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Wäre Magdalene das geworden, was sie ihrer innersten Natur nach eigentlich hätte werden müssen: ein freier, bescheidener und doch stolzer Mensch, der sich vielleicht ein paar junge Jahre lang staunend und suchend im Leben umsieht, aber dann bald seinen festen Standpunkt heraus hat, ja, hätte Magdalene sich entwickeln können, wie es für sie gut und notwendig gewesen wäre, dann hätte sie sich eine Frau, wie die Pastorin Lerch eine war, sicher nicht zur Freundin und Vertrauten auserkoren. Nicht, daß die Pastorin einer ehrlichen Freundschaft und eines herzlichen Vertrauens nicht würdig gewesen wäre! Im Gegenteil! Die Pastorin war eine von jenen Menschen, die, wie sie selbst von sich sagte, für ihre Freunde durchs Feuer gehen, und bis zu einem gewissen Grade tat sie das auch, das heißt, sie nahm gern diese und jene Unbequemlichkeit und Mühe auf sich, wenn sie damit jemandem, den sie in ihr Herz geschlossen hatte, nützen konnte. Und was das Vertrauen anbetraf, nun ja, die Zunge war vielleicht das Beweglichste an ihr, aber sie war klug und wenn sie schon reden und erzählen mußte, so tat sie das in einer so geschickten Weise, daß plumpe, häßliche Klatscherei ihr von niemandem vorgeworfen werden konnte.
Aber Magdalene und die Pastorin paßten ihrer tiefsten und eigentlichsten Wesensart nach wenig zueinander. Aber? Magdalene war krank, war verwundet, war in ihrer Lebenskraft, noch ehe sie richtig erwacht gewesen, gebrochen worden, und ein kranker, einsamer Mensch, der Sehnsucht nach einem warmen Herzen und einem guten Wort hat, wählt nicht lange, wenn sich ihm nach Jahren des Darbens endlich das Ersehnte bietet.
Und so war es kein Wunder, daß trotz einer gewissen Herbheit und Sprödigkeit die in ihrem Wesen lag, gleich am ersten Nachmittag, den sie bei der Pastorin in deren guten Stube verbrachte, in ein solch herzliches, töchterliches Verhältnis zu ihr geriet, daß, als die Dämmerung ins Zimmer zog und der Pfarrer leise die Tür öffnete, um auch seinerseits den Gast zu begrüßen, er die beiden Frauen eng aneinandergelehnt auf dem Sofa sitzend fand.
Ein leichtes Rot der Freude flog ihm übers Gesicht. Er kannte die junge Frau nur von jenen kurzen Augenblicken in der Mondnacht her, kannte sie also überhaupt noch nicht und hatte doch ihr stilles, feines, trauriges Gesicht nicht vergessen können. Hatte oft und oft über sie nachdenken müssen und immer mit dem Gefühl im Herzen »Du arme Blüte, die in diesem schattenvollen Dasein wohl nie zur vollen Blume werden wird!« Ueber den Doktor selbst hatte er sich noch längst kein abschließendes Urteil gebildet, nur das eine war ihm sofort klar geworden, daß dieser Mann weit abseits von der Allgemeinheit stand – daß nur ganz lose und daß mehr feindliche als freundliche Beziehungen ihn mit der Menschheit, auf die er so offenkundig herabsah, verbanden. Aber inwiefern dieses Abseitsstehen gerechtfertigt war, ob dieser Geist in der Tat auf Höhen wandelte, auf die ihm nur Auserkorene folgen konnten, oder ob er mehr Schwärmer, Phantast und vielleicht ein Kranker war, das hatte er aus dem Gespräch in jener hellen Sommernacht noch nicht entnehmen können. Die Züge dieses nervösen, gutgeschnittenen, leidend aussehenden Gesichtes ließen auf alle Möglichkeiten schließen, während man der jungen Frau hier gegenüber gleich auf einem festen Standpunkt stehen kannte.
Nicht ein armes, kleines, alltägliches Weiblein, das aus Versehen an einen etwas unbequemen Mann geraten ist und nun seufzt und weint und sich beklagt und das bedrängte Herz ausschüttet, wo immer es nur jemanden findet, der geneigt ist, es anzuhören, nein, nein, zu dieser Spezies gehörte diese hier nicht, und wenn man trotzdem dies tiefe innige Mitleid mit ihr haben mußte, so war es, weil das Gesicht für sich sprach, weil all das, was der Mund nie aussprechen würde, aus diesen früh müde gewordenen Zügen leuchtete, aus diesen dunklen, schwermütigen Augen herausweinte.
Ja, Magdalene hatte einen ganzen Nachmittag auf dem Sofa neben der Pastorin gesessen und die Stunden waren dahingeflogen wie eilige Wellen eines Wassers, und das Herz war ihr wärmer und wohler, als es seit undenklichen Zeiten gewesen, und doch hatte das, was man eine Aussprache nennt, nicht stattgefunden, und doch war keine Klage, kein leisestes Eingestehen, daß das Leben schwer für sie sei, aus Magdalenens Mund gekommen. Eigentlich hatte alles nur in einem sehr geschickten Verhör der Pastorin bestanden, und dieses Verhör hatte die äußeren Dinge nur gerade gestreift und war im übrigen ganz aufs Seelische gerichtet gewesen.
Dabei hatte sie die weißen, schmalen Hände Magdalenens gestreichelt und alles, was sie an Güte, Liebe und Verstehen zu vergeben hatte, war zu einem so starken Strome in ihrer Seele angeschwollen, daß ihre Worte von einer großen innigen, mütterlichen Wärme waren, so daß diese arme Blüte, die so viel Schatten und so wenig Sonne hatte, ganz unwillkürlich dieser Sonnenwärme zustrebte und sich von ihr bestrahlen ließ.
Die Augen der Pastorin leuchteten in einem schönen, echten Glanz, als der Mann ins Zimmer trat, und beide empfanden bei dem Blick, der sich über Magdalene hinweg traf, etwas Gleiches, was gut und sehr wohlwollend war. Pfarrer Lerch aß ein Stück des vortrefflichen Kuchens, den seine Frau ihm auf den Teller schob und den sie zu Ehren des Gastes gebacken hatte, und er erzählte, daß seine Frau ihm vor kurzem die Enthüllung gemacht habe, sie besäße fünfzig verschiedene Kuchenrezepte. Das erscheine ihm kaum glaublich, und er habe sich schon lange vorgenommen, einmal rund zu fragen, ob es so etwas gäbe, daß jemand fünfzig verschiedene Kuchen backen könne. Nun sei ja die Gelegenheit günstig und er frage hiermit also bei dem lieben Gast, der Frau Magdalene Breuer an, was sie von dieser Aussage seiner Frau halte.
Ueber Magdalenens Gesicht breitete sich tiefes Rot, obwohl aus Blick und Miene des Pfarrers sprach, daß er keine ernsthafte Antwort verlange, sondern daß es ihm darum zu tun war, dem Gespräch von vornherein eine harmlose und vielleicht sogar humorvolle Wendung zu geben.
Aber sie sagte nach einer kleinen Pause sehr ernsthaft, daß sie während ihrer Ehe eigentlich noch niemals Kuchen gebacken habe, weil man den in großen Städten ja in allen Arten und Formen täglich haben könne – und hier draußen ...
»Ach, fertig gekaufter Kuchen!« sagte die Pastorin wegwerfend. »Das ist genau dieselbe Sache wie mit den fertig gekauften Kleidern. Das sieht von außen gut aus und ist doch, wenn man näher hinsieht, nichts wert. Nein, liebe Frau Doktor, und wenn Sie in Ihrem Leben noch keinen Kuchen gebacken haben, dann müssen Sie's eben lernen, und wenn Sie keinen anderen Lehrmeister haben, dann will ich Ihnen das gern beibringen. Sie sollen einmal sehen, wie angenehm das Ihrem Gatten sein wird, wenn er selbstgebackenen Kuchen auf seinem Tische sieht!«
»Mein Mann legt leider so wenig Wert auf solche Genüsse,« sagte Magdalene sehr abwehrend und beklommen, denn so wohl und glücklich sie sich an diesem Nachmittag auch bei der Pastorin fühlte, diese Freundschaft durfte doch nie und nimmer eine so vertrauliche Form annehmen, daß die Pastorin ohne Umstände in ihrem Hause aus- und einging, und doch schien es der Wunsch der gutmütigen, tatkräftigen Frau zu sein.
Pastor Lerch erfaßte im Augenblick den Gedankengang des jungen Gastes, während die Pastorin noch weit davon entfernt war, etwas von dem, was in Magdalene vorging, zu ahnen.
»Und überhaupt,« sagte sie, »ich möchte Ihnen in vielen Dingen etwas behilflich sein, damit Sie sich's behaglich in Ihrem netten Heim schaffen, denn es ist das unser herzlicher Wunsch, daß Sie und Ihr lieber Mann sich recht wohl in unserem hübschen Vorort fühlen sollen. So hab ich mir zum Beispiel ausgedacht, daß Sie diese alte mürrische Bedienung, die Sie sich da aus der Stadt kommen lassen, abschaffen und dafür ein nettes, adrettes Mädchen aus unserem Ort ins Haus nehmen sollen. Das macht doch einen viel besseren Eindruck und kommt Ihnen gewiß nicht teurer zu stehen, als diese Frau, der Sie doch jedesmal das Reisegeld vergüten müssen, und dann ...«
Die Pastorin war so eifrig in ihren Redefluß hineingeraten, daß sie die flehenden und warnenden Blicke, die ihr Mann ihr zuwarf, nicht bemerkte, aber an der Haustür klingelte es jetzt zweimal laut und ungeduldig, und gleich darauf trat denn auch die Magd herein, und meldete, daß ein Mann, den die Pastorin sich mit allerlei Pflanzenproben und Samen bestellt habe, da sei und nicht allzu viel Zeit habe, da er mit dem Abendzug wieder zurückfahren wolle.
So ungern nun auch die Pastorin gerade jetzt ihren Gast verließ, so blieb ihr doch nichts anderes übrig.
»Aber ich sehe Sie doch noch, liebe Frau Doktor, nicht wahr, ich sehe Sie sicher noch, es wird ja nicht lange dauern!« und bevor eine Antwort erfolgen konnte, war sie schon draußen.
Die bange Beklemmung, die in Magdalenens Züge gekommen war, wich daraus, sobald sie mit dem Pfarrer allein war, und der versuchte noch einmal, den harmlosen Ton, mit dem er die Unterhaltung begonnen hatte, wieder aufzunehmen.
»Meine Frau hat nun einmal das Bedürfnis, überall, wo es nur möglich ist, helfend und ratend einzugreifen; sie hat ein sehr gutes Herz, aber darum müssen Sie nicht denken, daß sie eine Tyrannin ist und verdrießlich wird, wenn ihre Ratschläge nicht befolgt werden. O nein, davon ist gar keine Rede, und Sie müssen sich immer tüchtig Ihrer Haut wehren, wenn sie Ihnen Vorschläge macht, die Ihnen nicht passen. Sie wird darum in Fällen, in denen Sie ihren Rat und ihre Hilfe brauchen, doch immer mit derselben Herzlichkeit bereit sein, sie Ihnen zu gewähren!«
»Sie sind beide so gut zu mir!« sagte Magdalene warm, aber sie sagte es sehr traurig. »Es war ein schöner Nachmittag für mich und Sie dürfen mich nicht für undankbar halten, wenn ich vielleicht von all dem Guten, was Ihre liebe Frau mir angeboten hat, keinen Gebrauch machen kann, wenn ich vielleicht nicht wieder hierherkommen kann!« Ihre Stimme war sehr leise, und der Pastor sah jetzt, daß es nicht mehr angebracht war, hier den heiteren Ton aufrecht zu erhalten.
Seine guten blauen Augen blickten Magdalene an, sie blickten ihr ins Herz, so tief, daß sie es fühlen mußte, und was all die große Herzlichkeit der Pastorin nicht zustande gebracht hatte, das bewirkte dieser stumme, verstehende Blick bei ihr. Sie warf alle Scheu beiseite, irgend etwas in ihr zwang sie zu sprechen, und so sagte sie denn ohne allzu große Ueberwindung:
»Ich kann nur für meinen Mann leben; alles, was ich bin und tue, muß ihm zu Gebote stehen. Er braucht das so, und ich tue es gern. Mein Mann ist nicht wie andere, ich weiß das wohl, und darum werden wir immer abseits stehen müssen. Leicht ist das nicht immer, aber es ist auch nicht unerträglich, und manchmal ist es sogar schön. Aber die Menschen verstehen uns nicht so, wie wir es meinen und wie wir sein müssen, und darum würden sie, wenn wir uns unter sie mischen, enttäuscht sein. Zu Ihnen kann ich das sagen, weil ich weiß, daß Sie es verstehen, zu anderen könnte und möchte ich es nicht sagen!«
Ihre Blicke waren, während sie all das ohne Erregung aussprach, auf ihr Taschentüchlein, das sie in der Hand hielt, gerichtet, und sie hielt auch dann noch die Augen gesenkt, als Pastor Lerch ihre Hand erfaßte und sehr gütig zu ihr sagte:
»Vielleicht unterschätzen Sie die Menschen hier ein wenig; ich habe das Gefühl, daß jeder einzelne von ihnen, sobald er weiß, daß Ihr Herr Gemahl sich mit einem großen Werke trägt, die größte Achtung vor ihm und seiner Tätigkeit haben und ihm ein sehr weitgehendes Verständnis entgegenbringen würde. Aber hiermit will ich nicht suchen, Sie zu überreden, an unserer allgemeinen Geselligkeit teilzunehmen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr gesellschaftliche Zusammenkünfte von einer Sache, die Geist und Seele beschäftigt, ablenken können. Ich habe Ihren Gatten nur an jenem einen Abend am See gesehen, aber ich glaube, ein einigermaßen richtiges Bild von ihm zu haben und darum rate ich: lassen Sie ihn in seiner selbst gewollten Einsamkeit. Man soll niemals Einfluß auf solche ausüben wollen, die sich ganz bestimmte Grenzen für ihre Lebens- und Arbeitsmöglichkeit gezogen haben, denn man weiß nicht, was man da durch gutgemeinte Vorschläge zerstören kann.
Aber mit Ihnen selbst ist das eine andere Sache, liebe gnädige Frau; Sie selbst sollten sich nicht aller kleiner Freuden und Zerstreuungen, die doch nun einmal dazu gehören, um das Leben erträglich zu machen, berauben. Bitte, verzeihen Sie, daß ich gleich das erste Beisammensein mit Ihnen benutze, um Ihnen solche Ratschläge zu geben. Aber haben Sie es nicht auch schon erfahren, daß man hin und wieder ohne jede Brücke, die zueinander führt, die Verbindung mit einem Menschen, der einem ja eigentlich noch fremd ist, findet? Daß man alles, was bei anderen nach Jahr und Tag erst den Uebergang zum eigentlichen Bekanntwerden bilden muß, alle Redensarten, alles vorsichtige Tasten, da einfach fortläßt. Daß Seele zu Seele und Geist zu Geist reden kann, wie es gerade empfunden und gedacht wird. So scheint es mir zwischen uns beiden zu stehen. Und so will ich Ihnen denn schnell noch einiges sagen. In erster Linie dasselbe, was meine Frau Ihnen wohl schon wiederholt ausgedrückt hat: »Lassen Sie unser Haus Ihnen einen Ort der Zuflucht und der Aussprache werden, wenn Sie dessen bedürfen! Kommen Sie zu uns, so oft Sie den Wunsch haben, bei uns zu sein. Ich weiß und verstehe, daß Sie Gäste in Ihrem Hause nicht zu empfangen wünschen, weiß, daß das gutgemeinte Anerbieten meiner Frau, ein wenig in Ihren Haushalt einzugreifen, Sie erschreckt hat! Und ich werde selbstverständlich das meine tun, um meine Frau davon abzubringen. Sie ist gut und warmherzig, aber sie fühlt und ahnt nicht gleich die Gedanken und Empfindungen anderer Menschen. Dazu ist ihre Natur zu einfach, geradlinig und ihr Temperament zu impulsiv. Das Leben hat sie ja auch auf einen Platz gestellt, auf dem sie nicht lernen mußte, ängstliche Rücksichten zu nehmen. Aber wenn man sie auf etwas hinleitet, was ihr zuerst vielleicht nicht verständlich erscheinen will, dann begreift sie es natürlich doch und richtet ihre Handlungen danach ein.
Ich sage Ihnen all das, damit Sie nicht das Vertrauen zu ihr verlieren und sie meiden, denn das würde ihr sehr weh tun und sie verdient das auch nicht! Also, ja, ich weiß schon, ich sehe schon, wir haben uns verstanden und Sie sagen ›ja‹ zu allem. Mir ist so leicht und wohl geworden, daß ich Ihnen das sagen durfte, es lag mir am Herzen seit jenem abendlichen Spaziergang am See, an dem ich eine kurze, aber gleich ziemlich tiefgehende Unterredung mit Ihrem Gatten hatte!«
Magdalene sah ihn aus großen, bangen Augen an. »Ich bin Ihnen von ganzem Herzen dankbar, Herr Pastor, für alles was Sie mir sagen, und doch beunruhigt es mich, weil alles so klingt, alles so schwer ist, als sähen Sie ein Schwert über meinem Haupte hängen. Und in Wirklichkeit ist's doch nichts anderes, als daß mein Mann über einem überaus schwierigen Werk sitzt, das seine ganze Kraft, alle seine Gedanken erfordert. Und natürlich stört ihn alles, was von außen kommt. Jedes Klingeln an der Tür, jedes fremde Gesicht, das er sieht, jeder Brief, der ankommt – alles erregt ihn. Er muß allein sein – ganz allein mit mir und der alten Frau, die er kennt und die ihn und seine Gewohnheiten kennt. Schlimm ist das wirklich nicht und ich verstehe ihn und richte mein Leben auch gern nach seinen Wünschen ein – und einmal – einmal muß er ja doch auch zu Ende kommen mit seiner Arbeit! Ihr trauriges, sorgenvolles Gesicht strafte die Worte, die sie aussprach, und die froh klingen sollten, Lügen. Dann – ohne in des Pastors Augen, die sanft aber doch forschend auf sie gerichtet waren, zu blicken, stand sie auf.
»Ich muß gehen – es ist schon dunkel geworden, er wird mich schon vermissen!«
Pastor Lerch geleitete sie zum Flur, half ihr in den dünnen Mantel und nahm dann seinen Hut vom Haken.
»Ich darf Sie begleiten, ja?«
Sie nickte und schritt dann an seiner Seite durch die dunkelblaue Dämmerung.
»Fühlen Sie, daß der Sommer bald zur Neige geht, daß es ganz, ganz leise Herbst werden will?«
»Ich liebe den Herbst!« sagte Magdalene, »er macht das Herz leichter, obwohl mir vor dem Winter graut!«
»Ja, ich liebe den Herbst auch –; alle Menschen, die ein wenig zum Grübeln und zur Melancholie neigen, lieben den Herbst mehr als das Frühjahr.«
Irgend jemand grüßte von der andern Seite der Straße, Magdalene sah nur einen langen Schatten, Pastor Lerch zog seinen Hut und rief »Guten Abend«, und sein Gesicht sah froh dabei aus.
»Sie kennen ihn doch natürlich – es ist ja Ihr Nachbar!« sagte er zu Magdalene, und als diese verneinte: »Wie, Sie sollten Ihren nächsten Nachbarn, unsern guten Major Schwertes noch nicht gesehen haben?«
»Nein,« sagte Magdalene – »aber Ihre Frau Gemahlin hat mir schon von ihm erzählt. Gesehen habe ich ihn noch niemals – und das ist ja kein Wunder, da er doch auch sehr einsam leben soll!«
»Ja, auch einsam und auch ein Grübler und einer, der gern tiefer in die Mysterien des Daseins eindringen möchte, als es uns möglich ist. Auch er sitzt, wenn ich nicht irre, über irgendeiner Geistesarbeit. Er spricht nicht davon – er ist sehr bescheiden. Meine Frau hat das Gefühl, daß er Ihrem Gatten wahlverwandt sein müßte – aber ich weiß, daß das nicht so ist. Sie sind sehr verschieden, diese beiden – der eine starr, fest überzeugt von seiner Berufung – hart gegen sich selbst und gegen die Menschheit – der andere vielleicht allzu weich, allzu voll von Liebe zur Menschheit, also eigentlich Extreme. Sie haben nur das Eine gemeinsam – nämlich, die Sucht allein zu sein, die bei beiden sehr verständlich ist. Unser guter Major hat sich ja nun bereden lassen und nimmt, eigentlich nur einer liebenswürdigen Schwäche, die in seiner Natur liegt, folgend, an einigen Geselligkeiten teil. Meine Frau ist stolz darauf, daß sie ihn so weit gebracht hat. Mir aber kommt jedesmal ein leiser Schmerz auf, wenn ich ihn bei irgendeinem vergnügten Mahl treffe. Er gibt sich dann alle erdenkliche Mühe, freundlich und unterhaltend zu sein und doch merkt man ihm fortgesetzt eine innere Verzweiflung an.
Nein, es ist kein Verdienst, das meine liebe, allzu gutherzige Frau sich erworben hat, indem sie ihn mit allen Mitteln ihrer Beredsamkeit dazu vermocht hat, seine Einsamkeit zu verlassen. Wie ein edles Tier ist er dann, das nicht seinesgleichen finden kann und immerfort gegen seine Natur kämpfen muß. Ich höre ordentlich den Seufzer der Erleichterung oder auch einen leisen Fluch, den er ausstößt, wenn er nach solch einem lauten Abend mit unsern Damen in seine Behausung zurückkehrt. Wie ich schon sagte: man soll niemand zwingen, aus seinem Element herauszutreten – man soll ihm seine Grenzen, die er sich zog, ruhig lassen. Denn Freude kann man an so einem gezwungen erscheinenden Gast doch eigentlich nicht haben! Nun – er wird sich schon eines Tages zu drücken verstehen, wenn es ihm zu bunt wird.«
Magdalene hatte in ihrem ganzen Leben noch kein privates Gespräch mit einem geistlichen Herrn gepflogen; sie kannte den Pastor, der sie konfirmiert und den, der sie getraut hatte. Beide waren ihr völlig fremd geblieben – waren ihr als zu einer anderen Kaste gehörend, so unnahbar vorgekommen, daß sie nie den Versuch gewagt haben würde, mit einem dieser Herren über allgemeine Dinge zu reden.
Nun staunte sie in etwas kindlicher Weise über diesen Mann, der an ihrer Seite schritt und der genau wie andere Menschen sprach – vielleicht ein wenig belehrender und tiefgründiger, aber doch durchaus in einer Weise, die alle Scheu wegnahm.
»Ich verstehe das Einsamkeitsbedürfnis so gut!« sagte sie, als sie schon nahe bei ihrem Hause waren. »Ich habe selber auch immer wieder, wenn ich einmal unter vielen Menschen sein mußte, das Bedürfnis nach Ruhe, nach völligem Alleinsein – nach Schweigen – nur mit dem Unterschied, daß es bei mir nicht dauernd ist. Oft sehne ich mich nach Menschen, nur um sprechen zu können, um irgendeine Angst loszuwerden – und dann ist es mir oft hart, wenn ich niemanden habe – –«
Sie wollte weitersprechen – aber der Pastor blieb jetzt stehen und nahm ihre Hand.
»Sie sind gleich daheim und ich will mich hier verabschieden, und gerade die letzten Worte, die Sie mir da sagen, geben mir den Mut, meine Bitte noch einmal zu wiederholen – nämlich, daß Sie zu uns kommen sollen, so oft es Sie verlangt, mit jemanden zu reden. Sie werden bei uns immer ein warmes, offenes Herz und auch Verständnis finden, dessen können Sie sicher sein. Sehen Sie, nun ist es völlig dunkel geworden und wieder ist dies goldene Gewoge am Himmel wie an jenem Abend am See, als ich Sie und Ihren Gatten zuerst sah. Ja, aber Herbst will es werden, es streift kühl durch die Luft und hinter dem Wald ziehen Nebel auf. Einen Gruß an Ihren Gatten will ich nicht auftragen, obwohl ich die Hoffnung habe, ihm wieder zu begegnen. Er gehört zu jenen Menschen, die einen nicht loslassen, wenn man sie einmal gesehen und mit ihnen gesprochen hat. Gute Nacht gnädige Frau, und kommen Sie, sobald es Ihnen möglich ist.«
Magdalene erwiderte den Druck seiner Hand, dann lief sie mit schnellen Schritten das kleine Stück Wegs, das sie noch von ihrem Hause trennte. Im Zimmer ihres Mannes brannte die Lampe; er hatte die Vorhänge nicht zugezogen und sie sah ihn über seiner Arbeit gebeugt sitzen, sah auch Teegeschirr und Teller neben ihm stehen und ihr Herz ward ruhig. Leise schloß sie die Tür auf und leise ging sie die Treppe hinan.