetze und die Ziele für sein Leben stellen kann, sondern daß er vollkommen von äußeren Einwirkungen abhängig ist. Ich habe bislang geglaubt, über die Menschen hinweg leben zu können, ihrer nicht zu bedürfen, soweit es nicht galt, für das äußere Leben zu sorgen. Sie sehen, ich gestehe Ihnen die Macht zu, einen Menschen all seiner Lebenserfahrungen, seiner Weisheiten, seiner Prinzipien zu berauben. Sie haben eine furchtbare Erschütterung in mir bewirkt, ich möchte sagen, die größte Erschütterung meines Lebens.«

Alles, was der Doktor hier sagte, beruhte auf Wahrheit, das fühlte Frau Ralling wohl, aber es war die Wahrheit des Augenblicks, die genau so lange anhielt wie die Ekstase, in der er sich befand.

Ihr Gesicht ward kühl, ihr gesundes Empfinden lehnte sich auf. Der Verstand hatte das Herz sehr schnell zum Schweigen gebracht, und wenn das Herz trotzdem noch leise Empfindungen von Güte und Wärme hatte, so galten sie der Frau, die zu diesem unglückseligen Manne gehörte, galten sie Magdalene Breuer.

Und doch war ein großer Schmerz in ihr um diesen Mann, der Schmerz, der sehr einsamen Frau, die Lebensdurst hat, die von einem bestrickenden Erlebnis geträumt hat und der dann plötzlich davor graut.

»Magdalene Breuers Verachtung ertragen,« sagte sich die schöne, lebensfrohe Frau Ralling – »Magdalene Breuers Verachtung ertragen müssen, das wäre härter, als ein ganzes langes reizloses Leben neben einem Manne, wie der meine es ist, der zwar gut ist und treu sorgt, der aber nichts von dem, wonach das Herz schreit, zu geben vermag!«

Der Doktor, den die Wärme, der Alkohol und die Nähe der Frau, die ihn reizte, aus seiner Lethargie aufgepeitscht hatten, sank jählings wieder in sich selbst zusammen.

Ohne Worte fühlte er, daß das, was ihn hergeführt hatte, schon hinter ihm lag; die seine Witterung, die ihm zu eigen war, die ihn die verborgensten Vorgänge im andern Menschen erkennen ließ, sagte ihm, daß auch hier ein großer, ein riesengroßer Irrtum vorgelegen hatte.

Vor ihm saß jetzt nichts anderes mehr als der Körper einer gut erhaltenen, nicht mehr jungen Frau. Das Licht, das er in sie hineingezaubert und das aus ihr herausgeleuchtet hatte, war erloschen. Die Augen waren kalt wie Glaskugeln, der Mund eine etwas gewölbte Linie, der sich öffnete und schloß genau wie jeder andere Mund, die Stimme vielleicht noch vom alten Wohllaut, doch ohne Reiz. Ein Spiel, ausgespielt, noch bevor es begonnen hatte!

Und was nun? Nach Hause zurückkehren? Zu Magdalene zurück? Und fortan wieder ein Leben ertragen, wie es früher gewesen, früher, bevor dieser Zauber in sein Leben gekommen war, bevor er Abend für Abend in das Licht seiner Märchenwelt hineingeschaut hatte!

Noch einmal blickte er zu der Frau im hellen Kleid auf. Flimmerte dies Haar denn nicht mehr? Verhießen die Augen nichts, gar nichts mehr? Eine tote Masse? Ein Gebilde seiner Phantasie, das er sich selbst errichtet und selbst zerschlagen hatte!

»Nein,« sagte jetzt Frau Ralling und reichte ihre weiße, gepflegte Hand zum Doktor herüber. »Nein, es war nichts zwischen uns beiden. Und wenn etwas gewesen wäre, Doktor, etwas anderes als das ganz Gewöhnliche, ich meine das uralte Lied zwischen Mann und Weib, ja, selbst wenn etwas gewesen wäre, so müßte es in sich selbst zusammenfallen, weil ...«

»Weil?« fragte Breuer, als Frau Ralling stockte.

»Nun, weil – ich sagte Ihnen vorhin, daß es etwas Heiliges für mich gibt, worüber ich nicht hinwegkann und wenn die Sehnsucht so groß wäre, daß sie in der ganzen Welt nicht Raum fände – und dieses Heilige ist Ihre Frau – ist Magdalene!«

»Magdalene!« sagte Breuer tonlos. »Ja, eine Heilige, aber das ist das Furchtbare; man kann eine Heilige nicht dauernd neben sich ertragen.«

»Auch nicht, wenn man wie Sie in einer geistigen Welt lebt?«

Er stand aus seinem Sessel auf.

»Ich bin ein Mensch wie andere Menschen!«

»Wenn man von Ihnen spricht, so sagt man das Gegenteil, Doktor Breuer! Warum wollen Sie sich kleiner machen als Sie sind?«

»Wenn das Erkennen kommt, schwindet alles, was falsch und gegen die Natur war!«

»Und was würde bleiben?«

»Weniger als der Durchschnitt! Halbheit in allem! Ich könnte ja jetzt zu Magdalene gehen, ich könnte ihr sagen: Magdalene, es ist eine große Wandlung in mir geschehen. Ich habe all diese Jahre im Irrtum gelebt; aber ich will nun suchen, den großen Trott der anderen mitzumachen, will ein vernünftiger, bürgerlicher Mensch werden. Das Werk schließen wir in einen Schrank oder in eine Truhe – du gehst morgen oder übermorgen zu deinem Vater und legst für mich eine Generalbeichte ab, sagst ihm, daß ich bereit sei, in seinem Sinne zu arbeiten, und daß ich riesig dankbar wäre, wenn er mir zu solch einer Arbeit verhülfe ... ja, so könnte ich zu Magdalene sprechen, und was glauben Sie, was sie dazu sagen würde? Weinen würde sie vor Freude und Seligkeit. Das Werk, das all diese Jahre über ihr Feind gewesen ist, würde selbigen Abends in die tiefsten Tiefen einer Truhe wandern und am andern Morgen wäre Magdalene bei ihrem Vater. Und dann? Nun, dann würde dieser äußerst wohlwollende Vater, von dessen Geld ich jetzt seit acht Jahren lebe, zu uns herauskommen, würde mir die Hand schütteln und den verloren geglaubten Sohn wahrscheinlich an sein Herz ziehen. Nun, und eine Woche später hätte ich einen anständig bezahlten Posten, wäre unter die gute Bürgerlichkeit einrangiert, und Magdalene begänne aufzublühen. Man wäre mit einemmal innerlich und äußerlich ein höchst achtenswerter normaler Mensch – aller Unfug aus den Seele heraus –, Sie können sich das übrige ausmalen, man liest in Büchern, die einen versöhnlichen Schluß haben müssen, davon!«

Er stand an einem kleinen Zierschrank gelehnt, als er all das sagte, und Frau Ralling sah ihn mit Augen an, die eine Prüfung dieses Mannes von innen und von außen verrieten. »Nun?« fragte Breuer, »was sagen Sie dazu?«

»Dieser versöhnliche Schluß wird nicht kommen!«

»Sondern?«

»Sondern Sie werden weiterleben müssen, wie Sie bisher gelebt haben, das heißt, Sie werden der Sklave Ihres Geistes bleiben müssen. Doktor, – hören Sie mich an: Ich glaube an Sie und an Ihre Berufung; ich glaube an Ihr Werk genau so wie Magdalene daran glaubt. Ich muß daran glauben, darum, weil irgend etwas in mir stark für Sie eintritt. Nein, keine Lust nach einem Abenteuer mehr, gar nichts Persönliches, nichts von dem, was Sie vielleicht bei mir vermuteten. Nein, bei Ihnen ist's anders als bei den Männern, die bislang in mein Leben kamen und denen ich zu gefallen strebte. Im Anfang – vielleicht bis heute – bis zu dieser Stunde war es nicht so – aber jetzt – das können Sie mir glauben, jetzt wird es unumstößlich so bleiben. Vielleicht ist es ein großes Glück für Sie und für mich, daß Sie heute bei mir sind, daß diese Klärung gekommen ist. Ich war auf ähnlichen gefährlichen Bahnen wie Sie, Doktor, das Leben mit und neben meinem Manne fing an, mir unerträglich zu werden. Es ist vielleicht nie reizvoll gewesen, und ich habe immer Wünsche gehabt, die nach anderem strebten, als nach dem, was er mir zu geben vermochte. Aber so wie in diesen letzten Wochen hat es mich nie gepackt, so schwer ist das Dasein der Alltäglichkeit nie zu ertragen gewesen. Das waren Sie, Doktor, war Ihr ›Gift‹! Ich habe viel mit Ihnen durchlebt in meinen Gedanken, bin durch Welten mit Ihnen gewandert, nie glücklich, immer nur ruhelos, getrieben von ewig neuen Wünschen, die alle in Enttäuschung und Ernüchterung endeten.

Das ist nun vorüber, ich fühle es und es ist ein guter Schluß, denn wenn der eine so vollständig frei ist, wie ich es geworden bin, dann wird auch der andere Teil nicht lange mehr an seinen Ketten zu tragen haben. Und dann müssen Sie wieder ganz Ihrer Arbeit gehören, denn Sie sind trotz allem und allem einer von den Berufenen, Doktor. Ich fühle das, ich weiß es mit einer Sicherheit, die kein Mensch mir nehmen kann. Und alles, was Sie erleben, was Sie fühlen und leiden müssen, das ist eine Notwendigkeit eben Ihrer Berufung wegen. Ist es nicht so, daß die, die auf Höhen getrieben werden, erst durch Höllen gehen müssen? Daß sie bis zur äußersten Grenze des Möglichen Foltern ertragen müssen, damit alles, was noch nicht groß und rein und würdig in ihnen ist, geläutert werden soll?«

Sie stand jetzt dicht bei ihm, und es war wieder etwas von dem Licht, das er in ihr gesehen, und das ihn in den schweren Bann geschlagen hatte, in ihr. Aber es war ein anderes Licht, als es zuvor gewesen, und Breuer staunte und fühlte nun wirklich, daß auch in ihn eine gewisse Erlösung kam, aber glücklich war er deshalb nicht.

Er stand sehr müde, sehr haltlos, an den Zierschrank gelehnt, und als die Frau vor ihm den gebrechlichen Menschen an dem gebrechlichen Gegenstand lehnen sah, kam es wie ein Vergleich in ihr auf. Dieses geschnitzte Schränklein war zu nichts nütze, es barg nichts in seinem Innern, weil man sich fürchtete, ihm etwas anzuvertrauen; es paßte weder in Stil noch in Form zu den anderen Dingen, die hier in diesem Zimmer standen, und doch hatte man das Gefühl, daß der Raum erst durch diesen einen Gegenstand seinen Reiz, seine Bedeutung, seinen Charakter erhielt.

»Und wenn er,« mußte sie denken, »wirklich die Bestimmung, die in ihn gelegt ist, erfüllen wird, so kann von einem Nutzen davon für die Allgemeinheit wohl keine Rede sein. Nein, so sieht dieser Mann nicht aus, als wenn er Großes im Sinne des Nutzbringenden schaffen wird. Aber vielleicht erfüllt er eine ähnliche Bestimmung wie dieses Schränklein hier in meinem Zimmer – wird wenigen Menschen mit sehr verfeinertem Geist einen Leckerbissen reichen, wird vielleicht eine Brücke bilden, die andere, kräftigere hinüberführt zu dem Lande, das ihm vorschwebt und das er nicht erreichen kann, weil ihm Festigkeit und steter Wille fehlt.«

Ja, so dachte Frau Ralling und war dabei über sich selbst erstaunt, daß eine solche Fülle von Gedanken und Erkenntnissen durch ihren Kopf und ihre Seele zogen, da sie doch sonst nicht in Tiefen zu schlürfen gewohnt war, sondern sich mit dem begnügte, was die Oberfläche bot.

»Ist das der Schluß?« fragte Breuer, und seine Stimme war fast lautlos bei dieser Frage. »Ist das das Letzte?«

»Zwischen uns beiden allein, ja, Doktor. Aber wenn es ginge, daß wir trotzdem Freunde blieben, daß wir uns begegneten wie andere Menschen sich begegnen auf Gesellschaften, Spaziergängen ...«

Breuer winkte müde mit der Hand ab.

»Das sind doch nur Worte!« sagte er bitter.

»Ihre Frau glaubt so fest, glaubt mit solcher Inbrunst an Sie, Doktor,« fing Frau Ralling noch einmal an und sah Magdalenens Bild wieder in all seiner Feinheit und Traurigkeit vor sich. »Um ihretwillen allein müssen Sie sich aufraffen.«

»Sagen Sie nichts mehr von meiner Frau, sagen Sie überhaupt nichts mehr, es kann alles nichts ändern. Sie sind frei geworden, Sie haben Ihre Wirkung auf einen armen Toren erprobt; nun, da er Ihnen nicht mehr gefällt, reden Sie Dinge, die eben nur eine Frau aussprechen kann, wenn sie kalt geworden ist und zur Tugend zurückkehrt. Nein, seien Sie nicht böse deshalb, ich will nicht brutal sein, ich bin aber im Augenblick nicht Herr meiner Worte!«

Frau Ralling wandte sich dem Fenster zu, und Breuer verließ das Zimmer.


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