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Es vergingen einige Tage ohne besondere Ereignisse. Der Major, der nicht wußte, was er mit Wilkens anfangen sollte, schien ihn möglichst zu meiden. Sein ganzes Wesen war dem alten Soldaten zuwider. Wilkens rauchte nicht, kümmerte sich weder um Gewehre noch um die Jagd, hatte keinen Gefallen an Spaziergängen, ritt nicht aus, alle Anstrengungen waren ihm verhaßt, und nur bei Tische zeigte er Interesse. Brand hätte verstanden, wenn er rechtschaffen dreingehauen hätte, dann würde man nach seiner Meinung gesehen haben, daß ein Kerl in ihm stecke. Aber Wilkens liebte allerlei süßes Zeug, Klößchen, Mehlspeisen, Kompott, und verschmähte ein kräftiges Stück Fleisch, und das offenbarte, so meinte der Major im stillen, sein weibisches schlaffes Wesen nur allzugut. Zum Trinken ließ er sich allerdings nicht nötigen, im Gegenteil, er trank meist mehr, als ihm bekömmlich war. Dazu kam, daß er gänzlich unausstehlich wurde, sobald er, nach des Majors Ausdrucksweise, ein paar Gläser hinter der Binde hatte, und es gehörte viel Geduld dazu, das als Scherz aufzufassen, was er dafür zum besten gab. Schon gewöhnlich anmaßend und großsprecherisch, verlor er dann vollends jede Rücksicht und Haltung, und wenn nicht Rachau zuweilen eingeschritten wäre und dem Doktor Gottberg wie auch Luise und der ganzen Gesellschaft beigestanden hätte, so würde es nicht zu ertragen gewesen sein.
Der heftige alte Mann befand sich nach den ersten drei Tagen dieses Besuchs im vollen Zwiespalt mit sich selbst. Er hatte sich freilich von Anfang an gelobt, in Ruhe den Ausgang dieser fatalen Sache abzuwarten und sich in keinerlei Weise einzumischen, aber er mußte sich den größten Zwang antun, um dies einzuhalten. Alle Vernunftgründe sprachen dafür, daß ihm auf jeden Fall daran gelegen sein mußte, sich mit diesem Vetter nicht zu erzürnen, und je mehr er alles überlegte, um so mehr überzeugte er sich, daß Zurückhaltung von seiner Seite das beste war, was er tun konnte. Auch wenn Luise keine Lust empfand, eine reiche Frau zu werden, sollte Wilkens wenigstens nicht beleidigt oder im Zorn das Haus verlassen müssen. Was der Major wünschte oder hoffte, bezweifelte oder befürchtete, verschloß er in sich, zumal es die widersprechendsten Empfindungen waren, die ihn beherrschten. Zuweilen stiegen ihm Gedanken auf, die ihm eine dunkle Röte ins Gesicht trieben, und er streckte in solchen Augenblicken seinen Arm aus, als wollte er gewaltsam etwas von sich abhalten, was sein Gewissen beunruhigte. Meist hingen diese Gedanken mit der Person Gottbergs zusammen, den er im Augenblick nur bei der Mittagsmahlzeit sah und den er weder aufsuchen noch ihm begegnen wollte. Sonst hatte er den jungen Mann, den der Zufall in seine Familie gebracht, jederzeit gern gesehen und niemals gewünscht, daß er ihn verlassen möge. Gottbergs ruhiges und ernstes Wesen hatte ihm immer gefallen, er hatte ihn selbst gebeten zu bleiben, und nie war ihm dabei eingefallen, was ihm zuerst in jener Nacht einfiel, in der er Wilkens vorher im »Roten Bären« gesehen hatte. Er war allerdings nie so blind gewesen, um nicht zu bemerken, wie hoch der Doktor in der Gunst seiner Töchter stand, aber er stand ja auch in seiner Gunst, war der Freund seines Sohnes seit dessen Universitätszeit, und es kam ihm vor, als sei das alles ganz natürlich, wenn seine Mädchen so vertraulich mit Gottberg umgingen, als sei dieser mit ihnen aufgewachsen. Der Doktor gehörte zur Familie, hatte den Kopf auf dem rechten Fleck, und wer ihn kennenlernte, zollte ihm Achtung. Solch ein Mann mußte auch einmal in der Welt seinen Platz einnehmen, und dies war ein Gedanke, mit welchem Brand sich zuweilen heimlich beschäftigt hatte, wenn er ihn mit Luise im Gespräch traf und die beiden beobachtete. Seit der Ankunft Wilkens aber waren seine Empfindungen zwiespältig geworden. Ob er wollte oder nicht, vermochte er den Gedanken an eine vielleicht mögliche reiche Heirat seiner Ältesten nicht loszuwerden. Ein sicheres Gefühl sagte ihm, wie Gottberg in seiner schlichten Redlichkeit solche Überlegungen einschätzen würde, und deshalb setzte ihn ein Zusammentreffen mit dem jungen Mann in Verlegenheit, ein Zustand, der dem sonst offenherzigen und der Verstellung unfähigen alten Soldaten äußerst verdrießlich war. Daß darüber hinaus Wilkens Mutmaßungen hegte, die mit des Majors Beobachtungen übereinstimmten, ließ sich nicht bezweifeln, ob sie nun begründet waren oder nicht.
Mit bewundernswerter Geduld gab sich Gottberg den Anschein, als sähe und höre er nichts von Eduard Wilkens; auch ließ sich nicht das geringste gegen sein Benehmen im Umgang mit Luise sagen. Immer gleich höflich, bescheiden und freundlich konnte die genaueste Aufmerksamkeit ihn bei keinem verfänglichen Blick ertappen, ja, da Luise meist von Eduard Wilkens belagert wurde, machte er diesem Platz, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihm seinen Vorrang abzustreiten. Sein Gefühl sagte Gottberg, was er zu tun habe, denn verborgen konnte es ihm gewiß nicht bleiben, was Wilkens beabsichtigte.
Der Major zeigte im Umgang mit Wilkens eine ihm sonst nicht eigene Geduld und Rücksichtnahme, obwohl dieser sich Freiheiten herausnahm, die schwer zu ertragen waren. Über die Langweiligkeit des Landlebens und die Einrichtungen des Hauses hatte Wilkens ebensoviel zu mäkeln wie über die Ansichten und Meinungen seines Verwandten und über dessen wirtschaftliche und Familienangelegenheiten. Er tat manche Fragen, die seinem heftigen Gastgeber großen Ärger verursachten und deren Beantwortung diesem sauer wurden, dennoch blieb der Major standhaft in seiner Höflichkeit und nahm selbst anmaßende Vorwürfe hin. Die Verpachtungen und der Gewinn, den Brand aus dem Gute zog, gaben Wilkens besondere Veranlassung zu lebhaftem Tadel und Vorhaltungen, welche so eindringlich gemacht wurden, als sei sein Eigentum dadurch verletzt worden.
»Das ist ja gräßlich«, sagte er, »das sind ja Preise wie vor fünfzig Jahren, als lebten wir noch in der schönen Zeit, wo die Pächter reich wurden und die Eigentümer arm. Aber das muß sich ändern! Lassen Sie doch die Pachtkontrakte erneuern, die Erhöhung um die Hälfte der Pachtsummen ist noch zu billig. Wie ist das möglich, daß Sie so – so wenig zeitgemäß sein können!«
Die Milderung seines Ausdrucks kam daher, weil Brand ihn anblickte, als spränge Feuer aus seinen Augen, und Wilkens einen Schreck bekam.
»Alle Donner!« schrie der Major, »was – hm! – was meinen Sie?« setzte er, sich besinnend, hinzu. »Es wäre vielleicht möglich, daß man etwas höher gehen könnte, aber diese Verträge laufen schon so lange, und ich will keinen Menschen drücken.«
»Was für eine Redensart!« lachte Wilkens. »Hier muß der alte Zopf abgeschnitten und ausgetrieben werden!«
Der Major atmete tief, allein er besänftigte sich nochmals und sagte, indem er selbst zu lachen versuchte: »Mein lieber Vetter, jeder muß seinen eigenen Zopf abschneiden!«
»Was das anlangt, so hat es bei mir keine Not«, versetzte Wilkens. »Praktisch muß man sein, und das bin ich. Vielleicht ist das beste, das Gut wird verkauft. Die Preise sind noch hoch, obwohl sie schon fallen. Schulden sind wohl nicht da, oder doch nicht viel. Was haben Sie an Hypotheken? Wieviel ist es?«
Der Major hielt nur noch mit allergrößter Mühe an sich. Dunkle Zornesröte färbte sein Gesicht, es schien ihm, als tanze eine Flamme vor seinen Augen, aber er überwand sich auch diesmal und winkte abwehrend mit der Hand, wobei er tat, als ob er lachte. »Wir wollen jetzt nicht weiter davon sprechen«, sagte er mit rauher Stimme, »Schulden sind da, es ging nicht anders.«
»Man darf niemals mehr ausgeben, als man einnimmt«, krähte Wilkens. »Ihre Gastfreiheit und Großmut sind freilich bekannt, mein bester Vetter, aber lieber ein bißchen einschränken. Warum füttern Sie diesen Doktor hier durch?«
Diese Unverschämtheit war nicht mehr zu ertragen. Zum letzten Male besann sich Brand und sagte dann mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte: »Brechen wir ab. Meine Angelegenheiten werden immer nur meine Sache sein und bleiben!«
»Aber mein Lieber«, sagte Wilkens, »ich habe nur Ihr Bestes im Sinn!«
»Gut. Ich danke Ihnen«, erwiderte der Major kalt. »Ich denke aber, es kommt im Leben nicht immer nur aufs Geld an.«
»Nicht?« rief Wilkens, auf seine Tasche schlagend. »Aufs Geld kommt doch zuletzt alles an! Wer das Geld nicht achtet, kann zu nichts kommen! Also, mein lieber Vetter, wollen wir diesen Punkt wenigstens niemals vergessen.« Die Miene, mit der er dies sagte, war so boshaft lauernd, daß sich Brand beunruhigt fühlte. »Bah!« fuhr Wilkens fort, »wir werden gute Freunde bleiben, ich sehe es Ihnen an. Ich gehe jetzt und suche mein Kusinchen, denn ich sehne mich nach ihr. Der Doktor sitzt mit Toni am Büchertisch, Rachau ist spazierengegangen, so kann ich ungestört mein Glück befördern. Helfen Sie nur hübsch dazu, damit wir bald zu Rande kommen – je eher, je besser – womöglich heute noch!«
Diese Aufforderung glich einer Mahnung, in welche die Drohung eingehüllt war. Es ging Brand beinahe wie seiner Tochter, als er Wilkens' kalte feuchte Hand fühlte und in das dicke schlaffe Gesicht sah. Ein Schauer lief über seine Haut. Sein Widerwille war so groß, daß er sich umdrehte und gar keine Antwort gab. Als Wilkens ihn aber verlassen hatte, warf er seine Pfeife wütend in einen Winkel, stampfte mit dem Fuß auf, als sollten die Dielen durchbrechen, ließ sich dann in einen Sessel fallen und stützte stöhnend seinen Kopf in beide Hände. Er erkannte, daß er sich selbst etwas vorgemacht hatte, als er sich einredete, die Angelegenheit mit Wilkens und der Testamentsklausel ließe sich regeln, indem Luise die Werbung des Vetters annahm. Wie hatte er sich so weit verirren können! Wie konnte er seine Tochter diesem abstoßenden boshaften Menschen überantworten! Er war gefährlich, dieser Vetter, der da so unerwartet aufgetaucht war, und wohl zu allem fähig, wenn es um seinen Vorteil ging. Was sollte er, was konnte er tun? Was würde Wilkens unternehmen?
Während der Major in düstere Gedanken versunken in seinem Zimmer auf und ab ging, suchte Wilkens inzwischen nach Luise, ohne sie zu finden. Man hatte sie in den Garten gehen sehen, aber auch dort war sie nicht zu entdecken. Ein Verdacht stieg in ihm auf, dem er sogleich nachging, indem er die Treppen hinaufstieg, den Gang entlang schlich und an der Tür des Zimmers horchte, das, wie er wußte, Gottberg bewohnte. Da er nichts hörte, beugte er sich zum Schlüsselloch nieder, und jetzt sah er den Doktor am Schreibtisch sitzen. Vor ihm lag ein Bogen Papier, die Feder hielt er in der Hand, allein er schrieb nicht, sondern sah, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich hin.
Eduard Wilkens ergötzte sich einige Minuten lang an dieser Situation. Der Doktor kam ihm so kummervoll vor, so grau und eingefallen, daß er sich das Vergnügen nicht versagen konnte, ihn noch näher zu betrachten. Er öffnete daher die Tür und steckte seinen Kopf hinein, bei dessen Anblick der überraschte junge Mann den Arm sinken ließ und aufstand.
»Bitte«, sagte Wilkens im hohen Diskant, »lassen Sie sich durchaus nicht stören, Herr Doktor, ich blickte nur herein, um zu fragen, ob Sie meine Kusine Luise nicht gesehen haben?«
»Ich habe das Fräulein heute noch nicht gesehen«, erwiderte Gottberg.
Wilkens musterte inzwischen ungeniert das Zimmer und den Schreibtisch. Auf diesem lagen ein paar gefaltete Briefe, auf einem Stuhl eine Reisetasche und neben dieser verschiedene Kleidungsstücke. »Sie wollen doch nicht verreisen?« fragte er.
»Ich habe keine solche Absicht«, erwiderte Gottberg kalt.
»Es wäre mir auch nicht lieb«, versicherte Wilkens. »Sie müssen hierbleiben, es wird lustig zugehen.«
Gottberg schwieg. Eduard Wilkens sah ihn lauernd an. »Sie sind ja lange schon hier im Hause«, fuhr er fort, »und kennen alle Verhältnisse. Luise ist ein allerliebstes Mädchen. Was meinen Sie? Sie gefällt mir ausnehmend. Eine besondere Schönheit ist sie zwar nicht, aber was hat man davon? Eitelkeit, weiter nichts. Sie ist nicht verwöhnt. Häuslichkeit ist eine schöne Tugend. Was meinen Sie?«
»Ich meine nichts«, antwortete Gottberg mit mühsamer Zurückhaltung.
»Oho«, lachte Wilkens, »Sie müssen doch eine Meinung haben? Sie nehmen doch Anteil an der Familie?«
»Den nehme ich allerdings.«
»Und Sie wissen doch auch wohl, warum ich hier bin?«
»Ich habe nicht danach geforscht.«
»Nicht? So will ich es Ihnen sagen. Ich bin hier –«
»Verschonen Sie mich mit Ihrem Vertrauen, Herr Wilkens«, fiel ihm Gottberg ins Wort. Seine Stimme hatte einen drohenden Klang.
»Dadurch könnten Sie sich nur geehrt fühlen«, sagte Wilkens hämisch.
»Ich erhebe keinen Anspruch darauf –«
»Aber ich habe einige Gründe, mit Ihnen ein offenes Wort zu sprechen«, unterbrach ihn Wilkens. »Wenn Sie aufrichtig gegen mich sein wollen, soll es Ihr Schaden nicht sein. Sie sind hier Hahn im Korbe. Gut – ein jeder nach seinem Geschmack. Nur eine Frage wegen meiner Kusine.« Er richtete seine Augen mit dreister Unverschämtheit auf Gottberg. »Wie stehen Sie mit ihr?«
Der Doktor antwortete nicht, aber er sah leichenblaß aus.
»Bah!« lachte Wilkens, »Sie brauchen doch nicht zu erschrecken. Wir können uns in aller Ruhe –« Weiter kam er nicht.
Gottberg war dicht an ihn herangetreten, seine Augen glänzten vor Zorn. »Verlassen Sie mich auf der Stelle«, sagte er mit seiner tiefen, vollen Stimme.
»Seien Sie verständig«, sagte Wilkens, langsam zurückweichend, »ich lasse jedem das Seine, ich –«
»Hinaus! Verlassen Sie diesen Raum!« rief Gottberg noch heftiger, indem er den Arm nach der Tür ausstreckte.
Wilkens zog sich eiligst zurück, er bekam Furcht vor den Blicken und der Haltung des Doktors. »Sie werden das bereuen«, rief er, schon auf dem Vorflur stehend. »Im übrigen sage ich Ihnen, daß ich der Sache heute noch ein Ende machen werde. Meine Kusine soll meine Frau werden, wir werden in der Angelegenheit kurzen Prozeß machen!« schrie er im höchsten Diskant.
Gottberg sah ihn verächtlich an. »Entsetzlich«, sagte er, als sei er allein, »wenn ein so reines Wesen, ein so stolzer alter Mann in solchen Schlamm versinken könnten.«
»Narren und Bettler muß man behandeln, wie sie es verdienen«, rief Wilkens, der schon fast die Treppe erreicht hatte, »und das soll geschehen, darauf verlassen Sie sich!«
Es kam aber keine Antwort mehr, denn Gottberg hatte die Tür seines Zimmers bereits geschlossen. Wilkens atmete heftig und murmelte ein paar unverständliche Worte. Dann begab er sich in den Garten, um seinen Freund Rachau zu erwarten.
Philipp von Rachau hatte das Haus schon vor einigen Stunden verlassen und auf Waldwegen einen weiten Spaziergang gemacht, der ihn endlich an den Fluß hinabführte, wo die große Mühle stand. Er ließ sich mit mehreren Leuten, die ihm begegneten, in Gespräche ein und besaß viel Geschick, von ihnen auszuforschen, was er wissen wollte. Er trat auch bei dem Müller ein, trank ein Glas Milch, besah die Mühle, fragte kreuz und quer nach Ertrag und Pacht, Wiesen und Feldern unter allerlei Scherzen und Munterkeit, und einem so angenehmen jungen Herrn, der so offenherzig und ohne alle Hoffart war, wurde gern Bescheid gegeben. Man wußte ja bereits, daß er in Begleitung eines Verwandten des Herrn von Brand zu Besuch gekommen war, und natürlich richteten sich die Antworten, welche er erhielt, als er das Gespräch auf die Familie des Majors zu bringen wußte, auch danach. Aber die pfiffige Klugheit des Müllers reichte nicht bis zur Verstellung, und im ganzen genommen hörte er auch hier bestätigen, was der erzählfreudige Postillon schon berichtet hatte. Der Major wurde gelobt, doch über seine Heftigkeit kam es zu manchem Kopfschütteln, und als Rachau auf die Geschichte mit dem Wilddieb anspielte, sagte der Müller: »Das war der erste nicht, lieber Herr, er hat es früher schon öfter so gemacht. Jetzt ist er ruhiger geworden, sonst war's gleich Feuer und Flamme bei ihm, das weiß ein jeder, und die Herren in der Stadt wissen's auch. In Streit darf sich keiner mit ihm einlassen. In seiner Jugend, so wird's erzählt, hat er auch schon auf der Festung gesessen, weil er einen anderen Offizier totgeschossen oder erstochen hat, und bei dem Mathis haben ihm die Richter noch durchgeholfen, aber verwarnt ist er doch worden, und wenn noch einmal was vorkommt, geht's nicht so ab.«
Rachau wandte ein, daß der Mathis doch wohl ein rechter Taugenichts sei.
»Das kann man nicht sagen«, entgegnete der Müller, »im Gegenteil, er war ein redlicher, fleißiger Bursche. Aber wenn man so von den Tieren geplagt wird, wie ich's auch selbst schon erlebt habe, daß sie bis in die Gärten kommen oder einem sein Feld zerfressen, dann kann man zuweilen gar nicht anders, als sich wehren. Der Mathis hat freilich weder Kohl noch Kartoffeln zu hüten gehabt. Er tat's aus Übermut, dachte auch wohl, Hasen gibt's genug in der Welt, und Gott hat das wilde Getier, das dahin läuft und dorthin, für alle geschaffen. Ich habe mein Lebtag keinen so flinken Kerl gesehen wie den Mathis. Alles verstand er und versteht's noch, sonst kam er jetzt nicht durch. Und's Stehlen läßt er auch nicht«, sagte er lachend, »sind's keine Hasen und Rehe mehr, sind's Vögel oder Weidenruten, und sie sehen ihm dabei auf dem Gut durch die Finger, denn leid hat's auch dem Herrn getan, er schämt sich nur, daß er sich's soll merken lassen, und mag den Mathis nicht vor Augen sehen. Der gibt's ihm freilich zurück, soviel in seiner Macht ist, und wenn der könnte –« Der Müller hob seine Faust und schüttelte sie, seine Frau aber gab ihm einen Stoß, und er verstummte. »Na, der Herr wird kein Gerede machen«, setzte er dann hinzu, indem er Rachau treuherzig anblickte.
»Darum sorgt Euch nicht«, beruhigte ihn Rachau. »Kann man über den Steig nach der Stadt?«
Der Müller bejahte es. »Drüben geht's an der Lehmgrube hin«, fügte er hinzu, »und gleich in dem Häuschen daneben wohnt der Mathis.«
Mit diesem Bescheid nahm Rachau Abschied, ging über den Mühlsteig und befand sich in zehn Minuten vor der ärmlichen Hütte. Mit einem Blick ließ sich bemerken, daß sie nicht vernachlässigt wurde, denn die Lehmwände waren gut erhalten und weiß gestrichen, das durchlaufende Holzwerk schwarz angefärbt. Die kleinen Fenster sahen gewaschen aus, und vor ihnen hingen an Nägeln mehrere kleine Käfige mit Vögeln.
Als Rachau in den Vorflur blickte, dessen Tür offenstand, sah er den lahmen Mann, der drinnen saß und mit Korbflechten beschäftigt war. Er bückte sich auf seine Arbeit, und das lange schwarzbraune Haar hing ihm zottig über die Augen. Dann aber hob er den Kopf in die Höhe, und über sein hageres Gesicht flog ein Lächeln, denn er erkannte jetzt seinen Besucher.
»Hier wohnt Ihr also«, sagte Rachau. »Ist das Euer Haus?«
»Solange ich es gemietet habe«, antwortete der Lahme, indem er aufstehen wollte.
»Bleib sitzen«, sagte Rachau, »du darfst deine Arbeit nicht versäumen. Du hast Frau und Kind?«
»Ja, die sind wirklich mein, und es ist ein fressendes Eigentum, aber ich habe kein anderes«, antwortete Mathis lachend.
»Eigentum mag sein, wie es will, man hat es lieb. Jeder will etwas besitzen in der Welt«, versetzte Rachau, der einen alten Schemel nahm und sich dem Korbflechter gegenüber setzte.
Die Nebentür tat sich auf, und eine Frau erschien darin, die ein Kind auf dem Arm trug. Rachau blickte in die Stube hinter ihr hinein, wo es ärmlich genug aussah. Er nickte der Frau zu, deren Züge ein hartes Leben geprägt hatte.
»Das ist deine Frau?« fragte er.
»Das ist sie«, antwortete Mathis.
»Ist sie krank? Sie sieht so blaß aus.«
»Sie darf nicht krank sein«, erwiderte der Lahme. »Vergangenes Jahr sah sie schlimmer aus. Jetzt hat sie sich erholt.«
»Das war zu der Zeit, wo es dir überhaupt schlecht ging.«
»Jetzt geht es besser«, brummte Mathis, indem er weiterarbeitete. »So gut es gehen kann, wenn die gesunden Glieder fehlen«, setzte er lauter hinzu. »Sie haben es ja selbst gesehen, Herr, wie mit mir umgesprungen wird, und gehört haben Sie gewiß auch von meiner Geschichte.«
»Als ich dich vor einigen Tagen im Wald traf, versprach ich, dich aufzusuchen. Nun führt mein Weg mich zufällig vorüber. Ich habe mit dem Doktor Gottberg gesprochen, er hat mir von dir erzählt, denn er nimmt großen Anteil an dir.«
»Was nützt mir das schon«, brummte Mathis.
»Von ihm habe ich gehört, daß Fräulein Luise in jener Zeit manches für Euch getan hat, um ihr Mitgefühl zu beweisen«, fuhr Rachau fort.
»Lieber Herr«, sagte Mathis, mit seiner rauhen Hand auf den Korb schlagend, »ich bin ein armer Kerl, aber ich danke für alles Mitgefühl von da drüben her!«
»Mathis! Mathis!« flüsterte seine Frau ängstlich.
»Du scher dich fort«, antwortete er heftig, »geh an deinen Topf und koch, was drin ist. Noch schaff ich 's Brot und werd's schaffen! Weiber sind schwach«, fuhr er fort, als die Frau sich zurückgezogen hatte, »in ihrer Not fallen sie selbst dem Teufel zu Füßen. Ich sage nicht, daß sie es nicht hätte tun sollen, ein Weib bleibt ein Weib, aber jetzt bin ich wieder bei ihr, und so muß es ein Ende haben.«
»Du hast die Unterstützung zurückgewiesen?«
»Das habe ich, denn von wem kommt sie?« Mathis strich sein Haar zurück, seine Augen blitzten. »Von dem, der mich wie einen Hund niedergeschossen hat. Verflucht mag er dafür sein!«
»Du möchtest von deinem Feinde keine Wohltaten annehmen, möchtest ihm lieber beweisen, daß es zu Recht in der Bibel heißt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹«, sagte Rachau. »Das ist nobel gedacht, mein lieber Mathis, aber du siehst aus wie ein kluger Bursche. Verfluche ihn, soviel du Lust hast, niemand wird Segen von dir verlangen, aber nimm, was du bekommen kannst.«
»Ich wollte ihm meinen Segen wohl geben«, brummte Mathis ingrimmig.
»Das heißt, du sähst ihn mit Vergnügen hängen.«
»Lieber wollt ich das Messer verschlucken, als ihn abschneiden!«
»Du bist ein schlechter Christ, aber von liebenswürdiger Offenherzigkeit«, versetzte Rachau, »ich begreife deine Gefühle. Dennoch, mein guter Freund, muß die Maus niemals der Katze drohen, solange diese Krallen und Zähne hat.«
Der Korbflechter schien diesen Vergleich sehr gut zu finden. Er grinste zu Rachau auf, der sein Stöckchen zwischen den Händen drehte und ihm freundlich zunickte. »Ich erteile dir diesen guten Rat, Freund Mathis, weil ich etwas für dich tun möchte«, sagte er.
»Meiner Seel – ich habe so viele gute Freunde, es kann mir gar nichts fehlen!« lachte Mathis höhnisch. »Aber alle Almosen machen meine Beine nicht wieder gerade. Ich kann's niemals vergessen und zu Kreuze kriechen!«
»Du bist sehr töricht«, sagte Rachau. »Wenn du in Demut den Herrn Major um Gnade bätest, würde er dir vergeben.«
»Mir! Er mir vergeben!« schrie Mathis, die Fäuste ballend. »Die ganze Brut möcht ich zermalmen«, murmelte er vor sich hin, wild mit den Augen rollend.
»Bedenke wenigstens, was das gnädige Fräulein für dich tut«, fuhr Rachau fort. »Die vornehme Dame erzeigt dir Wohltaten, kommt in deine Hütte, um dich zu trösten!«
Die wohlberechneten Worte Rachaus verfehlten ihre Wirkung nicht. »Oho«, schrie Mathis, seine Faust schüttelnd und höhnisch lachend, »wer weiß, warum sie das tut!«
Rachau schwieg eine Weile. »Kommt das Fräulein oft hierher?« fragte er dann.
»Früher kam sie oft.«
»Mit dem Doktor Gottberg?«
Mathis antwortete nur mit einem Grinsen.
»Jetzt kommen sie nicht mehr?«
»Es ist ja Besuch im Hause, da geht es nicht an, daß sie mitsammen spazieren.«
Rachau bedachte; sich. »Es kommt mir vor, mein lieber Mathis«, lächelte er, »als ob du allerlei von dem Fräulein und dem Doktor zu erzählen wüßtest, ich sehe es dir an und will dir auch sagen, was du denkst. Du denkst, wie vielleicht manche andere Leute auch, daß das Fräulein den Doktor besonders lieb hat, oder vielmehr der Doktor das Fräulein, und du in deinem bösen Herzen freust dich darüber, weil du meinst, wenn's der Major erfährt, wird ein Donnerwetter losbrechen und er in Kummer und Wut außer sich geraten.«
Mathis starrte ihn groß an. Er sah seine innersten Gedanken offenbart und konnte sie nicht ableugnen. Es überkam ihn Furcht vor dem lächelnden jungen Herrn, der ihn ansah, als könne er ihn durch und durch sehen. Er blickte nach der Stube hin, wo er seine Frau hörte, und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Es ist doch wahr. Ich hab's oft genug mit angeschaut, wie sie ein Herz und eine Seele sind.«
»Das wäre eine Rache, mit der du als bescheidener Mensch schon zufrieden sein könntest«, lachte Rachau. »Aber mein guter Freund, damit ist es nichts, das Fräulein ist verständiger. Sie wird allerdings bald heiraten.«
»Den Doktor?« fragte Mathis.
»Einen Herrn, wie er zu ihr paßt, nach ihres Vaters Wünschen, und wenn du klug bist und dich brauchbar zeigst, wirst du von ihm nicht vergessen werden.«
Rachau unterbrach seine Rede, denn es näherte sich jemand dem Hause, der Schatten eines Menschen fiel auf die Schwelle, und plötzlich stand die, von der soeben gesprochen worden war, vor ihnen.
Ein großer Sommerhut bedeckte ihren Kopf, in der Hand trug sie einen Deckelkorb, der nicht ganz leicht sein mußte, denn sie war erhitzt von der Anstrengung. Ihr erster Blick fiel auf Rachau, der aufsprang, sie begrüßte und ihr betroffenes Erstaunen nicht zu bemerken schien. Im nächsten Augenblick hatte sie es überwunden. Sie erwiderte seinen Gruß und sagte: »Sie hier zu finden, Herr von Rachau, konnte ich nicht erwarten.«
»Man findet oft, was man nicht erwartet«, entgegnete er, »es geht mir ebenfalls so.«
»Ich besuche diese Familie nicht selten«, erklärte sie, »weil ich an ihrem Schicksal Anteil nehme. Wo ist Eure Frau, Mathis?« wandte sie sich an diesen.
»Drinnen«, brummte der Lahme, ohne aufzublicken.
»Und wie geht es dem Kind?«
»Es fehlt ihm nichts«, stieß er grob hervor.
Sie ging an ihm vorüber und öffnete die Stubentür. Mathis' Frau stand mit dem Kind schon dort.
»Da seid Ihr ja, guten Tag«, rief Luise, ihr die Hand reichend. »Wie geht es Euch?«
»Es macht sich schon«, antwortete die Frau mit unverkennbarer Freude und doch auch furchtsam nach ihrem Mann blickend.
Luise streichelte den Kopf des Kindes. »Du armes Kleines«, sagte sie, »du hast soviel gelitten und bist noch so blaß. Lache doch einmal, damit du deiner Mutter Freude machst.«
Die Frau drückte den Knaben fest an sich. »Wenn's nur noch mit ihm wird«, seufzte sie.
Draußen warf Mathis Korb und Ruten von seinem Schoß und ballte die Fäuste. »Oho«, sagte er grimmig, »wenn's wahr ist, was der fremde Herr sagt, wenn sie einen Vornehmen heiratet und den Doktor auslacht, dann wollte ich, sie müßte einen nehmen, der sie alle unglücklich machte, alle ins Elend brächte!«
Indessen war in der Stube weiter gesprochen worden, Rachau, der Luise gefolgt war, hatte sich mit in die Unterhaltung gemischt, und eben sagte Luise zu Mathis' Frau: »Nehmt den Korb hier und leert ihn aus; inzwischen gebt mir das Kind, ich will es halten.« Sie nahm es und trug es hin und her, ließ es hüpfen und sprach dabei mit Rachau, der über ihr neues Amt scherzte.
Mathis saß auf dem Flur und hörte sie. Er sah durch den Türspalt, wie die vornehmen Leute in seiner Hütte lustig und guter Dinge waren, wie das Fräulein von dem feinen Herrn umschmeichelt wurde, und bei alledem schwoll ihm das Herz noch bitterer auf. Der fremde Herr sagte so viel Schönes über die himmlische Herzensgüte des Fräuleins und ihren edlen Charakter und hatte so viele herzliche Glückwünsche für ihre Zukunft bereit, daß es Mathis ordentlich wohltat, als sein Kind kräftig dazwischenschrie.
Luise ließ es an ihrer Hand laufen und sagte, indem sie Rachau mit ihren großen braunen Augen ruhig ansah: »Meine Wünsche für die Zukunft richten sich auf ein einfaches und stilles Leben, das mit meinen Neigungen übereinstimmt.«
»Ganz wie ich denke«, erwiderte dieser, »aber leider kann man nicht immer seinen Neigungen folgen.«
»Unser Leben hängt immer davon ab, was wir daraus machen wollen«, antwortete Luise.
»Und Sie tragen wirklich kein Verlangen, es so glänzend und angenehm zu machen, wie es in Ihrer Macht steht?«
»Ich bin zufrieden mit dem, was ich besitze«, sagte sie, »mehr begehre ich nicht.«
»Wenn aber doch einer wagte, nach einem Glück an Ihrer Seite zu trachten, und dafür seinen ganzen Reichtum böte?«
»Dann würde ich ihm antworten müssen, daß ich ihm seine Wünsche nicht erfüllen kann, aber«, setzte sie hinzu, indem sie Rachau eindringlich anblickte, »ich würde dem Freunde sehr verbunden sein, der mir darin beistünde, daß es gar nicht erst zu solch einer Werbung käme.«
»Der Freund wird nicht zögern, Ihren Befehl zu erfüllen«, erwiderte Rachau, indem er mit einer Verbeugung nach ihrer freien Hand faßte, »wenn er weiß, daß Sie fest dazu entschlossen sind.«
»Zweifeln Sie nicht daran, Herr von Rachau«, antwortete sie mit Bestimmtheit.
»Dann alles für Ihr Glück!« rief er. »Es möge nie getrübt werden.«
Das Kind schrie wieder aus allen Kräften, und Mathis hinkte herein. Der Knabe streckte dem zottigen Vater beide Ärmchen entgegen und hielt sich an ihm fest.
»Der Junge weiß, wohin er gehört«, sagte Rachau.
»Das sollte ein jeder wissen«, meinte Mathis mürrisch, »wenn's keiner vergessen tät, blieb mancher ungeschoren.«
»Warum bist du denn so aufgebracht?« fragte ihn Luise freundlich.
»Ah«, sagte er, »Ihr glaubt wohl, Fräulein, wir könnten alle so glücklich sein wie Ihr? Der gnädige Herr Major hat rechtschaffen für mein Glück gesorgt!«
Luises Gesicht wurde glühendrot. »Lassen Sie uns gehen«, sagte sie zu Rachau. »Doktor Gottberg wird sehr betrübt sein«, fuhr sie zu Mathis gewendet fort, »wenn ich ihm erzähle, wie ich dich heute gefunden habe.«
»Ich frage nicht nach ihm«, grinste Mathis, »sorgt Ihr lieber dafür, daß er vergnügt und munter bleibt und laßt Euch die feinen Hände von ihm küssen!«
Diese Worte und sein Hohnlachen schallten Luise nach, die sich eilig entfernte.
»Dummkopf«, sagte Rachau lächelnd zu dem Lahmen, »da nimm!« Und indem er ihm ein großes Geldstück in die Hand drückte, folgte er Luise.
Mathis sah das Geld an und hob seine Faust dann triumphierend empor. »Ich hab's ihr gegeben!« rief er. »Gott verdamm mich, wenn's mir leid täte! Wie 's Blut ihr ins Gesicht schoß, wie 's Gewissen über sie kam, wie sie von dem Doktor hörte. Ich wollt, ich könnt sie alle verraten und verkaufen! Ich wollt, ich könnt sie alle unglücklich machen! – Und der da«, fuhr er nach einer Weile fort, indem er das Geldstück anstarrte, »der hat seine heimliche Freude dran gehabt. Verdammt will ich sein, wenn er nicht –« Er hielt inne, denn seine Frau kam weinend herein und trocknete ihre Augen mit der Schürze.