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Wilhelm wartete seit drei Stunden auf seinen Freund, aber diese Stunden waren ihm in beklemmender Unruhe zu Ewigkeiten geworden. Er suchte sich durch Arbeiten von den Vorstellungen zu befreien, die ihn verfolgten, doch das war unmöglich. Immer kam ihm in den Kopf, was er Theresen sagen wollte, und so gut er es auswendig gelernt hatte, verwirrten sich die Worte immer wieder. Dann sah er sich wirklich zu ihren Füßen um Gnade und Liebe bittend und sein Blut rollte glühend durch alle Adern, endlich glaubte er in ihre Augen zu blicken, er sollte freudig sein, Glückseligkeit heucheln, und Fieberfrost lief ihm dabei durch Mark und Bein.
Alle Augenblicke sah er nach der Uhr, oder zum Fenster hinaus, und wenn die Thür sich öffnete, schrak er zusammen. Endlich jedoch verwandelte sich diese Unruhe in ein Gefühl der Zufriedenheit, denn Leisegang kam nicht, er war zu beschäftigt oder unwohl, oder irgend ein glücklicher Zufall hielt ihn fest, und inzwischen wurde es spät und immer später. So war wiederum Zeit, wenigstens ein Tag gewonnen. Damit zugleich fiel aber auch die Einladung zu dem Gastmahle des Kriegsraths fort und eine andere Last von dem bedrückten Herzen. Welche Qualen hätte er ertragen müssen! Welche zehnfach schmerzensvolle Noth wurde ihm erspart!
Eine dankbare Empfindung drängte sich ihm auf, und in die Ruhe versinkend, welche sie ihm brachte, dachte er noch einmal über das nach, was er thun wollte. Die grauen Wolken der Gleichgültigkeit wanden sich um Schmerzen und Erinnerungen, welche wie Schatten darin versanken. Er dachte sich, was er hundertmal schon gedacht hatte, die Freude seines Vaters, die Thränen seiner Mutter, und ein thätiges, strebsames Leben. Die sanften Hände der Versöhnung legten sich auf sein Herz, und was mit schwarzen festen Zügen darin geschrieben stand, erblaßte in der Hoffnung, Andere glücklich zu machen, selbst die Frau, von der er wenige Liebe, wie er diese empfand, aber doch ein einträgliches Beisamenleben durch seine Milde und Nachgiebigkeit erwartete. – Er wollte schon mit ihr fertig werden, und wie Leisegang gesagt hatte, die Gewohnheit würde hinzukommen und ihren Frieden mitbringen.
Indem er dies sich sagte, sah er Leisegang eintreten. Das Erscheinen des nicht mehr Erwarteten traf ihn wie ein Schlag, aber er regte seine Entschlossenheit an.
Da bist Du ja, sagte er aufstehend, ich glaubte nicht mehr, daß Du kommen würdest. Wir müssen eilen, Therese wird ungeduldig sein.
Laß sie warten, erwiderte der Finanzrath, und indem er den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: Es kann überhaupt heute nichts daraus werden, wir haben an andere Dinge zu denken.
Was meinst Du damit? fragte Wilhelm. Es ist allerdings schon sehr spät, Du wirst zu – zu Julien wollen und das Diner –
Der Henker hole alle Diners! rief Leisegang, dies hat er zur rechten Zeit geholt.
Was sagst Du? Was ist geschehen? fragte Wilhelm bestürzt.
Er wird keine Pfirsiche und Erdbeeren mehr dazu nöthig haben, sagte Leisegang mit höhnischer Geberde.
Wer? Wer?
Er – Hartfeld.
Was ist mit ihm?
Todt! starr und todt!
Gerechter Gott!
Gestorben wie ein Held, wie die Wohlthäter der Menschheit sterben, die ein Gott in seinen Himmel versetzt.
Frohlieb stand wie besinnungslos; was er hörte, konnte er nicht begreifen. Wie in weiter Ferne sah er den Unglücksboten vor sich und faßte doch nach ihm, als wollte er ihn festhalten.
Woher weißt Du das? sagte er leise.
Weil ich es mit angesehen habe. Weil es so zu sagen vor meinen Augen geschehen ist.
Und wir stehen hier! Wir stehen hier!
Bleib, sagte Leisegang, Du kannst gar nichts ändern. Dieser Mann hat die ganze Welt betrogen, nur den Tod nicht, das ist der Einzige, mit dem er es ehrlich gemeint hat, und lange muß er darauf vorbereitet gewesen sein. Wahrhaftig! Wilhelm, ich bewundere ihn jetzt mehr, als da er lebte. Mit Schaudern habe ich mir vorgestellt, wie er seit Jahren immer bereit gewesen sein muß, den Sprung in das große Nichts zu thun. Und dabei immer heiter, immer froh, immer würdig einherwandelnd, zu Gottes Wohlgefallen und aller Menschen Freude. Jeden Tag konnte die Uhr ihm schlagen, jeden Morgen mußte er im Zweifel sein, ob er die Abendsonne noch sehen werde. Zu aller Zeit mußte er das Mittelchen bei der Hand haben, das ihn über Schande und Sorge fortführte.
Welches Mittel? fragte Wilhelm.
Als wir ihn auf dem Stuhle fanden, hielt er in seiner rechten Hand festgeklemmt ein Fläschchen, in welchem noch der Rest des Medicaments war. Das ganze Cabinet duftete betäubend nach bitteren Mandeln. In der Linken hielt er den Schlüssel der Cassette, in welcher die Staatspapiere liegen sollten. Nichts war darin, nichts als Löschblätter! Nahe an neunzig tausend Thaler sind fort. Verpraßt, für Bilder und Kunstsachen, verschwelgt in Kraftsuppen und picanten Diners aus dem Allerfeinsten, wie mein Onkel sie liebte; doch sind auch die Armen dabei bedacht worden. Dieser würdige Kriegsrath, dieser edele Menschenfreund hat auch seine Mitmenschen nicht vergessen.
O, mein Gott! rief Wilhelm todtenbleich. Arme Julie!
Die ist allerdings zu bedauern, sagte Leisegang, obwohl Alles geschehen wird, um sie zu schonen. Seit vielen Jahren muß der alte Sünder nach und nach das Vermögen verbraucht haben und – allerdings ist dies nur Muthmaßung – mein Onkel hat bei seinem felsenfesten Vertrauen wahrscheinlich niemals eine genaue Revision der Werthpapiere angestellt. Hartfeld hat gemeint, eher diese Welt zu verlassen, als sein leichtgläubiger Freund und Gönner, der alsdann ohne Umstände den Verlust hätte decken müssen. Als das Schicksal ihm diesen Spaß vereitelte, trat ich an meines Onkels Stelle, darum wollte er mich zum Schwiegersohn, darum wurde er wie zum neuen Leben erweckt, als ich meines Onkels Amt erhielt. Es war schlau ausgesonnen und durchgeführt bis auf die letzte Minute. Hatte ich das Protokoll unterschrieben, so war Alles in Ordnung. Heut Mittag wäre ich als Schwiegersohn proclamirt worden. Wer weiß was später geschehen wäre; ob es nicht Anstoß gefunden hätte, Schwiegervater und Schwiegersohn in solchen Verhältnissen zu lassen, aber sein Ruf war so fest begründet, und gleichviel was ich selbst hinterher entdeckte. Was wollte ich denn machen? Im äußersten Falle hätte er gethan, was er heut that; dabei aber war seine Tochter meine Frau, und jedenfalls mußte ich zahlen, froh sein, wenn meine und seine Schande verborgen blieb.
Und nun? fragte Wilhelm.
Leisegang faßte dies nun so auf, wie er es betrachtete.
Nicht einen Pfennig kann man mir abnehmen! Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber ein Mißtrauen überfiel mich plötzlich, obgleich ich mir keine Rechenschaft darüber geben konnte. Kein Gerichtshof kann meinen Onkel, oder mich als seinen Erben, zum Ersatz verurtheilen, denn wo ist der Beweis, daß Hartfeld seine Betrügereien bei Lebzeiten meines Onkels beging? Warum hat man nicht auf der Stelle, so wie er todt war, die Kasse untersucht? Ich war von heut an erst verpflichtet und entdeckte den Betrug sofort.
Ein triumphirendes Lächeln begleitete seine Worte.
Und Julie? flüsterte Wilhelm.
Der Präsident hat sich sogleich zu dem Minister begeben. Ich hätte dieser Scene wohl beiwohnen mögen, aber was blieb übrig! Man muß den Skandal vermeiden, wenn es irgend angeht. Der Uebelthäter ist entronnen, schweigen das Beste, was geschehen kann. Dieser Wohlthäter der Menschen ist zum schweren Leid aller Gerechten am Schlagflusse gestorben; unter den Rasen mit ihm so schnell als möglich und in aller Stille.
Es wird doch nicht verborgen bleiben.
Gewiß nicht, aber es kann doch kein öffentliches Geschrei gemacht werden. Denke nur, was die Uebelgesinnten für einen herrlichen Stoff zum Lästern erhielten. Was er hinterlassen hat, wird mit Beschlag belegt. Seine Gemälde haben Werth, verkauft wird Alles, das muß sich die hinterlassene Tochter gefallen lassen. Am besten ist es, sie geht fort, in irgend eine Einsamkeit, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist.
Und Du, Leisegang?
Und ich? Was meinst Du damit?
Du wirst – für sie Sorge tragen.
Unterstützen, später – helfen wo ich kann, sehr gern, erwiderte der Finanzrath: jetzt jedoch ist das nicht möglich. Aller Verhältnisse und meiner Stellung wegen kann ich mich nicht unmittelbar einmischen, und eben deswegen bin ich sogleich zu Dir gekommen, um Dich aufzufordern, da es doch eine entfernte Verwandte ist, und eine Unglückliche obenein, an welcher Du immer vielen Antheil genommen hast
Du hältst also Dein ganzes Verhältniß zu ihr durch das schreckliche Ereigniß für aufgelöst? unterbrach ihn Wilhelm.
Aber Du wirst doch so verständig sein und einsehen, daß davon nicht mehr die Rede sein kann! antwortete Leisegang.
Du hast Recht, ich bin so verständig, erwiderte Wilhelm, indem er nach seinem Hute griff.
Es ist traurig genug, sagte der Finanzrath, aber die Schuld fällt auf diesen elenden Betrüger.
Und doch giebt es Elende, die verächtlicher sind, als er, versetzte Wilhelm, indem er sich in der Thür umwandte, Leisegang stolz anblickte und ihn verließ.
Dieser Narr! lächelte der Finanzrath nach kurzem Schweigen. Nun, ich bin ihn los, ich bin diese ganze Gesellschaft los, und habe mich glücklich aus ihren Schlingen gerettet. Ich will doch bei unserer hübschen Wittwe herangehen, ihr mittheilen, was sich ereignet hat, und sie auf die nächsten dummen Streiche ihres theuren Freundes vorbereiten.
Wilhelm eilte inzwischen in ungestümer Hast durch die Straßen, bis er Hartfelds Wohnung erreichte. Sein Herz schlug vor angstvoller Erwartung; er fürchtete einen Auflauf zu finden, das Haus von Polizeiwachen und Gerichtspersonen besetzt zu sehen, allein es war nichts davon zu erblicken. Er sprang die Treppen hinauf und klingelte ungestüm.
Ist Niemand hier? fragte er die Dienerin, die ihn kannte.
Der Herr Kriegsrath ist noch nicht nach Hause gekommen, lautete die Antwort. Aber ich werde Sie dem Fräulein melden, Herr Frohlieb.
Ich selbst! ich selbst! sagte er, und bei der erschrockenen Dienerin vorüber drang er in die Gemächer. Da stand die gedeckte lange Tafel mit Blumen geschmückt, von Silber blitzend, der Salon zierlich, festlich drapirt, reiches Geschirr und prächtige, theure Aufsätze. Er floh davor, von Raum zu Raum und endlich – da saß sie! Vor ihr auf mehren Stühlen lag das kostbare Kleid und blitzender Schmuck – da saß sie, ihre Hände gefaltet, und betrachtete die Gewebe, welche die Braut umhüllen sollten. Und nun wandte sie den Kopf um, das Dunkle Haar, in welchem ein Kranz weißer Rosen schon befestigt war, das bleiche, stille Gesicht, das plötzlich bei seinem Anblick Farbe und Leben erhielt.
Er stand vor ihr, und hielt ihre beiden Hände.
Julie! sagte er, mit äußerster Ruhe und Kraft, ich bin des Schicksals Bote. Gott sei Dank, daß ich es bin.
Sie sah ihn wortlos an und las in seinen Augen.
Dein Vater! fuhr er fort.
Was ist mit meinem Vater?
Er hat Dich verlassen – auf immer verlassen – aber ich, Julie – ich, bin bei Dir – bereit, Alles mit zu tragen, was Dich trifft.
Ohne Regung, kalt und still lehnte sie sich an ihn. Ihre Hände und Lippen zitterten, aber ihre Fassung verließ sie nicht.
Er ist todt! flüsterte sie.
Wilhelm schwieg.
Was weiter? fragte sie.
Wirst Du es hören können? Doch es muß so sein. Er ist todt, um Schande zu entgehen. Er hat nicht recht gehandelt, Julie, weder an sich, noch an Dir, nach an seiner Ehre!
Sie hörte ihn an, ohne eine Bewegung zu machen. Ein tiefer Seufzer rang sich aus ihrer Brust; maschinenartig, seelenlos sagte sie dann:
So sind denn alle Opfer vergebens gewesen. Was ich ahnte, hat sich erfüllt.
Was Du ahntest, arme Julie?
Was wie ein fressender Wurm an mir nagte, was mit schrecklichen Bildern mich Tag und Nacht quälte, wofür ich Seele und Leib verkaufen wollte und nichts – ändern konnte. Alle Lüge, alle Schande ist aufgedeckt und muß getragen werden.
Wo ist das Fräulein Hartfeld? fragte draußen eine Stimme, und Julie richtete ihre Stirn auf, als erwarte sie die Dornenkrone.
Ein Herr trat herein, es war der Präsident selbst, der mit tief ernstem Gesicht sich ihr näherte. Ich habe Ihnen ein schreckliches Unglück mitzutheilen, das Sie betroffen hat, Fräulein Hartfeld, sagte er.
Ich weiß Alles, antwortete sie ihm leise und demüthig. Ich bin bereit, Ihren Befehlen zu folgen, diese Wohnung zu verlassen, Alles zu thun, was ich soll.
Armes Kind! entgegnete der Präsident, der Herr Minister will mit größter Schonung verfahren. Sie sollen bleiben, den Todten bestatten, dagegen das Versprechen in meine Hand leisten, daß nichts verheimlicht oder veruntreut wird, was hier vorhanden, Alle werthvollen Gegenstände müssen unter Siegel gelegt werden. Sobald das Leichenbegängniß vorüber ist, fuhr Der Präsident, ohne eine Antwort abzuwarten, fort, wird ein gerichtliches Inventarium aufgenommen werden und der Verkauf beginnen, wo dann freilich Ihres Bleibens hier nicht länger sein kann. Es ist jedoch Befehl des Herrn Ministers, Alles, was Ihnen gehört und was Sie als Ihr Eigenthum bezeichnen, auszunehmen.
Es gehört mir nichts, sagte Julie.
Haben Sie kein mütterliches Vermögen?
Einige tausend Thaler, allein ich mache keine Ansprüche darauf.
Der Präsident blickte sie gerührt an.
Das dürfen Sie nicht thun, sagte er, Sie müssen dies Geld reclamiren und werden es zurück erhalten, wenn Sie die Gnade des Königs anrufen.
Ich werde keine Gnade anrufen, erwiderte Julie demüthig. Mein unglücklicher Vater hat schwer gesündigt, doch sein Kind soll ihn niemals anklagen. Wollte Gott! ich vermöchte Alles zu ersetzen.
Wir wollen das später ruhiger überlegen, sagte der Präsident. Benehmen Sie sich klug und vorsichtig, so kann Vieles unterdrückt werden, die Wahrheit wenigstens nicht ohne Zweifel unter das große Publicum kommen, und das wünschen wir Alle. Die Leiche des unglücklichen Mannes muß bei Nacht abgeholt werden. Sie müssen dazu Anstalten treffen; überhaupt wäre es gut, wenn ein Freund für Sie handelte und Sie eine Familie fänden, die Sie aufnähme und schützte.
Ich weiß Niemanden, den ich belästigen möchte, erwiderte sie.
Das ist nicht recht von Dir, Julie, fiel Frohlieb ein.
Meine Eltern werben Dich schirmen, und ich übernehme Alles, was hier zu thun übrig bleibt.
Der Präsident blickte ihn wohlwollend an.
Das ist edel, sagte er. Fräulein Hartfeld darf Ihre Hülfe nicht ausschlagen, welche ohne Zweifel berechtigt ist.
Als Verwandter, als Freund und als – Dein Verlobter! sagte Wilhelm, indem er den Arm um Julie legte und ihre Hand an sein Herz drückte.
Sein Gesicht sah schön und stolz aus; in seinen Augen lag die feste männliche Ruhe und Entschlossenheit. Als er seinen Namen genannt hatte, sagte der Präsident:
Ihr Benehmen erfordert meine volle Hochachtung. Führen Sie Fräulein Hartfeld sogleich, fort, Herr Frohlieb, ich werde warten, bis Sie wiederkommen, dann mit Ihnen gemeinsam weiter verabreden, was geschehen muß. Lassen Sie alle Gäste abweisen. Der Kriegsrath ist gefährlich erkrankt; wir müssen die öffentliche Meinung vorbereiten. Eilen Sie schnell! Fort, fort!
Wilhelm nahm Juliens Mantel, der in den Zimmer lag, und deckte ihn über ihre Schultern, dann holte er ihren Hut, welcher an einem Spiegelpfeiler hing. Ohne Zögern löste er den Rosenkranz aus ihrem Haar und warf ihn von sich, sie band die Schleife des Hutes fest, gab ihm ihren Arm und folgte ihm.
Erst als sie einige Schritte gethan hatte, stand sie still, blickte zu ihm auf und sagte mit ihrer sanften, leisen Stimme:
Bedenke wohl, was Du thust. Ueberlaß mich meinem Schicksale.
Niemals, erwiderte er, niemals, Julie!
Der Ton mußte überwältigend sein, denn sie folgte ihm weiter, ohne etwas zu erwidern. –
Ein vortrefflicher, junger Mann! rief der Präsident, als sie verschwunden waren. Das arme Geschöpf wird dankbar sein; aber es gehört Muth dazu, solche Opfer zu bringen. Gut, daß sie fort ist. Sobald er zurückkommt, wollen wir die Siegel anlegen lassen, aber ich will mich weiter für sie interessiren, so viel ich kann.
Er ging in den festlich geschmückten Speisesaal. Die Diener, welche zur Aufwartung angenommen waren, und das Küchenpersonal stürzten verwirrt, händeringend und weinend herein und wurden bedeutet, sich ruhig zu verhalten. Bald fanden sich die ersten Gäste ein, welche sofort an der Thür abgewiesen wurden, geschmückte Damen und Herren, die nicht in der besten Laune und äußerst unbefriedigt umkehrten, während der Präsident drinnen auf und ab ging, Stücke vom großen Baumkuchen abbrach, die feinen Weine kostete und über die Unergründlichkeit des menschlichen Herzens philosophirte.
Eben um diese Zeit hatte Herr Daniel Frohlieb seine Toilette beendigt und erschien vor seiner Frau, welche schon in ihrem besten Staate prangte. –
Auch dieses ist eine richtige mercantilische Conjunctur, Mama, sagte er, seinen Zeigefinger aufhebend, daß wir uns dem Zeitpunkte nähern, wo es unumstößlichen christlichen Grundsätzen nach durchaus nothwendig ist, einen Rock und ein neues Seidenkleid anzuschaffen. Ich habe auf diesen Zeitpunkt, das heißt auf Wilhelms Hochzeit, nun schon seit wenigstens acht oder zehn Jahren gewartet, und meine Bedenklichkeiten über diesen ehrwürdigen Leibrock immer mit meinem mercantilischen Bewußtsein beschwichtigt, und ich triumphire, Mama, über meine scharfsichtige Speculationsgabe, denn er hat richtig ausgehalten bis zu dieser Stunde, wo Wilhelms Hochzeit nun wirklich einen wohlverdienten Nachfolger hervorruft.
Die kleine Frau sah den langschwänzelnden, blauen Frack ihres Eheliebsten bedenklich an, und sagte dann seufzend:
Wir sind Beide aus der Mode gekommen, es schadet aber nichts, denn es sieht ja doch Niemand nach uns; aber der Wilhelm, der Wilhelm!
Es sieht Niemand nach uns! schrie Herr Frohlieb, seinen Arm einstemmend. Es ist eine Lächerlichkeit, Mama, solche Dinge zu behaupten. Jugend! Was heißt Jugend? Ein sehr schlechter Grundsatz ist es, diese Jugend zu loben und nur nach ihr zu sehen. Es ist nichts dahinter, keine Kraft, keine Festigkeit, kein Inhalt, Mama. Es kann eine ausgezeichnete Sorte sein, von der besten Ernte, aber dennoch erst mit dem Alter kommt das Aroma. Und dieses ist meine feste Hoffnung, Mama, denn Wilhelm – es ist ein Jammer, dieser Junge!
Wir werden wohl gehen müssen, sagte die kleine Frau betrübt. Ich glaubte noch immer, er würde kommen, seine Braut herbringen und uns mitnehmen, aber er wird wohl gleich mit ihr zu dem Vetter gefahren sein, denn Leisegang sagte ja – oder –
Herr Frohlieb lief mit Meilenstiefelschritten auf und ab. In der Rechten hielt er das Cigarrenpfeifchen, die Linke schwenkte er durch die Luft, seine spitzen Rockschöße flatterten hinter ihm her. Dabei lachte er ingrimmig und schlug sich zuweilen auf den Kopf.
Herkommen! schrie er. Unter ihren Pantoffel kommen wird er, nach ihrer Pfeife tanzen wird er, und dieses sage ich Dir, Mama, sie wird ihm aufspielen dazu. Gestern erklärte sie mir, geraucht würde niemals bei ihr werden. Also rauchen darf er nicht einmal, der unglückliche Willem!
Ach, wenn es weiter nichts wäre! seufzte die kleine Frau, aber er hat kein Herz für sie.
Allerdings! rief Herr Frohlieb. Das ist es ja eben, er hat kein Herz, denn wenn er dieses hätte, würde er auftreten, wie es ein Mann thut, und ihr Respect beibringen. Aber ich will Dir was sagen, Mama, wenn Du es etwa noch nicht wissen solltest. –
Herr Frohlieb trat dicht heran, beugte sich vorn über und legte den Finger an seine Nase, indem er fürchterliche Weisheitsfalten zog. –
Dieser Wilhelm, unser einziger, lieber Sohn, unser Fleisch und Blut: er ist ein Pinsel! Ja, meiner Seele, ein Pinsel von oben bis unten! Ein Pinsel! schrie er aus Leibeskräften. Mein Sohn, es ist ein Unglück, aber ich kann mir nicht helfen, es muß heraus: ein Pinsel, Mama, ein Pinsel!
Aber Daniel! rief die kleine Frau, ihre Hände ringend und Thränen in den Augen, wie kannst Du denn so hart und unmenschlich sein! Bedauern solltest Du ihn, daß er sich unglücklich macht.
Wie so unglücklich! schrie Herr Frohlieb, sich auf die Brust schlagend. Wenn ich es wäre, großartig würde ich dastehen, glücklich sein, wie ein Engel im Himmel. Fest muß ein Mann aufklopfen, Grundsätze muß er haben, und diese Grundsätze gegen die ganze Welt vertheidigen. Aber er ist wie ein Lappen, Mama, Jeder kann ihn zusammenwickeln und in die Tasche stecken; Alles läßt er sich gefallen; kein Muth, keine Kraft, kein Saft ist vorhanden, nichts ist da, als ein Pinsel, der niemals wagen wird, den Mund aufzuthun.
Eben trat der Gescholtene herein.
Da kommen sie Beide! rief die Mama aufspringend.
Unsere geliebten Kinder! schrie Herr Frohlieb, indem er sich umdrehte. Thereschen!
Aber indem er dies sagte, fielen seine Arme nieder; die Täuschung konnte nicht lange anhalten.
Die schwankende Gestalt am Arme seines Sohnes und das bekannte bleiche Gesicht machten ihn bestürzt, allein Wilhelm ließ ihm keine Zeit, zu einer Vorstellung zu kommen.
Hier ist Julie, sagte er. Ihr Vater ist todt, er hat Hand an sein Leben gelegt, als sich herausstellte, daß er Veruntreuungen begangen. Ich bringe Julien zu Euch, denn sie bedarf Hülfe, Trost und Vater- und Mutterherzen. Mutter, in Deine Arme lege ich sie, Du wirst die Unschuldige beschützen. Ihr Vater war Dein Freund und Verwandter, Vater. Was er auch that, Du hast Julien immer lieb gehabt; Du wirst sie nicht in ihrer Noth verlassen.
Herr Frohlieb stand, die Hand an sein Kinn gelegt, und sah eine Frau an.
Allerdings, gewiß! stotterte er. Aber – es ist ja nicht möglich! Und – Du mein Gott! Mama! Wir wollten ja soeben gehen, Wilhelm!
Die Wohnung ist verödet, es wird Alles darin unter Siegel gelegt werden, antwortete sein Sohn.
Aber der Finanzrath, schrie Herr Frohlieb auf, der ist ja der Nächste!
Das Unglück hat keine Freunde. Die ihm zunächst stehen, verrathen es zuerst. Julie hat Niemand als Euch und mich.
Oh, das arme Kind! flüsterte die Mama, ihre Hände faltend, indem sie Julien mitleidig anblickte, die still leidend bei Wilhelm stand.
Liebe Eltern, begann dieser ruhig, ich kenne Euch und weiß, daß ich Euch nicht vergebens bitte. Hier gilt kein langes Besinnen. Es gilt, der Welt zu zeigen, daß es noch Menschen giebt, die das Rechte thun und das Schlechte verachten. Du hast Deine Grundsätze, Vater, die glücklich machen, ich habe auch dergleichen.
Grundsätze, allerdings! antwortete Herr Frohlieb, mit dem Kopfe nickend.
Und das sind meine Grundsätze, Vater, fuhr der Sohn fort, von denen ich nicht ablassen werde, mag es Blut und Leben kosten, und sollte ich darüber untergehen. Darin liegt meines Lebens Glück und Zukunft. Wollt Ihr Julien auf- und annehmen? – Ich werde sie niemals verlassen!
Herr Frohlieb öffnete während dessen seine Arme und seine Augen thaten sich weit auf, er lachte ganz freudig und behaglich. Das versteht sich, Wilhelm, mein Junge! schrie er. Er hat Grundsätze, Mama, und ist doch am Ende kein Pinsel. – Versteht sich, mein Herzensjunge! Es bleibt bei uns, das arme Kind. Vor der ganzen Welt wollen wir hintreten und ihr zeigen, was Grundsätze sind, aus denen dergleichen Wirkungen hervorgehen!
Dabei deutete er auf die Mama, welche Julie umschlungen hielt und küßte, und während die dicken Thränen über ihr gutmüthiges Gesicht rollten, zu ihr sagte:
Verzage nur nicht, Du armes Herz, es wird ja Alles noch gut werden. Es richtet sich ja die Blume wieder auf, wenn der Sturm vorüber ist; wir wollen Alle trösten, Alle helfen.
Julie weinte leise; ihre Thränen flossen zum ersten Male wieder. Sie war unvermögend, zu sprechen; krampfhaft fest umschlang sie ihre Beschützerin. –
Nehmt sie hin, rief Wilhelm, indem er seinen Vater zu ihr führte. Liebt sie, sie wird Euch die Liebe vergelten. Dankbar, unermüdlich wird sie eine gute Tochter sein!
* *
*
Und als es Herbst wurde, begab es sich, daß in dem größten Zimmer der Wohnung des Herrn Daniel Frohlieb eines schönen Tages ein festlich gedeckter Tisch prangte, welcher froher Gäste harrte. Herr Frohlieb selbst ging daneben auf und nieder, betrachtete Alles und betrachtete sich selbst äußerst freudig, denn er war angethan mit einem neuen Leibrocke, schwarz, fein und mit weiten Aermeln, nach dem neuesten Schnitt, und an der andern Seite ordnete die kleine Frau mit Feldherrnblicken noch hier und dort, was nicht nach ihrem Sinne; doch auch sie rauschte in neuer, schwerer Seide daher, und auf ihren halbergrauten Locken saß eine prächtige Spitzenhaube mit langen flatternden Bändern.
Herr Frohlieb sah ungemein schalkhaft aus, als er stille stand und, den Finger an seine Nase gelegt, zu sprechen begann.
Und dieses ist der mercantilische Standpunkt dieser Frage, Mamachen, begann er, daß, wenn wir damals Wilhelms Hochzeit gefeiert hätten, jetzt mein Rock und Dein Kleid ein alter Rock und ein altes Kleid sein würden, auch wir nicht an dieser lieblichen Tafel sitzen und Vivat schreien könnten, daß der Kalk von den Wänden fällt.
Schweige Du doch stille mit Deinem mercantilischen Standpunkte, Daniel! lachte die kleine Frau. Es wäre ein Unglück gewesen, Wilhelm wäre ein verlorener Mensch gewesen, und an unserer lieben Julie hätten wir niemals solche Freude erlebt, Vater, wäre Dein mercantilischer Standpunkt in Richtigkeit gekommen.
Allerdings, Mama! erwiderte Herr Frohlieb gravitätisch, es sind einige Conjuncturen plötzlich eingetreten, die jeden Standpunkt verändern mußten. Allein ich bin stolz darauf, wie meine Grundsätze endlich durchgedrungen sind. Dieser Wilhelm ist ein Mann geworden, wie sein Vater, und das arme, gute Kind hat ihre Leiden glücklich überwunden. Von wegen Ursachen und Wirkungen in unserer Nähe ist sie wie eine Rose aufgeblüht, daß es eine Lust ist, Gärtner zu sein.
Und da ist sie! fiel die Mama ein, denn Julie trat am Arme ihres Bräutigams mit seligstrahlendem, glücklichem Gesichte herein. Sie war aufgeblüht, wie Herr Frohlieb sagte. Der Hauch der Gesundheit hatte die kranke Farbe verdrängt, ihre sanften Züge hatten nichts mehr von dem Weh, das ihnen eingegraben war; doch auch Wilhelm sah nach den Grundsätzen seines Vaters aus. Er trug den Kopf hoch, er lachte und hatte in seinen Augen den hellen Glanz, welchen Herr Frohlieb aus der gesunden Leber erklärte.
Da sind sie, Mama! schrie er. Fix und fertig für den Herrn Prediger und seinen Segen.
Fix und fertig für den Segen eines ganzen Lebens, Vater! antwortete Wilhelm. Und hier ist Dein Recept, das einzige gute und richtige, das es giebt, um glücklich zu sein.
Dabei umarmte er seine Braut und Herr Frohlieb stellte sich vor diese hin, legte die Hand an sein Kinn, that seine Augen auf und zog ungeheure Weisheitsfalten.
Gebrauche dies Recept, mein Sohn, sagte er, indem Du es immer auf Dein Herz legst, eben wie Du es jetzt thust, und laß nicht einen Tag davon ab in den nächsten fünfzig Jahren, so wirst Du das menschliche Leben mit Vergnügen genießen und ein langes beglücktes Leben führen. Dies sind die wahren Ursachen aller menschlichen Glückseligkeit, Wilhelm, und wie ich Dir einstmals schon sagte: Es gehört nicht die geringste Kunst dazu, glücklich zu sein, sobald man nur die richtigen Grundsätze hat, die ich Dir nunmehr beigebracht habe.
Niemals will ich sie vergessen, erwiderte der Sohn, aber es giebt noch einen Andern, der sich etwas davon ausbitten möchte.
Er hielt ein goldrandiges Papier in der Hand, das er seinem Vater reichte, und dieser streckte seinen Arm weit von sich ab und las dann mit lauter Stimme:
»Als ehelich Verbundene empfehlen sich Verwandten und Freunden Therese Leisegang, verwittwete Petermann; Ferdinand Leisegang, Geheimer Finanzrath.«
Der Finanzrath braucht mein Recept nicht! schrie Herr Frohlieb mit einer lustigen Bogenschwenkung. Sie paßt zu ihm, er paßt zu ihr. Einem Jedem das Seine, Kinder. Aber Hurrah! da kommt die Hochzeitskutsche!