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Der Doctor saß inzwischen an seinem Schreibtische eifrig mit seiner Arbeit beschäftigt und obwohl er gestern erst versprochen hatte nicht mehr zu rauchen, hielt er dennoch in seiner linken Hand den verbotenen Apfel und neben ihm brannte das Licht, das seiner Sünde dienen half. Er sah dabei so froh und friedlich aus, als hätte er das beste Gewissen, und steckte in seinem grauen, bequemen Hausrock mit weit größerer Behaglichkeit als am Tage vorher in dem neumodischen, neuen Frack, den die gute Tante ihm anbefohlen hatte.
Mitten in seinen schönsten Gedanken aber polterten ein paar rasche Schläge an seiner Thür, und es waren ganz andere Schläge, als er es gewöhnt war, auch eine ganz andere Art, mit welcher der Drücker umgedreht wurde. Wer nicht weiß, was es heißt, wenn Jemand in seiner geistigen Thätigkeit von einem fremden Störenfried unterbrochen wird, der kann nicht beurtheilen, welche unangenehme Empfindung über den Gelehrten kam, der eine innere Anstrengung machte nichts hören zu wollen, und doch gezwungen war hören und sehen zu müssen. Denn im nächsten Augenblicke hörte er die angenehm klingende Stimme des Herrn von Sternau, welcher geräuschvoll die Thüre ins Schloß warf und auf ihn zueilte.
In der gewöhnlichen Weise unerwarteter Eindringlinge rief er dabei:
Ich störe doch nicht, bester Doctor? Man hat mich zu Ihnen geschickt, weil die Damen mich noch nicht empfangen wollen; allein ich gehe bald wieder. Wie haben Sie geschlafen nach der ungewohnten Anstrengung?
Sehr gut, sagte Johannes, der seine Freundlichkeit wieder gesammelt hatte. Aber meine Frau –
Was ist mit der liebenswürdigen, kleinen Cousine?
Sie ist nicht recht wohl heut.
Herr von Sternau lachte.
Die Damen sind immer nach solchen Vergnügungen angegriffen, sagte er, es hat nichts auf sich. Ich gebe Ihnen mein Wort, bester Herr Doctor, wenn heut Abend wieder getanzt würde, wäre sie eben so frisch und gesund als gestern.
O! rief Johannes erfreut, meinen Sie wirklich?
Wofür sind denn die Frauen geboren, als zur Freude und zum Genuß! antwortete Sternau übermüthig. Wir, mein lieber Doctor, wir tragen die Last des Lebens, die Arbeit und die Mühen, wir bilden die ernsthafte Seite der Schöpfung; die Frauen dagegen die heitere und wonnigliche. Sobald man uns in die Schule schickt, geht die Plage los. Wir sollen lernen, sollen etwas werden, etwas ergreifen, einem Berufe folgen, erwerben, steigen, wagen, gewinnen, und mit Gott und den Menschen kämpfen.
Ilm Wahrheit und um Recht, sagte der Doctor mit einem feurigen Blick aus seinen dunklen Augen.
Ja wohl, lachte Sternau, Jeder sucht sich sein Körnchen heraus aus dem großen Sack, der das Futter für die ganze Gesellschaft enthält, und den Meisten wird es knapp genug zugemessen, unter Angst und Noth im Schweiße ihres Angesichte, bis sie abgelöst werden. Sehen Sie dagegen die Mädchen an, wie anders gestaltet sich da Alles. Was brauchen die zu lernen? Und was sie lernen, geschieht zu ihrem Vergnügen, zu ihrer Unterhaltung und sogenannten Bildung. Plagt ein Mädchen sich mit Scrupeln und Zweifeln? mit religiösen und politischen Fragen, mit wissenschaftlichen Kunstinteressen?!
Sie sollten es thun, fiel Johannes ein; denn eben weil so wenige Frauen am öffentlichen Leben Theil nehmen und keinen Sinn für höhere Interessen haben, ist unsere Entwickelung eine sehr unvollkommene geblieben. Bei den Athenern –
Bester Freund! fiel Sternau ein, um des Himmels willen keine gelehrten oder politischen Frauen, die in den einzelnen Exemplaren, wie sie uns vorkommen, Grauen und Entsetzen erregen. Etwas Ganzes und Rechtes wird es doch nimmermehr. Wo bliebe aber dabei die reizende Seite des Lebens? Wo wäre Ersatz für die schöne Weiblichkeit, für die duftige, rosenfarbige Vergeltung, welche wir für unsere Plagen von den Gebieterinnen der Herzen und der Gesellschaft erhalten?
Die Gebieterinnen der Herzen! antwortete Johannes mit seinem sanften Lächeln, während seine Augen nachsinnend in die Weite blickten, denn er dachte an Emma. Das ist eine schöne Benennung; ja das sind die Frauen, ihre Liebe enthält das beste menschliche Glück.
Sie genießen dies schöne Glück im reichsten Maße, sagte der junge Herr, und sind zu beneiden.
Der Doctor drückte ihm lebhaft und dankbar die Hand.
Sie haben Recht, erwiederte er, und Emma hat einen künstlerischen Sinn, rege Empfindungen und ein sehr richtiges Urtheil. Das muß man hoch schätzen, denn wenn Frauen sich bis dahin erheben, verdoppelt sich ihr Werth.
Sehr wahr! rief Sternau, und dabei vermehrt sich Ihre glückliche Häuslichkeit durch die treffliche Tante. Ich kenne keine Frau, die mit so vieler Lebensklugheit so viele liebenswürdige Eigenschaften verbände.
Ja wohl, sagte Johannes erfreut. Sie ist äußerst umsichtig und dabei voller Liebe für meine Frau.
Und für Sie, bester Doctor, für Sie fast noch mehr.
Ich bin ihr auch sehr dankbar dafür, antwortete er. Sie hat sich mit mütterlicher Sorgfalt unserer angenommen.
Sie werden ihr noch sehr Vieles zu danken haben, sagte Sternau. Doch wie steht es mit Ihrer Arbeit, ist sie bald fertig?
Ich würde schon fertig sein, wenn ich gestern zu Haus geblieben wäre, lächelte der Doctor; und wenn ich heut nicht gestört werde, wenn Emma nicht etwa kränker wird –
Er fügte das Letzte hinzu, da Sternau aufstand und zugleich erwiederte:
Ich verlasse Sie, bester Freund. Der Minister ist vorbereitet, eilen Sie nur; aber im Vertrauen: den hauptsächlichen Erfolg haben Sie jedenfalls der guten Tante zu verdanken. Sie hat meinen Schwager so eindringlich belagert und zu Ihren Gunsten angetrieben, daß er seinen ganzen Einfluß aufgeboten hat.
Die Tante hat mir dasselbe von Ihnen gesagt, fiel Johannes freundlich ein.
Ich habe sie natürlich unterstützt, so viel ich es vermochte, weil ich weiß, daß es keinen würdigeren Bewerber geben kann, dem ich zugleich mit wahrer Zuneigung ergeben bin.
Des Doctors Augen leuchteten vor Freude.
Ich habe Sie auch lieb, sagte er, und freue mich, daß ich Sie kennen lernte. – Er reichte ihm die Hand hin, und hielt Sternau's Hand fest, indem er ihn mit innigen klaren Blicken betrachtete; ich wollte, daß ich ebenfalls etwas thun könnte, das Ihnen Freude macht, um Ihnen zu beweisen, wie gern das geschähe! rief er aus.
Das nehme ich an, erwiederte Sternau, und nachdem er einige Augenblicke geschwiegen hatte, fügte er hinzu: Ich wäre wohl im Stande Sie um eine Gefälligkeit zu bitten, wenn ich wüßte, daß Ihnen dadurch keine Beschwerde erwüchse.
Gerne, gerne, sagte der Doctor. Wenn es mir Beschwerde macht, werde ich es um so lieber thun.
Es ist eine ganz materielle Bitte, versetzte Sternau lachend, aber Sie wissen, wie es im Leben hergeht, die materiellen Fragen haben oft das größte Gewicht. Ich habe allerlei Ausgaben gehabt, die meine Kasse sprengten; könnten Sie mir auf einige Zeit ein Darlehn von tausend Thalern machen, so würde mir dies über Verlegenheiten forthelfen.
Der Doctor sah überrascht aus, das hatte er nicht vermuthet; allein sogleich wurde er noch freundlicher, denn er konnte diese Bitte, die ihm keine Zeitverluste und Beschwerden verursachte, sehr leicht erfüllen. Sein Haushalt kostete allerdings jetzt mehr als früher, allein es blieb immer noch etwas übrig, und Hertner hatte ihm vor Kurzem eine Zahlung gemacht, von der gewiß noch so viel vorhanden war, als jetzt von ihm gefordert wurde.
Es macht mich sehr glücklich, sagte er daher, daß ich aushelfen kann, und zwar sogleich, warten Sie – sogleich! Eilig schloß er den Schrank auf, holte seinen Geldvorrath hervor und war entzückt darüber, als er sich überzeugt, daß dieser reichte. Er legte die Bankscheine vor Sternau hin und bat ihn sie einzustreichen, was der junge Herr sogleich that, und indem er sie in der Hand hielt, fragte, ob er auch wirklich nicht etwa Unbequemlichkeiten verursache?
Durchaus nicht! rief Johannes Gerber, im Gegentheil, es macht mir wahrhaftes Vergnügen.
Dann weigre ich mich nicht länger, erwiederte Sternau, der die Scheine zusammendrückte und einsteckte. Nur eine Bitte noch: diese Angelegenheit bleibt unter uns. Selbst was Drei wissen, ist kein Geheimniß mehr.
Das versteht sich von selbst, sagte der Doctor. Wir beide wissen es, das ist genug.
Dann nochmals herzlichen Dank, bester Freund, und sobald Ihre Schrift fertig ist, nehme ich sie in meine Hände. Jetzt erlauben Sie, daß ich die Damen aufsuche.
O ja, thun Sie das! rief der Doctor erfreut. Ich hoffe, Emma wird nicht kränker geworden sein, sie wird sich freuen Sie zu sehen.
Ich werde Sie vor allen Störungen schützen, sagte Sternau. Auf Wiedersehen, lieber Doctor.
Als er hinaus war, legte Johannes Gerber vergnügt den kleinen Geldrest fort, der ihm übrig geblieben war, und seine freundlichen Mienen zeigten an, wie zufrieden er mit sich selbst war. –
Ein liebenswürdiger Mensch, sagte er, immer heiter und voll Lebenslust.
Er legte die Hand auf den Schreibtisch und lächelte vor sich hin, sein Blick fiel in den Spiegel, der ihm seine eigene Gestalt zeigte.
O, flüsterte er, damit ist es freilich nichts, allein ich möchte dennoch nicht tauschen!
Und unter dem Eindruck der Gefühle seines Glückes setzte er sich nieder und begann von Neuem sich in seine Arbeit zu versenken.
Es schien jedoch, daß der Doctor heut nicht zu etwas Rechtem kommen sollte, denn kaum mochte eine Stunde vergangen sein, als er abermals unterbrochen wurde, und zwar durch einen Besuch, zu dem er ein freundlicheres Gesicht machte, als zu Sternau's Eintritt. Der Mann, welcher diesmal ihn störte, war mit dem jungen Cavalier nicht zu vergleichen. Er war wohl auch noch jung, allein er hatte einen festen, derben Körper und ein dem entsprechendes Wesen, harte Gesichtszüge und eine hohe, knochige Stirn.
Du bist es, Hertner, rief der Doctor ihm entgegen. Das ist mir lieb, Dich endlich einmal zu sehen.
Es ist zwar eine ungewöhnliche Zeit, in der ich zu Dir komme, erwiederte der Fabrikant, aber ich muß mich nach meinen Geschäften richten, und da ich in Deiner Nähe war, benutzte ich dies, um mit Dir über etwas zu sprechen, was Dich zunächst angeht.
Was ist es denn? fragte Johannes.
Du sollst es gleich hören.
Er nahm einen Stuhl, setzte sich neben den Freund und richtete seine strengblickenden Augen auf ihn.
Dein Onkel ist gestern hier gewesen, begann er, dann ist er zu mir gekommen und auf seinen Wunsch mache ich Dir meinen Besuch, um mich nach Deinem Wohlbefinden zu erkundigen. Er ist in Sorgen um Dich.
Um mich! rief Johannes erstaunt. O! ich danke ihm und Dir; aber was glaubt denn der gute Onkel? Ich befinde mich sehr wohl.
Das glaubt er eben nicht, sagte Hertner, und ich glaube es auch nicht.
Du glaubst es nicht? rief Johannes lachend. Warum glaubst Du es nicht?
Weil Du Dich merklich verändert hast, fuhr der Fabrikant fort. Dein Gesicht ist länger geworden, Johannes, Deine Augen liegen tiefer. Dein Onkel meint, es müßte etwas auf Dich drücken, irgend ein Kummer. Hast Du Kummer, Johannes?
Kummer? Gott sei Dank, nein! rief der Doctor. Ich bin sehr vergnügt; warum sollte ich auch Kummer haben?
Hertner schwieg. –
Im Gegentheil, fuhr Johannes fort, ich möchte sagen, wenn es nicht vermessen wäre, ich habe zu viel Glück, denn es kommt mir entgegen, ohne daß ich es suche, und zwingt mir ganz unerwartet Gaben auf, wonach Andere vergebens streben.
Die unerwarteten Gaben des Glücks täuschen oft, erwiederte der Freund, Du lebtest bisher, ohne Dich viel um das zu kümmern, was die meisten Menschen Glück nennen.
Das ist wahr, aber es wird aufhören. Ich werde diese Zurückgezogenheit aufgeben, denn ich habe Aussicht eine einflußreiche Stellung zu erhalten, die Professur der Archäologie an der Universität. Der Minister will mich sehen, ich bin ihm dringend empfohlen worden.
Ich dachte, sagte Hertner in seiner ruhigen Weise, daß ich noch vor nicht zu langer Zeit von Dir gehört hätte, Du glaubtest nicht als öffentlicher Lehrer zu passen und hieltest es für Dein bestes Glück, in voller Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft zu leben.
Das mag sein! rief der Doctor ein wenig verlegen, aber darf man nur seinen Neigungen leben? Man muß sich so nützlich machen, als man es vermag, und dann muß man auch Ehrgeiz besitzen. Die Welt ist einmal so, mein lieber Rudolf. Ich kann ganz anders in solcher Stellung wirken, und für mich selbst dabei thätig sein, für meine Kinder, für meine Familie.
Also ehrgeizig bist Du geworden, und egoistisch auch, antwortete der Fabrikant.
Ehrgeizig, egoistisch, sagte Johannes – das sind keine Vorwürfe. Alle Menschen sind Egoisten und ehrgeizig, man muß es sein, es geht nicht anders. Bist Du es nicht auch? Willst Du nicht der Erste sein in Deinem Geschäft? Willst Du nicht möglichst viel Geld gewinnen? Bemühst Du Dich nicht, alle Anderen durch alle Mittel zu überflügeln, auf ihre Kosten Dich zu erheben?
Hertner nickte ihm zu.
Durch welche Mittel, fragte er dann, ist es Dir denn gelungen den Minister zu Deinem Beschützer zu machen?
Der Doctor stutzte und strich sich lächelnd über die Stirn.
So viel ich mich erinnere, fuhr Hertner fort, war der verstorbene Geheimrath, der bei dem Minister in hohem Ansehen stand, ein Gegner Deiner Kunstanschauungen, gegen den Du scharf geschrieben hast, und welcher durch seine Anhänger Dich alle einen gefährlichen Fantasten und unklaren Kopf verdammen ließ, der mit Hülfe der Kunst den modernen Zeitschwindel unterstützen wolle.
Das ist allerdings wahr, antwortete der Doctor, aber da siehst Du, Rudolf, was es nützt, wenn man sich mit einer einflußreichen Familie verbindet. Du weißt es ja, der Geheimrath von Köller ist Emma's Verwandter, und die gute Tante hat es bemerkt, daß er sehr freundlich zu uns ist. Die Tante ist ein wahrer Schatz von Lebensklugheit und Sorgfalt.
Also durch Weiberprotection und Verwandtschaft empfohlen, sagte Hertner. Ich kann mir die Wege nun wohl denken und glaube allerdings, daß es gehen wird, wenn Du Dich klug zu benehmen weißt.
Das sagte die Tante auch, und daran soll es mir nicht mangeln. Eben war der Schwager des Geheimraths bei mir, der im Kabinet des Staatskanzlers arbeitet.
Herr von Sternau, der ehemalige Gardeoffizier?
Ja wohl, er ist sehr geschickt und mir zugethan. Sobald meine Arbeit hier fertig ist, geht sie durch seine Hände an den Minister. Es ist nämlich eine Abhandlung über den Einfluß der Kunst auf Volkserziehung und Volksbildung.
So, sagte Hertner, das ist eine schöne Aufgabe; aber dieser Sternau hat nicht den besten Ruf. Ich habe zufällig davon gehört. Er soll leichtsinnig sein, Schulden machen, überhaupt ein lockeres Leben führen.
Der Doctor hörte aufmerksam zu, doch sein Gesicht wurde immer lächelnder und endlich schüttelte er den Kopf.
Er ist sehr liebenswürdig, erwiederte er, ein schöner Mann und jung, daher gefällt er; aber wer solche Vorzüge besitzt, wird am leichtesten verläumdet. Wenn das wahr wäre, würde er im Hause des Geheimraths nicht so beliebt sein, eben so wenig in manchen anderen vornehmen Häusern, selbst bei dem Staatskanzler, und die Tante würde ihn schön führen.
Er lachte und rieb sich die Hände, was er immer that, wenn er von einer Sache fest überzeugt war.
Hertner verzog dabei keine Miene.
Wie geht es denn Deinem kleinen Gotthold? fragte er.
Sehr gut geht es ihm. Der Junge wird bald ein Jahr alt. Siehst Du, Rudolf, wenn ich Professor bin, Director des Museums und Rath im Ministerium, kann ich einmal ganz anders für ihn sorgen.
Sorgst Du denn jetzt für ihn? fragte Hertner. Hast Du ihn gesehen?
Gesehen? Nein, seit einigen Tagen nicht. – Er ist ein wenig unwohl an den Zähnen, doch die Tante sagte mir, es habe nichts zu bedeuten.
Dein Onkel hat das Kind gestern gesehen, er meint es sei krank.
Krank? –
Er sah Hertner ungläubig an.
Es kann nicht sein, erwiederte er, die Tante würde es mir gesagt haben und Marie – von der hätte ich es auch erfahren. Sie ist sehr gut, sehr lieb.
Das ist sie, versetzte Hertner. Bei alledem aber könnte es doch sein, daß der arme Knabe sich übel befände, und der Onkel Recht hätte.
Ich glaube es nicht! rief Johannes, will aber doch mit der Tante sprechen.
Sprich doch zunächst, wenn Du selbst Dich überzeugt hast, mit Deiner Frau darüber.
Meine arme Emma ist heut recht unwohl, antwortete er. Das macht mir mehr Sorge, als das Kind. Aber Du mußt ihr doch guten Tag sagen, Rudolf; ich will mich erkundigen, wie es ihr geht.
Bleib, sagte Hertner ihn zurückhaltend, und als Johannes eine Einwendung machte, setzte er hinzu: Deine Frau ist nicht zu Haus.
Nicht zu Haus? rief der Doctor erfreut, dann ist ihr Kopfschmerz auch gewiß vorüber.
Sie ist mit der gnädigen Tante und dem Herrn von Sternau ausgefahren. Als ich die Straße herauf kam, rollte der Wagen bei mir vorüber.
Eine Spazierfahrt in die frische Luft, sagte Johannes freundlich. Der Tag ist schön, das wird ihr gut thun.
Du weißt also gar nichts davon?
Nein. Warum sollte sie mich stören? Und die Tante ist ja bei ihr. Die Tante sagt ganz richtig, eine Frau muß dem Manne gegenüber ihre Selbstständigkeit bewahren.
Und Du weißt auch nicht, wohin sie gefahren sind?
Wie sollte ich das wissen? Ich werde es nachher hören.
Ich kann es Dir sagen, erwiederte Hertner, denn ich erkundigte mich bei Peter, oder, wie er jetzt genannt wird, bei Franz, und er antwortete mir, daß, wie er gehört habe, die Fahrt nach dem Park ginge, wo ein Haus besehen und von der gnädigen Frau Tante gemiethet werden solle.
Ah richtig! rief der Doctor, das ist wahr, ich hatte es vergessen. Ja, lieber Rudolf, das ist nothwendig, denn wenn ich die Professur erhalte, so kann ich hier nicht wohnen bleiben. Ich wohne zu entlegen und muß dann doch manche Leute bei mir sehen, die nicht hierher kommen würden.
Das Eine folgt aus dem Andern, sagte Hertner.
Ja wohl, wir müssen und danach einrichten, aber da fällt mir ein, daß ich heut noch an Dich schreiben wollte. Ich brauche Geld dazu.
Und Du willst es von mir haben. Doch nicht sogleich?
Nein, aber doch bald, und wenigstens für jetzt etwas. Meine Kasse ist leer.
Leer? erwiederte Hertner verwundert. Vor nicht langer Zeit hast Du eine ansehnliche Summe empfangen; Alles, was Du zu fordern hattest.
Aber ich habe wirklich nichts mehr davon.
Hertner sah ihn scharf an. Der Doctor lächelte verwirrt; es war ihm, als drängen die Blicke seines Freundes pfeilartig in ihn ein.
Es ist Alles fort, wiederholte er, Du wirst aushelfen müssen.
Wie viel? fragte der Fabrikant.
Tausend Thaler, sagte der Doctor rasch. Wenn ich das Haus verkaufe, zahle ich sie Dir zurück, auch was ich weiter brauchen werde.
Du sollst das Geld morgen erhalten, erwiederte Hertner. In Betreff dessen, was Du weiter brauchst, überlege erst, was Du thust.
Die Tante wird es einrichten, antwortete Johannes, mit Emma zusammen. Meine arme Emma ist so leidend, sie muß frische Luft haben, und im Park ist die Luft am besten.
Möchtest Du nicht mit Deinem Onkel zunächst darüber sprechen? Willst Du ihn nicht besuchen?
Gerne, gewiß will ich! versetzte der Gelehrte. Es wird ihm zwar nicht ganz recht sein, ich weiß, er wird Einwände machen, allein ich werde ihn überzeugen. Sage ihm nur zunächst, was mir bevorsteht und was ich vorhabe, mein lieber Rudolf. Du bist einsichtig und kennst die Weltverhältnisse. Der Onkel ist herzensgut, aber er ist alt, und zuweilen doch wunderlich in seinen Vorurtheilen.
Was nennst Du Vorurtheile?
Er mag die Tante nicht leiden. Ich glaube fast, er zürnt darum auch auf Emma, und das thut mir doppelt weh, denn Emma ist das Liebste und Beste, was ich auf Erden besitze.
Ich werde mit Deinem Onkel reden, erwiederte Hertner seinen Hut nehmend, indem ich Dich aber jetzt verlasse, höre ein letztes Wort, Johannes. Wer sich thatkräftig im Leben zeigen will, muß die Augen offen haben, und weder schwach gegen sich selbst sein, noch die Schwächen anderer Menschen verkennen. Thue also Deine Augen auf. Was die Menschen Güte nennen, ist häufig bedauerliche Schwäche. Auch die Liebe darf nicht schwach sein. Gott befohlen, Johannes!
Meine arme Emma! flüsterte der Doctor von der Thür zurückkehrend, sie sind dir nicht zugethan, ich merke es wohl; aber sie kennen dich nicht, und sie wissen nicht, fügte er noch leiser hinzu, daß dein Glück mir über Alles geht.