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Gottberg hörte den Wagen fortfahren, und er verfolgte dessen Rollen, bis er es nicht mehr vernahm. Mit schweren Schritten ging er auf und ab, über das nachdenkend, was jetzt Gewißheit geworden. Er hatte es sich doch anders gedacht. Eine geheime Hoffnung im tiefsten Grunde seines Herzens hatte ihm vorgespiegelt, es könnte doch manches sich noch wenden. Jetzt sah er ein, daß nichts mehr zu hoffen übrig blieb. Niemand wollte ihn festhalten, die am wenigsten, von der er es mit peinigender Sehnsucht noch immer heimlich geglaubt. Es bedurfte lange Zeit, ehe er das Erlebte ruhiger bedenken konnte und an die Stelle der Scham die Entschlossenheit trat. Er versuchte es, seine Papiere und Bücher zu ordnen, seine wenige Habe zusammenzupacken, aber bei allem, was er tat, verfolgten ihn die traurigen Gedanken des Abschieds und seiner Verlassenheit. Es gab keine Stelle, die ihm nicht Erinnerung brachte, und endlich, um diesen zu entgehen, machte er sich auf und lief in den Wald hinaus, der menschlich schönen Neigung folgend, die von der Natur Trost hofft, wenn das Herz mit seinem Kummer ihn bei Menschen nicht zu finden vermag.

Und so geschah es auch, als Gottberg im frischen Wehen des Windes unter den hohen Bäumen fortschritt. Die Sonnenstrahlen, welche durch das kühle Geblätter auf sein Gesicht fielen, die hellen Himmelswolken, die Stimmen der Vögel, die Ameisen in ihrer emsigen Geschäftigkeit, die wilden Bienen in den Blumen und diese selbst mit ihren Glocken und farbigen Kelchen, wie sie tausendfältig ihm zunickten, alles machte seine Stimmung weicher und freier und füllte seine Brust mit versöhnlichem Frieden. Er streifte stundenweit umher zu allen Plätzen, die ihm wert geworden, und überließ sich ganz seinen Gedanken. War er nicht wie ein Freund von der Familie Brand aufgenommen worden? Hatten sie ihm nicht immer getreulich angehangen? Dieser alte Mann, wenn auch von heftiger Sinnesart, hatte er ihn nicht mit väterlicher Güte behandelt? Und Luise – was hatte er getan, um an ihre Liebe zu glauben? Vielleicht war sie schuldlos, seine eigene Eitelkeit hatte ihn umstrickt, ihr Vertrauen war von ihm mißbraucht worden, und nun strafte sich sein törichtes Beginnen. Aber wer war denn er, um seine Hand nach ihr auszustrecken? Er in seiner Armut? Fort zu denen, die deinesgleichen sind! Fort, um zu arbeiten und im Schweiße deines Angesichts dein Brot zu essen! Und doch hat sie dich geliebt, rief die Stimme in seinem Innern, zweifle nicht daran! Braucht die Liebe Worte? Braucht sie eine wohlgesetzte Erklärung? An jenem Tage, wo diese nahe war, in jener wunderbaren unvergeßlichen Minute, wo ihre Augen sich mit deinen trafen, wo ihr Vater dich selbst ermutigte – er blickte auf und stockte.

Dicht vor ihm stand ein wilder Rosenbusch, ein blumiges Gesenke rundumher, drei hohe schwarze Tannen auf dem Hügel drüben.

Er stand an der verhängnisvollen Stelle. Absichtslos war er hierher gekommen. Plötzlich dünkte es ihn, als sei es eine Schickung. Düstere Bilder stiegen in ihm auf, und eine bange Ahnung bemächtigte sich seiner. Er sah Rachaus lächelndes Gesicht, mit dem er sich von ihm verabschiedet hatte, hörte dessen Worte, die er ungewollt heute belauschte, und es war ihm, als müßte sein Atem stocken.

»Was ist es«, rief er aus seinem tiefsten Herzen, »was diesem ränkevollen Mann Macht gegeben hat über sie? An dieser Stelle hat sein Werk begonnen. Von jener Stunde an – mein Gott! – wohin verirren sich meine Gedanken!«

Finster sinnend senkte er den Kopf. Tiefe Stille lag auf dem Wald, nirgends ein Rauschen, nirgends ein Ton. Jetzt aber war es Gottberg, als hörte er hinter sich lachen, und wie er umschaute, erblickte er Mathis, der mitten auf der grünen Matte im Schatten eines anderen Buschwerks an einem großen Steine saß, die Beine an sich gezogen, den Ellenbogen auf sein Knie gestemmt, neben sich ein Bündel Weidenruten und seine Krücke.

Das lange magere Gesicht grinste ihm entgegen, mit den knochigen Fingern faßte er an seine Kappe und grüßte ihn.

Gottberg fühlte sich verlegen bei diesem unerwarteten Zusammentreffen mit dem Lahmen, der sich so überraschend bemerkbar gemacht hatte. »Warst du hier, als ich kam?« fragte er, indem er den Gruß erwiderte und näher trat.

»Gewiß war ich hier«, versetzte Mathis, »ich bin oft an dieser Stelle, aber ich lag im Gras ausgestreckt hinter dem Stein. Als ich so laut sprechen hörte, richtete ich mich auf, und da standen Sie.«

Hatte er gehört, was Gottberg gesprochen hatte, oder nicht? Der Doktor mochte nicht danach fragen. »Wenn man allein ist«, sagte er; »denkt man oft laut.«

»Ganz recht«, erwiderte Mathis, »ich hab's auch wohl so gemacht, aber wenn man ein Wild jagen oder einen Vogel fangen will, muß man es sein lassen.«

Gottberg setzte sich auf den Stein. Mathis sah ihn von der Seite lauernd an, faßte mit der Hand in sein blau bedrucktes, lose um den Hals geschlungenes Tuch und schien Gedanken zu hegen, die ihn erfreuten.

»Ich habe dich lange nicht gesehen«, sagte der Doktor, »wie geht es dir?«

»Mir geht es gut«, war die Antwort, »aber Sie sehen nicht gut aus. Warum sind Sie nicht mit der Herrschaft spazierengefahren?«

»Hast du sie gesehen?« fragte Gottberg.

»Freilich habe ich sie gesehen. Oben bei der Stadt, mit dem jungen fremden Herrn. Der versteht's!« Er nickte dem Doktor zu, welcher nichts darauf erwiderte. »Nun«, fuhr Mathis fort, »es ist ein lustiger Herr, der wird sie alle schon wieder munter machen. Und wenn's wahr ist, was die Leute meinen, so wird's bald eine Hochzeit geben.«

»Sagt man das?«

Mathis nickte noch einmal. »So muß es kommen«, sprach er dabei. »Ich hab's mir gedacht, daß er's darauf abgesehen hatte.«

»Woher dachtest du das?«

»Oho, man denkt sich so allerlei«, entgegnete Mathis, »arme Leute haben auch ihre Gedanken! Einen Vogel mit goldenen Federn fängt jeder gern, mag's kosten, was es will, und der – haha! – der greift zu!«

»Was meinst du damit, Mathis?« fragte der Doktor.

»Gar nichts, gar nichts«, lachte der Lahme. »Es ist ein feiner Herr, arme Leute haben's gut bei ihm. Das Fräulein wird's auch gut haben. Alle Donner! – so fein ist keiner im ganzen Land – geputzt wie ein Bräutigam, und so sanft und lustig dabei wie ein Kind, das keinem Wurme einen Tritt geben kann!«

Gottberg saß still auf dem Steine und ließ Mathis weiter sprechen. »Nun«, sagte dieser, »ich bin's gewiß, er wird's schon machen. Geld und Gut haben sie jetzt vollauf, aber es macht nicht immer glücklich, denn so sieht der gnädige Herr Major nicht aus. Abgefallen ist er, als ob's Unglück über ihn gekommen wäre, und wie ich vorhin dastand an der Brücke, wie der Wagen kam, dacht ich, siehst du wohl, lahm hast du mich gemacht, und Lumpen hab ich auf meinem Leib, aber ich tausch nicht mit dir!« Er brach in ein helles Gelächter aus.

»Schäme dich«, sagte der Doktor unwillig, »wie kannst du so spotten und lachen!«

»Was geht's mich an«, rief Mathis, indem er seine Krücke nahm, »ich habe keinen Grund, ihm Glück zu wünschen! Wenn ich aber lache, Herr, so lache ich, weil mir unser alter Oberprediger einfällt. Das war ein schnurriger Mann! So rund und fett wie ein gemästetes Kalb, und immer glatt und fein, mit dem doppelten Kinn auf dem weißen Halstuch. Was lecker war, stand zuerst auf seinem Tisch, dabei aber hab ich's selbst gehört, wie er. übers lasterhafte Wohlleben herzog und alle Sünden daraus herleitete. ›Der Magen‹, sagte er, ›der Magen ist der Fehler in Gottes Schöpfung. Wenn wir keinen Magen hätten, wär 's Paradies noch immer auf Erden, so aber frißt der eine den anderen auf und wird aufgefressen. Und die Menschen sind die allerschlimmsten von allen, die verraten und lügen und schlagen Freund und Verwandten tot, wenn's auf ihren Magen und ihren eitlen Hochmut ankommt.«‹

»Ich muß dich verlassen«, erwiderte Gottberg, indem er aufstand, »und weil's das letzte Mal ist, daß wir uns sehen werden –«

»Wollen Sie denn fort?« unterbrach ihn Mathis.

»Morgen werde ich reisen.«

»Und Sie kommen nicht wieder?«

»Ich komme nicht wieder.«

»Aha«, sagte Mathis, schlau nickend, »ich kann's verstehen. Sie wollen nicht bei der Hochzeit sein.«

»Höre, Freund«, sagte der Doktor, ohne auf die Bemerkung einzugehen, »dein Oberprediger hat seine eigenen häßlichen Begierden beschönigen wollen, und so tun es alle, die ihm ähnlich sind. Sie wälzen die Schuld auf die Schöpfung, statt an ihre eigene Besserung zu denken. Aber Gott hat uns aufgegeben, gut und gerecht zu sein. Tue du danach. Vergib denen, die dir Böses taten, tu das Rechte nach allen deinen Kräften und gegen alle deine Mitmenschen, so wirst du auch in deinem harten Leben Frieden und Freuden finden.«

Mathis schüttelte heftig den Kopf.

»So geht's nicht!« rief er. »Vornehme Leute denken, ein Armer muß sich alles gefallen lassen und obendrein sich noch bedanken!«

»Ich bin arm wie du, Mathis, und geplagt wie du«, antwortete Gottberg, indem er sich dem Gefühl überließ, das seine Seele füllte.

In dem Lahmen, der an der Erde kauerte, erwachte bei diesem Ausruf Teilnahme. »Es ist wahr«, sagte er, »zu denen da oben gehören Sie eigentlich nicht. Solche Herrschaften bleiben immer stolz, wenn sie auch tun, als wär's vergessen. Ich kann mir wohl denken, warum Sie fort wollen. Hoho! Der junge Herr ist ja auch von Adel! – Aber Kreuzelement – wenn ich wär wie Sie, der sollte – Ich tät mich nicht vor dem fürchten!« Er hob dabei mit einem wilden Lachen seinen Arm und schwenkte ihn durch die Luft.

»Ich fürchte ihn auch nicht«, erwiderte Gottberg, seine Verlegenheit verbergend. »Habe mich auch nicht über ihn zu beklagen.«

»Nicht? Hoho! Also ist's wahr? Das Vögelchen singt jetzt ein anderes Lied. Laßt es gut sein, Herr, sie werden alle noch ihren Lohn kriegen.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Gottberg.

»Ist auch nicht nötig«, lachte Mathis. »Glückliche Reise, Herr!«

Mit einem eigentümlichen Grinsen drehte er den Kopf nach dem Waldhügel, und zu seinem Erstaunen erblickte Gottberg den Herrn von Rachau, welcher unter den Tannen stand und ihn beobachtete, jetzt aber den Pfad herunter kam und sich dem Platz näherte. Einige Augenblicke erschien Gottberg die Aussicht, mit diesem Manne hier zusammenzutreffen, so widerwärtig, daß er entschlossen war, sich in entgegengesetzter Richtung zu entfernen. In der nächsten Minute jedoch empörte sich sein Stolz gegen diese Absicht. Warum sollte er vor ihm fliehen? Wäre es nicht ein Zugeständnis von Schuld und Schwäche?

Mit einem Abschiedsgruß verließ er Mathis und ging Rachau entgegen, der ihm freundliche Worte sagte, als er ihn erreicht hatte, und sehr erfreut tat. »Das ist ein glücklicher Zufall«, begann er, »daß ich Sie finde. Wir sind seit einigen Stunden schon zurück, und ich war an Ihrer Tür, die ich leider verschlossen fand.«

»Sie haben mich sprechen wollen?«

»Ja, mein bester Doktor. Inzwischen haben Sie alle Ihre Lieblingsplätzchen noch einmal besucht, um Abschied zu nehmen, und haben gewiß keinen alten Bekannten vergessen«, fügte er lächelnd hinzu, indem er nach Mathis blickte. »Haben Sie jetzt Zeit für mich?«

Gottberg verbeugte sich bejahend.

»Dann wollen wir sogleich zur Sache kommen«, fuhr Rachau fort. »Sie bestehen darauf, uns morgen zu verlassen? Darf ich fragen, wohin Sie Ihre Reise richten werden?«

»Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme verbunden«, entgegnete Gottberg, »indessen weiß ich keine bestimmte Antwort zu geben.«

»Sie wollen mir keine geben«, lächelte Rachau. »Es würde mir sehr leid tun, wenn ich mißverstanden würde.«

»Ich kenne keinen Grund dafür«, sagte Gottberg.

»Dann um so besser. Zweifeln Sie nicht an meiner Teilnahme für Sie, die meinen freundschaftlichen Gefühlen entspricht.«

»Ich sage Ihnen nochmals Dank«, versetzte Gottberg mit ruhiger Kälte, »obwohl ich nicht weiß, womit ich solche Gefühle verdient habe.«

»Darüber läßt sich nicht rechten«, fiel Rachau ein. »Sie sind der Familie meines Freundes Brand lieb und wert, und man sieht Sie nicht allein mit Betrübnis scheiden, sondern möchte Ihnen auch für Ihre Zukunft hilfreich sein.«

Gottbergs Gesicht rötete sich. Er fing an, rascher zu gehen, dann hielt er ein und sagte gelassen: »Ich habe sehr viele Güte hier gefunden, in Zukunft liegt es mir ob, für mich selbst zu sorgen.«

»Sagen Sie das nicht!« erwiderte Rachau. »Freundeshilfe soll man niemals abweisen, so stolz darf der Stolzeste nicht sein. Das menschliche Leben ist einmal so beschaffen, daß man Freunde nötig hat. Was wollen Sie tun? Wollen Sie Beschäftigungen ergreifen, die Ihnen zuwider sind? Wollen Sie in irgendeinem Winkel eine Schulmeisterstelle suchen, bei der Sie geistig verkümmern?«

»Ich muß Sie bitten«, antwortete Gottberg unwillig, »meine Angelegenheiten nicht weiter zu erörtern.«

»Entschuldigen Sie mich«; versetzte Rachau, »ich spreche nicht für mich, sondern im Auftrag Ihrer Freunde. Das Glück ist Ihren Freunden so günstig gewesen, sie wünschen, daß Sie daran teilnehmen. Ein Mann von solchen Talenten, wie Sie es sind, muß aus den unteren Lebenskreisen heraus. Reisen Sie einige Jahre, Sie werden die nötigen Mittel dazu erhalten. Herr von Brand hat mich beauftragt, Ihnen diesen Vorschlag zu machen. Sprechen Sie mit ihm und bleiben Sie noch einige Zeit hier, bis alles sich so geendet hat, wie Sie es wünschen. Ich verspreche Ihnen dabei meine eindringlichste Beihilfe und hoffe zu beweisen, daß meine Teilnahme nicht in leeren Worten besteht.«

Während er sprach, hatte Gottberg sich gesammelt. »Ich bin Ihnen abermals verbunden, Herr von Rachau«, sagte er, »und bitte Sie, dem Herrn Major meinen Dank zu bezeigen. Leider bin ich nicht in der Lage, seine Güte annehmen zu können.«

»Sie wollen nicht?« fragte Rachau. »Warum wollen Sie nicht?«

»Weil ich nicht will und nicht kann.«

»Warum wollen Sie denn nicht klug sein, teuerster Doktor?« lächelte Rachau.

»Das mag zu Ihren Grundsätzen passen, zu den meinigen paßt es nicht«, erwiderte Gottberg, und indem er ihn mit kaum zurückgehaltenem Zorn anblickte, fuhr er fort: »Ich kann nicht glauben, daß der kluge Rat, mir ein Almosen zu reichen, von Herrn von Brand ausgegangen ist. Es müßte denn sein –«

»Was müßte sein, mein lieber Doktor?«

»Daß die Schlingen, in denen er liegt, ihn schon so weit zusammengeschnürt haben.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Rachau in herablassendem Ton. »Aber ereifern Sie sich nicht. Sie empfinden zu zart oder zu poetisch! Indessen muß ich Ihnen gestehen, daß es Fräulein Luisens Wunsch war, Ihnen diesen ehrenvollen Antrag zu einer wissenschaftlichen Reise zu machen.«

»Sie hat es gewünscht? Und Ihnen hat sie es aufgetragen?« rief Gottberg mit glühenden Wangen. »Das ist gelogen! Erbärmlich gelogen!«

Mit stolz aufgerichtetem Kopf stand er einige Augenblicke, da aber Rachau nur lächelnd die Achseln zuckte, entfernte er sich mit raschen Schritten.

Rachau hielt ihn nicht auf. »Dieser Narr wäre wirklich imstande, Unheil anzurichten«, murmelte er, ihm nachsehend, »wenn ihm die Narrheit nicht weit über den Hals ginge. Er wird sich tugendhaft in siebenfach Steifleinen wickeln! – Aber wo ist der lahme Schuft?«

Mit diesen Worten ging er zu dem Hügel zurück und fand Mathis noch an derselben Stelle mit seinen Weidenruten beschäftigt. Er ließ sich auch nicht stören, als sein Gönner sich näherte, zog aber ein langes Einschlagmesser aus der Tasche, klappte es auf und fing an, die Ruten zu beschneiden.

»Nun«, sagte Rachau, »du stiehlst, wie ich sehe, ganz gemächlich weiter und bleibst somit deiner besonderen Zuneigung für fremdes Eigentum getreu.«

»Das mag wahr sein, lieb Herr«, versetzte Mathis, ihn angrinsend, »aber ich denke, ich bin damit nicht der einzige in der Welt.«

»Gott bewahre«, lachte Rachau, »du teilst den Geschmack vieler der größten Herren, aber du weißt doch auch, daß die kleinen Diebe gehangen werden.«

»Die dummen werden gehangen«, sagte Mathis, indem er seine großen Zähne zeigte.

»Auch darin hast du recht. Aber ist es sehr klug, würdiger Freund, dich hier finden zu lassen? Wenn der Major dich träfe?«

»Der kommt nicht hierher, das ist ein sicheres Plätzchen«, antwortete der Lahme, pfiffig aufblinzelnd. »Neulich sah ich ihn, wie er den Weg hierher einschlug, kaum aber war er dort oben bei den Tannen, so machte er einen weiten Umweg.«

»Aber andere Leute könnten dich treffen.«

»Es geht keiner hier gerne vorbei, besonders, wenn's Abend werden will«, lachte Mathis.

»Du fürchtest dich nicht?«

»Wovor? Ich habe nichts als das spitze Messer. Um mein Geld und Gut hat's keine Not.«

Seine verschmitzten Augen fuhren wieder in die Höhe und dann auf seine Arbeit zurück. Rachau blickte umher, dann auf ihn nieder. »Du bist also wohl öfter hier, mein lieber Mathis?« fragte er mit sanfter Stimme.

Mathis nickte. Rachau beugte sich zu ihm nieder, legte die Hand auf seine Schulter und sah ihn freundlich an. »Was meinst du denn damit, daß du um Geld und Gut nichts zu besorgen hast?«

»Was kann ich schon meinen?« versetzte der Lahme. »Ich habe bloß so meine Gedanken darüber, was andere Leute denken und was ich vorher mit angehört habe. Dabei fiel's mir ein.«

Rachaus Augen ruhten auf ihm mit eigentümlicher Gewalt. Es war, als vergrößerten sie sich und füllten sich mit spiegelndem Glanz, doch Mathis schaute unbeeindruckt hinein, ohne mit einer Wimper zu zucken.

»Was hast du denn mit angehört?« fragte Rachau.

»Es war kurios zu hören«, grinste Mathis.

»Den Doktor meinst du. Er traf dich hier?«

Mathis nickte lachend. »Da drüben stand er, als sei er taub und blind. So lang ich war, hat er mich nicht gesehen, stierte den Hagebuttenstock an, als wär's eine Seltenheit, und schlug sich die Hände vor den Kopf.«

»Was sagte er?«

»Was er sagte? Ich hab's nicht verstanden.«

Die Miene des Burschen widersprach seinen Worten. Rachau setzte sich auf dem Rain nieder und faßte ihn lachend ans Ohr. »Du bist ein Schlaukopf«, sagte er, »aber ich sollte denken, du müßtest Vertrauen zu mir haben.«

»Das habe ich auch, Herr«, antwortete der Lahme, »und es gibt viele Gründe dafür.«

»Gut. Was sagte er also?«

Mathis wandte den Kopf nach allen Seiten und erwiderte dann leise: »Schaffen Sie ihn fort, er hat nichts Gutes im Sinn.«

»Gegen mich? Sprach er davon? Sage mir die volle Wahrheit!«

»Wenn Sie es wollen, so will ich's tun«, antwortete Mathis. »Gut, da stand er und schrie: ›Gott im Himmel! Was ist geschehen, woher stammt seine Macht? Wohin gehen meine Gedanken!«‹

»Und was weiter?« fragte Rachau.

»Weiter nichts. Dann sah er mich.«

»Er kam und setzte sich doch zu dir. Was sagte er da?«

»Er sagte nichts, aber ich«, lachte Mathis. »Ich erzählte ihm, wie ich vorher den Herrn Major gesehen hätte, der so finster und abgefallen aussah wie ein ausgebranntes Haus, und daß ich glaubte, wir würden bald Hochzeit haben.«

»Sagtest du ihm das?« sagte Rachau lächelnd. »Was meinte er dazu?«

»Als wollte er die Krämpfe kriegen, so verkehrte er seine Augen! Jagt ihn fort, Herr, es ist kein Salz für Euer Essen.«

»Du bist ein Spaßvogel, Mathis.«

»Zwei Vogelsteller sind zuviel für einen Herd«, sagte Mathis, seine Ruten zusammenschnürend. »Ich wünsche mit Untertänigkeit Euer Gnaden viel Glück dazu, und wenn der alte Herr auch noch mehr darüber zusammenklappert.«

»Ich danke dir, mein lieber Mathis, aber sprich nicht wieder so von dem vortrefflichen Herrn Major. Er ist sehr froh und frisch.«

»Ich wünsch es ihm«, entgegnete Mathis, hohnvoll sein Gesicht verziehend. »Wie das Begräbnis war von dem jungen Herrn, der ihm das viele Geld gelassen, hat mich zwar der Büttel fortgebracht, aber das tut nichts. Er sah so jammervoll aus, als stand er auf dem Richtplatz, darüber mußt ich lachen!«

»Was sprichst du für Unsinn«, sagte Rachau. »Hab ich dir nicht geraten, daß du deine Zunge in acht nehmen solltest?«

»Ich nehme sie in acht, Herr! Macht ihn glücklich, Euer Gnaden, macht sie alle glücklich! – Jetzt wird's Abend, wo ich nach Haus muß.«

»Geh, du Schelm«, lachte Rachau, indem er ihm Geld gab, »und mache dich selbst glücklich und selig.«

»Dank, Euer Gnaden, Dank«, versetzte der Lahme, erfreut sich bückend. »Es ist eine schöne Sache ums liebe Geld! Durchs Feuer lauf ich, wenn Sie's mir befehlen. Machen Sie ihn lustig, den Herrn Major, und das schöne Fräulein, aber jagen Sie den Doktor fort, der tut nicht gut dabei. Wünsche gute Nacht, Herr!«

»Gute Nacht, und sei gescheit«, sagte Rachau. »Wenn du irgend etwas hörst und merkst, was mir angenehm zu wissen wäre, so teile es mir mit.«

»Ja, Herr, das will ich.«

»Ich will nächstens nach dir sehen. Jetzt fort mit dir!«

Der Lahme setzte seine Krücke in Bewegung, und noch lange hörte Rachau, wie er, alle möglichen Vogelstimmen nachahmend, die Hügel hinabstieg.

»Wenn ich den Kerl recht verstanden habe«, sagte er vor sich hin, indem er seinen eigenen Weg fortsetzte, »so hat seine nichtswürdige Rachgier ihn auf Gedanken geführt, die sonderbarerweise – gut!« rief er, sich unterbrechend, »ich werde diese Sache näher untersuchen. Zu seinem Glück habe ich mich getäuscht – den Doktor haßt er offenbar, mir aber hängt er an.«

Währenddessen war Gottberg nach Haus zurückgekehrt, wo ihm Toni im Garten entgegensprang, die herzlich ihre Arme nach ihm ausbreitete. »Ach, was habe ich gehört!« rief sie ihm zu, »du willst uns verlassen, böser Doktor! Ich habe gar nichts davon gewußt. Niemand hat es mir gesagt, bis Luise es jetzt getan hat. Kannst du nicht bei uns bleiben?«

Der Ausdruck in dem Gesicht des Kindes hatte so viel Rührendes, daß Gottberg schmerzlich davon ergriffen wurde. Er beugte sich zu ihr nieder und sagte traurig: »Nein, liebe Toni, ich kann nicht bleiben.«

»Das sagt Luise auch«, seufzte das kleine Mädchen, »aber was wird nun aus mir werden? Es werden traurige Tage kommen, doch vielleicht«, fuhr sie fort, »sehe ich dich bald wieder.«

»Ich werde nicht zurückkommen, Toni.«

»Nein«, fiel sie ihm ins Wort, »aber ich werde zu dir kommen und zu meinem Bruder, wir alle. Wir sollen im Winter in Berlin wohnen, und da soll es wunderschön sein.«

»Wer hat dir das gesagt, Toni?«

»Herr von Rachau hat es mir heimlich gesagt, ich soll es niemandem wiedersagen.«

»Er wird schon für alles sorgen«, erwiderte Gottberg vor sich hin.

»Ich mache mir gar nichts mehr aus ihm«, beklagte sich Toni. »Er mischt sich in alles, und soll ich dir etwas sagen – ich glaube, dem Vater geht es auch so. Er tut so, als ob er hier ganz allein zu befehlen hätte.«

»Wo ist dein Vater?« fragte Gottberg, sie unterbrechend.

»Er fühlt sich nicht wohl und will allein sein. Sonst war er immer gesund, jetzt lacht er nicht mehr und hat mich fortgeschickt.«

»Und wo ist – deine Schwester?«

»Hier«, erwiderte eine sanfte Stimme in seiner Nähe, und mit zitterndem Erschrecken sah er sie auf sich zutreten und ihm die Hand zum Gruß bieten. »Sie sind lange ausgeblieben«, sagte sie, »und morgen werden wir vergebens nach Ihnen fragen. Ich habe Sie erwartet, lieber Gottberg, um Sie noch einmal allein zu sehen und zu sprechen.«

»Es ist lange her, seit dies geschah«, erwiderte der Doktor.

»Sie haben recht, und ich beklage mich nicht, wenn Sie darüber zürnen.«

»Ich habe kein Recht zu zürnen«, sagte Gottberg, leise seufzend.

Er erhielt keine Antwort darauf. Sie gingen einige Minuten lang schweigend auf dem Gartenweg nebeneinander her. Toni war verschwunden.

»Sie erleichtern es mir, Ihnen meine herzlichen Abschiedswünsche sagen zu können«, begann Luise dann von neuem. »Sie kehren in das regsame Leben zurück, dem wir Sie entrissen hatten. Ihr Geist, Ihre Kenntnisse werden einen ganz anderen Wirkungskreis finden, und nichts wird mich mehr erfreuen, als wenn es sich erfüllt, was ich erwarte: wenn ich Ehrenvolles und Ruhmvolles von Ihnen vernehme, wenn ich höre, daß Ihr Name in der Wissenschaft sich aus den vielen Namen hervorhebt, die bestimmt sind, der Vergessenheit anheimzufallen.«

»Sind das die Glücklichen«, fragte er, seine Augen schwermütig zu ihr aufhebend, »deren Name eine Sekunde der Weltenuhr länger erhalten bleibt?«

»Welches Glück währt denn länger?« erwiderte sie, gewaltsam lächelnd.

»Und ist das der Grund, aus welchem Sie Freude über meinen Entschluß empfinden, von Ihnen zu scheiden?«

»Freude – das ist ein Wort, das Tränen in meine Augen bringen könnte. Aber wieviel Schmerzen es auch macht, ich wiederhole es dennoch, Gottberg, es muß sein. Sie müssen gehen, müssen uns verlassen! Sie sind zu einem reichen Leben bestimmt, das sollen Sie erfüllen – ich hoffe es, ich glaube es! Oh, sehen Sie mich nicht so ungläubig, so traurig an. Es ist keine Lüge!« Während sie sprach, verlor sich die Ruhe, mit welcher sie begonnen hatte, und ihre Wangen röteten sich.

»Glauben Sie«, erwiderte Gottberg erschüttert, »daß ich aufhören könnte, Ihr ergebener Freund zu sein? Aber man kann sich auch selbst belügen und betrügen.«

»Üben Sie kein Erbarmen«, fiel sie ein, indem ihr Gesicht sich zu verhärten schien. »Richten Sie Ihre Augen auf mich, rufen Sie mir noch einmal zu: Belogen und betrogen! Ich will nicht davor zittern.«

Sie standen in einem Halbkreis von Zypressen auf einer erhöhten Stelle des Ganens. Vorwärts öffnete sich der Blick in das weite Tal, und über ihm hing der Abendhimmel, in feurige Glut getaucht, deren Widerschein die Gestalt des jungen Mädchens überstrahlte.

Die leidenschaftliche Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, mußte auf Gottberg zurückwirken. »Wenn es nicht Lüge ist«, rief er, ihre Hände ergreifend, »was ist es dann, daß ich verlassen und verloren bin! Ist es Wahrheit? Ist es Lüge? Hast du mich je geliebt?«

In ihren Augen, die ihn mit unaussprechlichem Ausdruck anblickten, lag die Antwort.

»Und jetzt – auch jetzt noch liebst du mich?«

»Immer – ohne Ende«, erwiderte sie, ihre Hände vor sich faltend.

»Und ich soll dich verlassen? Wer zwingt mich dazu? Wer zwingt dich dazu? Dein Vater?«

»Ich – ich!« sagte Luise, tief atmend. »Wir müssen scheiden, Gottberg, wir müssen.«

»Warum? Um Gottes willen, warum?«

»Fragen Sie nicht – fragen Sie nicht«, erwiderte sie, nach Fassung ringend. »Es muß so sein – es muß!«

Ein Mißtrauen lief fressend durch sein Herz. Es zitterte in den Blicken, mit denen er sie betrachtete.

»Wie?« rief sie, ihn schmerzvoll anstarrend, »können Sie zweifeln?«

»Dann ist es ein Traum! Eine Einbildung! Ein leerer Wahn!«

»Mehr – mehr!«

»Rachau!«

»Fragen Sie nicht weiter.«

»Ich weiß alles«, sagte er. »Aber wenn Sie ihn nicht lieben, Luise, wenn er gelogen hat, als er sich Ihrer Gunst rühmte –«

»Tat er das?«

»Gegenüber Ihrem Vater.«

»Gegenüber meinem Vater!« wiederholte sie leise.

»Er hat ihn umschmeichelt und umheuchelt«, fuhr Gottberg fort, »er hat sich ihm unentbehrlich gemacht, ich weiß nicht, durch welche Mittel. Warum zittern Sie? Warum dies Entsetzen in Ihrem Gesicht?«

»Er wird mein Gatte werden.«

»Niemals!« sagte Gottberg. »Sie könnten – ihn wählen?«

»Ich habe keine Wahl«, antwortete Luise tonlos.

»Und ich – ich?«

»Und mein Vater!« Sie sah mit scheuen wilden Blicken umher, als lauere ein Verräter. Ein wirres verzweifeltes Lächeln zuckte um ihren Mund. »Ich zittere nicht. Es muß so sein. Lebe wohl! Lebe wohl! Ich habe dich nicht betrogen!«

Ihre Arme um ihn schlingend, hatten ihre Lippen ihn geküßt, doch als er sie halten wollte, war sie entflohen, und er wagte, er vermochte es nicht, ihr zu folgen. Ein Sturm verworrener Gedanken und Empfindungen verdunkelte alles in ihm und um ihn, aber durch dies Chaos fuhr der Blitz einer entsetzlichen Wahrheit mit dämonischem Glanz. Mehr als einmal schon war diese Wahrheit an seiner Seele vorübergeglitten, aber er hatte das Ungeheuerliche von sich abgewehrt wie ein Gespenst. Es war an seine Seite getreten, als er an dem Hagebuttenstrauch stand, aus den Äußerungen des lahmen Mathis hatte es ihn durchschauert, und jetzt schlug die furchtbare Gewißheit über ihm zusammen.

»Heiliger Gott!« rief er, aus der Versunkenheit sich aufraffend und seine Arme zu dem dunkelglühenden Abendhimmel aufhebend, »dennoch kann es nicht Wahrheit sein!«

 


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