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Breuers Gesicht hatte den Ausdruck hochmütiger, verbitterter Ironie angenommen; die Mundwinkel waren herabgezogen, die Züge hatten etwas Schlaffes, die Augen blickten über Menschen und Dinge hinweg. Magdalene sagte sich: »Er ist am Gipfel seiner Leiden angekommen!«, und sie wußte nun, daß das Opfer, zu dem sie sich aufgerafft hatte, umsonst gebracht worden war.
Sollte der Andere – der, der einsam im Nachbarhaus lebte und ihre Tage, ihr Tun und Denken beobachtete – sollte er recht gehabt haben mit seinen Worten, daß ein Opfer statt zu nutzen, ebensogut Verderben bringen könne? Sie wußte nun: »Das Spiel der beiden hat aufgehört in derselben Minute, in der du das blaue Zimmer verlassen hast! Da mögen sie das uralte Erkennen erlebt haben, das seit dem ersten Menschenpaar über Millionen und aber Millionen von Menschen hergestürzt ist.
Sie haben erkannt und haben die Stunde nicht genützt! Aber sie danken dir nicht, sondern sie tragen Groll und Wut im Herzen gegen dich!
»Wie hätte ich es machen sollen? fragte Magdalene sich voll Schmerz und bitterer Angst. »Ich wollte groß sein, und sie sehen eine List darin; der Mann verbirgt seine heiße Wut, seinen Haß nicht mehr, und die Frau meidet das Haus, in das du sie locktest!«
Warum war das so? War es undenkbar, daß eine Frau aus großer Liebe, aus tiefstem Mitgefühl heraus auch das letzte Opfer brachte, daß sie die Nebenbuhlerin selbst herbeirief, sie anflehte: »Hilf! ich selbst will groß sein, nun sei auch du es!«
Das Bild der Frau Ralling stieg vor ihr auf: schön, noch an der Grenze der Jugend, lockender vielleicht als eine, die den Jahren nach jünger war, voll starker, gefährlicher Reize – – mein Gott, und daneben dieser Mann, mit dem diese Frau zusammenlebte! Einfach, solid, brav, nüchtern und treuherzig, aber ohne die kleinste Falte im Wesen, wie ein klares, durchsichtiges Wasser.
Ja, ein Mensch wie ein Wasser!
Magdalene fühlte einen leisen Schauder. Was bedeutete das, an einen solchen Menschen für sein ganzes Leben gebunden zu sein! Was bedeutete das insbesondere für eine Frau voll zitternder Lebensgier – mit den Augen, den Bewegungen, den Gelüsten einer Schlange!
War es möglich, daß diese Frau während all der vielen Jahre, die sie nun an der Seite solch eines Mannes lebte, ihm die Treue bewahrt hatte? War es denkbar, daß Frau Ralling den schweren Weg der Entsagung ging, da alles in ihr nach Erfüllung schrie!
Magdalene war in den tiefsten Zweifeln ihres Lebens befangen; sie kannte das eigene Geschlecht nicht aus Erfahrungen, die sie selbst gemacht, sie kannte es aus Büchern, aus Erzählungen, aus Ahnungen. Rätsel gab es im Leben – das wußte sie – große, schwere Rätsel, und wie die Dinge jetzt rund um sie herum lagen, stand sie vor einer Kette von Rätseln.
Ein schwerer Nachmittag voll banger Hoffnungslosigkeit trieb sie ins Pastorenhaus. Die Frau war im Dorf – das Mädchen führte sie die Treppe hinan in die Wohnstube. Lerch trat zu ihr ein mit einem Gesicht, in dem etwas von heimlicher Freude lag.
Ihre beiden Hände ruhten in den seinen, gütige Augen blickten in ihr Gesicht, in dem von Kämpfen und Qualen viel zu lesen war. Wie wohl das tat, bei diesem Mann zu sein, wie die verflatterte Seele da ein Gefühl von Geborgenheit verspürte!
Draußen war wieder der große Kampf zwischen Licht und Finsternis. Die dunklen Schatten schlangen und schlangen das Licht wie gigantische Raubtiere – sie kamen aus unsichtbaren Höhen herab, sanken tiefer und tiefer, fraßen und fraßen, bis alles fort war, bis nicht ein Baum, nicht ein Haus, nicht ein schwacher Umriß mehr zu erkennen war. Die beiden standen am Fenster und blickten hinaus.
»Ein Symbol!« sagte der Pfarrer, »ein Gleichnis dafür, daß alles auf Erden da ist, um geopfert zu werden. Das Licht muß der Finsternis zum Opfer fallen und eine Reihe von Stunden später muß die Finsternis dem Lichte weichen. Ewiger Wechsel! Nichts ist von Bestand – alles hat seine vorgeschriebene Dauer – dann kommt der Wechsel!«
Magdalene atmete tief.
»Auch für die Hoffnungslosigkeit?« fragte sie traurig – »für das ganz Graue, das Tag für Tag in gleicher Schwere da ist und nie weicht?« – Auf der dunklen Straße vor dem Hause flammte das Licht einer Laterne auf: Magdalenens Gesicht ward von dem matten, rötlichen Schimmer beleuchtet.
Der Pastor nahm ihren Kopf sanft in beide Hände und richtete ihn so, daß sie ihm in die Augen blicken mußte.
»Hoffnungslosigkeit?« fragte er, »Es gibt keine Hoffnungslosigkeit, die länger als eine kleine Weile dauern könnte. Ein Mensch, der nicht mehr zu hoffen vermag, vermag auch nicht mehr zu leben. Leben heißt hoffen. In dem Augenblick, in dem wir das »Hoffen« nicht mehr haben, sind wir der Finsternis, dem geistigen Tode verfallen.« »Ich kann nicht mehr hoffen!« sagte Magdalene verzweifelt.
Der Pastor zog sie vom Fenster fort nach dem Sofa hin, vor dem der runde Tisch stand, an dem er allabendlich mit der lebensfrohen Pastorin saß. Er entzündete das Licht, schob sich einen Sessel so dicht zu Magdalene hinan, daß er in ihr Gesicht blicken konnte. Wieder nahm er ihre Hände, und da sie sehr kalt waren, rieb er sie und hielt sie dann fest und warm umschlossen.
»Sprechen Sie,« bat er. »Ich habe das Gefühl, daß Sie gekommen sind, um sich von einer Last zu befreien – vielleicht – und das wäre eine große Freude für mich – weil Sie von dem Gefühl geleitet wurden, hier bei uns Trost und Verständnis zu finden.«
»Ich weiß es nicht!« antwortete Magdalene; »ich weiß nur, daß ich kommen mußte. Aber nun, da ich hier bin, scheint es mir wieder unmöglich, über das, was mich quält, zu sprechen.«
»Und doch sollten Sie es tun, Magdalene. Es ist nicht gut, mit einer Bürde zu kommen, die man ablegen möchte und die man dann doch wieder mit nach Hause nimmt. Sie wird Ihnen auf dem Heimwege schwerer erscheinen als zuvor. Sie werden vielleicht darunter zusammenbrechen.«
»Vielleicht ist es nur eine eingebildete Bürde!« sagte Magdalene, aber dann gab sie sich einen Ruck, sah dem Pastor frei ins Auge und fragte ihn: »Darf ich so sprechen, wie ich sprechen muß, wenn Sie mich verstehen sollen?« Er nickte.
»Es ist um meinen Mann, daß ich kam!« sagte sie leise. »Herr Pastor, sagen Sie mir, was ist es mit solchen Menschen, die auserkoren sind, Besonderes zu leisten und die sich im täglichen Leben nicht zurechtfinden können? Wie muß man ihnen begegnen? Wie sie behandeln? Sagen Sie mir, ist es das Rechte, wenn man auf jede Stimmung, jede leise Gefühls- und Gemütsregung bei ihnen Rücksicht nimmt – wenn man ihnen jeden Stein aus dem Wege räumt? Sagen Sie es mir! Oder ist das andere das Bessere? Ich meine, das absichtliche Nichtverstehenwollen, sie zwingen, über alle Unebenheiten allein hinwegzukommen? Ich weiß es nicht! Ich habe bisher nur gesucht, die Wege zu bahnen, zu helfen, zu stützen, und ich glaube, das bringt ihn von mir fort, läßt ihn mit Verachtung auf mich sehen!«
Ihre Stimme zitterte, und der Pastor fühlte, daß sie weit mehr zu sagen hatte, als sie aussprechen würde. Er mußte an seine Frau denken, die ein trauriges Schicksal für Magdalene vorausgesehen hatte.
Er fand nicht sogleich die Antwort. Eigene Erfahrungen, ein ganz klein wenig Bitterkeit, die in ihm lebte, waren in ihm wach geworden.
Ihm glättete man nicht die Wege; auf seine Besonderheiten würden keine Rücksichten genommen. Ein Schatten flog über sein Gesicht, war dann aber sogleich wieder verschwunden.
Er gehörte ja nicht zu den Auserwählten, er war nur ein Glied der Allgemeinheit, das seinen Beruf ausübte und seine Pflichten erfüllte, weiter nichts.
Er wollte den Mund zu einer Entgegnung öffnen, da kam wie eine Vision das Bild des Dr. Breuer vor sein geistiges Auge. Er sah ihn, wie er unten im Zimmer neben dem Sessel der heiteren, eleganten Kaufmannsfrau gestanden und mit ihr gescherzt hatte, und Magdalene erkannte, daß die Gedanken in ihm sich bekämpften, und daß es schwer für ihn war, in einem kurzen Augenblick die rechte Antwort zu finden.
»Gehört denn dieser Dr. Breuer zu den Berufenen?« fragte sich Lerch. »Ist irgendein Anhalt dafür da, daß er ein Recht hat, besondere Ansprüche an seine Umgebung zu stellen und Opfer zu verlangen, die vielleicht so groß sind, daß ein anderer daran zugrunde gehen mußte?«
Die Hände, die er noch immer umschlossen hielt, zuckten ungeduldig in den seinen; Magdalenens Augen sahen ihn flehend an.
»Ein jeder Mensch hat Rechte an das Leben!« sagte er, »ein jeder hat die Pflicht, sein Leben so zu gestalten, daß ihm Mut und Kraft genug verbleibt, um zu tragen, was ihm selbst auferlegt ist. Wer alles hingibt, alles opfert, um einem Anderen zu dienen, steht vielleicht eines Tages vor dem Ruin seiner selbst und sieht sich vergebens nach helfenden Händen um. Es ist nicht mein Beruf, dem Menschen zu predigen: opfere nicht, denke in erster Linie an dich selbst, und dann an die andern! – aber warnen muß ich besonders dann, wenn ich sehe, wie ein Mensch mit vollen Händen seine Gaben verteilt, und wie diese Gaben hingenommen werden, ohne vielleicht den Nutzen zu bringen, der ihrem Wert entspricht. Ein Opfer muß Sinn, muß einen ganz bestimmten Zweck haben, sonst ist es nicht nur umsonst gebracht, sondern kann Böses bewirken.«
In Magdalenens Ohr war jetzt der Klang einer anderen Stimme. Sie sah sich in abendlicher Kühle und Dunkelheit neben dem Major Schwertes gehen. Der hatte dasselbe gesagt, hatte auch vom Opfer, das Böses bringen kann, gesprochen.
Wozu also weiter fragen, wozu sich preisgeben? dachte sie erregt, wußte aber dann, daß ein unsäglich trostloser Abend ihrer harren würde, wenn sie mit ihrer Bürde ganz ohne Erlösung, ohne Erleichterung heimkäme.
»Es handelt sich hier um ein ganz bestimmtes Opfer!« fuhr sie mutiger fort, »und um Ihnen das zu erklären, muß ich ein wenig ausholen. Ich weiß, daß mein Mann zu Besonderem bestimmt ist; ich weiß, daß sein Geist Welten beherrscht, weiß, daß er zu jenen gehört, die Werte geben, die über Generationen hinausreichen. Nein, zweifeln Sie nicht, ich bitte Sie, glauben Sie es. Ich weiß es mit tödlicher Sicherheit – wußte es vom ersten Tage an, da ich ihn gesehen und gesprochen habe, und dieses sichere Bewußtsein war es, das mich zu ihm zwang, gegen den Willen der Meinen. Ja, es hat große Kämpfe gekostet, bis sie einwilligten, und es ist bis heute zu keiner Verständigung zwischen ihnen und uns gekommen. Aber das ist Nebensache. Ich wollte nur sagen: ich hatte das feste Bewußtsein, daß ich eine Notwendigkeit war – nicht so sehr für ihn als Mensch, als für das Geistige in ihm. Es war nicht immer leicht, und ich war oft klein und hatte Zweifel, denn ich stamme ja aus einer Welt, in der andere Ansichten herrschen als in der seinen. Aber dann fand ich immer wieder den Weg zu ihm und er zu mir. Wir lebten ja auch so einsam in all den Jahren – hatten niemand als uns selbst. Die große Stadt ging uns nichts an, wir lebten wie auf einer einsamen Insel in all dem Getriebe. Dann zogen wir hier heraus. Er hatte das Haus hier gesehen, und er hatte das Gefühl, daß hier das Werk zur Vollendung käme. Wir wollten auch hier ganz einsam bleiben, und taten es ja auch – bis – nun ja – Ihre Gattin war so gut zu mir, und ich hatte Verlangen nach Menschen und kam zu Ihnen – und dann kam auch er an jenem Abend. Sie wissen es ja.« Ihre Hände suchten jetzt die seinen. »Ich glaube, Sie verstehen mich – und können mich doch auch wieder nicht verstehen. Vielleicht denken Sie, es sei Trauer in mir – Schmerz oder Eifersucht, die mich zu Ihnen führen – aber das ist es nicht.
Ich habe einen kleinen Kampf mit mir ausgekämpft, bis ich zu der Erkenntnis kam, daß auch dieses – ich meine, daß das Begegnen mit dieser Frau und der Einfluß, den sie auf ihn ausübte, Bestimmung war. Sie glauben nicht, wie die Tage nach jenem Abend bei Ihnen sich für ihn gestalteten! Wie er da arbeitete – wie er getragen war von irgendeinem ganz großen übermächtigen Gefühl.
Dann kam die Ermattung – kam entsetzliche Gleichgültigkeit, und ich glaube – ein unbewußter Haß gegen meine Person. Man lebt und fühlt sich ja ganz in einen andern Menschen hinein, wenn man immer nur an ihn denkt. Ich lese aus seinen Augen, aus jeder Bewegung in seinem Gesicht, was er denkt, will, was er leidet. Und ich weiß jetzt, daß er krank und unfähig zur Arbeit ist, bis dieses nicht zur Ruhe gekommen ist, dieses Verlangen – diese Qual.«
Sie hielt inne und sah den Pastor unsicherer als zuvor an.
»Ich weiß nicht, ob die Frau ihn liebt – weiß nicht, wie weit ihre Macht über ihn reichen würde, wenn sie Gelegenheit hätte, sie auszuüben. Ich weiß nur das eine: er braucht sie; und wenn kein Weg gefunden wird, um sie zusammenzubringen, so ist es um sein Werk geschehen!«
Lerch sah mit großen staunenden Augen auf Magdalene hin.
»Was verstehen Sie darunter, wenn Sie sagen, er braucht sie!«
»Ich weiß es nicht genau: vielleicht nur, daß sie harmlos in unserm Hause ein- und ausgeht! Daß er sie sieht, ihre Stimme hört! Mein Gott, ich weiß es nicht, aber ich glaube, mehr ist es nicht. Aber eines weiß ich: solange ich zugegen bin, wenn sie kommt, ist alles vergebens. Er haßt mich – er sieht seinen schlimmsten Feind in mir.«
»Und da wollen Sie – ich weiß nicht, ob ich recht verstand, aber Sie sprachen im Anfang von einem Opfer, das Sie bringen wollten, und sagten auch, daß Sie ihn lieben – und wollten doch – ich weiß wirklich nicht, ob ich recht verstand – aber Sie wollen, daß er volle Freiheit hat – wollen sich selbst für ihn aus dem Wege räumen?
Gesetzt den Fall nun, daß das ginge, denn schließlich hat ein jeder das Recht der freien Handlungsweise – aber da ist doch der andere Punkt. Die Frau, von der Sie sprechen, ist verheiratet – hat einen braven Mann, der sie liebt, der wahrscheinlich an ihre Ehrlichkeit glaubt. – Ueber die Frau selbst vermag ich nicht zu urteilen, denn ich kenne sie kaum und weiß nicht, wie weit ihre Rechtschaffenheit geht – –
Aber ganz abgesehen davon: wollen Sie da – aus lauter Güte und Opferwilligkeit Ihre Hand zu etwas geben, was doch direkt gegen bestehende Gesetze verstößt – was eine Schuld auf diese beiden Menschen laden würde?«
In Magdalenens Gesicht war tiefe Röte gestiegen.
»Ich habe nur das eine Gefühl gehabt,« sagte sie dann, »das furchtbare Gefühl, daß ich hier als die Störende, die Ueberflüssige befunden wurde.«
»Eine Frau, die so in und mit ihrem Manne lebt, wie Sie es tun, darf sich selbst nie als überflüssig erscheinen!«
Magdalene seufzte.
»Sie sprechen eine andere Sprache, denken andere Gedanken, als mein Mann es tut!« sagte sie. »Es ist die Sprache und es sind die Gedanken, die in der Welt, aus der ich stamme, üblich waren. Er aber trägt den Geist der Freiheit in sich – steht über den Gesetzen, die von Menschen verfaßt und vorgeschrieben sind. Bei ihm gelten Notwendigkeiten. Bei ihm gibt es keine Verallgemeinerung der Fälle!«
»Wenn er keine Gesetze gelten lassen will, so hätte er sich keinem Menschen verbinden dürfen, hätte sich auch über die Einrichtung der Ehe stellen und allein bleiben müssen.«
»Er hat die Ehe nicht gewollt, Herr Pastor. Aber gibt es einen andern Weg, auf dem ein Mann zu dem Mädchen, das er liebt, gelangen kann? Ja, es mag solch einen Weg geben – aber ich war zu jung damals, und mein Vater würde mich lieber tot gesehen haben, als in einer Lebenslage, die ihn in Schande gestürzt hätte.
Ach, heute habe ich anders denken gelernt! Heute weiß ich, daß all das, was die Menschheit im allgemeinen hochhält und worauf sie sich stützt, nichts als Aeußerlichkeiten sind.«
Der Pfarrer sah halb bestürzt, halb verstehend in Magdalenens Gesicht.
»Wir kommen da auf Fragen, die nie zu einem Ergebnis führen können!« antwortete er. »Es stehen sich zwei Anschauungen gegenüber, von denen jede ihre Berechtigung hat. Nur eines muß ich Ihnen zu ungunsten Ihres Mannes sagen: Der sogenannte freie Mensch, der keine Gesetze anerkennen will, muß in all seinen Handlungen, in all seinen Aeußerungen ganz und ungeteilt jener Welt angehören, die er sich geschaffen hat. Sowie er nur einen einzigen Schritt in die Welt von uns Andern getan hat, verfällt er auch deren Gesetzen und muß sich ihnen fügen. Und wenn Sie kamen, um meine Ansicht zu hören, so muß ich Ihnen sagen: Ihr Mann muß eher sein Werk zugrunde gehen lassen, ehe er den Treubruch an Ihnen begeht und ehe er eine Dritte mit in den Abgrund reißt. Und Sie, Magdalene, so gut und rein und groß die Motive sind, die Sie leiten, Sie sind auf falscher, sind auf gefährlicher Bahn, und ich bitte Sie – ich flehe Sie an bei der großen Freundschaft, die ich für Sie hege: Kehren Sie um von diesem Wege! Besinnen Sie sich! Sie werden die Kraft nicht haben, um die Folgen von dem, was Sie herbeiführen wollen, zu tragen!«
»Ich las in Büchern,« sagte sie, »daß die Frau zu jedem Opfer, auch zu dem der sich preisgebenden Liebe, bereit sein muß –«
»Nein – nein – nein – so nicht! In diesem Falle nicht. Und wenn schon – dann nicht auf diese Weise! Magdalene, etwas anderes wäre es, wenn Sie gingen, für immer von ihm gingen, und wenn es sich darum handelte, daß der verblendete Mann seine Neigung einer Frau darbrächte, die frei – also für ihn erreichbar ist. Frau Ralling aber müßte ihrerseits denselben Treubruch begehen – und – nehmen wir einmal die Möglichkeit, daß diese beiden wirklich zueinander gelangten, glauben Sie denn, Magdalene, daß diese Frau Sie dauernd ersetzen könnte? Glauben Sie, daß eine Frau Ralling einem hochfliegenden Geist folgen und ihn aufrichten könnte, wenn er ermattet? Nein, nicht wahr! Das, was Ihren Mann zu dieser Frau hinzieht, kann nicht anderes sein, als eine große unselige Verirrung, und wenn der Tag dieser Erkenntnis käme, wenn er erwachen würde – und das Erwachen würde sehr bald kommen –, dann würde Schmerz, Groll und vielleicht Untergang der Dank für Ihr gebrachtes Opfer sein.«
Unten ging die Tür, und der Pastor hielt in seiner Rede inne.
»Ich höre meine Frau kommen,« sagte er, »und so müssen wir einen Schluß finden. Nein, sage ich, Magdalene, nein und tausendmal nein! Dieses Opfer dürfen Sie nicht bringen – denn es wäre kein Opfer, sondern es wäre eine unselige Schwäche, an der mit großer Wahrscheinlichkeit drei Menschen zugrunde gehen müßten! Verstehen Sie mich, Magdalene – haben meine Worte Ihr Herz gefunden? Begreifen Sie mich?«
Seine Augen suchten die ihren. Tiefe, bange Sorge lag in seinem Gesicht, aber bevor Magdalene antworten konnte, öffnete sich die Tür, und die Pastorin trat ein. Ihr Gesicht strahlte in herzlicher Freude. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf Magdalene zu und zog sie an ihr Herz.
»Endlich haben Sie den Weg zu uns gefunden, und obwohl ich um die Freude gekommen bin, Sie für mich zu haben, ist es doch wiederum eine besondere Freude für mich, daß mein Mann mit Ihnen allein war. Ich muß sagen, ich bin fast ein wenig eifersüchtig auf ihn, denn ich habe das Gefühl, daß Ihr Herz und Ihr Kopf Sie mehr zu ihm als zu mir drängen.«
In Magdalene war die ernste, schwere Stimmung noch zu groß. Sie vermochte es nicht, auf einen scherzenden Ton einzugehen. Pastor Lerch reichte ihr noch einmal die Hand.
»Die Arbeit ruft mich: ich überlasse Sie meiner Frau!« – Und die Pastorin zog Magdalene in die Sofaecke, sorgte, daß trotz der vorgerückten Stunde Kaffee und Kuchen schnell zur Stelle waren und faßte die scheue, verängstigte Seele ihres Gastes mit so weichen, vorsichtigen Händen an, daß der verzagte, schwermütige Ausdruck aus Magdalenens Züge wich und irgendein kleines Lichtlein auf dem dunklen Weg, vor ihr lag, zu leuchten begann.
»Ich kam an Ihrem Haus vorbei!« berichtete die Pastorin unter anderem. »Im Zimmer Ihres Mannes brannte Licht. Ich sah deutlich die Silhouette seines Kopfes; er hatte ihn in die Hand gestützt. Als ich ihn so sah, war ich mit all meinen Gedanken sehr eng und warm bei Ihnen, Magdalene! Möchte alles so kommen, wie Sie es sich ersehnen – und möchte, wenn endlich das Werk vollendet ist, eine Zeit für ihn folgen, die ihn dem wirklichen Leben wieder zuführt!«
Sie sagte das mit etwas beklommener Stimme, und ihre Augen sahen forschend in Magdalenens Gesicht. Die antwortete nicht, denn aus der Pastorin Worten hatte es wie Hoffnungslosigkeit geklungen. Das Bild der blonden Frau Ralling mochte vor ihren Augen gestanden haben.
»Mein Gott,« sagte sich Magdalene, »auch dieser Gang war vergebens, und nicht nur vergebens, er hat mich ärmer gemacht, als ich es vorher gewesen bin!«
»Wenn Sie gehen müssen« sagte die Pastorin, als Magdalene sich etwas plötzlich erhoben hatte, »so darf ich Sie natürlich nicht halten. Man läßt den Mann nicht gern warten – ich weiß das von mir selbst. Aber kommen Sie bald wieder, Magdalene, ich bitte Sie herzlich darum.«