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Kapitel I.

Es ist einige Jahre her, als an einem heiteren Octoberabend ein junger Mann, der ein grünes elegantes Ränzel von Wachstuch an weißen Bändern auf dem Rücken und einen tüchtigen Reisestock in der Hand trug, ein lustiges Lied auf der Landstraße pfiff, welche nach dem mecklenburgischen Städtchen Friedland und von dort nach Preußen hinüberführt.

Die Sonne sank auf ein herbstliches Land, das in diesem Jahre früher, als gewöhnlich, die Zeichen des herannahenden Winters trug. Nachtfröste hatten die Blätter gebräunt, über die kurzen steifen Büschel des Grases lagen die glänzenden Fäden der Läuferspinne, welche als zahllose weiße Fähnchen auch von den Weiden und Erlenzweigen im Winde flatterten. Kein menschliches Leben regte sich auf dieser weiten von Wiesen und Seen bedeckten Ebene, aber aus den Abendnebeln stieg in der Ferne die blanke Spitze eines Kirchthurms auf, dessen Anblick den einsamen Wanderer wohlthätig erwärmte; denn er zeigte ihm die näher rückende Stadt an und sicherte ihm alle die Reize, welche ein Gasthaus in Mecklenburg bietet, wo die Fleischtöpfe Egyptens immer gefüllt am Feuer stehen.

Während der jugendliche Wanderer seine Schritte verdoppelte, weil die Dämmerung sichtlich zunahm, wurde er von Krähenschwärmen begleitet, die aus den Bäumen an den Weihern aufflatterten und mit mißtönigem Gekrächz als Herolde ihm voraufzogen. – Nach und nach war er von einer ganzen Wolke der schwarzen Vögel umgeben, über deren Lärm er sich ärgerte. Sie flogen von Baum zu Baum, stäubten auf, wenn er näher kam und ließen sich auf einen andern nieder, wo sie ihn erwarteten. –

Was wollt ihr denn von mir? rief er endlich ärgerlich aus, was verlegt ihr meine Straße, ihr räuberischen Gesellen? – Ich fühle eine Art Grauen vor euren glänzenden Augen, Schnäbeln und Krallen. – Sagt man doch von euch Galgengesindel, daß ihr die Leute wittert, deren Fleisch euch über lang oder kurz zur Speise dienen soll. – Darum fort mit euch, ich will euch den Irrthum austreiben!

Er warf seinen Stock nach den Thieren hoch in die Luft und der Schwarm flatterte mit rauhem Geschrei davon.

Als er den Wanderstab lachend wieder aufhob, hörte er hinter sich das Getrapp eines Pferdes, und wie er umblickte, war ein leichtes Fuhrwerk nahe bei ihm. Es war ein Kabriolet, in dessen Gabel ein stark gebautes, graubraunes Pferd ging, deren leichter und schneller Paß ausdauernde Tüchtigkeit anzeigte. Auf dem Sitz des Wagens zwischen den hohen Rädern saß ein langer dürrer Mann, bis ans Kinn in einen gelben Ueberzieher eingeknöpft und um die untere Hälfte seines mageren Gesichts einen bunten Wollshawl gewickelt. Sein Hut, tief in die Stirn gedrückt, verhüllte diese fast ganz; nur die spitze Nase, ein starker Backenbart und zwei schwarze Augen mit stechenden Blicken guckten daraus hervor. Als er dicht an dem Reisenden war, knallte er mit der Peitsche und ließ das Pferd ein wenig langsamer gehen.

Verdammt kalt, junger Herr, sagte er mit tiefer Stimme, indem er den Hut zum Gruße rückte.

Mag sein, wenn man fährt, erwiederte der zu Fuß und schwang den Stock um die Hand.

Der Herr im Kabriolet lächelte. – Sie wollen auch nach Friedland? fragte er auf den fernen Thurm deutend.

Um allda Frieden zu schließen für heut' mit meinen müden Beinen.

Das grinsende Lächeln im Gesicht des Mageren wurde noch stärker. Kurios gesagt, rief er. – Und wohin geht's morgen, wenn man fragen darf?

Ueber die Grenze. Ich denke, sie kann nicht weit sein.

Der Herr des grauen Pferdes zeigte mit seiner Peitsche seitwärts, wo am Rande des Gesichtskreises eine Leiste von Wald heraufdämmerte. Dort läuft sie durch die Erlenbrüche, sagte er. – Schlimmes Land das, junger Herr. Man muß es genau kennen, um durchzukommen.

Aber es führt eine breite Straße hinüber, erwiederte der Reisende.

Freilich wohl, sagte der Andere. Die Straße ist da groß genug, aber zu breit für Manchen, der es vorzieht, seinen eigenen Weg zu suchen. – Können die Krähen auch nicht leiden, junger Herr?

Man kann bei dem verwünschten Geschrei keinen Gedanken fassen.

Bah! schreien möchten sie immerhin, rief der Herr im Kabriolet, aber sie fliegen auch, die Bestien, und wer ihre Natur kennt, kann leicht die Spur eines Menschen verfolgen durch das ganze Heideland, von Busch zu Busch. Der Wald wimmelt von den garstigen Creaturen, die aus ganz Deutschland der Teufel hieher führt, um an den Seen zu überwintern. Man muß in der Nacht reisen, wenn man Ruhe vor ihnen haben will.

Nun, sagte der Wanderer, ich denke diese Nacht so sanft und fest zu schlafen, daß hunderttausend Krähen mich nicht aufwecken sollen.

Löblicher Vorsatz das, junger Herr, versetzte der Magere, indem er mit seinem langen Kopfe ihm lächelnd zunickte, und damit Sie schneller ins Bett kommen, so steigen Sie auf und fahren mit bis vor's beste Wirthshaus des Nestes.

Der ermüdete junge Mann ließ sich dies Anerbieten gern gefallen. Im nächsten Augenblick lag sein Ränzchen im Kabriolet, er selbst saß auf dem bequemen Polster und die graue Stute griff mächtig aus.

Nun lassen Sie uns Bekanntschaft machen, sagte sein Nachbar. Nehmen Sie eine Cigarre, wir wollen die Friedens- und Freundschaftspfeife rauchen.

Er zog eine schöne mit Perlen bestrickte Cigarrenbüchse aus der Tasche, schlug Feuer und ließ den blauen Dampf in die Luft wirbeln, ein Beispiel, dem sein Gast gern und sogleich Folge leistete.

Ein herrliches Kraut! rief er freudig nach den ersten Zügen. Echte Amerikaner!

Und billig, wie Alles in diesem gesegneten Lande, fiel der Magere mit einem schlauen Wink ein. Grenzen und Zölle hat der Teufel erdacht.

Oder ein Finanzminister, warf der Reisende lachend ein.

Was ein und dasselbe ist, entgegnete der Magere, bedächtig die Asche an der Wagenlehne abklopfend. Aber wer sind Sie, junger Herr?

Sind Sie ein Grenzwächter? fragte dieser zurück.

– Wenigstens habe ich einiges mit der Grenzwache zu thun. –

– Ah so und ich soll den Paß vorzeigen?

Ich hoffe, Sie besitzen solchen Wisch mit einem Steckbrief in bester Form, ohne den jeder ehrliche Mann ein Schurke, wie mit ihm jeder Schurke ein ehrlicher Mann ist.

Hier ist er, erwiederte der Reisende, die Hand in seine Tasche steckend; allein er zog sie sogleich bestürzt wieder heraus, und nachdem er rasch suchend ein paar andere Stellen feines Kleides durchmustert, rief er erschreckt:

Wo ist das verdammte Papier? Ich habe es verloren!

Verloren? sagte der lange Herr spöttisch. – Schlimme Sache das! Wissen Sie wo?

Ich hatte es heut' Morgen noch. – Ich heiße Gustav Wilberg, bin Doctor der Rechte, komme aus Rostock und will nach Berlin. – Was ist da zu machen?

Haben Sie das Reisegeld etwa auch verloren? fragte der Magere mit scharfem Tone.

Glücklicher Weise, nein!

So gibt es zwei Wege. – Entweder Sie melden ihren Verlust der Bürgermeisterei und warten ruhig ab, ob Ihr Paß sich wieder findet oder nicht, bis man endlich in hergebrachter Weise nach einigen Tagen oder Wochen sich überzeugt hat, daß Sie wirklich unverdächtig sind, und Ihnen einen neuen Versicherungsschein darüber ausstellt, oder Sie gehen heimlich, ohne Paß über die Grenze, setzen Ihre Reise fort und sagen erst in Berlin, daß Sie keinen mitgebracht haben.

Aber die Grenzbeamten?!

Die müssen Sie freilich vermeiden, doch es ist ja nicht das erste Mal, daß denen hier eine tüchtige Nase gedreht wird. –

Der magere Herr lachte verächtlich auf, dann fuhr er fort:

Ohne Paß kömmt Keiner über die Grenze, so steht es geschrieben; ist man jedoch erst hinüber, so kann man ganz hübsch und unangefochten weiter kommen, nur muß man das Fußwandern aufgeben, denn solche Reisende sind immer verdächtig. Arm sein und Verbrecher, das ist so ziemlich einerlei in dieser Welt. Sie gefallen mir aber, junger Herr, und ich will Ihnen einen Dienst erweisen, wenn Sie diese Nacht nicht schlafen wollen. – Ich bin ein alter Soldat, Offizier aus dem letzten Kriege, lebe von meinem Gelde, heiße Rintel, wohne dort jenseit der Brüche und Waldstriche und kenne jeden Busch. – Ich will Sie mitnehmen und kein Grenzjäger soll uns begegnen. Wollen Sie? –

Mit dem größten Vergnügen, sagte Gustav, erfreut über diese Theilnahme.

Der magere Herr schob schweigend die Decke vom Fußbrett des Kabriolets, drückte an eine Feder und öffnete dann eine Klappe. Sein Schützling sah neugierig zu. Das Gestell hatte einen doppelten Boden, der mit allerlei Päckchen und Schachteln gefüllt war. Oben auf lagen ein Paar Pistolen mit blanken Messingkolben, die der magere Herr vorsichtig herausnahm und einen englischen Regenmantel nachzog. –

Legen Sie Ihren Tornister und den Staubkittel dort hinein, sagte er; in Friedland darf das Niemand sehen. Dann hängen Sie meinen Mantel um, er wird Sie besser schützen, als das Hemd, und Ihnen den Schein eines Lustreisenden geben, der gelegentlich eine Fahrt über die Grenze machte. Dort kommt ein Mensch hinter den Bäumen Herauf. Schnell!

Der junge Mann faßte in diesem Augenblick ein Mißtrauen gegen den uneigennützigen Herrn, aber er befolgte doch dessen Anordnungen. – In der nächsten Minute saß er in den Mantel gehüllt auf dem Polster. Rintel hatte die Klappe im Kabriolet geschlossen, und das graue Pferd wieherte dem Mann entgegen, welcher hinter den Weiden hervortrat und sie zu erwarten schien.

Es war ein rüstiger Gesell in Bauerntracht mit wettergebräuntem Gesicht. Der Blick seiner Augen war schnell und scharf, und wie er auf seinen langen eisenbeschlagenen Stock gestützt langsam an den Wagen trat, glich er weit eher einem kühnen Wegelagerer, als einem gutmüthigen Landmann, der in sein friedliches Dorf zurückkehren will.

Dicht an dem Reisenden zog der Mann seinen breitgekrämpten Hut und bot mit rauher Stimme einen guten Abend. Ein zerrissener gelber Mantel hing über die herkulischen Schultern des Bauers und wurde vom Nachtwind getrieben, der das lang flatternde röthliche Haar in großen Büschen ihm über Stirn und Nacken warf. Wilberg fühlte ein heimliches Grauen, als dieser Mensch eine seiner gewaltigen Hände dicht an ihm auf die Lehne des Wagens drückte, den sein Begleiter angehalten hatte. Sein plumpes Gesicht war roh, gemein und voll starrer Gleichgültigkeit, welche von den beweglichen schlauen Augen Lügen gestraft wurde. Er sah ganz aus, wie Einer, der, ohne zu erschrecken, ein Verbrechen begehen kann.

Nun? sagte der magere Herr und sah den Bauer forschend an.

Es ist alles in Ordnung mit uns, versetzte dieser, aber – er warf einen durchdringenden Blick auf den Fremden. – Soll ich reden, Herr?

Versteht sich, rede, rief Rintel ungeduldig.

Es ist nicht Alles, wie es sein soll, Kapitain. Drei Blaukragen sitzen im weißen Lamm – ich denke, es liegt in dieser Nacht ein Hund im Walde.

Aha! und habt Furcht vor ihm! –

Der große Kerl verzog sein Gesicht zum Lachen und zeigte zwei Reihen glänzender Wolfszähne.

Furcht? sagte er. Sie kennen mich, Kapitain. Gott verdamm mich! Aber halt Herr! fuhr er fort, es ist eine junge Dame da im Lamm, die Sie bitten läßt, einen Umweg zu machen.

Der Kapitain warf einen fragend schnellen und finstern Blick auf seinen Vertrauten. Dummes Zeug, das! murmelte er vor sich hin. Gott befohlen Sanders, und großen Dank! –

Er gab dem Pferde einen leichten Streich, der Wagen rollte schnell davon. Der magere Herr starrte vor sich hin in Gedanken vertieft, und hörte kaum auf seinen Reisegefährten, der die trefflichen Eigenschaften der Stute pries.

Erst nach einer langen Pause sagte er: Es ist das wackerste Pferd, das ich kenne. Gekreuztes Blut, unermüdlich, riecht es jedem an, ob er Freund oder Feind, und ist klug, wie der schlauste Pascher. Sie könnten dreist sich seiner Leitung überlassen und würden glücklich hinüberkommen.

Es wird viel Schmuggelverkehr hier getrieben? fragte Gustav aufhorchend.

Ohne Zweifel und ist kein Wunder, versetzte der Kapitain, indem er das Pferd von der Straße ab auf einen Seitenweg lenkte. – Man zieht Schlagbäume und sagt Leuten, die im Schweiße ihres Angesichts ein mühselig Stück Brod verdienen: Ihr bezahlt hier zwar eure nothwendigen Lebensbedürfnisse doppelt und dreifach so hoch als ihr sie drüben haben könntet, aber wehe euch, wenn ihr euch einfallen laßt, dort billig zu kaufen. Wir haben Zuchthäuser, euch das abzugewöhnen. Glauben Sie, daß die Armuth davor erschrickt?

Sie wünscht vielleicht auf Staatskosten ernährt zu werden, erwiederte Gustav lachend.

Keinen Scherz, junger Herr, wo es sich um die Noth des Volks handelt, fiel Rintel mit strengem Ton ein, aber ich merke, Sie gehören zu denen, die nichts davon wissen und nie darüber nachgedacht haben, wie denen zu Muth ist, die hungern müssen. Recht und Gesetz sind verschiedene Dinge in der Welt. Warum kann es nicht jenseit eines Grabens eben so sein, wie diesseits? Wer trennt die Menschen und zwängt sie in Ketten? Zwang und Gewalt verleihen kein Recht. Jeder, der es vermag, ist befugt jene zu zerbrechen. Recht wurzelt im Gewissen, Zwang in der Furcht, wer nichts fürchtet, verachtet den Zwang.

So lebt er im Kriege mit dem Gesetz, das ihn straft, sagte der junge Doctor der Rechte.

Wenn es ihn hat und fest hält, erwiederte der Kapitain spöttisch lachend. – Was der Zwang hilft, sehen wir alle Tage. Hunderte wandern in die Zuchthäuser, und Tausende gehen in nächtlicher Stille mit schweren Packen belastet statt ihrer durch den Wald. Die meisten tragen Salz, Fleisch und ärmliche Waare zum leidigen Bedarf des Lebens; sie verdienen ein Geringes gegen die schrecklichen Gefahren, welche ihrer warten. – Wenn Sie sehen sollten, junger Herr, wie sie durch Sumpf und unwegsames Gestrüpp klettern, wie sie keuchen, wie ihr Schweiß in Strömen fließt, wie ihre Seufzer ihre Noth anklagen, Sie würden Mitleid empfinden und fragen: warum muß es so sein? – Wenn die erschöpften Männer in stürmischer Nacht auf feuchtem Boden liegen, schließen sich ihre Augen nicht zur Ruhe. Jeder Athemzug stockt, wenn aus Busch und Graben ein Vogel aufflattert. Plötzlich taucht aus dem Rohr eine menschliche Gestalt. Es ist ein Grenzjäger, der seit sechs Stunden vielleicht hier im Schlamm versteckt lag, nicht minder gequält von unsern Gesetzgebern, die auf Bällen und Festen in Champagner und Liebe schwelgen oder fest schlafen, wie der arme Pascher, dem er auflauert. – Das ist ein Krieg auf Tod und Leben, der das Volk entsittlicht. – Es ist keine Woche, daß ich an der Leiche eines Mannes stand, über welchen ein blasses, elendes Weib und fünf schreiende Kinder lagen; nicht drei Tage sind es und ich sah den Zöllner, der ihn erschossen, mit zerschmettertem Schädel aus dem Walde tragen. Seine Wittwe rief den Himmel vergebens um Rettung und Erbarmen an. – So verwildern die Herzen, die Rache geht Zug um Zug, die Moral im Volke stirbt. – Einen Dieb haßt jeder, für einen Pascher hat die Menge Mitleid, denn das Volk fühlt tief in seinem Herzen, was Recht und Unrecht ist. – Warum also diese Barbarei? Um das Gesetz aufrecht zu erhalten. – Es ist ein schlimmes Gesetz, junger Herr, das den Armen verdammt, theuer zu bezahlen, was er fünf Schritte weiter für den halben Preis haben kann. Heißt das nicht dem Hungrigen Brod zeigen und ihm die Hand abschlagen, wenn er danach greift?

Aber sollten nicht auch manche Reichere ein wenig schmuggeln, fragte Gustav, und theure Gegenstände des Luxus hinüber bringen?

Das schelmische Lächeln im Gesicht des jungen Mannes, das seine Worte begleitete, erstarb vor dem funkelnden Blick des Kapitains.

Oho! rief er rauh und spöttisch, finden Sie das Unrecht, junger Herr, wenn man gern seinen Thee wohlfeil trinkt, seine Cigarren gut und billig raucht, oder ein schönes Kleid von englischem Stoff für wenig Geld tragen will? – Haben Sie solch zartes Gewissen? – An der Grenze, Blitz und Stern! lautet die Sprache anders. – Laßt die großen Herren ihre Gesetzmacherkünste ändern, laßt Handel und Wandel frei, laßt jeden kaufen, wo er es am billigsten findet, laßt die Völker eine große Familie werden, hemmt nicht künstlich, was natürlich ist, und laßt endlich die Reichen Steuern zahlen, damit auch der Arme sich des Lebens freue, damit er kein bloßes Lastthier auf Erden sei. – Wie gefällt Ihnen diese Sprache, junger Herr? Was sagen Sie zu diesen Ideen? – Wer hat Recht? Wer begeht Verbrechen und trägt die Schuld des Unglücks und des vergossenen Bluts?!

Eine wilde Entschlossenheit lag in dem Gesicht des Kapitains. Der junge Mann wagte es nicht, ihm zu widersprechen.

Endlich sagte er begütigend: Es wird anders und besser werden, wenn die Kultur so rasch fortschreitet, wie es jetzt der Fall ist.

Kultur! rief der magere Herr verächtlich. Was hilft das dem armen Volk? Macht das besser, veredelt es, gebt ihm sein Recht und schlagt die hochmüthigen Kasten zu Boden, die Alles für sich haben wollen.

Wenn einst die Eisenbahnen ein großes Netz über Europa spannen, fuhr Gustav fort, dann müssen die Völker sich innig verbinden und das eine sich durch das andere zur wahren Freiheit erheben.

Ein lautes Lachen seines Gefährten war die Antwort. Dazu gehört ein Jahrtausend, rief er, und sie sind erfinderisch die Gewaltigen und ihr Anhang. – Sie werden die Armen drücken, plagen und knechten, bis einmal die Peitsche sich umkehrt und die Spitze über sie selbst kommt. – Baut immerhin Eisenbahnen und Dampfmaschinen, sie werden Grenzdampfmaschinen entdecken, die mit einem einzigen Griff sämmtliche Taschen, Kisten und Kasten öffnen und umkehren. Laßt den Luftballon uns regieren lernen, und sie führen eine Luftgrenze, Luftzollämter und Luftgensdarmen ein. – Von innen heraus muß es kommen, junger Herr, von unten herauf; von oben herunter kömmt's nimmermehr. – Die Maschinen thun nichts, ändern nichts, machen's Elend nur noch größer, aber der Gedanke, die lebendige Empfindung, das Rechtsbewußtsein im Volk, die müssen endlich das Recht erzwingen. Doch bis dahin, murmelte er vor sich niederblickend, sind wir Alle todt und vergessen, und somit helfe sich denn, wer kann.

Der Wagen war inzwischen über den Feldweg auf den Damm gelangt, der von der entgegengesetzten Seite in die Stadt führte.

Nun aufgepaßt, junger Herr, sagte der Kapitain, nachdem er längere Zeit geschwiegen. Ich führe Sie an einen Ort, wo es zuweilen bunt genug hergeht. Alles was Sie sehen und hören, geht Sie jedoch nichts an. Sie wissen nichts und mischen sich in nichts, je weniger Sie dies thun, um so besser für Sie. Sie sind mein Vetter, wir haben Freunde besucht und wollen zurück. Morgen, übermorgen, Sie können es nicht sagen.

Er trieb die Stute an und rasch ging es durch die Straßen. Das Halbdunkel des Abends sank dämmernd nieder, und der letzte rothe Himmelsschein beglühte die Giebel der Häuser, aus deren Fenstern schon die Lichter glänzten. Dann und wann steckte sich ein neugieriger Kopf heraus und verfolgte das Kabriolet, aber der Kapitain sah weder rechts noch links. Er fuhr quer durch das Städtchen und zum andern Thore hinaus, an Hütten und Scheunen vorüber, und ließ das Pferd erst langsamer schreiten, als er dicht an einem großen Gehöft mit Quergebäuden und Stallungen war.

Vor dem Hause standen Bäume, die einen Platz einschlossen, auf welchem eine ziemlich große Zahl lustig lachender und schreiender Menschen versammelt war, die einen Reiter umringten, einen wohlbeleibten stattlichen Herrn in grünem Rock, Pistolen in den Halftern und eine schwere Reitpeitsche in der Hand, welche er wie einen Commandostab gebrauchte, um seine eindringlichen, lautschallenden Worte zu unterstützen.

Der Kapitain warf einen schnellen Blick auf die Gruppe und murmelte dann etwas vor sich hin, was wie ein Fluch klang; plötzlich aber beugte er sich zu seinem Pferde nieder und gab ihm einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterschenkel, was zu Gustavs Erstaunen die augenblickliche Wirkung hatte, daß sich der rasche Schritt des Thieres in einen schleppenden verwandelte, der von äußerster Ermüdung zeigte. Es hing die Ohren und den Kopf tief nieder, zog den Schwanz ein und den einen Fuß hinkend nach.

Der Herr im grünen Rock gewahrte jetzt das Fuhrwerk, das dem Gasthause langsam näher rückte, und sogleich ritt er aus dem Kreise hervor und lenkte sein Pferd darauf zu.

Sieh da, Kapitain Rintel, rief er schon von weitem. Haben auch einen Ausflug gemacht, wie ich denke, und ich kann nun die Ehre haben, mit Ihnen zurückzukehren.

Verdammter Streich, erwiederte der Kapitain ärgerlich, indem er dem grünen Herrn die Hand schüttelte. – Dumme Geschichte das, werther Freund. – War mit meinem Vetter hier zum Besuch aus – ein Vetter aus Berlin, gestern bei mir eingetroffen. – Herr Doctor Wilberg, Herr Obersteuer-Inspektor von Baben.

Freut mich die Ehre zu haben, Herr Doctor, sagte der Obersteuer-Inspektor und lüftete die Mütze.

Ich gäbe viel darum, lieber Baben, wenn ich Sie begleiten könnte, fuhr Rintel fort, habe bestimmt versprochen heut Abend wieder zu Haus zu sein, wird mir plötzlich das Pferd lahm. – Hausknecht! schrie er mit gewaltiger Stimme, und ein Kerl in Schürze und Hemdsärmeln eilte herbei, – spanne aus, komme gleich in den Stall, gute Streu gemacht, wollen die Füße nachsehen, ganz dumme Geschichte das.

Mit diesem Schwall von Worten warf er Zügel und Peitsche fort, sprang dann vom Sitz auf die Erde, dicht neben dem Grenzbeamten, dem er einige leise Worte zuflüsterte. –

Ich komme und zähle die Häupter meiner Lieben, erwiederte der gemüthliche alte Herr lachend. Hier ist der Ort, wo man sicher sein kann, keinen zu vermissen, der nicht selbst sitzt und der Stunde harrt, wo er das gesetzlose Leben wieder anfangen kann. Da halte ich denn von Zeit zu Seit Musterung und ermahne zur Besserung und Tugend, ohne einen dieser Sünder bekehren zu können.

Ein paar aus dem Haufen der Menschen, die wieder um sein Pferd sich gesammelt hatten, lachten laut auf, der Grenzbeamte aber hob warnend die Hand mit der Peitsche auf und sagte strafend: Ihr seid und bleibt doch nichtsnutziges Gesindel. Da ist keiner unter Euch, der nicht lange reif zu Block und Kette wäre. Schlimm für Euch, wenn Ihr dazu jubelt, uns die Sorge um Euch und Euch die Reue nicht erspart. – Ich habe Euch Freunde genannt und mit euch getrunken, denn hier ist neutrales Gebiet, wo wir gute Freunde sein dürfen, dort drüben aber – er deutete ins Land hinaus – nehmt Euch in Acht; wenn wir uns da begegnen, soll Euch das Lachen vergehen.

Wir werden schon sorgen, daß es nicht geschieht, sagte eine tiefe Stimme, und ein großer zerlumpter Kerl verbeugte sich spöttisch dazu. –

Gustav erkannte den Bauer, der dem Kapitain Nachricht gebracht hatte, und der grüne Herr kannte ihn auch.

Du, Sanders, rief er ihm zu, hast Dich am meisten in Acht zu nehmen. Du weißt, wir hatten Dich sechs- ober siebenmal. Beim nächstenmale wird sich das Zuchthaus sobald nicht wieder vor Dir öffnen.

Darum, Herr, schrie der Kerl frech und trotzig, sehen Sie ja zu, daß Sie mich festhalten, wenn Sie mich haben. – Warum wollen wir aber von so häßlichen Dingen sprechen? Es ist Zeit genug, wenn's so weit ist. Sie sind ein Herr, der's gut meint mit armen Leuten und eine bittre kalte Nacht wird's werden. – Er schüttelte seinen großen Körper, und indem er die Hand vertraulich auf das Sattelkissen des Pferdes legte, sagte er: Lassen Sie uns einen Abschiedstrunk geben, Papa.

Spitzbuben! rief der Beamte, soll ich Euch etwa noch Muth zu Euren Verbrechen machen?

Die wilden Menschen schrien, lachten und schwangen ihre Mützen. –

Wir wollen auf Ihre Gesundheit trinken, Papa, riefen sie, und auf einen guten Fang.

Gefangen sollt Ihr werden, sagte der Steuer-Inspektor, aber wenn Ihr nicht anders wollt, so geht und trinkt auf meine Kosten, ich will es bezahlen und mich bezahlt machen. – Heda, rief er dem Wirth zu, der an der Thür stand, geht ihnen ein paar Kannen von dem abscheulichen Gifte, das so viel Unheil über die Welt ausschüttet, und nun macht, daß Ihr fortkommt. –

Die Pascher riefen ihrem Wohlthäter ein Hurrah zu und eilten in das Wirthshaus, der alte Herr aber schüttelte den Kopf und sagte fast traurig: Du mein Gott! was soll noch aus der Welt werden! Mit jedem Tage wird es ärger und ist kaum mehr auszuhalten; die Halunken werden immer frecher und wilder. Denken Sie, Kapitain, da sind meine Jäger zum Beispiel einem Kabriolet auf die Spur gekommen, das ohne Zweifel mit englischen, theuren Waaren, die den höchsten Zoll geben, vollgestopft ist.

Oho! Kurios das, erwiederte Rintel kopfschüttelnd.

Ja, kurios genug, fuhr der Zollinspector fort, aber eine Schande ist's, daß so etwas geschieht. – Mit solchen armen Gesindel, wie dies hier, deren elende Packen nicht viel enthalten und deren Begriffe von Recht und Unrecht nicht weit her sind, hat man wohl dann und wann ein bischen Erbarmen, wenn aber Menschen von größerer Einsicht und Bildung solche schandbare Dinge thun, so ist die äußerste Strenge nöthig.

Sollten suchen den tollen Patron zu fangen.

Er kann sich in Acht nehmen. Wenn ich ihn kennte, würde ich ihn warnen, wie ich das immer thue aus Pflicht und Gewissen. – Aber da fällt mir ein, Kapitain, Sie fahren ebenfalls seit einiger Zeit ein Kabriolet. Wo ist es denn geblieben?

In den Schoppen gezogen, haben hier Hände für Alles, sagte Rintel. Ist vielleicht auch ein Kabriolet mit doppeltem Boden! Wollen Sie es ansehen? – Der Ton seiner Stimme war so spöttisch wie möglich, und der Zollbeamte schien es übel zu nehmen. – Wenn's jenseit der Schlagbäume wäre, würde ich mich nicht bitten lassen, rief er aus, trotz unserer alten Kameradschaft vom Kriege her; so aber wär's eine unnütze Mühe. – Auf Wiedersehen also, Kapitain, ich hoffe, wir besichtigen es bald einmal mit größerer Muße bei mir zu Hause. –

Er schüttelte seinem Bekannten die Hand und wandte dann sein Pferd in den dunklen Abend.

Einige Augenblicke stand Rintel in tiefen Gedanken, bis der Hufschlag verhallte, dann faßte er die Hand seines Schützlinge und sagte gleichgültig: Alter Narr, der Baben, aber er meint es gut. Kommen Sie in's Haus, junger Herr, ich will Sie mit meiner Tochter Anna bekannt machen, wird sich freuen den neuen Vetter zu sehen.

Dem jungen Mann war bei allen diesen Verhandlungen nicht besonders wohl zu Muthe. Er sah sich in ein gefährliches Treiben verwickelt, denn er zweifelte nicht im Geringsten mehr, daß sein wohlwollender Freund ein Theilnehmer, wo nicht gar das Haupt dieser verwegenen Bande von Paschern sei. Widerstrebend folgte er ihm, weil er nicht das Herz hatte, ihm zu sagen, daß ihre Wege sich scheiden müßten. An der Thür des Hauses stand der riesige Pascher im gelben Mantel.

Zeige dem Herrn da, wo mein Zimmer liegt, sagte der Kapitain. Folgen Sie dem Mann, Vetter, und sagen Sie Anna, ich käme sogleich Ihnen nach.

Er sprang die Stufen hinauf in's Haus, Sanders dagegen führte unseren Abentheurer über den Hof an den Eingang eines langen Seitengebäudes.

Nur hier die Treppe hinauf, Herr, sagte der Pascher, indem er eine Thür öffnete; dann rechts, es brennt Licht im Zimmer bei der jungen Dame.

Langsam stieg Gustav hinauf und horchend blieb er stehen, als die Klänge eines Klaviers ihm entgegen tönten. Eine helle schöne Stimme begleitete die Melodie eines Volksliedes, verlor sich aber bald unter langen stürmischen Accorden. Die unsichtbare Sängerin regte die Neugier des Lauschenden lebhaft an. Eine Minute früher war er fest entschlossen gewesen, an der Schwelle umzukehren, den Kapitain zu erwarten, sein Reisegepäck von ihm zu fordern und sich von ihm zu trennen. Plötzlich aber überwältigte das Verlangen, die Tochter des kühnen Mannes kennen zu lernen, alle seine guten Vorsätze.

Er klopfte, und als er keine Antwort erhielt, trat er hinein. Bei dem leisen Knarren der Thür wandte die Dame, welche an der andern Seite des Zimmers noch am Instrument saß, den Kopf nach ihm um. Lebhaft sprang sie auf und eilte mit den Worten: Da bist Du endlich, mein lieber Herzenspapa! ihm entgegen. Aber schon nach den ersten Schritten erkannte sie ihren Irrthum, und die lachenden Züge ihres Gesichts verwandelten sich in Erstaunen und Befremdung. –

Ueberrascht und verlegen blieb Gustav vor ihr stehen und murmelte einige Worte der Entschuldigung. Er gehörte sonst nicht zu den Blöden und Befangenen und hatte seine gesellschaftliche Geschmeidigkeit in manchem Salon geübt, allein diesmal war es die gänzliche Täuschung seiner Vorstellungen, die ihn so stumm machte. –

Statt des großen, feurigen Mädchens mit kühnen Augen und stolzen Blicken, die er zu finden hoffte, sah das unschuldigste Gesichtchen ihn an, das er je gesehen hatte. Zart und fein mit schalkhaften blauen Augen und dunkelblonden lockigen Flechten, schien sie kaum aus der Mädchenschule entlassen zu sein, und dieser geschmeidige kleine Körper besaß so gar nichts von einer Dame, die nächtlich, durch Moor und Heide jagend, dem Gesetz trotzt, daß Gustav das Zimmer verfehlt zu haben glaubte.

Verzeihen Sie, sagte er, ich habe einen Auftrag auszurichten, einen Auftrag – allein ich besorge –

Sie tragen den Mantel meines Vaters, erwiederte das Fräulein, ohne Zweifel kommt der Auftrag also von ihm.

Dann sind Sie also wirklich Fräulein Anna?

Mit Ihrer Erlaubniß, ja, mein Herr, sagte die Dame lächelnd, und ihre hellen Augen richteten sich mit dem Ausdruck gutmüthiger Spottlust auf sein verwundertes Gesicht.

So habe ich die Ehre, mich Ihnen als Vetter vorzustellen. – Ein Vetter der Landstraße, ein Vetter der großen Vetterschaft, die bis in's Paradies reicht. –

Er verbeugte sich, und der Mantel des Kapitains, der ihm zu lang war, legte sich weit auf den Fußboden.

Die kleine Dame hatte ein Licht vom Tisch genommen und beleuchtete den seltsamen Vetter. In ihrem schwarzen, faltigen Seidenrocke verbeugte sie sich ebenfalls mit würdiger Langsamkeit, dann aber brach sie plötzlich in lautes Lachen aus, und Gustav stimmte volltönig ein. Es war ihm, als könne er eben nicht anders thun. Das hübsche Mädchen sah ihn so zutraulich, wohlwollend an, ihr ganzes Wesen war so offen und frei von aller fremden Sprödigkeit, daß er sich ihr wirklich verwandt meinte und alle Neuheit der Bekanntschaft wie mit einem Zauberschlage abfiel.

Willkommen denn, mein Herr Vetter, sagte sie endlich, als das Lachen aufhörte, und schönen Dank für die Ehre Ihres Besuchs. Aber, um's Himmels Willen, legen Sie den Mantel ab, damit ich weiß, ob nicht noch einige andere Vettern darunter stecken. So, fuhr sie dann fort, und ihre blitzenden Blicke flogen über Gustav hin, jetzt weiß ich Alles. Mein Vater ist Ihnen begegnet, hat an Ihrer Unterhaltung Behagen gefunden und Sie aufgefordert, ihn zu begleiten.

Sie haben richtig gerathen.

Er hat Sie für unsern Vetter erklärt und Ihnen dort unten vor den Leuten das Diplom darüber ausgestellt.

Abermals richtig gerathen.

Und nun wollen Sie mit uns nach Hause fahren?

Ueber die Grenze, ja.

In dieser Nacht? Sie sah ihn fragend an und der Ton ihrer Stimme klang fast wie eine Warnung.

Ich habe meinen Paß verloren, erwiederte der junge Mann.

O! ich verstehe, rief sie lebhaft. Das war erwünscht für meinen Vater, er liebt es, sich den trägen Gesetzen weiser Obrigkeiten nicht zu fügen, und sicher bestärkte er Sie darin, ohne Paß über die Grenze zu gehen.

Das hat er wirklich gethan, aber ich bereue es nicht, ihm Folge zu leisten.

Wer weiß, sagte sie schnell. Ein einziger Augenblick bestimmt oft über ein Menschenleben.

Oft aber auch über sein Glück, erwiederte er.

Gut, mein Herr Vetter, ich sehe, Sie haben Ihren Entschluß gefaßt. – Nehmen Sie Platz, lieben Sie Musik?

Gewiß, meine schöne Cousine.

Ich auch. Musik ist eine Trösterin aller Noth einsamer Stunden und Tage. Haben Sie das schon empfunden?

Ich denke, ja, sagte Gustav, angeregt von der naiven Natürlichkeit dieses jungen Mädchens, deren klare Augen ihn so freundlich und fragend anblickten, als wollten sie in seiner Seele lesen.

So will ich Ihnen ein Lied singen, sagte sie, so gut ich es kann. Wollen Sie es hören?

Sehr gern.

Sie regte sich an das Instrument und sang dasselbe Volkslied, das Gustav an der Thür horchend schon halb vernommen hatte. Es war das Wanderlied von Uhland Es handelt sich hierbei um den aus neun Gedichten bestehenden Zyklus »Wanderlieder« (in Ludwig Uhland, »Gedichte«, 1815), der von Conradin Kreutzer vertont wurde (op. 34, 1818).. Ihre biegsame Stimme traf den Volkston vortrefflich und Gustav lehnte sich sinnend, die Arme gekreuzt, in den Sessel zurück und hörte mit halbgeschlossenen Augen ihr zu.

Plötzlich drehte sie sich zu ihm hin und rief mit schmollender Heftigkeit: Ich glaube wahrhaftig, der Herr Vetter ist eingeschlafen! Habe ich das mit meiner Kunst verdient?

Sie drohte ihm lächelnd, als er sich entschuldigte, und trieb ihn mit schalkhaften Behauptungen zu neun Betheuerungen, bis sie endlich aufstand und das Instrument zuschlug.

Nein, nein, sagte sie, ich habe nichts dagegen. Mein armes Singen ist nichts als ein wilder Waldgesang, wie mein Vater sagt; ich habe jedoch gethan, was ich konnte. Jetzt ist die Reihe an Ihnen, mein Herr Vetter. Unterhalten Sie mich ein wenig, erzählen Sie mir etwas von Ihrem Leben. Ich finde es, wenn nicht nöthig, doch nützlich, daß Verwandte etwas von ihren Schicksalen und Thaten auf Erden wissen; wenigstens wissen, wie sie heißen, fügte sie schalkhaft lachend hinzu.

Ich kann Ihren Wunsch leicht erfüllen, erwiederte Gustav, schwöre Ihnen aber im Voraus, daß Sie nichts Außerordentliches hören werden. Ich bin der Sohn eines Beamten. Mein Vater starb früh, eine zärtliche Mutter erzog mich, durch den Tod eines Verwandten erbte ich ein ziemlich bedeutendes Vermögen, so gab es denn nicht leicht einen Wunsch, der mir versagt worden wäre, und ich kann wohl sagen, daß mir das Leben bis jetzt nur sein heiteres, nie sein finsteres Gesicht gezeigt hat.

Und das nennen Sie nichts Außerordentliches, unterbrach ihn Anna, die Hände zusammenschlagend. Gütiger Gott! Hier steht ein Mensch, der sich rühmen kann, daß noch kein bitteres Leid ihm ein Haar krümmte. Wie viele Deiner Geschöpfe vermögen das! – Fahren Sie fort, mein glücklicher Vetter, ich bin ganz Ohr.

Ich habe wenig mehr zu berichten, sagte Gustav. Ich studirte die Rechte in Heidelberg, machte einige Reisen in die Schweiz, Italien und Frankreich, kehrte zurück, besuchte einen Verwandten meiner Mutter in Rostock, lebte dort einige Zeit und promovirte als Doctor der Rechte, wovon ich nun soeben nach Berlin zurückkehre und bei dem schönen Herbstwetter einen Theil der Reise zu Fuß machte.

Künftig also werden Sie in Berlin wohnen? fragte Anna.

Meine Mutter lebt dort, und wenn ihre Absichten sich erfüllen, werde ich mich in Berlin niederlassen.

Der junge Mann sprach diese letzten Worte mit besonderer Betonung, indem eine leichte Röthe der Verlegenheit auf seine Stirn stieg. Es war, als erinnere er sich an Etwas, was er vergessen hatte, und das sich nun plötzlich seinem Gedächtniß aufdrängte.

Da kommt der Kapitain, sagte er und stand auf, froh das Gespräch abbrechen zu können.

Wirklich, erwiederte Anna lachend, Sie hören vortrefflich, besser als ich, denn ich höre nichts.

Sie lief nach der Thür und öffnete diese in dem Augenblick, wo der feste rasche Schritt ihres Vaters sich unten vernehmen ließ. In der nächsten Minute hielt der Kapitain sie im Arm, küßte ihre Stirn, und indem er Mütze, Peitsche und Shawl auf den Tisch warf, sagte er mit einem Gemisch von vorwurfsvoller Zärtlichkeit:

Machst dumme Streiche, böses Mädchen. Könntest ruhig zu Hause sitzen, nähen, kochen, lesen, statt auf Abentheuer auszuziehen. Wie willst Du nun nach Hause kommen, Du Springinsfeld?

Konnt ich denn wissen, rief Anna, lustig nach Gustav hinblickend, daß der Herr Vetter uns überraschen würde?

Da ich die Ursache Ihrer Verlegenheit bin, sagte dieser, so versteht es sich, daß ich hier bleibe.

Bah! erwiederte Rintel, dummes Zeug das. Haben einen Pakt geschlossen mit mir, junger Herr, und soll kein Punkt daran geändert werden. Anna soll mit Ihnen im Kabriolet fahren, wird Sie so sicher über die Brüche bringen, wie ich selbst; was mich aber betrifft, so will ich schon nachkommen!

Er zog seine Uhr heraus, hielt sie an's Ohr und tippte dann auf den kleinen Zeiger.

Bis der auf elf steht, haben wir Zeit, fuhr er fort; ist behaglich warm hier, draußen pfeift der Nord-Ost, Herr Vetter, müssen also die paar Stunden benutzen, um uns gut vorzubereiten. – Er faßte mit einem pfiffigen Seitenblick die Klingelschnur, that ein paar starke Züge und rief mit rauher Stimme: Die Schurken sollten aufmerksamer sein und den Tisch decken, ehe man sie dazu anhält. – Liebe das trockne Leben nicht, Herr Doctor! und denke, Sie eben so wenig?

Gustav nickte ihm lachend Beifall, und sein freundlicher Blick begleitete die beiden Dienerinnen des Hauses, welche alsbald erschienen, den Tisch bestellten und in wenigen Minuten ein Abendessen auftrugen.

Ohne Zögern folgte er dann dem einladenden Wort seines Beschützers und nahm zwischen ihm und seiner hübschen Tochter Platz. – Ein ungeheures Stück Rostbeef machte den Hauptbestandtheil des Mahles aus. Schweigend bepackte der Kapitain seinen Teller und gebrauchte Messer und Gabel mit bewunderungswürdigem Eifer. Nur zuweilen sprach er ein paar lobende Worte, munterte die Eßlust seines Nachbars auf, wenn diese nachlassen wollte, und füllte die Gläser mit dem dunkelrothen Wein so oft es irgend geschehen konnte.

Echtes Traubenblut vom Ufer der Garonne, sagte er endlich, als sein Hunger so ziemlich gestillt schien. Ist auch ein Vortheil an der Grenze, junger Herr, kaufen den Wein hier um den vierten Theil des Preises, wie in Berlin. Und warum? Weil die unvernünftige Steuer ihn im Lande nur zum Trunk für die Reichen macht. – Ich hätte es dem Steuerpresser vorhin sagen mögen, als er so gottselig über den Branntwein schimpfte. – Ist eine Pest für das arme Volk, das es in tiefes Unglück bringt, aber wer trägt die Schuld? Wer anders als die großen Herren, die Steuern und Grenzsperren erfunden haben. Reden Alle mit großer Salbung über zunehmende Entsittlichung und steigende Zahl der Verbrecher, und sind doch selbst die eigentlichen Ursachen aller Laster und Sünden.

Dies war der Eingang zu einem langen lebhaften Gespräch zwischen den beiden Herren, in welchem Gustav das Bestehende vertheidigte, der Kapitain aber es über den Haufen warf. – Seine kühnen Behauptungen, die er mit Gründen unterstützte, blieben nicht ohne Eindruck auf den jungen Mann, der mit lebhafter Theilnahme die Schilderungen der gewerblichen und häuslichen Zustände hörte, welche Rintel vom Leben des Volkes entwarf, das er genau kannte und dessen warmer Vertheidiger er war. –

Mit Erstaunen fand der aufmerksame Zuhörer, daß er einen Mann vor sich hatte, der ebenso reich an verschiedenartigen Kenntnissen war, wie er eine außerordentliche Beobachtungsgabe besaß und ein bewegtes Leben geführt haben mußte. – In Spanien hatte er Jahre lang als Soldat gefochten, er kannte Frankreich und Deutschland genau, war vertraut mit ihrer Literatur und hatte so viele statistische Zahlen und Angaben im Kopfe, daß der junge Doctor sein außerordentliches Gedächtniß laut bewunderte.

So vergingen die Stunden den beiden Männern schnell, während die junge Dame in einer Ecke des Sophas bald zu schlummern schien, bald ein lebhaftes Wort hineinwarf und in ihrer muntern Art sich betheiligte. Endlich wurden ihre Gespräche durch ein leises Klopfen an der Thür unterbrochen, und durch den geöffneten Spalt steckte Sanders den Kopf herein.

Was giebt's? fragte der Kapitain, indem er aufstand.

Es ist elf Uhr, Herr, wir müssen fort, erwiederte jener.

Gut, ich komme. – Er schlug die Thür zu und trat an den Tisch. Ein letztes Glas zum Abschiede, junger Herr, sprach er. Auf gutes Glück denn! Sind wir drüben, so bleiben Sie ein paar Tage bei Ihren neuen Verwandten, damit wir uns nicht wieder vergessen.

Gustav schüttelte seine dargebotene Hand und dankte für die Einladung, indem er zugleich dem Fräulein in den Mantel half, ihr den Kragen zurecht legte und dafür ein freundliches Lächeln in Empfang nahm.

Aber wahrhaftig! sagte sie dann, sich zu ihm umwendend, nachdem sie den Hut vor dem Spiegel aufgesetzt hatte, und ihn übermüthig lachend betrachtete, Sie sehen so ernsthaft aus, mein Herr Vetter, als gedächten Sie Ihr Testament zu machen.

Ich dachte weniger an mich, als an Sie, erwiederte der junge Mann erröthend, und in dieser Besorgniß kann es sein, daß ich wirklich ernsthaft aussehe.

Ist es wahr? erwiederte sie muthwillig. Sollte meine kleine Person Ihnen wirklich so viel Mitleid einflößen, oder jagen wir nicht vielmehr mit unserm Paschertreiben Ihnen Furcht und Entsetzen ein?

Diese offenherzige Frage setzte Gustav in große Verlegenheit. Er gab eine stotternde Antwort, aber die kleine Dame hob laut lachend in drolligster Weise den Finger gegen ihn auf. Gestehen Sie, rief sie, daß Sie lieber hier bleiben, ich will es Ihnen auch gewiß nicht verdenken.

Sie sollen nicht böse werden, junger Herr, fiel der Kapitain ein, der seinen Shawl um den Hals schlang und seinen Hut aufstülpte, aber wofür halten Sie mich? Ich bin kein Pascher von Profession, so wenig wie Sie. Fahre nur dann und wann in's gelobte Land hinüber, um für mich und meine Freunde einzukaufen. Das Kabriolet haben Sie gesehen, auch was darin liegt; wissen also, wie es steht. Wenn Sie Gewissensskrupel haben, bleiben Sie hier; ich komme morgen wieder nach Friedland und fahre Sie frank und frei auf der großen Straße nach Hause.

Bleiben Sie, theuerster Vetter, rief das übermüthige Mädchen, die Betten im weißen Lamm sind vortrefflich.

Ein Schamgefühl über die Spötterei trieb ihm das Blut in's Gesicht.

Ich bin weder ein Freund der Zölle und Grenzwächter, noch fürchte ich mich, ein kleines Abentheuer zu bestehen, sagte er entschlossen; wenn Sie mich also nicht gewaltsam hier lassen, so bin ich bereit.

Wohlan denn, erwiederte Anna, mit demselben neckischen Ausdruck. Da Sie nicht hören wollen, so nehmen Sie Ihren Mantel und versuchen Sie Ihr Glück an meiner Seite. Das Pferd wiehert, der Mond kommt in einer Stunde; es ist die höchste Zeit, folgen Sie mir! – Sie lief zur Thür hinaus, die beiden Männer folgten ihr eilig nach.


Kapitel II.

Auf dem großen Hofe dicht am Hause hielt das Kabriolet, aus dessen Gabel die graue Stute ihren schlanken, langen Hals den Nahenden entgegen bog. Der Kapitain hob seine Tochter in den Wagen, nahm dann dem Stallknecht, der neben ihm stand, die Laterne aus der Hand, beleuchtete Räder und Achse des leichten Fuhrwerks, und als er nach einigen Augenblicken die Prüfung vollendet hatte, sagte er leise: Sitzen Sie auf, Vetter, nehmen Sie Zügel und Peitsche und fahren Sie langsam die Straße hinunter, dann links an den Häusern hin. Halten Sie die Zügel lose, das Pferd wird's schon machen. Gute Nacht! Vorwärts!

Er schlug leise in die Hände und das Kabriolet rollte zum Hofthor hinaus. Die Straße war öde und finster. Die armen Bewohner der kleinen verkrümmten Hütten hatten sich längst dem Schlaf überlassen und kaum mochte es Einen geben, der aus seinen Träumen erwachend das leise Klappen der Hufe, oder das Schlagen der Räder des Kabriolets hörte, das zuweilen von großen Steinen abgleitend in Löcher und Gossen sank. Als die Straße endete, bog das Pferd von selbst links ab, wo eine Reihe vereinzelter Höfe und Scheunen die letzten Vorposten des Städtchens bildeten, dann ging es rasch in die Nacht hinein, die, mit Himmel und Erde zu einer schwarzen Masse verschmolzen, nichts sehen ließ, als dann und wann einen einsamen Stern, der wie ein verglimmender Funken sich zeigte, um zu verlöschen. Der Wind fegte quer über die Landstraße, auf welcher das Fuhrwerk schnell fortrollte, nur an dem Pfeifen und Rauschen in dem Gezweige hörte Gustav, daß Bäume an den Seiten standen.

Frieren Sie? fragte er, als seine Nachbarin sich aufrichtete und sich dichter in den Mantel wickelte.

Ich bin daran gewöhnt, erwiederte diese, aber Sie werden diese Nacht nicht besonders angenehm finden.

Es ist verzweifelt kalt.

Vielleicht wird es Ihnen bald zu heiß werden, flüsterte sie in dem alten lustigen Ton. Sehen Sie dort das kleine Licht glänzen? Es ist das Zollhaus; links und rechts läuft die Grenze hin. Geben Sie Acht! –

Das Pferd, das bis jetzt seinen ruhigen Paß gehalten hatte, machte plötzlich Halt. Es stemmte die Füße fest, die Sitzenden erhielten, einen derben Stoß.

Was soll das bedeuten? fragte Gustav erschrocken.

Es muß etwas in der Nähe sein, was seine Besorgniß erregt, erwiederte Anna. Sehen Sie, dort vor uns unter dem Baume regt es sich. Es ist eine Gestalt, ein Mensch!

Ein Grenzjäger! Ich sehe nichts, erwiederte er ängstlich erregt. – Anna lachte leise.

Die Finsterniß, welche anfangs so dicht und schwer war, hatte sich theils durch die Gewöhnung des Auges ein wenig gemindert, theils waren die jagenden Wolken mehr verweht und ließen große Stellen am Himmel dem Sternenlicht offen. Die graue Stute hängte den Kopf tief an den Boden nieder und begann langsam fortzuschreiten, dann machte sie eine Wendung zur Seite und schien Lust zu haben, die Landstraße verlassen zu wollen. Sie kehrte sich auch nicht daran, als Gustav die Zügel fest anzog und einige vergebliche Versuche machte, sie von ihrem Vorsatz abzubringen.

Geben Sie sich keine Mühe, sagte Anna. Ich weiß jetzt was sie will, wir müssen ihr Folge leisten.

Aber wir werden in den tiefen Graben stürzen und den Hals brechen.

Wir werden nicht stürzen, sie wird sich den passenden Uebergang suchen, sitzen Sie nur fest.

Dürfen wir es wagen? Ich würde einem Pferde nicht so blindlings trauen, sagte er unmuthig.

Es hilft jetzt Alles nicht, mein Herr Vetter, rief die Dame spottlustig. Sie sind in der Falle und müssen Folge leisten. Lassen Sie sie gewähren.

Das Pferd war inzwischen am Rande der Landstraße hingeschritten, bis es den Baum erreichte, unter welchem Anna die Gestalt erblickt haben wollte. Hier bog es ab, rutschte am Grabenrande, der an dieser Stelle weder steil noch hoch war, hinunter, kletterte an der anderen Seite hinauf und rannte nun über die weite Fläche mit seiner Last davon.

Sie sehen, wie gut das kluge Geschöpf seine Sache macht, sagte Anna. – An jener Stelle sind sicher die Männer über den Graben gegangen, welche vor uns diesen Weg nahmen. – Noch sind wir auf befreundetem Gebiet, aber dort an den ersten Büschen beginnt die Grenze, hinter jedem Grashalm kann ein Jäger verborgen liegen.

Es schien dem übermüthigen Mädchen fortgesetzt Vergnügen zu machen, ihren Begleiter ein wenig zu ängstigen, der prüfende Blicke nach allen Seiten ausschickte. Bald glaubte er auch hinter sich her eine hohe Gestalt schweben zu sehen, die leicht über die gefrorenen Gräser schlüpfte, oder an den Seiten des Wagens zeigten sich düstre Schatten, von denen er nicht wußte, waren es Bäume, Geister oder Wesen von Fleisch und Bein. Zuweilen kam es ihm vor, als höre er Menschenstimmen und verworrenes fernes Murmeln, das der Wind brachte und weiter führte.

Das Pferd lief geräuschlos über eine unermeßliche Ebene, welche immer tiefer und mooriger wurde. Einige Male blitzten Wasserstreifen dicht an dem leichten Fuhrwerk auf, der Fuß der grauen Stute klapperte auf Eisstücken umher, die klirrend zersprangen und die Räder schnitten tief durch lange Schilfhalme, welche sich rauschend um die Speichen wanden.

Nachdem ein paar kleine nasse Gräben glücklich überwunden waren, erreichte das Kabriolet die Waldleiste. Kahle Erlenbüsche wuchsen überall hier aus dem Sumpfboden auf und über die verschlungenen Wurzeln suchte das Pferd vorsichtig den besten Weg zu finden.

Wenn uns ein Abentheuer zustoßen soll, sagte Anna, so muß es jetzt bald kommen. Was würden Sie thun, mein tapferer Vetter, wenn plötzlich ein halbes Dutzend Blaukragen auf uns lossprängen?

Hörten Sie nichts? erwiederte Gustav. Es pfiff vor uns. –

Es war der Wind, sagte die Dame, aber nein! – Das Pferd hebt seinen Kopf auf und schnaubt in die Luft; es muß dort etwas sein, was seine Aufmerksamkeit erregt.

Soll ich es anhalten?

Lassen Sie es gehen, es wird selbst für sich sorgen.

Aber glauben Sie nicht – hier brach der junge Mann plötzlich ab, denn noch einmal pfiff es scharf aus dem Gestrüpp, dem sie sich näherten. Mit einem raschen Griff in die Zügel wollte er das Pferd wenden, allein das störrige Thier kehrte sich jetzt so wenig daran, wie beim ersten Male, und Anna schlug ein lautes Gelächter auf, als sie sah, mit welchem Eifer er sich vergebens abmühte.

So bleiben Sie doch ruhig sitzen, sagte sie, im äußersten Falle können wir höchstens gefangen genommen und im Triumph in die Residenz meine wackern Freundes des Zollinspektors geschleppt werden; für diesmal aber sehen Sie den Feind nur genau an, der uns überfallen hat.

Die graue Stute wieherte in diesem Augenblick hell auf und erhielt dafür von der dunklen Gestalt, die dicht vor dem Gestrüpp stand, einen Schlag auf den Rücken. –

Dummes Zeug, sagte die tiefe Stimme des Kapitains, so etwas kann hier nicht geduldet werden, Bella.

Sie sind es, Kapitain Rintel! rief Gustav freudig überrascht.

In eigener Person, erwiederte dieser. Ich habe den kürzesten Weg genommen, während Sie einen weiten Bogen machten, und erwarte Sie hier seit fünf Minuten, um Ihnen den Weg durch die Büsche frei zu halten. –

Er ging voran und das Pferd folgte langsam und vorsichtig; dennoch konnte es nicht fehlen, daß die Zweige zuweilen über die Fahrenden hinstreiften und ihnen Stöße und Schläge versetzten.

Ich will wetten, daß ich weiß, was Sie jetzt denken, sagte Anna leise, als Gustav mit einem Schmerzenslaute einen dieser peitschenden Zweige von seinem Kopf stieß. Sie denken an die schönen Betten im weißen Lamm. Ich versichere Sie, es schläft sich allerliebst darin.

Ich würde nicht schlafen, erwiederte er; aber zweifeln Sie denn so sehr an meinem Muth?

Wer wird an eines Mannes Muth zweifeln! rief das Fräulein, aber ehrlich gestanden, wünschen Sie nicht, daß wir je eher je lieber mit heiler Haut unter Dach und Fach wären?

Ja, wahrhaftig, das wünsche ich von ganzem Herzen, und zwar sowohl Ihret- als Meinetwegen. Welch Vergnügen können Sie daran haben, in solcher Nacht unterwegs zu sein, und ist der Plunder, der hier im Kasten liegt, wohl aller der Noth und Gefahren werth, deren Sie sich aussetzen?

Da hört man das Schooßkind des Glücks! rief das Fräulein. Nein, mein schöner Herr, dieser Plunder hat Werth für uns; überhaupt aber folgt jeder Mensch dem Stern seines Schicksals, der meinige jagt mich nächtlich über diese Heiden, und ich finde es interessant genug, um damit zufrieden zu sein.

Dann haben sich unsre Sterne also darin begegnet, erwiederte Gustav lachend, daß ich bestimmt wurde, an Ihrer Seite die Reize kennen zu lernen, welche Sie so anziehend finden.

Er endete seine Antwort nicht, denn plötzlich wurde die Stille der Nacht von einem wilden Schrei unterbrochen, der ihn mit Entsetzen erfüllte. Das Pferd arbeitete sich eben durch die letzten Büsche, und vor ihm lag eine Lichtung des Waldes, rings eingeschlossen von dessen schwarzen Leisten. Der matte Schein eines Lichtes, das vom fernsten Himmelsrande ausströmte und dämmernd mit dem Dunkel der Mitternacht rang, verkündete den nahen Aufgang des Mondes. Hohe und einzeln stehende Bäume traten in ungewissen Massen aus den Nebeln, die als bleiche gewaltige Schleier sich von ihnen ablösten und über den Raum hinschwebten. Es war nichts zu erkennen, als die dunkle Gestalt des Führers, der bei dem Pferde stand und es am Zaume festhielt. –

Warten Sie hier, bis ich das Zeichen gebe, sagte der Kapitain, indem er langsam vorwärts ging.

Seine hohe Gestalt verschwand in den Nebeln; die graue Stute scharrte ungeduldig den Boden und streckte den Kopf dem Winde entgegen. Nach einigen Augenblicken war es, als schlüge Jemand stark in die Hände, und augenblicklich begann das Pferd vorsichtig seinen Marsch, denn der Boden war uneben von den Löchern, in denen einst Bäume gestanden hatten. –

Der Dämmerschein des Mondlichtes war stärker geworden und ließ bald einen wasserreichen Graben erkennen, der quer über den Plan lief. Das Pferd ging am Rande desselben hin; alte Weiden beugten sich über die Wasserfläche, aus der das Schilf heraufrauschte.

Darf ich fragen, sagte Gustav nach einiger Zeit, wo und wie bald diese nächtliche Promenade für uns enden wird?

Ueber beides, erwiederte die Dame, die ihre Munterkeit nicht verloren hatte, kann ich Ihnen in der That keine bestimmte Antwort geben. – Nur soviel ist gewiß, daß, wenn wir die Niederung erreicht haben, das Kreuzbruch gerade vor uns liegt. Dies Kreuzbruch ist ein breiter Sumpfgürtel voll warmer Quellen, der in der Regenzeit gar nicht zu passiren ist, jetzt aber an wenigen einzelnen Stellen, welche jedoch genau bekannt sein müssen, denn zu beiden Seiten liegt unergründliches Moor.

Vortrefflich, erwiederte der junge Mann mit der Ironie des Aergers, und ohne Zweifel müssen wir mitten durch diese herrliche Landschaft.

Allerdings, es giebt für uns keinen andern Weg.

Sie kennen ihn also genau?

Ich? Nicht im geringsten, so wenig wie Sie, aber Bella kennt ihn wie kein Pascher im Lande. Lassen Sie sie daher ganz machen, wie es ihr gefällt; sie bringt uns sicher hinüber und jenseit hinter den Hügeln kann ich Ihnen dann wenigstens einigen Ersatz für so viel ausgestandene Leiden versprechen. – Sie müssen wissen, fuhr sie schelmisch fort, daß ich Ihnen das Lied von der Mühle im Thale und der schönen Müllerin nicht umsonst gesungen habe. Ich bin, wenn nicht schön, doch wenigstens die Müllerin. Mein Vater besitzt ein hübsches Mühlengrundstück, auf dem wir wohnen. Die Mühle ist freilich verpachtet, aber wenn ich nicht glaubte, daß alle Mühlräder der Welt Ihren Schlaf für diesmal nicht stören würden, müßte ich fürchten, daß das Geklapper der Räder Ihren Träumen Schaden brächte. Denn unser Haus liegt der Mühle ziemlich nahe, mitten in einem Obstgarten und von alten Bäumen umringt, ganz romantisch versteckt zwischen Pappeln und Kastanien, und von dem Zimmerchen, wo Sie wohnen sollen, können Sie weit über Flächen und Seen blicken, die wenigstens zur Sommerzeit gar nicht so übel als Landschaft sich ausnehmen.

Wo werde ich sein, wenn der Sommer kommt! erwiederte Gustav.

Ei, mein Herr Vetter, rief die kleine Dame, ich hoffe nicht, daß Sie in Ihren glänzenden Stadtkreisen Ihre arme Muhme an der Grenze so schnell vergessen werden. Kommen Sie zu uns, wenn Busch und Wald voll Maiblumen und Vergißmeinnicht stehen, die großen Wasserlilien auf den Seen schwimmen und selbst diese öden Sümpfe und Heiden sich den Brautstaat von Tausendschönchen, Mißlieb und Federkronen anziehen. Dann ist es gar schön bei uns. Im kühlen Walde, voll Frühling und Gesang, vergißt man manche Trübsal, und wenn Sie es wünschen, schwöre ich alle Abentheuer ab und will sittsamlich alle Schleifwege vermeiden.

Gustav hatte lächelnd diese Schilderung gehört, die er so neckisch und reizend fand, daß er ganz vergaß, wo und wie sie gegeben wurde. Er wollte eben betheuern, daß ihm schon jetzt ganz frühlingsmäßig zu Muthe sei, als das Pferd aus seinem sanften Paß urplötzlich in den stärksten Galopp überging und das Kabriolet mit Windesschnelle fortriß. Im flüchtigen Vorüberstreifen bemerkte er die Umrisse einer Gestalt, die ohne Zweifel vor dem Wagen gestanden und nach den Zügeln der grauen Stute gegriffen haben mochte, von dieser aber niedergerannt wurde. Mitten durch das niedere Buschwerk ging die Flucht in der rasendsten Eile, denn hinter ihr her erscholl jetzt deutlich das Geschrei mehrerer rauher Stimmen, die den Flüchtigen ein drohendes Halt! und ein Gemisch entsetzlicher Flüche nachriefen.

Halten Sie sich fest! rief Anna, und diese Warnung war nicht vergebens, denn mehr als einmal war das leichte Fuhrwerk nahe daran, umgeworfen zu werden. Gustav klammerte sich an der Gitterlehne an, er fürchtete jeden Augenblick, daß von den heftigen Stößen Axt Hier im Sinne von »Achse«. Es bleibt unklar, ob an dieser Stelle ein Setzfehler vorliegt oder ob Mügge eine regionale und selten gebrauchte Form verwendet; das Grimm'sche Wörterbuch verzeichnet »Axt« in der Bedeutung »Achse« nur für eine einzige entlegene und zeitlich ferne Stelle. oder Räder brechen, oder das Pferd zusammenstürzen würde, allein alle Bestandtheile des Kabriolets waren aus zu gutem Stoff gearbeitet, und als nun die graue Stute in wilder Hast über die freie Ebene flog, athmete der unfreiwillige Schmuggler leichter auf, denn als er zurückblickte, waren die Verfolger weit hinter ihm.

Plötzlich zuckten ein paar rothe Blitze aus dem Nebel. Der Donner mehrerer Schüsse hallte ihnen nach und ziemlich nahe pfiffen die Kugeln an den Köpfen der Flüchtlinge hin.

Das unerschrockene Mädchen hob lachend den Arm auf. – Die Elenden! rief sie, ist es nicht entsetzlich, auf Menschen zu schießen, die ihnen nichts zu Leide thaten? –

In dem Augenblick wurde der rasche Hufschlag eines Pferdes gehört, das auf der Spur des Kabriolets ihm nach eilte. –

Gott steh' uns bei! rief Anna, das ist das ärgste, was uns treffen kann. – Fort, Bella! fort, oder wir sind verloren! –

Mit erneuter Hast rannte das treue Thier über einen moorigen Grund, der sich unter seinen Füßen wellenförmig bog, und heftig rüttelte Anna die Zäume und trieb es zu immer größerer Schnelle an.

Wir werden durchbrechen und versinken, flüsterte Gustav.

Besser umkommen, als ihm in die Hände fallen, erwiederte sie.

Ihr da! rief jetzt die rauhe Stimme des Reiters, der sich schnell näherte, welcher Wahnsinn treibt euch in den unergründlichen Sumpf. – Kehrt um, vor euch ist der Tod! – Wenn ihr die seid, für die ich euch halte, so laßt euch rathen, ich meine es gut und will thun, was ich kann.

Es war unverkennbar die Stimme des Grenzbeamten, den Gustav in Friedland gesehen hatte; aber er erhielt keine Antwort. Das Kabriolet fuhr rasch vorwärts mitten durch eine Wasserlache, und der alte Herr schien sich eine Weile zu besinnen, ob er folgen sollte; sein Pferd wollte auf der gefährlichen Stelle nicht weiter.

In der nächsten Minute aber siegte sein Pflichtgefühl und seine Sporen zwangen den widerspenstigen Gaul zur Fügsamkeit. –

Wollt ihr nicht hören, schrie er, so mögt ihr die Schuld eurer Thaten tragen! Halt! zum letzten Male, oder ich schieße!

Er war hart hinterher, als das Kabriolet plötzlich mit beiden Rädern in ein Schlammloch sank und die Lage der Flüchtlinge außerordentlich verschlimmerte. – Das sonst so folgsame Thier stand still, nachdem es eine nutzlose Anstrengung gemacht hatte, und schien es nicht zu wagen, seine Füße fest in den zitternden Boden zu stemmen.

Wir können nicht weiter, flüsterte Gustav rathlos.

Anna hatte sich rasch gebückt, die Feder an der Klappe des Bodens im Kabriolet geöffnet, und jetzt drückte sie statt aller Antwort ein Pistol in die Hand ihres muthlosen Begleiters.

Liegt Ihr in dem Brei? rief der Grenzinspektor. Holla! hierher, hier haben wir ihn!

Kaum dreißig Schritte weit zeigte sich im Nebel die hohe in seinen Mantel gehüllte Gestalt des Reiters.

Noch habt Ihr uns nicht! murmelte das junge Mädchen, und indem sie die Peitsche ergriff und mit aller Gewalt auf die Stute einhieb, rief sie mit jener Energie des Willens, der den Unschlüssigsten zur That fortreißt: Schießen Sie, wenn Sie ein Mann sind. –

Fast mechanisch befolgte Gustav diesen Befehl. Der Schuß donnerte. Hier wurde das Kabriolet von dem gepeitschten Pferde glücklich aus dem Sumpf gerissen und mit Windeseile durch Lachen und Bruch geführt, dort bäumte sich das Roß des Verfolgers hoch empor. Deutlich sahen die Flüchtlinge, wie es sich wandte, drehte, und mit seinem Reiter zusammenbrach, der laut nach Hülfe rief; dann legte die Nebelschicht sich zwischen sie und bald war der letzte Ton verklungen.

Die beiden Entronnenen sprachen kein Wort, es war, als ob der Schrecken ihre Zungen bände und keiner von ihnen eine Erklärung geben wollte. Gustav zitterte bei dem Gedanken, vielleicht einen Mord begangen zu haben, aber er sagte sich mit tausend Gründen, daß es unmöglich sei, denn er hatte das Pistol hoch in die Luft gehalten und aufs Gerathewohl abgedrückt. Dennoch aber fühlte er den unsäglichen grauenhaften Schmerz eines reinen Gewissens, das zum erstenmale an der finsteren Schwelle des Verbrechens steht. Das gutmüthige Gesicht des alten Grenzhüters stand deutlich vor seinen Blicken, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, während er den Unstern verwünschte, der ihn in diese Gesellschaft gebracht hatte.

Die graue Stute lief inzwischen mit derselben Eile weiter. Langsam erhob sich der Mond jetzt über den Kranz düsterer Wolken und Nebel und beleuchtete das Gesicht seiner Nachbarin. Im schwarzen Mantel und schwarzer Kappe, von der ein Schleier von gleicher Farbe ihr durch die Luft nachschwamm und ihren Kopf umwirbelte, wie die düstern Flügel eines großen Nachtvogels, saß sie regungslos und blickte aufwärts in den Himmel. Ihre sonst so freundlichen und beweglichen Züge waren blaß und entstellt, ihre Lippen krampfhaft geschlossen.

Sie fühlen sich unwohl, theuerste Anna, sagte er theilnehmend, indem er sich zu ihr wandte.

Da schlägt die Uhr im Kirchdorfe, erwiederte sie aufathmend, dem Himmel sei Dank! wir kommen auf festen Boden. Aber legen Sie das abscheuliche Mordgewehr fort, das Sie noch immer steif in der Hand halten. – Nein, ich bin nicht krank; doch hier ist der Rand dieser Wildniß, in einer Viertelstunde werden wir zu Hause sein und von allen Abentheuern ausruhen können.

Ich hoffe, sagte Gustav nach einer kleinen Pause, daß die Abentheuer dieser Nacht für jeden Betheiligten ohne Schaden vorübergehen.

Möglich, und ich wünsche es mit Ihnen, fiel sie rasch ein, aber Niemand hat sich Vorwürfe zu machen, wenn es nicht so wäre. Kam es anders, wo würden wir dann sein? Mitten unter einer jubelnden Rotte von Menschen, die uns im Triumph fortschleppten. Einer üblen Nacht, mein Herr Vetter, würden andere vielleicht noch bösere Tage und Nächte folgen, darum ist es gut so, wie es ist.

Das Pferd war auf eine feste Straße gekommen und lief einer Hügelkette entgegen, über welche der Weg sich in ein Thal senkte, aus dem bald das Geklapper einer Mühle hörbar wurde, die ein starker Bach in Bewegung setzte. Der Wagen bog an dem rauschenden Wehr ab, in einen Weg, der zwischen Gehegen gerade auf ein zweistöckiges Gebäude zuführte, das zwischen den Baumgruppen, die es umgaben, mit seinen hell umglänzten Giebeln ein einladendes stattliches Ansehen hatte. –

In der Nähe des Hauses sprangen zwei schöne Jagdhunde dem Wagen freudig bellend entgegen, dann kamen Mägde mit Lampen und Lichtern zum Vorschein, zugleich aber erschien ein stämmiger Bursche, der das Pferd in Empfang nahm, dem er seine Liebkosungen und sein Bedauern zuwandte, als er es über und über mit Schweiß, Schlamm und Wasser bedeckt fand.

Die kleine Dame wurde aus dem Wagen gehoben und führte ihren Gast in das Haus. Ein ziemlich großes Zimmer, ländlich einfach, aber voll höchster Sauberkeit und einladender Wärme nahm diesen auf. Der Tisch von Nußbaumholz war zum Theil mit einem weißen Tuche bedeckt, auf welchem buntbemaltes englisches Theegeschirr stand, der Kessel blank polirt brodelte daneben, und die Magd, welche sich geschäftig mit ihrer Gebieterin zu thun machte, ihr Mantel und Hut dienstfertig abnahm und mit ungeheuchelter Freundlichkeit allerlei Hausneuigkeiten erzählte, warf dann und wann einen neugierigen, betrachtenden Blick auf den fremden Herrn.

Dieser hatte einen Armsessel eingenommen und saß mit der dumpfen Ruhe dort, die gewöhnlich nach heftigen Aufregungen folgt. Das junge Mädchen hatte ein Schlüsselbund ergriffen, und nach einigen freundlichen Worten, es sich bequem zu machen, ließ sie ihn allein.

Eine Fülle von schweren und leichten Gedanken wogte durch Gustavs Kopf. Die Ordnung und Anmuth dieses stillen vom Lampenschein erhellten Gemachs thaten ihm wohl. Alles war so weiß und rein, daß er die Hand überall zu erkennen glaubte, welche hier waltete. Wie einfach auch Alles war, so lag doch ein gewisser verschönender Zauber darauf. Der Fußboden blank gescheuert, die Vorhänge weiß und faltig. Das Nähtischchen am Fenster blitzte zu ihm her, und an der Wand stand ein schönes Instrument, gewiß das theuerste Stück in diesem Haushalt. –

Als er nach dem grünblumigen Sopha blickte, erkannte er in dem großen Bilde im Goldrahmen, das seinen Platz darüber erhalten hatte, auf der Stelle den Kapitain in Uniform, ein Ordenskreuz auf der Brust, das Zeichen tapferer Thaten. –

Sonderbar, sagte er leise lächelnd, und dieser Mann giebt sich damit ab, Schmuggelei zu treiben, und selbst das arme fröhliche Kind in sein gefährliches Treiben zu ziehen.

Bei seinen letzten Worten trat Anna wieder herein und brachte ihr freundlich strahlendes Gesicht mit.

So, sagte sie, meine Einrichtungen sind besorgt, das Haus bestellt, das Kämmerchen in Stand gesetzt, um den werthen Vetter aufzunehmen. – Jetzt trinken Sie eine Tasse Thee und dann husch in's Bett, um nach so vielen Drangsalen sanft zu ruhen.

Aber wollen Sie nicht Ihren Vater erwarten? fragte Gustav.

Gewiß nicht, wer weiß, ob er kommt.

Und fürchten Sie nicht, daß ihm ein Unglück begegnet sein kann?

Ich fürchte nie für ihn, sagte sie. Sie müssen wissen, daß ich vor meinem Vater eine anbetende Hochachtung habe. Es ist der edelste, trefflichste Mensch, den ich je gesehen habe. Er hat mich geschützt, geliebt, erzogen, vom ersten Tage meines Lebens an ist er mein einziger Freund gewesen, denn meine Mutter ist bald nach meiner Geburt gestorben; ich lebe gleichsam durch ihn allein und kann mir nicht denken, wie er mir fehlen, oder wie ihm etwas begegnen könnte, das er mit seinem Muthe, seiner Einsicht und Verständigkeit nicht abwendete. –

Ihre Mienen strahlten bei diesen Worten vor freudiger Ueberzeugung. Ein Gefühl des Neides ging bei diesem ungemessenen Lobe durch Gustavs Brust.

Anna bereitete inzwischen den Thee, und während sie geschäftig das späte Mahl ordnete, plauderte sie mit ihrer natürlichen Einfachheit weiter und erzählte die Verhältnisse ihres stillen Lebens in größter Unbefangenheit.

Auf dem Lande ist es einsam, sagte sie, man findet wenige Menschen, die uns zusagen, und hier in diesem Winkel giebt es fast gar keine, die uns nahe ständen. – So lernt man sich beschränken, sich mit sich selbst beschäftigen, häuslich sein, mein Herr Vetter, und die wenigen Freunde, die man hat, um so mehr lieben.

Es gibt also doch einige Freunde, die meine schöne Cousine liebt, erwiederte Gustav, ihr die Theetasse abnehmend.

Meinen besten Freund nannte ich Ihnen schon, und ganze Tage und Wochen vergehen, wo ich ihn allein habe. Früher wohnten wir in einer Stadt, und dort gab es Leute genug, die sich unsre Freunde nannten; seit den drei Jahren aber, wo mein Vater sich hier ankaufte, ist der Kreis dünn geworden. Nur zuweilen besucht uns ein Prediger; mit den Gutsbesitzern umher haben wir nichts zu schaffen, sie haben uns eben so schnell aufgegeben, als wir sie. Wissen Sie warum? fragte sie lachend.

Nun? sagte der junge Mann.

Weil mein Vater in kurzer Zeit der Anwalt aller armen Leute wurde, die sich zu beklagen hatten. Er verfocht ihre Rechte den Gutsherren gegenüber, schlug Lärm, sobald sich etwas ereignete, was Gelegenheit dazu gab, machte der Regierung Anzeigen, verklagte den Landrath, setzte sogar die Zeitungen in Bewegung, und hatte in wenigen Monaten den Haß der ganzen Gesellschaft auf sich geladen.

Ich kann mir denken, welche Früchte dieser Haß trug, sagte Gustav.

Früchte der Liebe, sprach Anna, denn jemehr wir verleumdet wurden, umsomehr segneten uns die Bedrängten und um so treuer hingen sie uns an. Sie glauben nicht, fuhr sie fort, wie dankbar der Arme für kleine Wohlthaten ist und mit welchem Vertrauen er die Zuneigung erwiedert. Ich könnte Ihnen seltene Beispiele davon erzählen.

Aber ich hoffe, fiel Gustav ein, daß Sie glauben, Dankbarkeit und Treue seien überall unter allen Klassen und Ständen zu finden.

Ganz dasselbe, versetzte sie lächelnd, hat mir vor einigen Wochen erst ein junger Herr gesagt, der hoch und theuer versicherte, daß seine Dankbarkeit und treue Anhänglichkeit nie enden würden.

Ein junger Herr hat Ihnen das gesagt?

Ein sehr hübscher, junger Herr, der in der Residenz lebt und einen vortrefflichen Charakter besitzt.

Also meine einsame Cousine hat auch Freunde, die hübsch und jung sind und in der Residenz leben, sagte Gustav.

Es ist wirklich der einzige, erwiederte sie in demselben Tone, aber, fügte sie dann ernster werdend hinzu, indem ich an ihn denke, fällt mir ein, daß ich ihm versprechen mußte, meine Augen zu schonen, früh schlafen zu gehen und so wenig wie möglich mich aufzuregen, Gebote, die ich sämmtlich übertreten habe.

Er ist also Arzt? fragte Gustav rasch.

Arzt meiner Seele! sagte sie lächelnd, oder mein Beichtvater, wenn Sie wollen, denn er bemüht sich, meine Zweifel zu lösen. Morgen will ich Ihnen mehr davon erzählen, heut müssen Sie schlafen, und somit denn gute Nacht, mein Herr Vetter. Nehmen Sie das Licht, Christine erwartet Sie draußen. Auf Wiedersehn! – Träumen Sie leichte glückliche Träume.

Sie gab ihm die kleine Hand, und mit dem Lächeln, das von dem Feuer ihrer schönen Augen so seelenvoll gemacht wurde, nickte sie ihm zu und verließ das Gemach.

 

Das gastliche Zimmer im Obergeschoß war warm, und einladend winkte das mächtige Himmelbett von der Wandseite dem jungen Abentheurer entgegen, allein es dauerte lange, ehe er sich entschließen konnte Gebrauch davon zu machen. Der Thee hatte die Müdigkeit verscheucht und sein Blut in Bewegung gesetzt. Lange saß er in dem Lehnstuhle und starrte in die glimmenden Kohlen des Ofens, ohne einen Gedanken festhalten zu können.

Seine erregte Fantasie malte das Leben in diesem einsamen Hofe aus und versetzte ihn abwechselnd in idyllische und romantische Träume. Er zog mit dem hübschen Mädchen durch Wälder, um Blumen zu sammeln, irrte mit ihr durch Sümpfe und Haiden, hörte ihr schalkhaftes Lachen, sah in ihre Augen, die in übermüthiger Spötterei blitzten, und hörte ihre helle Stimme seinen Namen rufen. Dann aber drängte sich die hagere Gestalt des Kapitains hinein. Die wilden Gestalten der Schmuggler zogen an ihm vorüber, er hörte das Klappern ihrer eisenbeschlagenen Stöcke, und plötzlich fuhr er auf: es war, als würde dicht an seinem Ohr ein Schuß abgefeuert, der mitten durch seinen Körper drang. –

Eine rauhe Stimme ließ sich vernehmen, eine Hand rüttelte seine Schulter, mit Entsetzen öffnete er die Augen – da stand der Kapitain, einen langen Schlafrock um seinen dünnen Leib gewickelt, eine Nachtmütze auf dem Kopf, ein Licht in der Hand vor ihm. Die dürftige Flamme erhellte seine faltigen, braunen Gesichtszüge und machte ein spukhaftes Bild aus dem seltsamen Besuch, der Gustav verwildert anstarrte.

Thut mir leid zu stören, junger Herr, sagte Rintel, muß Ihnen aber etwas Wichtiges mittheilen.

Sie sind es, Kapitain, rief Gustav aufspringend. Mein Himmel! was ist denn geschehen?

Still! hier unter uns schläft Anna, fiel dieser beruhigend ein. Die Sache ist die. Sie haben ein Pistol auf den alten Baben abgedrückt – nein, Sie haben ihn nicht todt geschossen, fügte er rascher hinzu, als er den jungen Mann todtenbleich werden sah – aber das Pferd hat sich mit ihm überschlagen und ihn übel zugerichtet. Ohne Besinnung ist er nach Haus gebracht worden, und ob er je wieder erwacht, ist die Frage. – Schlimme Geschichte das, junger Herr, aber den Muth nicht verloren. In solchen Lagen gilt es ein Mann zu sein, Entschlüsse zu fassen und auszuführen. Sie müssen schnell Ihre Reise fortsetzen.

Gustav begriff auf der Stelle, daß der Kapitain Recht hatte und seine augenblickliche Abreise gefordert werde. Ich kann in wenig Minuten fertig sein, sagte er.

Hab's erwartet, erwiederte Rintel, wohlgefällig ihn anblickend, und lasse eben das Pferd anspannen. Es ist jetzt vier Uhr; in einer Stunde sind Sie in Hermsdorf, erwarten dort die Post, die zu derselben Zeit durchfährt, steigen ein und fahren ruhig weiter. Wollen Sie?

Gewiß will ich! rief Gustav.

Der Kapitain ließ das Licht zurück; in fünf Minuten war der Gast reisefertig. Leise stieg er die Treppe hinunter und fand seinen Beschützer geschäftig, Kaffee zu kochen, den er aus der Maschine in eine große Tasse fließen ließ.

Trinken Sie, sagte er, thut mir leid, daß es Anna nicht bereiten kann, würde Ihnen besser schmecken. Sie werden keine Zeit in Hermsdorf haben, das Geringste zu genießen. Ein Postamt ist nicht da, aber für einen Thaler oder zwei fahren Sie blind mit, so lange Sie wollen. Der Schirrmeister wird es schon machen, und es ist gut, wenn Sie das Einschreiben vermeiden. – Schweigen werden Sie gegen Jedermann; sollte es aber nöthig sein, finde ich Gelegenheit Ihnen Nachricht zu geben.

Ich will Ihnen meine Adresse hier lassen, erwiederte Gustav.

Der Kapitain lehnte es ab. Ich habe Sie im Kopf, sagte er, das ist besser als Ihre Karte, die in unrechte Hände fallen könnte. Sind Sie bereit?

Ja, Kapitain. – Meine Grüße an Ihre Tochter, und mein inniges Bedauern, sie nicht mehr zu sehen.

Danke, Herr Wilberg; damit ist aber nicht gesagt, daß wir nicht bald einmal uns wieder treffen, und unsre erste Bekanntschaft uns lustiger erscheint, als jetzt.

Sie schüttelten sich die Hände, und leise schob der Kapitain den Riegel von der Thür zurück. Draußen hielt das Kabriolet, das kleine Felleisen des Reisenden lag auf dem Fußbrett, rasch saß er auf, und in der nächsten Minute rollte er an der Mühle vorüber in die Nacht hinein.

Alles ging vortrefflich. Das Pferd brachte den Reisenden in einer Stunde nach dem Dorf an der Heerstraße. Der Bursche, welcher schweigsam das Kabriolet lenkte, hielt in dem Augenblick an dem dunklen Wirthshause still, wo die Laternen des Postwagens in der Ferne sichtbar wurden. Er wurde angerufen, der Conducteur zeigte sich gefällig, denn die Post war gänzlich leer, und nach einer kurzen Verabredung nahm Gustav an der Seite des Beamten Platz, nachdem er dem dienstfertigen Knecht ein Geldstück in die Hand gedrückt und ihm die letzten Grüße aufgetragen hatte. Der Wagen rollte schnell davon, und mit einem erleichternden tiefen Athemzug warf sich der blinde Passagier in die Ecke der Kissen.


Kapitel III.

Wir finden den jungen Wilberg nach einigen Wochen in der Hauptstadt wieder, und zwar als einen ganz andern Mann. Der Staubkittel und die Reisetasche sind in irgend eine Kiste der Polterkammer geworfen worden, die Anstrengungen jener abentheuerlichen Nachtfahrt sind vergessen, die Erinnerungen daran wenigstens abgestumpft. Der elegante Gesellschaftsanzug, in welchem wir ihn erblicken, paßt zu der eleganten Wohnung, und durch die geöffneten Flügelthüren erkennt man, daß einige Nebenzimmer nicht weniger stattlich ausgeschmückt sind. –

Gustav wohnte seit seiner Rückkehr im Hause seiner Mutter, das zwar in keiner der Hauptstraßen gelegen, doch eben so bequem wie stattlich war. Sein Vater hatte es bauen und einrichten lassen, ganz für sich. Nachdem er gestorben war, konnte die Geheimräthin Wilberg sich nur schwer entschließen, das obere Stockwerk zu vermiethen, endlich fand sich ein alter Herr, das Musterbild der Pünktlichkeit eines Junggesellen, der funfzehn Jahre lang unhörbar und fast unsichtbar die große Wohnung inne hatte, aber in Wahrheit nur ein ganz kleines Zimmer benutzte.

In dem Augenblick, wo wir den Faden unserer Mittheilungen aufnehmen, ward ein wichtiges Gespräch zwischen Mutter und Sohn geführt. Die Geheimräthin saß auf dem rothdamascirten Sopha, und in der schlanken, noch immer schönen Frau hätte man schwerlich die Mutter eines sechsundzwanzigjährigen Sohnes erkennen sollen. Die feinen Züge ihres Gesichts hatten im Zwange des Gesellschaftslebens einen bestimmten Ausdruck erhalten; sie wußte jeden Augenblick, wie sie aussah, und was sie that. Ein berechnender Verstand lag in ihrer breiten Stirne, und während ihres langen Witwenstandes hatte die Gewohnheit der Selbständigkeit und der damit verbundenen unbehinderten Ausführung ihres Willens ihr jenen Zug von Entschiedenheit aufgeprägt, der leicht als Hochmuth erscheinen kann.

Gustav saß ihr gegenüber auf einem der Polsterstühle, und hörte schweigend ihre Auseinandersetzungen, indem er seine Hände betrachtete und zerstreut sein Haar um die Finger rollte.

Ich hoffe, Du bist mit meinen Einrichtungen zufrieden, sagte die Mutter, und im Reinen mit Dir und dem, was Du willst.

Aber glaubst Du, erwiederte der Sohn aufblickend und stockend, glaubst Du, daß Stephanie –

Sei überzeugt, rief die Geheimräthin, Du wirst keinen Widerstand finden; der Weg ist Dir geebnet durch meine Vorbereitungen

Eine Wolke des Verdrusses flog über die Stirn des jungen Mannes, und eine leichte Röthe färbte sein Gesicht. –

Wir Mütter, fuhr die Dame scherzend fort, haben die Passion, schon für die glückliche Zukunft unsrer Kinder zu sorgen, wenn diese noch in der Wiege liegen; wir verloben und verheirathen die Ungebornen. Doch um auf Dich zurückzukehren, so ist wenigstens so viel wahr, daß vor zehn oder zwölf Jahren zwischen mir und Stephaniens Mutter allerlei Verabredungen getroffen wurden, aus Euch ein Pärchen zu machen. – Deine Courmacherei hat später den Scherz genährt und den Beziehungen ein gewisses Gewicht gegeben.

Aber es gingen Jahre hin, wo ich entfernt war, nichts hörte und nichts sah, und an keine Liebelei dachte, fiel Gustav ein.

Du bliebst bei alledem unvergessen, erwiederte die Dame. Du erhieltest Grüße wenigstens durch mich, und ich bestellte Grüße, wenn Deine Briefe sie auch nicht aussprachen. Glaube mir, ein Mädchen, der man auch nur lachend sagt: Der soll einmal Dein Mann werden! wird das mit von einem magischen Bande umwunden, das sie zwingt, ihren Empfindungen eine gewisse Richtung zu geben. So ist es auch Stephanien gegangen; sie ist daran gewöhnt worden, an Dich mit dem Gefühl zu denken: Der ist es!

Armes Mädchen! murmelte Gustav leise in seine Hand.

Dann die Mutter, fuhr die Geheimräthin fort. Sie ist meine aufrichtige Freundin; aber im Grunde ihres Herzens hochmüthig, wie die ganze Familie. Daß einer ihrer Vorfahren, ich weiß nicht welcher, zur Zeit des alten Fritz, oder noch früher, Minister gewesen ist, liegt ihr wie ein Alp auf dem Verstand. Indeß die Seiten haben sich geändert; die alten Familiennamen thuen es nicht länger. Grießfelds Vermögen ist nicht allzubedeutend, und ihre Verwandten haben meist nicht viel mehr, als ihre Degen; so steht es ja heut überhaupt mit dem Adel. – Der Director ist übrigens ein durchaus ehrenwerther Mann, aber ein eingefleischter Büreaukrat, der zehnmal mehr auf seine Mitgliedschaft im Staatsrath gibt, als auf alle Geburtsaristokratie.

Aber Stephanie, Mamma, sagte Gustav unterbrechend, ist Stephaniens Herz denn mein?

Das ist eine Welt, erwiederte die Geheimräthin, die Du selbst entdecken und erobern mußt, mein Sohn, und ich wundre mich –

Daß ich Dich darüber frage, rief der junge Mann erregt. Ja freilich das ist zu verwundern, aber ich weiß nicht, was ich glauben soll. – Stephanie ist freundlich, aber schüchtern, zurückhaltend, ängstlich. Je mehr ich mich bemühe mich ihr zu nähern, um so stärker sehe ich sie erschrecken. Wie kann ich glauben, Mamma, daß ich geliebt bin!

Du armes Kind! lachte die Geheimräthin, indem sie mit dem überlegenen Gefühl der Lebenserfahrung, und mit der spöttischen Freude einen so unwissenden Schüler in Amors großem Reiche vor sich zu haben, das Haar von der Stirne ihres Sohnes strich, ich sehe in allen diesen Zeichen nur Glück, wo Du Unglück siehst. Glaubst Du denn, ein Mädchen könnte ihren Bestimmten anblicken, ohne eine gewisse Schüchternheit, ein Erröthen, ein Verstummen, ein Zittern zu empfinden? Mein Freund, das sind die Kennzeichen geheimer Herzensregungen, es ist die flüsternde Stimme der Gedankenthätigkeit, welche einen Strom dunkler Ahnungen gegen die Mauer eines unbekannten Jenseit schleudert, das jedes Mädchen sich in tausend Träumen ausmalt. –

O! Mamma, rief der junge Mann, Du magst nur zu Recht haben, daß es so ist, wenn ein Mädchen den Bestimmten erwartet, aber anders ist es, wenn sie den Geliebten empfängt. – Blitzen da nicht seelenvoll ihre Augen, erweitern sich nicht die Himmelssterne in ihrer Brust, ist der Geliebte es nicht, der eine Welt voll Seeligkeit und nie empfundenem Glück ihr öffnet, und bringt dies Glück nicht ein neues Leben über sie, das keine Sprache schildern kann, das aber so verständlich ist, wie keine?!

Sieh da, Du bist plötzlich ein Poet geworden, fiel die Dame belustigt ein, als hättest Du einmal dies seelenvolle Liebesglück gekostet. Eine Studentenliebe hat der junge Herr angefangen, gestehen's ein. Ein hübsches Professortöchterchen oder eine abentheuerliche, verlassene Schöne; wer es war, die Dein armes Herz zuerst in Flammen setzte?

Eine dunkle Röthe überzog Gustavs Gesicht.

Liebe Mutter, sagte er mit gezwungenem Laden, ich würde Dir ein Bekenntniß ablegen, wenn ich eins zu machen hätte, allein was ich aussprach, waren Gefühle, die ich ungern verspotten lasse.

O! ich will Dich nicht verspotten, erwiederte die Geheimräthin, ich will Dich nur vernünftig machen und von Schwärmereien abhalten. Liebe, mein Freund, ist das unendliche Thema des Lebens, das von jedem Menschen componirt wird, je nachdem er es begreift. Für den Einen ist es ein Schwindel des Herzens, für den Andern eine Aufgabe des Verstandes. Du gehörst nicht zu denen, die eine Leidenschaft daraus machen, welche zur Raserei werden kann; Du wirst, wie ich Dich zu kennen glaube, Dein Herz so wenig, wie Deine Hand, das heißt Deine irdische Zukunft, leichtsinnig an das erste beste hübsche Gesicht, oder an ein paar strahlende Augen verschleudern, sondern bedenken, daß es deren viele auf Erden gibt. Die Narrheit der Liebe besteht eben darin, daß der Verliebte glaubt, es gibt nur Eine, die ihn beglücken kann und deren Besitz er erringen muß, möge das Weltall in Trümmer geben. – Nimm aber mein eigenes Beispiel. Ich habe Deinen Vater geheirathet mit achtzehn Jahren, weil meine Mutter sagte, es sei eine gute passende Parthie. Dein Vater war gerade noch einmal so alt, wie ich, schön hat man ihn nie genannt, eben so wenig war er besonders geistreich; allein wir haben eine glückliche Ehe geführt; ich habe ihn schätzen und lieben gelernt, und mich nie wieder verheirathet, wie manche Anträge mir auch gemacht wurden.

Du räthst mir Dein Beispiel an, sagte Gustav, aber der Fall ist nicht gleich. Du sagtest: ja, als mein Vater kam, und ließest Dich nicht zwingen, allein Stephanie –

Sie wird auch ja sagen und nicht dazu gezwungen werden, Du sonderbarer Mensch, rief die Mutter. – Wer flüstert Dir diese Zweifel ins Ohr? Deine Muthlosigkeit. Wage einen herzhaften Angriff, erkläre Dich, stürme die Festung, und sie wird sich Dir auf Gnade und Ungnade ergeben. Du bist wie Romeo: ein Narr des Glücks! aber in ganz anderer Bedeutung. Du willst Gewißheit haben, die Dir fehlt, und hast doch den Muth nicht, sie Dir zu verschaffen. Auf denn! Herr Zweifler. Heut noch findet sich die Gelegenheit, nimm sie wahr, und wir feiern in den nächsten Tagen Deine Verlobung.

Schweigen wir aber jetzt davon, fuhr die Geheimräthin fort, als ihr Sohn mit einem leisen Kopfschütteln antwortete, ich höre unsern ehrenwerthen Freund und Hausgenossen, den würdigen Herrn Frese, über unsern Köpfen umher spazieren, was das sichere Zeichen ist, daß er in einigen Minuten hier erscheinen wird, um mir seine Verehrung zu bezeigen.

Ich begreife nicht, erwiederte Gustav, wie Du mit dem unerträglichen alten Menschen Dich einlassen kannst.

Siehst Du, so verschieden ist der Geschmack, erwiederte die Mutter. Ich plaudere und ergötze mich mit ihm, höre tausend unnütze Klatschgeschichten, aber auch manches Nützliche, denn in seiner Art hat er auch Verstand, und sein ungeschlachtes Wesen ist possirlich. Endlich zahlt er pünktlich seine Miethe, belästigt mich nicht trotz aller seiner Schrullen und zeigt mir höchstens alle Tage durch ein Gepolter an, daß er mir die Ehre seines Besuche verschaffen will. – Es wird mir leid thun, wenn er auszieht, allein Du mußt mit Deiner jungen Frau hier wohnen. Sei freundlich zu ihm, Gustav, um so mehr, da er uns eigentlich einen schlimmen Streich spielen kann, denn wenn er will, hat er nicht nöthig, seine Wohnung zu verlassen. In einem Anfall von Unbesonnenheit habe ich sie ihm contractlich auf Lebenszeit zugesichert.

Im schlimmsten Fall mag er wohnen bleiben, murmelte der junge Mann vor sich hin.

Das soll er gewiß nicht, rief die Geheimräthin. Geizig und immer ärgerlich auf Steuern und Abgaben, wollte er das Stempelpapier nicht bei den Contractserneuerungen bezahlen, und schlug mir darum vor, einen auf Lebenszeit zu machen. Er wird sich jedoch fügen, wenn wir ihn nicht erzürnen, sei darum so höflich wie möglich.

Ich habe gar nichts mit ihm zu thun, sagte Gustav, und verlange einzig nur, daß er mich nicht belästigt.

Bei diesen Worten klopfte es an der Thür, und herein trat der Miether des oberen Stockwerks.

Es war ein alter ziemlich großer Mann, von starkem Körperbau und röthlichem vollen Gesicht, das einen schlauen und gemeinen Ausdruck hatte. Sein dünnes und grauweißes Haar war von der hohen Stirn nach hinten gekämmt, während es an den Ohren fast senkrecht in die Höhe strebte, was einen ganz eigenthümlichen Eindruck machte. Lebhafte, hellblaue und fast runde Augen blitzten unter gerötheten Augenlidern hervor, und die herabhängenden schlaffen Backen paßten vortrefflich zu seinen genußsüchtigen breiten Lippen. Eine weiße Halsbinde und eine gewisse Sauberkeit seines einfachen Anzugs verriethen den alten Hagestolz, der mit kokett erzwungener Jugendlichkeit seinen Körper zu tragen und die Jahre um ihr Recht zu betrügen suchte.

Nach den ersten Begrüßungen, die Herr Frese mit einigen steifgelenkigen Verbeugungen begleitete, indem er zugleich der Dame des Hauses die Hand küßte, zog er ein Pack Zeitungen aus der Tasche und sagte mit einem süßen Grinsen:

Ich bringe Ihnen die Zeitungen, Frau Nachbarin, damit Sie Ihre Morgenandacht halten können.

Pfui, Herr Frese, erwiederte die Geheimräthin schelmisch. Sie sind ein Spötter.

Bitte recht sehr, rief Herr Frese heftig lachend, ich bin so ein ehrlicher Deutscher, der mit der Wahrheit nicht hinterm Berge hält. – Beten Sie etwa des Morgens, wie es in der guten alten Zeit jeder Christenmensch ganz von selbst that, und den ganzen Tag unruhig gewesen wäre, wenn er es einmal vergessen hätte? Nein, Frau Nachbarin, Sie beten nicht, nicht einmal in die Kirche gehen Sie des Sonntags, obwohl Sie dort eigentlich in der größten Gesellschaft wären, und die lieben Sie ja, wie ich weiß, ganz über die Maßen. Und nun gar der junge Herr hier, unser Doctor der Weltweisheit, fuhr er fort. Ja, diese jungen Leute! Sie glauben nur noch an sich selbst, von Beten aber ist so wenig bei ihnen die Rede, wie von Bescheidenheit und Arbeitsluft.

Gustav, warf dem alten Herrn einen Blick der Verachtung zu und legte sich in den Sessel zurück, indem er unmuthig das Gesicht nach dem Fenster kehrte.

Aber, Herr Nachbar, sagte die Geheimräthin, Sie machen uns beiden da hübsche Complimente.

O, wie so? sagte Herr Frese. Ich bin so ein ehrlicher Deutscher, der den Mund nicht halten kann. Bitte tausend Mal um Verzeihung; aber sehen Sie den Lauf der Dinge an, wird es nicht alle Tage ärger?

Das kommt wahrscheinlich daher, weil Sie nicht die Welt regieren, lachte die Dame.

Weil ich nicht die Welt regiere? rief Herr Frese in die Hände klatschend, das ist ein kostbarer Einfall! Aber wenn ich die Ehre hätte, die Welt zu regieren, ich wollte eine andre Ordnung halten. – Die alte Sitte und Zucht brächte ich ihr wieder bei, und die alte Ehrfurcht. Sehen Sie, Frau Nachbarin, das ist die Sache. Sonst war Respect in den Menschen, jetzt haben sie vor nichts Achtung mehr; jeder Hans Narr denkt, er sei so viel als der Andere, und noch ärger: das Bettelgesindel glaubt ein Recht zu haben, mit denen zu theilen, die etwas besitzen. Das nennen sie soziale Frage! schrie er lachend, und zerbrechen sich die Köpfe, wie die Theilung am besten vor sich geben kann.

Darum ist es besser, sagte Gustav sich zu ihm wendend, man gibt freiwillig, was man zu geben vermag.

Geben! erwiederte Herr Frese, wie so geben? – Wir geben ja wahrhaftig so viel, daß es eine wahre Schande ist.

Haben Sie Kinder? fragte der junge Mann.

Kinder? – Ich! – Was wollen Sie damit sagen? fragte der alte Herr gereizt.

Ach, verzeihen Sie, ich hatte vergessen, daß Sie noch niemals vermählt waren, fuhr Gustav mit einem spöttischen Anflug fort; aber haben Sie keine Verwandten?

Verwandte? Was soll ich mit Verwandten thun? rief der alte Herr, verwundert den Kopf schüttelnd.

Es ist wahr, sagte die Geheimräthin, ich habe noch nie von Ihren Verwandten etwas gehört.

Ich habe auch keine, versetzte Herr Frese, und danke dem Himmel dafür; denn Verwandte sind gewöhnlich Ungeziefer, die uns bei lebendigem Leibe verzehren möchten.

Nun sagen Sie mir, fuhr Gustav fort, was wollen Sie mit Ihrem vielen Gelde machen?

Mit meinem vielen Gelde? fragte der alte Herr, die Stirne faltend. Woher wissen Sie denn, daß ich vieles Geld besitze?

Ich weiß es allerdings nicht, aber ein Mann, wie Sie, der dreißig oder vierzig Jahre lang mit Häusern und Gütern speculirt, und sich dann zurückgezogen hat –

Dreißig, vierzig Jahre! schrie Herr Frese mit schallendem Gelächter. Vor vierzig Jahren lag ich fast noch in der Wiege, mein weiser Herr Doctor, und ich sollte denken – er warf einen Seitenblick in den Spiegel daß ein solcher Irrthum nicht gut zu machen wäre.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte der junge Mann, dem es Vergnügen machte, den alten Herrn zu peinigen, ich erzähle nur, was ich gehört habe. – Der alte Herr Frese, sagt man, ist reich, sehr reich!

Die Elenden! Der alte Herr Frese! Es ist lächerlich.

Der alte Herr Frese hat Schätze zusammen gescharrt, fuhr Gustav fort, und hat keine Erben. Was wird er mit seinem Gelde machen?

Was ihm beliebt! schrie der alte Herr dazwischen.

Es wird ein herrenloses Gut werden, wenn er es nicht den Armen vermacht, den Darbenden und Leidenden, und darum sollte er schon bei Lebzeiten den Anfang machen, und seine milde Hand aufthun gegen seine einstigen Erben.

Die Bettler, die Vagabonden, die Taugenichtse! rief Herr Frese. Oh! ich kenne das, ich bekomme Bettelbriefe genug, und in früherer Zeit – O, ja wohl, haben andre Leute mir auch dergleichen dummes Zeug gesagt.

Was wollen Sie aber machen, wenn der Tod allen Besitz beendet?

Bleiben Sie mir mit dem Tod vom Halse, sagte der alte Herr, ich habe noch lange Zeit das zu überlegen.

Immerhin, allein darum bleibt es doch wahr, daß, was der Erde angehört, hier zurückbleiben muß und Andern zufällt, und eben deßwegen ist irdisches Gut und Geld ein Besitz, den man mit Weisheit gebrauchen und verwenden soll, um das Unrecht auszugleichen, unter dem die menschliche Gesellschaft leidet.

Schnickschnack! rief Herr Frese. Sie sprechen grade so wie die Weltverbesserer, die mir immer unausstehlich gewesen. Solchem Unsinn verdankt man alle die Unruhen und Empörungen gegen Gesetz und Obrigkeit, die jetzt Mode sind. – Erwirb dir was, so hast du was, und hungere, wenn du nicht fleißig bist! Das ist ein altes gutes Sprichwort. Dabei war Zucht und Ordnung, die Obrigkeit hielt das Volk zum Gehorsam an und war nicht so zärtlich mit Strafen wie heut zu Tage, wo Alles gesetzlich hergehen soll und die Ungesetzlichkeit immer größer wird. – Lesen Sie nur heut die Zeitungen, fuhr er fort, es steht wieder eine gräuliche Geschichte darin, an der man sehen kann, wie weit die Frechheit geht.

Was ist es für eine Geschichte, Herr Frese? fragte die Geheimräthin.

Eine schreckliche Begebenheit von der Grenze, sagte der alte Herr. Die Obrigkeit legt Zölle auf die Waaren, was sehr weise von ihr ist, denn, wenn sie das nicht thäte, müßte das Geld von uns aufgebracht werden.

Und Sie bezahlen nicht gern Steuern und Abgaben, rief die Dame lachend.

Ich sehe nicht ein, warum ich Abgaben bezahlen soll, erwiederte Herr Frese; allein das rohe Volk an der Grenze betrügt die Obrigkeit, läuft des Nachts mit großen Packen ins Land hinein und schlägt die Grenzwächter todt, wenn diese ihnen das Handwerk legen wollen. – So ist es denn neulich erst einem Steuerinspector gegangen, der eine solche Bande anhalten wollte. Hier steht's, sehen Sie da, es ist eine große Untersuchung angestellt, in welche Personen von Ansehen in der Gegend verwickelt sind.

Kennt man denn die Thäter? fragte die Geheimräthin.

Lesen Sie es vor, Herr Doctor, sagte Frese; Sie sehen ja ganz erschüttert aus von dem Unglück. – Sehen Sie, das entspringt aus Ihren Thorheiten.

Wer sagt Ihnen, daß ich, daß meine Thorheiten etwas damit zu schaffen haben? rief der junge Mann, indem er sich aufrichtete und eine dunkle Röthe sein Gesicht überzog.

Herr Frese war bestürzt über diese unerwartete Heftigkeit.

Nun, nun! sagte er, ich bin so ein alter ehrlicher Deutscher, der die Wahrheit nicht verschweigen kann, aber die modernen Grundsätze über das Mein und Dein, über Recht und Macht der Obrigkeit bringen Mord und Todtschlag hervor.

Aber, Gustav! rief die Mutter mißbilligend, Herr Frese hat Dich ja nicht beleidigen wollen.

Nein, gewiß nicht, erwiederte Gustav, ich kenne unsern Nachbar und nehme ihm so leicht nichts übel, aber diese Geschichte – es ist eine gewöhnliche Schmuggelgeschichte, fuhr er fort, wie sie tausendmal vorkommen. Grenzbeamte verfolgen einen Wagen –

Ein Kabriolet, sagte Herr Frese.

Schüsse fallen, das Pferd des Grenzbeamten scheut, bäumt sich, schlägt über und verlegt den Zollinspector so, daß er daran gestorben ist. Er warf das Zeitungsblatt auf den Tisch.

Die Geheimräthin ergriff es und las den Artikel, während Herr Frese nachdenkend den Finger an seine Nase legte und langsam sagte: Es ist schrecklich, daß selbst würdige Männer von Ansehen durch solche Bösewichte umkommen können.

Hoffentlich werden sie dem Richter nicht entgehen, fiel die Geheimräthin ein.

Gustav wendete sich rasch um; es war ihm unmöglich, seine Mutter anzusehen. So blieb er am Fenster stehen, während der alte Herr mit Eifer auseinander setzte, wie dergleichen heillose Buben jetzt gar nicht mehr gerechtermaßen gezüchtigt würden, wie früher, und statt gehörig gepeinigt und dann vom Leben zum Tode gebracht zu werden, gewöhnlich begnadigt würden.

Sonst gab's alle Augenblicke einen armen Sünder oder einen Kerl, der Spießruthen laufen mußte, rief er bedauerlich, und das Volk nahm ein Beispiel daran und prägte sich die gute Lehre ein; jetzt laufen sie in die Komödie, um Einen verurtheilen zu sehen, und wollen die Todesstrafe ganz abschaffen. Es ist unerhört, wie weit es mit uns kommt! Kein Mensch wird seines Lebens mehr sicher sein, und was wird denn dem Mörder im Kabriolet geschehen, wenn sie ihn haben? Ein paar Jahre ins Zuchthaus, das ist die ganze Herrlichkeit, damit kommt er davon, wenn er pfiffig ist.

Du willst uns verlassen? fragte die Geheimräthin, als sie ihren Sohn nach der Thüre gehen sah.

Ich werde wieder kommen, erwiederte dieser spottend, wenn der arme Sünder gefangen und gehangen ist.

Herr Frese legte sich in den Lehnstuhl zurück und schien sich herzlich über den Unmuth des jungen Mannes zu ergötzen. –

Es thut mir sehr leid, sagte er, und man sah es ihm an, daß es gelogen war – daß ich den Herrn Doctor zum Davonlaufen bringe.

Er hält nie lange aus, versetzte die Mutter.

Er ist, wie alle junge Leute jetzt sind: flatterhaftig, unbeständig und eigensinnig, sagte der alte Herr, indem er selbstgefällig nickte.

Meinen Sie? fragte die Dame.

Ganz gewiß. Er poltert bis spät in die Nacht umher, kommt unregelmäßig nach Haus, hat zuweilen Licht im Zimmer bis zum Morgen und schläft dafür bis in den Tag hinein.

Sie beobachten ihn genau.

Ich ärgere mich über die unordentliche Lebensweise, sagte der alte Herr, und habe neulich einen Schreck davon getragen, wie ich mitten in der Nacht ihn laut in seinem Zimmer sprechen hörte. Die Vorhänge waren zugezogen, ich sah ihn aber nachtwandeln und hastig hantiren.

Er studirte vielleicht.

Studirte? Gott bewahre! Wenn man studirt, sitzt man still. Ich konnte am Schatten sehen, wie er umher lief, die Hände rang, die Fäuste ausstreckte, als wollte er unter die Komödianten gehen. Anfangs glaubte ich, – nun, ich will darüber schweigen, ich bin so ein ehrlicher alter Deutscher, der allerlei Gedanken hat.

Reden Sie doch, lieber Nachbar, sagte die Geheimräthin.

Nun, ich dachte erst, es wären ihrer zwei, fuhr Herr Frese mit seinem süßesten Grinsen fort, und sicher bin ich meiner Sache noch nicht – verstehen Sie, Frau Nachbarin, zwei! –

Die Geheimräthin sah ihn erschrocken an.

Herr Frese, sagte sie, Sie werden meinem Sohn nicht zutrauen, daß

er –

Ich sage nichts, fiel der alte Herr ein, aber nicht zutrauen? O, der Tausend! Solche junge Herrn sind nicht mehr aus unsrer guten Zeit. Nicht zutrauen, Frau Nachbarin? Unsrer liebenswürdigen Jugend traut sich noch viel mehr zu.

Nein, das ist nicht wahr! sagte die Dame mit Bestimmtheit.

Ich behaupte es auch nicht, rief Herr Frese, aber ich habe mich nicht überzeugen können. Sie wissen, daß ich durch den Glascorridor auf den andern Seitenflügel und bis zu dem Zimmer des Herrn Doctors kommen kann, und da ich neugierig war; – Sie werden mir verzeihen –

Gewiß, gewiß! sagte die Dame.

So versuchte ich dahin zu kommen, allein der Corridor war von innen verriegelt. So hörte ich denn nur einzelne dumpfe Worte, die ich nicht verstehen konnte.

Die Geheimräthin lachte. Das geschah Ihnen recht für Ihre Neugier, sagte sie. Sie wollen Gustav verläumden, weil er Sie zuweilen ärgert und weil Sie ihn nicht leiden mögen.

Ich schwöre Ihnen, daß ich ihn sehr gut leiden mag, sagte Herr Frese feierlich. – Daß er mich nicht besonders gern hat, habe ich wohl bemerkt, aber daran bin ich gewöhnt. Ich stehe allein in der Welt, Sie sind meine einzige Freundin, Frau Nachbarin. Seit funfzehn Jahren beobachte ich Sie und Sie mich; alle Tage habe ich die Ehre, Sie zu sehen, nun frage ich Sie, habe ich nicht immer Ihre Zufriedenheit erworben?

Gewiß, Herr Nachbar, sagte die Geheimräthin.

Haben Sie je von mir gehört, daß ich ein leichtsinniger, unordentlicher, lasterhafter Mensch sei?

Sie sind ein Muster von Ordnung, Anstand und guter Sitte, erwiederte die Dame.

Sehen Sie wohl, rief Herr Frese, indem er seinen Stuhl näher heran schob und die Hand der hübschen Nachbarin küßte, so denke ich ebenfalls von Ihnen. Unser Freundschaftsbund wird nie enden.

Wer weiß, erwiederte sie in leichtem Tone; es könnten Veränderungen vorgehen.

Mit mir? sagte Herr Frese. Nie!

Nun denn, vielleicht mit mir.

Oh! rief der alte Herr sie anstarrend.

Was meinen Sie dazu? fragte die Geheimräthin.

Bah! sagte er boshaft sein Gesicht verzerrend, ich meine gar nichts, aber wenn Sie es durchaus wissen wollen, ich bin ein ehrlicher Deutscher: Es wäre eine ausgemachte Narrheit.

Wenn sich Gustav verheirathet? – Ich sehe darin nur ein gutes Mittel, ihn ordentlich und ruhig zu machen.

Der Herr Doctor! schrie der alte Herr plötzlich belehrt. Ja so! wahrhaftig, man wird nächstens die Kinder verheirathen.

Wünschen Sie etwa, daß er so lange warten soll, wie Sie? erwiederte die Geheimräthin lebhaft. – Sie haben sehr unrecht gethan, die Zeit verstreichen zu lassen.

Ich denke, sagte Herr Frese die Hände reibend und ernsthaft werdend, daß, wenn ich Verlangen empfände, mich zu verheirathen, es immer noch nicht zu spät sein würde. Oder meinen Sie, Frau Nachbarin, daß es damit für mich rein aus sei?

Was soll ich Ihnen darauf antworten? sagte die Dame, ihn schalkhaft anblickend.

Ueberlegen Sie, erwiederte Frese, ich will Ihnen ein aufrichtiges Bekenntniß ablegen. Ich bin zwar kein Jüngling mehr –

Aber Sie sehen seit funfzehn Jahren unverändert sich gleich, fiel die Nachbarin ein.

Gehorsamer Diener! ich bin von richtigem Schrot und Korn, nicht wie die jungen Herren von heute, deren ganze Kraft in den Kosackenbärten sitzt. – Mein Leben über habe ich haushälterisch verfahren mit Gesundheit und Geld, und darum habe ich beides behalten und gewahrt. Ja, Frau Nachbarin, man nennt mich reich und ich bin es auch, obgleich ich es nicht jedem Laffen, der danach fragt, sage. Dazu besitze ich keine Verwandten, die mich angehen, keine Kinder, keine Seele, die irgend ein Recht an mich hat.

Vortreffliche Eigenschaften! sagte die Geheimräthin.

Sie meinen also, ich könnte es noch wagen? fragte Herr Frese leise, sich zu ihr neigend.

Aber, mein Himmel! rief die Dame lachend, wie kommen wir auf dies Thema? Seit so vielen Jahren wohnen wir hier beisammen, doch nie haben Sie mir so viel Vertrauen gezeigt, nie solche Fragen vorgelegt.

Der alte Herr nahm ihre Hand und sah mit seinen runden, blauen Augen schmachtend zu ihr hin.

Anbetungswürdige Nachbarin, sagte er, der Himmel hat es so gefügt, daß ich mein Bekenntniß nicht eher machen sollte. Ich bin ein Mensch von mancherlei Eigenheiten und Seltsamkeiten. Ich kann keinen Widerspruch leiden, keine Neuerungen, keine Weiberlaunen, keine Beherrschung meines Willens. Dabei bin ich streit- und zanklustig, rechthaberisch und heftig.

Die heftigen Männer sind die besten, rief die Geheimräthin dazwischen.

Sie glauben also, daß ich mit allen meinen Fehlern doch um eine schöne Hand werben und glücklich sein könnte?

Es käme darauf an, erwiederte sie, was Sie davon erwarten. – Das Alter ist einsam und langweilig.

Sehr langweilig, sagte Herr Frese seufzend.

Man sehnt sich nach einem Wesen, das mit uns empfindet und sich mit uns freut, fuhr die Dame fort.

Das eine redselige Zunge besitzt und allerlei hübsche Einfälle hat.

Das uns pflegt, wenn wir leiden, uns tröstet, wenn wir betrübt sind.

Uns auslacht, wenn wir uns unnütz beklagen.

Das liebend für alle die kleinen Bedürfnisse des Lebens sorgt, und sorgfältig allen Verdruß von uns entfernt.

Das Wäsche und Nachtmützen in Ordnung hält und mit liebenden Händen uns gibt, was wir haben sollen, rief Herr Frese mit Pathos.

Dessen zärtliche Sorgfalt unermüdlich ist, uns den Abend des Lebens zu erheitern, sagte die Geheimräthin schmelzend.

Und Sie glauben wirklich, liebste Nachbarin, daß ich im Stande wäre, einen solchen weiblichen Engel zu bewegen?

Ich würde den Versuch machen, erwiederte sie.

Herr Frese hielt ihre Hand fest; seine Augen erweiterten sich, sie blickten sich Beide an und lächelten. – Plötzlich aber sprang der alte Herr auf und fing heftig zu lachen an.

Gott steh' mir bei! sagte er, wohin kann man gerathen! Wissen Sie, Frau Nachbarin, ich habe mein ganzes Leben über nichts mehr gehaßt, als das Heirathen. – Ich bekam Nervenzucken, wenn ich daran dachte; aber ich will's mir überlegen, will darüber nachdenken, ob ich es vertragen kann, ob's zu meiner Constitution paßt, zu Tode gepflegt zu werden.

Er sah boshaft aus wie ein Affe, als er seinen Rückzug antrat, und der Geheimräthin, die dunkelroth vor Ueberraschung und Aerger geworden war, sich empfahl. –

Wen heirathet denn der liebe Herr Doctor? fragte er an der Thür. Fräulein Stephanie, nicht wahr? Es wird eine vortreffliche Schwiegertochter sein, ganz mein Geschmack. So still, so anspruchslos, so mondscheinartig blaß und mager. Meine unterthänigsten Gratulationen!

Tausend Dank! erwiederte die Geheimräthin lachend, ich hoffe, Sie kommen morgen zur Verlobung.

Herr Frese steckte den Kopf nochmals zur Thür herein. Ich werde kommen, theuerste Frau Nachbarin, sagte er, und mich an dem Glück der beiden geliebten Kinder erbauen. Ein Vater kann nicht innigeren Antheil nehmen.

Der abscheuliche alte Narr! sagte die Geheimräthin im Zorn. Aus dem Hause soll er. Wie konnte ich auch denken, daß er im Ernst spräche; aber, fuhr sie langsam fort: Er ist alt, reich und ohne Erben, soll man das Alles aus der Hand geben?


Kapitel IV.

Der junge Wilberg hatte in seiner aufgeregten Stimmung mehrere Stunden gebraucht, ehe er ruhiger überlegte, was er jetzt thun sollte, nachdem der Zufall ihm über den weiteren Verlauf seines Abentheuers an der Grenze eine unerwünschte Aufklärung verschafft hatte. – Er hatte sich mit Hoffnungen hingehalten, die nach und nach zur Gewißheit wurden, daß Alles längst abgethan und vergessen sei; jetzt aber kam mit neuen Vorwürfen die bange Besorgniß, daß sein Antheil an jenem Verbrechen, wie man es nannte, entdeckt werden könnte, und daß er, in einen Criminalprozeß gezogen, einer entehrenden Strafe anheim fiele. –

Eine entsetzliche Last sank auf sein Herz, wenn er sich vorstellte, welche Folgen das für ihn haben mußte, und lange blieben die Tröstungen, Entschuldigungen und Gegengründe vergebens, mit denen die innere Stimme ihn zu beruhigen strebte. Mit getheilten Empfindungen dachte er an die flüchtige Bekanntschaft mit den beiden Personen, denen er alle diese Fatalitäten zu danken hatte, und bald war er bereit, es für ein Spiel des bösen Feindes zu halten, der ihm den vertrakten Kapitain in den Weg warf, bald dachte er mit bangem Nachsinnen wieder an das fröhliche unerschrockene Mädchen, die lebhaft während seines langen Spazierganges vor ihm stand und muthwillig über seine Besorgnisse lachte. –

Seufzend warf er sich endlich auf eine Bank in dem öden Park, wohin ihn der Weg geführt, und überlegte, wie ein kluger Mann, was zu thun sei. – Daß er nichts ändern und nichts bessern könne, leuchtete ihm ein; eben so gewiß war es, daß, was auch geschehen und welchen Verdacht die Späher verfolgen mochten, dieser auf ihn so leicht nicht fallen konnte. Er war in die einsame Mühle gekommen und verschwunden, ohne daß Jemand anders als die nächsten Hausbewohner darum wußten; diese schwiegen gewiß, und von den beiden Hauptpersonen hatte er noch weniger zu besorgen.

So kehrte denn sein Selbstvertrauen zurück, gemischt mit reuigem Bedauern über den Tod des Grenzinspectors, den er jedoch als ein Ereigniß betrachtete, an welchem er nur eine sehr mittelbare Schuld sich beimessen konnte. Warum ritt der Mann ein Pferd, das sich mit ihm überschlug? Warum stürzte es auf ihn und verletzte ihn lebensgefährlich? Er fühlte sich erleichtert durch diese Abwälzung aller vorsätzlichen Theilnahme an einem Verbrechen, und wandte seine Gedanken einem ganz andern Gegenstande zu, der ihn beschäftigte, denn er dachte an das Gespräch mit seiner Mutter.

Es ging ihm, wie er sich nicht ableugnete, ziemlich nach demselben Ausspruche, den die Geheimräthin über Stephanie gethan hatte. Seit Jahren kannte er die Absichten seiner Mutter, aber sein männlicher Freiheitssinn hatte sich dagegen gesträubt. Er dachte mit einer unangenehmen Empfindung an jenen Plan zweier Frauen, berührte den Gegenstand nie in seinen Briefen, empörte sich vor den Andeutungen, und war keineswegs zurückgekehrt, um sich, wie er sagte, verkuppeln zu lassen.

Als er jedoch in das Haus des Directors von Grießfeld trat, war Manches anders, wie er erwartete. Die feine, vornehme Frau nahm ihn mit Zuvorkommenheit auf, der gesellschaftliche Kreis, in den er trat, war ein höchst gebildeter, aber eben so heitrer und ziemlich zwangloser. Die kalte Steifheit und Förmlichkeit, welche sonst wohl die sogenannte gute Gesellschaft für unerläßlich hält, war hier wenig zu finden; nach wenigen Tagen war daher der junge Wilberg eingebürgert, ein Freund, den man als solchen empfängt, und der es weiß, daß er nie zu oft kömmt.

Die Einzige aber, welche ihm fremd blieb, war die, der er zu allernächst stehen sollte. Als Gustav sie zum ersten Male wieder sah, war er überrascht und erschrocken, er hatte sie ganz anders gedacht. Es war etwas Wahres daran, was der alte Herr Frese boshaft lachend von ihr gesagt hatte. Sie war groß und schlank, das längliche Gesicht blaß, mit jenen scharf geschnittenen aristokratischen Zügen, deren eigenthümlicher Ausdruck die Benennung rechtfertigt. Es war eine Treibhauspflanze, die in eingeschlossener Luft sich entwickelt hat und unter ewiger Pflege nicht kräftig werden konnte; aber in ihrer Zartheit erregte sie Bewunderung und ihr Anblick, ungewöhnlich und imponirend, mußte Theilnahme erwecken, und erweckte sie auch bei dem, der sich ihrer erwehren wollte.

Allein damit war es nicht abgethan, denn ganz sichtlich wurde Stephanie einsilbiger und fremder, jemehr Gustav sich ihr näherte. Es lag eine Kluft zwischen Beiden, die sich tiefer machte statt sich auszufüllen, und nun begannen für Wilberg Tage des Mißmuths und der Aufregung, in denen gekränkter Stolz, verletzte Eitelkeit, mißtrauisches Beobachten und kaltes Zurückweichen mit Stunden der Hingebung und der inneren Aussöhnung wechselten.

Er sagte sich, daß Stephanie wahrscheinlich eben so gut wie er selbst den Zwang empfinde, den die thörichten Verabredungen ausübten, daß ihr Gefühl sich dagegen empörte, und er lobte diese Charakterstärke und schwur, daß er um keinen Preis eine Frau haben möge, die ihn nicht aus voller Seele liebe. –

Jetzt saß er im Nachsinnen über das, was seine Mutter von ihm verlangte, und überlegte mit vielen gefaßten und verworfenen Entschlüssen, wie er Stephanie eine Erklärung geben und diese einleiten solle, als er plötzlich durch ein lautes Lachen aus seinen Gedanken aufgeschreckt wurde. –

Als er empor sah, erblickte er zu seinem Aerger den alten Herrn Frese, der, auf sein spanisches Rohr gestützt, zehn Schritte von ihm stand und ein wahres Satyrgesicht machte.

Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen, schrie der alte Herr, ein Zufall, der nicht schöner gedacht werden kann. – Seit einer Stunde denke ich fortgesetzt an den Herrn Doctor mit aller Energie und finde ihn hier plötzlich, wo ich es am wenigsten erwartete, wie einen Poeten, wie einen Verzweifelnden oder wie einen Verliebten unter kahlen Bäumen bei rauschendem braunen Laube sitzen.

Möglich, daß Sie Recht haben, erwiederte Gustav, aber alle diese Kategorien pflegen am liebsten allein zu sein.

Bah! rief Herr Frese, davon lasse ich mich nicht abschrecken. Ich sage Ihnen meine zärtlichsten Glückwünsche zur bevorstehenden Verbindung.

Sie?! versetzte Gustav. Was wissen Sie davon?

Was die ganze Welt weiß, sagte der alte Herr ihn angrinsend. Seit den vierzehn Tagen, wo Sie uns und besonders mich durch Ihre Gegenwart beglücken, sagt sich Jedermann, daß es bald eine Hochzeit geben wird. – Fräulein Stephanie soll seit dieser Zeit wie eine Verklärte umher wandeln und so roth und frisch aussehen, wie eine Müllertochter.

Herr Frese, erwiederte Wilberg aufstehend, treiben Sie mit mir Ihren Scherz, wenn es nicht anders sein kann, aber vermeiden Sie den Namen einer jungen Dame, die Sie nicht verspotten dürfen, wenn ich es höre.

Bravo! Herr Doctor, schrie der alte Herr. Was die Verliebten hitzig sind! Ich könnte ihm sagen, er habe ein Verbrechen begangen, er habe den Grenzinspector todt geschossen, er lacht dazu, aber jedes Wort über die Geliebte wirft Feuer in ein Pulverfaß. – Was habe ich denn aber gethan? fuhr er fort. Ich sage nichts Böses, ich freue mich über die allerliebste, hoffnungsvolle Zukunft, über das enorme Glück von allen Seiten. – Der Herr Director ist ein hochgeachteter Herr von Einfluß, sein Schwiegersohn wird Carriere machen. Die ganze Familie ist respectabel, und was sie nicht hat, haben Sie, Herr Doctor: Geld! und das ist die Hauptsache, das bringt den Liebessegen mit vollen Händen.

Die Liebe hängt nicht immer am Geldsack fest, sagte Wilberg, weiter gehend.

Aber der Geldsack ist die Mutter der Liebe! rief Herr Frese, gleichen Schritt haltend. Liebe mit Geld ist eine bedenkliche Sache, Liebe ohne Geld ist eine vollständige Verrücktheit. Nun, fuhr er fort, seinen jungen Nachbar von der Seite anblickend, glücklicher Weise wird man darin immer aufgeklärter. Was glauben Sie, Herr Doctor, so schmuck Sie aussehen: hübsch gewachsen, hübschen Bart, schwarzes Glas am Bändchen und immer gelbe Handschuh und weiße Wäsche, was glauben Sie? Würde der Herr Director und die Frau Directorin aus dem Hause der Wollzogen Ihnen das gnädige Fräulein Tochter geben, wenn sie nicht wüßten, der alte Geheimrath hat ein hübsches Vermögen hinterlassen, und der junge Herr da ist sein einziger Sohn? – Sehen Sie, das thut das Geld! Für eine Million können Sie eine Gräfin heirathen, für ein paar Millionen thut's eine Prinzessin.

Er lachte mit seiner gewöhnlichen Bosheit, und da er sah, daß Wilberg nicht antworten wollte, fuhr er fort:

Bei einem gnädigen Fräulein kommt man billiger an, aber nehmen Sie sich in Acht vor der vornehmen Familie. Auf mein Wort! wenn ich je mich so weit vergessen könnte zu heirathen, ich würde nie ein Mädchen nehmen, die es halb und halb als eine Gnade betrachtet, wenn sie Einem ihre Hand reicht, der, wie die Andern sagen, nicht ihres Standes ist. – Eine Mißheirath, ein Heruntersehen, ein gnädiges Sich-bücken! Zehn gegen Eins gewettet, es kommt dahin, trotz des Geldes, wenn der Mann nicht ganz nach der Pfeife tanzen will. Das Geld, Freundchen, das Geld! Sie nehmen so einen reichen bürgerlichen Tölpel, weil er schaffen kann, was ihnen gefällt, aber sie sehen es als seine verdammte Schuldigkeit an, und wenn er irgend Miene macht, nicht zu wollen, wie sie, so bricht das Ungewitter los. – Ich hab's gesehen unzählige Male, und wollte mir lieber einen Strick um den Hals machen, als den Hals in solch ein Joch stecken. Wo wollen Sie denn hin? rief er, als er sah, daß sein Begleiter Miene machte, ihn zu verlassen. Wollen Sie nach Haus?

Nein, erwiederte Gustav, ich habe mit Freunden verabredet, heut dort drüben in dem Hotel zu speisen.

Vortrefflich! sagte der alte Herr, das war just mein Gedanke, dahin begleite ich Sie, mein theuerster Freund.

Wie in Tausend und eine Nacht der schreckliche Greis sein Opfer so lange umklammert hält, bis er es todt gequält hat, so hing sich der alte Herr fest an Gustavs Arm, als fürchte er, daß er ihm entwischen könnte. Diese Besorgniß war nicht ungerechtfertigt, denn der innere Ekel Wilbergs vor dem aufgezwungenen Begleiter war so groß, daß er nahe daran war, ihn um jeden Preis abzuschütteln. – Er dachte jedoch daran, was seine Mutter ihm mitgetheilt, daß man diesen Mann nicht erzürnen dürfe, dessen rachsüchtige Gemüthsart gewiß nicht unterlassen würde, sich Genugthuung zu verschaffen. Ohne Widerstand folgte er daher dem alten Herrn in das Haus, der von Zeit zu Zeit ihn mit seinem spöttischen Grinsen und hellfunkelnden Augen anblickte, als sammele er einen neuen Vorrath von Bosheiten, um ihm das Heirathen zu verleiden.

In dem Speisesaal des Hauses war es ziemlich leer, die eigentliche Mittagsstunde war vorüber. – Lassen Sie uns hier ein Tischchen nehmen, da Ihre Freunde vermuthlich schon fort sind? sagte Herr Frese lachend und ihm spöttisch zunickend. So recht vertraulich gegenüber wollen wir uns setzen, wie zwei Brüder, oder noch besser, wie Vater und Sohn.

Er lachte hell auf und fuhr dann mit dem Ton der Ueberlegenheit fort:

Was haben Sie gegen den Vergleich, Herr Doctor? Glauben Sie nicht, daß es möglich wäre? O! Sie wissen nicht, was geschehen kann, was sich begeben kann.

Ich verstehe Sie nicht, erwiederte Gustav lachend und erstaunt.

Wäre es denn ein Wunder, fuhr Herr Frese fort, wenn, ich setze den Fall, eine hübsche Witwe den Gedanken faßte, sich mit mir zu verbinden? Es wäre gescheit, ganz verdammt gescheit! Die Witwe könnte denken: Der alte Mensch ist es schon werth, daß ich mich seiner annehme und ihn ganz langsam zu Tode pflege oder zu Tode ärgere. Geld muß er haben, ein alter Geizhals ist er obenein. Verwandte besitzt er nicht; wenn er also ein Testament macht, aber ein unwiderrufliches muß es sein, so könnte ich mich wohl entschließen, mich seiner anzunehmen.

Ich hoffe, Herr Frese, sagte der junge Mann, daß, was Sie da sagen, nichts ist, als Ausgeburten Ihrer Fantasie.

Versteht sich, meine Fantasie, Herr Doctor, nichts als meine Fantasie, erwiederte der alte Herr mit dem boshaftesten Gesichterschneiden. Aber nehmen Sie Ihre Suppe, sie wird kalt werden über die Vaterfreuden, die Sie empfinden. Ist es nicht so? Auf Ehre! Sie sind ganz in Entzücken gerathen.

In dieser Weise fuhr er fort, die Tischunterhaltung zu führen, in der Absicht, seinen Nachbar so viel zu ärgern, als er vermochte, was ihm unendliches Vergnügen machte. Er hatte noch mehr gegen den jungen Wilberg einzuwenden als gegen andere Menschen, denn dessen Gegenwart im Hause behagte ihm eben so wenig, wie sein nichtsachtendes Benehmen; allein sobald Gustav die Absicht merkte, ihn zum Gegenstand der Verspottung zu machen, gab er ihm mit Zinsen alle seine Spöttereien zurück und sah mit innerer Genugthuung, daß Herr Frese seine Heiterkeit in demselben Grade verlor, wie er sie gewonnen.

Beide beachteten dabei längere Zeit nicht, daß sich nicht weit von ihnen ein fremder Herr niedergelassen hatte, der in aller Stille sein Mittagsmahl hielt und nur dann und wann einen kalten Blick auf die laut sprechenden und lachenden Gäste warf. Endlich aber schien er aufmerksamer zu werden, und indem er sich mit einem Journal beschäftigte, das er in der Hand hielt, setzte er sich so, daß ihm kein Wort der Unterhaltung entgehen konnte.

Sie wollen also wahrscheinlich mich darum nicht nach Haus begleiten, wie ein guter Sohn, sagte der alte Herr, weil Sie eine süße Stunde vor sich haben, eine einsame Promenade mit der Angebeteten oder dergleichen, ist es nicht so?

So ist es, erwiederte Wilberg, ich will ihr heut gestehen, daß ich sie über alle Maßen liebe. – Was sind Sie zu bedauern, Herr Frese, daß Sie solche Stunden auf ewig entbehren müssen.

Glauben Sie, daß ich dergleichen alle Tage haben könnte! rief Herr Frese; für Geld ist Alles zu haben. Liebe, Treue, Glaube, Alles wird gekauft und namentlich Weiberliebe! Ich wette keinen Groschen, daß Ihre angebetete Stephanie Sie nicht sitzen läßt, wenn heut Einer kommt, der ihr mehr verspricht.

Sie verläumden! sagte Wilberg. Sie sind einer jener verknöcherten Menschen, die nichts lieben und nichts achten, weil sie im eigenen Herzen nie den Maßstab für Andere fanden; aber dennoch möchte ich glauben, daß Ihr Leben Sie Lügen straft. Es kann nicht so traurig vergangen sein, daß Sie darin nicht wenigstens einen Menschen fanden, der Ihnen Achtung oder Haß vor seiner Tugend einflößte; der vom Gelde nicht verlockt, um Geld nicht käuflich war; und vielleicht ist es sogar ein Weib gewesen, vielleicht war es ein Mädchen, die Sie mit alle Ihrem Golde nicht mochte und einem armen Geliebten ihre Hand reichte. Gestehen Sie, das ist es. Dieser Schicksalsspaß hat Sie um alle Fassung gebracht, und aus Aerger darüber haben Sie allen Weibern Haß, und allen Männern Rache geschworen.

Der alte Herr schien von diesen Beschuldigungen ärgerlich erregt zu werden. Er schüttelte den Kopf, wollte etwas antworten, schwieg aber still und versuchte sein gewöhnliches grinsendes Lachen, allein es wollte nicht glücken. Heftig nahm er eine Priese und blickte vor sich nieder, als denke er an Etwas, woran er lange nicht gedacht hatte; dann aber kehrte seine alte Unverschämtheit zurück, und Verachtung oder Haß, oder beides zugleich, blickte aus seinen Augen. –

Wenn es wahr ist, daß es solche tugendhafte Narren gibt, sagte er, so habe ich wenigstens nie mit ihnen zu schaffen gehabt. Praktisch sein, ist die Hauptsache in dieser Welt, Fantasten und Schwärmer sind mir immer ein Gräuel gewesen; Romanhelden und dergleichen, oder verliebte Weiber, sind eine Pest für die menschliche Gesellschaft. Aber ein Geck gilt den Mädchen mehr als ein verständiger Mann, und je unsinnigeres Zeug Einer vorbringen kann, um so lieber ist er ihnen. –

Die Heftigkeit mit der er sprach, und sein dunkelgefärbtes Gesicht drückten den Antheil aus, den er daran nahm, bis ihn die spöttischen Mienen seines Nachbars erinnerten, daß er aus der Rolle falle. –

Ja, Sie, rief er im alten Tone, mit Ihnen ist es freilich anders. In Ihrer Welt muß Alles voll Tugend und Begeisterung sein. Die gewöhnliche Ordnung ist nichts, alle Mädchen sind Engel, und Fräulein Stephanie sitzt in einer Wolke von Abendröthe mit Sternen gestickt und lächelt holdseelig herunter. Ich bin aber überzeugt, es ist Ihnen schon oft so gegangen, und keine Woche, wo nicht irgend ein Mensch, der die Menschheit an sein Herz drückt, oder ein Mädchen, das für den Geliebten in's Wasser springt, Ihnen über den Weg läuft.

So häufig kommt es freilich nicht vor, sagte Wilberg lachend, aber vor ein paar Wochen lernte ich wirklich einen Mann und eine junge Dame kennen, die Ihre Zweifel an menschlicher Würde zu Schanden machen könnten.

Also Reisebekanntschaften mit tugendhaften Naturkindern, das ist interessant! rief Herr Frese. Die Idyllen mit Schäferinnen und Hirten sind leider ganz aus der Mode gekommen.

Es war auch keine Idylle, erwiederte Gustav. Es war ein Mann, der Welt und Menschen besser kannte wie Sie, aber Herz und Gemüth besaß für deren Leiden und Zorn gegen die Ungerechten. Um alles Gold der Erde würde dieser Mann kein Unrecht begehen können, und um keine Königskrone würde das Mädchen ihre Hand verhandeln.

Alle Wetter! rief Herr Frese, es ist gut, daß Fräulein Stephanie das nicht hört, und Ihr Gesicht dabei sieht. Wo leben denn die beiden kostbaren Exemplare? Sie sind ja in Rostock gewesen, leben sie etwa in Mecklenburg?

Wenigstens nicht weit davon, erwiederte Wilberg.

Herr Frese schlug ein schallendes Gelächter auf. An der mecklenburgischen Grenze! schrie er; dort also ist das Asyl der Tugend. Wo man die Zollinspectoren todtschlägt, wohnt der weiseste und edelste aller Sterblichen.

Hier hielt er plötzlich inne, denn hinter ihm ließ der fremde Herr das Journal, das an einem langen Holzstabe befestigt war, hart auf den Tisch fallen, indem er aufstand und den Stuhl, auf welchem er gesessen hatte, zurückstieß.

Der alte Herr sah sich um, Wilberg ebenfalls. Der Fremde nahm seinen Hut und zog die Handschuh an, während er seine Blicke fest auf die beiden Beobachter richtete. Es war ein Mann von untersetzter starker Figur, schwarz gekleidet, und auffallend blaß. – Ein brauner dichter Bart umzog sein Gesicht und bedeckte die Oberlippe; ein ungeheurer Wald von Haar legte sich in schönen Ringen und Locken um seine breite Stirn, und zu den großen ernstblickenden Augen paßte der Zug melancholischer Verdüsterung, welcher um seine Lippen schwebte.

Den haben wir auch in seinem Vergnügen gestört, sagte Herr Frese, sehr belustigt von dieser Vorstellung. Er sieht aus, als wollte er uns verschlingen statt der Pastete, die er da stehen läßt. Nun, Sie wollen also wirklich fort? fragte er dann, als er Wilberg aufstehen sah. Es ist merkwürdig, was verliebte Leute ungeduldig sind. Ich hätte Ihnen noch so viel Lehrreiches und Schönes zu erzählen, wir könnten zusammen Kaffee trinken, aber Fräulein Stephaniens schalkhafte Augen sind freilich ganz andre Magnete, als meine Weisheit. Nun warten Sie, ich gehe mit.

Ein ander Mal, rief Wilberg, indem er sich schnell auf den Weg machte. – Denken Sie inzwischen darüber nach, was Sie von meiner Mutter, oder von Menschen, die sonst in Ihre Nähe gerathen, Spaßhaftes erfinden können. –

Der alte Herr lachte so laut er konnte ihm nach, bis sein gekränkter Gast verschwunden war.


Kapitel V.

Fräulein Stephanie saß am Nachmittage dieses Tages allein in dem Gesellschaftszimmer, oder vielmehr nicht ganz allein, denn während sie den Sessel in der Fensternähe eingenommen hatte, schlief ein ältlicher Herr in der Sophaecke unverkennbar fest. Das junge Mädchen warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Herrn, als wünsche sie, daß er aufwachen möge, aber sein Kopf mit dem spärlichen Haar lag ihm schwer auf der Brust, und das dicke Gesicht mit dem Schnurrbart schien beinahe einem Todten anzugehören. Leise zog die junge Dame endlich ein Papier in Briefform aus der Tasche ihres Kleides, und eben wollte sie es öffnen, als ein Geräusch an der Thür eine blitzschnelle Bewegung ihrer Hand nach sich zog, mit welcher jenes Papier verschwand. –

Einen Augenblick darauf trat eine Dame herein, die von einem Stille heischenden Blicke Stephaniens und einem Ausstrecken des Zeigefingers nach dem Sopha empfangen wurde.

Die Dame beantwortete lächelnd diese Zeichen und ging auf den Zehen weiter, bis sie neben dem Fräulein sich niedersetzte und ihr Gespräch damit begann, daß sie ebenfalls ein Papier in Briefform aus der Tasche zog und es Stephanien entgegen hielt.

Lies das, sagte sie, ich habe es soeben erhalten.

Von der Geheimräthin Wilberg, erwiederte das Fräulein, einen Blick auf die Schriftzüge werfend.

Die Dame nickte und öffnete den Brief, den Stephanie nahm, bis nach einigen Augenblicken ihr ganzes Gesicht von einer schnellen Röthe überzogen wurde, und sie die Hand langsam fallen ließ.

Nun? sagte Frau von Grießfeld, lachend den Arm um sie legend.

Liebste Mutter! erwiederte das Fräulein, ich bin sehr erschrocken.

Wie alle Mädchen sind, wenn der entscheidende Augenblick da ist, flüsterte die Mutter, im Grunde aber mußt Du es vorher gesehen haben, denn Du weißt –

Ja, ich weiß, sagte sie leise.

Und Gustav ist wirklich ein schöner junger Mann, hübsch gewachsen, ein interessantes Gesicht, was sagst Du?

Ich habe ihn wirklich noch nicht so genau betrachtet, lispelte das Fräulein.

Nicht genau betrachtet?! Ich habe selbst gesehen, wie oft Du ihn still anschautest, wenn er es nicht sah. Grade heraus, Stephanchen, wie gefällt er Dir?

Wenn ich es sagen soll, erwiederte sie unter beständigem Erröthen, ich habe gewiß nichts Mißfälliges bemerkt, nur –

Nun, nur? flüsterte Frau von Grießfeld, als sie schwieg.

Nur fast zu hübsch kommt er mir vor, stotterte sie.

Zu hübsch! Mädchen, lachte die Mutter, das ist doch wahrhaftig kein Fehler an einem Mann.

Warum denn nicht? fragte der Herr, welcher in der Sophaecke schlief, indem er den Kopf auf die andere Seite legte.

Nun Gott steh uns bei! rief die Dame halb laut, Onkel Tobias vertheidigt Dich und sich im Schlaf. Doch höre alles Ernstes meinen Rath, Stephanie. –

Sie nahm die beiden Hände ihrer Tochter und flüsterte leise und eindringlich mit ihr, die sehr geduldig, sanft und schüchtern zuhörte, und kaum vernehmbare Antworten gab.

Nach einer Weile dehnte sich der Herr im Sopha, und plötzlich warf er ein paar verwunderte Blicke auf die beiden Damen, die seine Auferstehung einige Minuten lang nicht bemerkten. Erst als er sich räusperte, sah die Directorin sich nach ihm um, und im Augenblick war Onkel Tobias auf den Beinen. Als er kerzengrade stand, war er von ansehnlicher Leibeslänge, und Niemand konnte zweifeln, daß ein ehemaliger Soldat in ihm steckte, der noch immer den blauen Rock bis an den Hals zuknöpfen muß, und Sporen an den Stiefeln trägt, obwohl er seit vielen Jahren kein Pferd mehr besteigt. – Eine hohe schwarze Halsbinde hielt seinen Kopf steif in die Höhe, und dieser Kopf selbst war ein Gemisch von Zügen, die nicht zu einander paßten. Es lag viel Stolzes und Herausforderndes in den harten Mienen, und doch auch eben so viel Lächerliches in der heftigen raschen Beweglichkeit derselben, wie in der Häßlichkeit seines Gesichts und in der ganzen eckigen Gestalt, bei der ein breiter Obertheil auf einem dünnen Untergestell stand.

Heimlichkeiten? rief er, sich Rock und Weste straff ziehend, indem er sich noch steifer aufrichtete.

Es wird Kriegsrath gehalten, Onkel Tobias, erwiederte die Dame lachend, und fast möcht' ich Sie als ehemaligen Major, Bruder meines Mannes und nahes Familienmitglied mit hinein ziehen.

Viel Ehre! sagte der Major sich verneigend. Wie lautet die Parole?

Heirath, versetzte sie.

Wer? Die! er deutete auf Stephanie.

Ja, Die. –

Mit wem? fragte er den Schnurrbart streichend.

Mit dem Doctor Wilberg.

Pfui Teufel! aber ich hab's gedacht, rief Onkel Tobias, indem er mit dem Fuß aufstampfend wie ein echter Soldat Kehrt machte und das Zimmer hinunter marschirte. Dann drehte er im Geschwindschritt um und stand vor den beiden Damen still.

Will Sie? fragte er auf seine Nichte zeigend.

Warum sollte sie denn nicht wollen?

Sie will nicht, ich seh's, aber sie soll! sagte der Major, langsam seinen Kopf auf dem langen Halse drehend.

Sie haben Visionen, Onkel Tobias, versetzte die Directorin lachend und geärgert. Wer sollte Stephanien zwingen?

Sie! erwiederte er militairisch ernsthaft.

Ich? Seien Sie nicht thöricht.

Sie haben die Parole längst gegeben, rief der Major.

Nun meinetwegen, sagte die Dame. Wenn Sie fragen, was ich wünsche, so antworte ich: allerdings sehe ich diese Verbindung gern, die in so vieler Beziehung passend ist.

Mesalliance! murmelte der Major zwischen den Zähnen, indem er einen grimmigen Blick auf seine Schwägerin schleuderte.

Diese erröthete und schwieg, allein nach einer kleinen Pause war sie wieder sicher und fuhr mit stärkerer Stimme fort: Ich habe das Wohl meines Kindes zu bedenken. Was haben Sie denn gegen den jungen Wilberg?

Parfümirter Mensch! rief der Major mit verächtlichem Ausdruck, indem er heftig mit dem Kopfe nickte; Schreibersohn, Bursche, der Alles weiß und nichts!

Wie soll er denn aussehen? erwiederte die Dame boshaft, den alten Herrn betrachtend.

Wie ein Mann! sagte Onkel Tobias, indem er abermals mit dem Fuße heftig auftretend Kehrt machte und durch das Zimmer schritt.

Nun da hörst Du, Stephanie, wie unser lieber Onkel Deinen Erkornen beurtheilt, lachte Frau von Grießfeld; er würde Dir sicher einen ganzen Mann verschaffen.

Sicher! sagte der Major zurückkehrend. Aber liebst Du ihn?

Stephanie schwieg.

Willst Du ihn? fuhr er fort.

Aber ich bitte Sie, Onkel Tobias, Sie machen mich ernstlich böse, rief die Directorin.

Der Major sah sie starr an, steckte die Hand zwischen die Knöpfe und nickte mit feierlicher Langsamkeit. – Sehr wohl, sagte er; wenn ich aber meine Nichte wäre, ich nähme ihn nicht. Verstanden?

Verstanden, bis auf die letzte Sylbe, erwiederte Frau von Grießfeld; mir ist es daher ungemein lieb, Onkel Tobias, daß Sie nicht Ihre Nichte sind.

Auf Ehre! mir auch, sagte der Major kalt, indem er sich umdrehte und aus dem Zimmer ging. Als er die Thür öffnen wollte, that sich diese auf, und der Gegenstand seiner Abneigung trat mit einem höflichen Gruße gegen ihn und die Damen herein. Der Major schob sich zur Seite und richtete sich stolz auf, indem er ihn vorüber ließ ohne ein Wort zu sagen. Dann blieb er noch einen Augenblick an der Thür stehen, betrachtete den jungen Herrn von oben bis unten mit einem bedenklichen Kopfschütteln und entfernte sich.

Ich habe, wie es scheint, Ihre Unterhaltung gestört, sagte Wilberg, nachdem er Platz genommen hatte, indem er den Blick auf das verlegene Gesicht Stephaniens richtete.

Im Gegentheil, lieber Gustav, wir haben Sie erwartet, erwiederte Frau von Grießfeld. Ihre Mutter schrieb uns ein Billet, das uns Ihren Besuch anzeigte. Sie wollen heut bei uns bleiben und sind immer willkommen. Gehen Sie mit Stephanien in den Garten. Sind die Bäume auch kahl, die Sonne scheint noch freundlich. Ich lasse den Thee bereiten und rufe Euch. Ihr habt ja beide noch gar nicht Zeit gehabt Euch auszusprechen, und Jugendfreunde haben gewiß allerlei auf dem Herzen, was sie sich vertrauen möchten.

Lächelnd nahm sie die zitternde Hand des jungen Mädchens, das mit ungewissem Schritt dem leisen Drucke folgte. Du mußt ihn führen, Stephanie, sagte die Directorin, er findet sonst den Weg nicht durch den dunklen Corridor.

Wenn Stephanie nur will, erwiederte Gustav, so ist der Weg nicht schwer zu finden.

Nun so geht und helfe der Eine dem Andern, rief Frau von Grießfeld lachend. Ihr sollt ein ganzes Stündchen haben, um Euch auszuplaudern.

Durch mehrere Zimmer und durch einen langen dunklen Gang führte Stephanie den Jugendfreund in einen Salon, aus welchem man auf breiten Stufen in den Garten hinabstieg. – Fast schweigend hatten sie den Weg zurückgelegt, und wenige alltägliche Worte wurden gewechselt, die eher ihre Verlegenheit vermehrten, als auflösten. – Erst als die kühle Herbstluft Ihnen erfrischend entgegenwehte, und der heitre tiefblaue Himmel sonnig glänzte, kam der Lebenstrieb der Natur den Willenstrieben des schwankenden jungen Mannes zu Hülfe und verscheuchte die ungewissen Blicke, welche er dann und wann auf seine Begleiterin warf.

Er ergriff ihre Hand, und sprach lebhaft von den Tagen der Vergangenheit, von ihren frohen Kinderzeiten, von zahlreichen kleinen Erinnerungen, und nach und nach kam ein Gespräch in Fluß, das bald auch einen weitern Austausch über Erlebnisse späterer Zeiten zur Folge hatte. Wilberg erzählte von seinen Studien, seinen Reisen und feiner Rückkehr, die Fragen kreuzten sich, und endlich schien die fremde und schüchterne Haltung schmelzen zu wollen, welche Stephanie bewahrt hatte. – Wenn Gustav eine luftige Erinnerung auffrischte, lachte sie und half ihm ein, ihre blassen Wangen rötheten sich, ihr ursprünglich mattes Auge erhielt Leben, und die feinen Züge ihres Gesichts drückten eine Theilnahme aus, welche Wilberg erfreut zum ersten Male bemerkte. Er betrachtete sie, indem er mit ihr durch den Baumweg hoher alter Linden ging, welcher die Mitte des Gartens durchschnitt, und er sagte sich leise, daß sie schön sei. Der zarte Hauch des Bluts, der schimmernd durch diese weißen, scharf und edelgeformten Züge drang, gab ihr heut einen besondern Reiz, und ihre hohe Gestalt, die den Beifall des Herrn Frese so wenig finden konnte, schien dem erfreuten Beobachter durchaus stolz und herrlich.

Nachdem sie lange hin und her gesprochen, und das wärmere Gefühl in Beiden geweckt war, sagte Gustav plötzlich stille stehend:

Da bin ich also wieder, Stephanie, von wo ich ausgegangen war. Jedes Menschenleben soll eine Pilgerfahrt sein, eine Art Odyssee, die uns nach langem Irren und mancherlei Schiffbruch endlich zurück zur Heimath führt. Ich hasse die Schiffbrüche und habe vor den Abentheuern Furcht, nachdem ich erkannte, daß sie mir nicht zusagen. Aus diesen Gründen und vielen andern habe ich mir vorgenommen, den Wünschen meiner Mutter zu folgen, zu bleiben, mein Haus mir zu bauen, und ein ehrbares und nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.

Ich sollte meinen, erwiederte Stephanie lächelnd, daß Sie das eigentlich längst waren, denn schon seit Jahren ist der Ruf Ihrer Weisheit, Gelehrsamkeit und Besonnenheit zu uns gedrungen.

Ich könnte Ihnen einige starke Gegenproben liefern, rief er lachend aus, doch ich möchte Ihr Vertrauen nicht zu Schanden machen. Der beste Beweiß aber, daß es mir ernst ist, meine Rechte an der Gesellschaft geltend zu machen und deren Pflichten zu übernehmen, ist wohl der, daß ich in jungen Jahren mich ansäßig machen und Alles thun will, um wenigstens den Spruch jenes Greises auf meinem Grabstein zu sehen: »Er lebte, nahm ein Weib und starb!«

Eine höhere Röthe lief durch Stephaniens Züge, aber Gustav gab ihr keine Zeit, zu der alten Verlegenheit zurückzukehren. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest.

Ich muß zu Ihnen reden, liebe Stephanie, sagte er, damit es Tag zwischen uns wird, und warum sollen wir uns denn nicht über die Art verständigen, wie wir uns gegenseitig künftig betrachten und behandeln wollen? – O! fürchten Sie nicht von mir, fuhr er mit sanfter Stimme fort, daß ich fordern könnte, was Sie mir nicht gern geben; schenken Sie mir Vertrauen, Stephanie, ich glaube, wir sind beide in dem Falle, uns dies zu beweisen, und was könnte ich verschuldet haben, daß Sie mich mit Mißtrauen, Furcht oder Haß anblickten? –

Ich hasse Sie nicht, ich hasse Niemand, sagte sie leise.

Aber – was er hinzufügen wollte, verschwieg er, das eine kleine Wort klang jedoch so bedeutungsvoll, daß Stephanie den Blick zu Boden schlug und eine Bewegung machte, als ob sie ihn verlassen wollte.

Wenn Sie gehen wollen, sagte er traurig, so mag es geschehen; oder wenn Sie mir befehlen, daß ich schweigen soll, so verspreche ich Ihnen nie wieder von dem zu reden, was ich Ihnen mitzutheilen dachte.

Ich weiß es nicht, erwiederte sie, ermuthigter ihn anblickend, aber ich glaube, daß ich Sie hören muß.

Darin liegt, was uns drückt, rief er lebhaft. Sie glauben mich hören zu müssen, das ist ein Bekenntniß; aber aufrichtig, Stephanie, Sie wissen, was ich Ihnen sagen will. Das ängstigt Sie, doch ich will Sie von dieser Last befreien.

Sind wir nicht selbständig, fuhr er dann fort, indem er vertraulich ihren Arm nahm, sind wir denn nicht groß genug, um über uns zu entscheiden? – Man hat Sie willenlos gemacht, ich werde Ihren Willen schützen. Was andre Leute wünschen und hoffen, geht uns nichts an, wir stehen uns gleichberechtigt gegenüber, und eines einzigen Wortes bedarf es von Ihnen, um mich für immer zu verbannen. –

Er strich sich das Haar von der heißen Stirn, und sah sie mit klaren Augen an. –

Meine Mutter hat ein Billet geschrieben, sagte er; wissen Sie, was darin stand?

Ja, erwiederte sie leise.

Glauben Sie dem nicht, was Sie lasen, rief er. Ich bin nicht gekommen, Ihnen zu sagen: geben Sie mir Ihre Hand, Stephanie, die mir seit vielen Jahren versprochen wurde; nein, ich kam, um Ihnen zu erklären, daß ich keine Ansprüche darauf mache, wenn Ihr Herz mich nicht willkommen heißt.

Sie sind gut, Gustav, Sie sind sehr gut, erwiederte sie, und ihre Augen richteten sich glänzend auf ihn.

Das war der alte, liebe Ton Ihrer Stimme, sagte er freundlich. Wie tief hat es mich geschmerzt, wenn ich Sie erschrecken und vor mir fliehen sah. Lassen Sie uns die alte schöne Freundschaft aufrichten, Stephanie. Ich weiß, daß ich Sie als Knabe oft tapfer vertheidigte, und immer Ihr Ritter war, warum soll ich jetzt das nicht sein?

Ich habe nie aufgehört, Ihre Freundin zu bleiben, versetzte sie, und öfter an Sie gedacht, als Sie glauben mögen.

Haben Sie wirklich! rief er, nun so bin ich dankbar und ergeben dafür, und will diese Freundschaft hegen und tragen, bis ich wagen darf – er hielt inne und blickte sie mit seinen freundlichen Augen an, dann nahm er plötzlich ihre Hand und bedeckte sie mit seinen Küssen, während er den Arm um sie legte und leise flüsterte: bis diese Freundschaft mir den schönsten Lohn verheißt.

In diesem Augenblick hörten sie plötzlich die laute Stimme der Frau von Grießfeld, die auf einem Seitenwege trat und ganz unbemerkt bis auf einige Schritt sich genähert hatte. – Die Hände der beiden Ueberraschten trennten sich schnell, aber ihre Verlegenheit wuchs, als sie bemerkten, daß die Directorin nicht allein war. Dicht hinter ihr stand derselbe Herr, welcher vor wenigen Stunden neben Wilberg im Gasthause gesessen und ihn so finster messend angestarrt hatte. Ehe er jedoch begreifen konnte, wie dieser Unbekannte hierher gekommen, sagte die Directorin lachend: Da finden wir ja das Pärchen im vertraulichen Beieinander. Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache: Herr Doctor Wilberg, der Bräutigam meiner Tochter; Herr Assessor von Baben, ein Freund unsres guten Onkels und unser Freund.

Die Verwirrung und Ueberraschung der beiden Betheiligten wurde nach dieser plötzlichen Erklärung noch größer. Stephanie lehnte sich an Gustav und preßte heftig seine Hand in der ihrigen, als wollte sie sich fest halten und Schutz suchen, dann verneigte sie sich langsam, als der Fremde mit tiefer klangvoller Stimme ihr Glück wünschte, indem er zugleich sich an den bestürzten Bräutigam wandte, der in eine Art Betäubung versunken zu sein schien.

Der Name Baben hatte sein Blut ihm ins Gesicht getrieben, und ihn in eine Aufregung versetzt, die er vergebens zu beherrschen strebte. Ein paar höflich kalte Fragen, welche der Assessor that, wurden von ihm kaum verstanden und falsch beantwortet. In einem unerwarteten Augenblick sah er sich plötzlich zum Bräutigam gemacht durch das rasche Wort einer Frau, der er unmöglich widersprechen konnte; und zu gleicher Zeit trat noch unerwarteter ein Mann vor ihn hin, der, wie sein böses Gewissen ihm zuflüsterte, sein Gegner und sein Feind war von der Stunde an, wo er ihn zuerst erblickte.

Stephaniens Mutter machte dieser peinlichen Minute ein Ende, indem sie ihren erwählten Schwiegersohn und ihre Tochter an den Armen ergriff, und beide fortführte. Gehen wir in den Gartensaal, sagte sie, es wird kühl, ich habe den Thee dorthin bestellt. Ihre Mutter ist gekommen, lieber Gustav, mein Mann wird auch bald erscheinen, der Onkel unterhält sich schon seit einer halben Stunde mit Auf- und Abmarschiren, und Herr von Baben fand dies endlich mit allem Recht nicht interessant genug und suchte Euch im Garten auf, wo ich in derselben Absicht mit ihm zusammentraf.

Ich bitte um Entschuldigung, erwiederte der junge Mann, wenn ich es wagte hier einzutreten. Ich suchte den Herrn Major in seinem Zimmer auf, man sagte mir, daß er im Garten sei, die Thür stand offen –

Und statt des Onkels fanden Sie unerwartete Gesellschaft, fiel die Directorin ein.

In der That, ja.

So geht es, fuhr sie lächelnd fort, aber ich sehe einen Florstreifen um Ihren Hut. Sie haben Trauer.

Ich habe meinen Vater verloren.

Mein Gott! ich beklage Sie von Herzen, und Onkel Tobias, der alte Freund Ihres Vaters, er wird auf's Aeußerste betrübt sein.

Er muß es seit wenigstens einer Woche wissen, da ich ihm schriftlich die Anzeige machte, sagte der Assessor.

Er hat uns keine Sylbe davon mitgetheilt, rief Frau von Grießfeld; sicher hat er Ihren Brief nicht erhalten.

Oder er hat davon aus dem Grunde geschwiegen, erwiederte der junge Mann, weil manche Umstände stattfanden, die mich bewogen ihn zu bitten, vorläufig über die näheren Ergebnisse des Unfalls, der den Tod meines Vaters veranlaßte, nicht zu sprechen.

Also ein Unfall zog seinen Tod herbei? fragte die Dame.

Er stürzte mit dem Pferde und ward sterbend nach Haus gebracht.

Das ist ja entsetzlich! rief die Directorin. Höre doch, Stephanie, was unserm armen Baben begegnet ist. Darum also haben Sie sich so lange nicht bei uns sehen lassen. Sie sind sogleich nach Haus gereist?

Ja, gnädige Frau, ich hatte eine Mutter und drei jüngere Geschwister zu trösten.

Es ist entsetzlich, was ein Todesfall für Unglück anrichten kann. Allein wer kann gegen das unabänderliche! Sie sind seit längerer Zeit selten zu uns gekommen, Herr von Baben; ich hoffe, daß Sie uns jetzt entschädigen. Wir wollen versuchen, Ihren Gram zu mildern und durch unsre Theilnahme Ihnen Trost zu gewähren.

Der Assessor verbeugte sich schweigend und folgte den Damen in den Salon, wo die Geheimräthin mit dem Director sich leise und eifrig unterhielt, während der Major mit großen Schritten quer vom Fenster zum Kamine schritt, in welchem ein lustiges Feuer brannte, das er regelmäßig einige Augenblick betrachtete, den Kopf schüttelte, und dann in seiner militairischen Weise Kehrt machte.

Der Eintritt der Anlangenden machte das Gespräch allgemein. Der Director, ein kleiner starker Herr mit büreaukratisch strengem, klugem Amtsgesicht, an dessen Seiten zwei weitabstehende Backenbärte saßen, lächelte dem jungen Wilberg zu und richtete auf seine blasse verlegene Tochter einen gütig ermunternden Blick, während er dem Assessor von Baben die Hand reichte.

Ehe er jedoch eine Frage thun konnte, zu der er den Mund öffnete, hatte der Major sich vor den Assessor gestellt und ihn bei beiden Rockklappen ergriffen, indem er ihn ernsthaft anblickte. Ihr Gespräch war kurz.

Todt! sagte der Major mit tiefer Stimme.

Leider ja, war die Antwort.

– Keine Rettung möglich?

– Keine!

– Lange Schmerzen?

– Ich glaube nicht.

– Rasch abgemacht, gut. – Reine Spur?

– Ich schrieb Ihnen davon.

– Ja, aber nichts weiter?

– Bis jetzt, nein.

Wilberg holte tief Athem, und zum ersten Male lief ein Lächeln durch sein Gesicht, als der Major sagte:

Schade! hätte einen andern Rapport gewünscht. Schlechte Justiz!

Der Director lachte. Ich habe so eben erst von Ihrem Familienunglück gehört, sagte er, und beklage Sie, lieber Baben, aber den Vorwurf schlechter Justiz müssen wir beide zurückweisen. Schafft uns nur die Missethäter, und es soll an der Strafe nicht fehlen.

Mein Himmel! rief die Geheimräthin, Gustav, das ist die traurige Geschichte aus der Zeitung, welche wir heut mit so vielem Antheil lasen. Die entsetzliche Mordgeschichte.

Nun, ich sollte meinen, erwiederte Wilberg, daß ein Mord nicht stattfand. –

Aber der Vater des Herrn von Baben ist um sein Leben gekommen, durch die Bosheit der Räuber, rief die Directorin.

Es waren keine Räuber, sondern fliehende, verfolgte Pascher.

Also doch Verbrecher.

Ich weiß nicht, ob man ihnen diesen Namen geben kann, sagte der junge Mann lebhaft. Sie verübten allerdings eine von den Gesetzen mit Strafe belegte Handlung, allein das ist für mich kein Maaßstab, sie Verbrecher zu nennen!

Diese Aeußerung zog einen langen Streit nach sich, an welchem Alle Theil nahmen, bis auf den Assessor, der still zuhörte, und seine dunklen Augen dann und wann nachsinnend auf Wilberg richtete.

Je mehr dieser seine Ansichten vertheidigte, um so mehr brachte er die Gründe dafür an, welche er damals von dem Kapitain und Anna gehört hatte, Gründe, die hier aber meist mit Mißbilligung aufgenommen wurden, den Vertheidiger jedoch um so mehr zu ihrer hartnäckigen Behauptung herausforderten. – Seiner inneren Ueberzeugung nach war der junge Mann keineswegs selbst damit einverstanden, und in jedem andern Falle würde er dagegen gestritten haben; allein er bedurfte des Selbstschutzes und konnte es nicht gestatten, daß der Stab über ihn gebrochen würde.

Ich muß mich wundern, sagte der Director endlich mit scherzendem Ernst, daß Sie, den ich von früh an als ernst, besonnen und wohl überlegend kenne, die Gesetze lästern und so unzufrieden mit den Staatsanordnungen sind: Eigenschaften, die freilich Mode werden unter den jungen Herren und uns dahin bringen können, wie in Frankreich vor der Revolution, wo es zum guten Ton gehörte, die Regierung zu verspotten. Was aber diesen Fall betrifft, so haben Sie darin Recht, daß es kein Mord ist, allein mit allen Nebenumständen ist es wenigstens ein Verbrechen, das schwere Ahndung finden würde, wenn der Thäter entdeckt würde, denn ein Menschenleben ging dabei verloren.

Aufgehängt! sagte der Major, vom Kamin umkehrend.

Ich sehe keinen Thäter! erwiederte Wilberg. Das Unglück wurde vom Zufall herbeigeführt. – Sollten denn die Flüchtlinge sich ruhig ergreifen lassen? Und was können sie dafür, wenn der Knall eines Schusses das Pferd des Verfolgers scheu macht?

Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß dies die Ursache des Scheuwerdens war? fragte der Assessor.

Woher? Ich denke es mir, erwiederte Wilberg. Ich glaube es gelesen zu haben, und indem ich mich in die Lage der Fliehenden versetze, kann ich nicht finden, daß sie ein Unrecht begingen, wenn sie sich zu retten suchten.

Die Untersuchung hat ergeben, sagte der Assessor, daß allerdings ein Schuß fiel, und zwar auf meinen Vater, dessen Pistolen geladen in den Halftern steckten, ohne daß er sie gebraucht hatte.

So ist es also auf jeden Fall ein Mordversuch, der dabei in Betracht kommt, fiel der Director ein, der Zuchthausstrafe, bis zehn Jahre, zur Folge hat. Ich bürge dafür, daß der Thäter, wenn er entdeckt wird, nicht mit weniger fort kommt.

Streckt's Gewehr! rief der Major, indem er Wilberg zunickte. Schlechtes Gesindel! Schade, daß es nicht fest sitzt.

Sie haben Recht, erwiederte der junge Mann lächelnd, denn wenn ich auch anführen könnte, daß der Schuß vielleicht blind geladen, oder in die Luft abgedrückt worden sei, was hülfe es mir?

Das Gespräch nahm eine andre Wendung, und bald vermehrte sich die Gesellschaft um einige Freunde, die in der gewöhnlichen Art der Geselligkeit die Stunden verkürzen halfen. –

Endlich empfahl sich der Assessor, der großentheils wortkarg geblieben war. Dann und wann ließ er seine dunklen, stillen Augen über die Gesellschaft schweifen, und eine gewisse Eifersucht oder Besorgniß trieb den jungen Wilberg an, ihn fortgesetzt genau zu beobachten. Allein er entdeckte nichts, was seine innere Unruhe vermehren konnte. Herr von Baben schien Stephanie kaum zu bemerken, und nur ein einziges Mal ruhte sein Blick forschend oder nachdenkend, entweder auf ihr, oder auf Wilberg selbst; aber er wendete sich sogleich ab und sprach ruhig mit dem Major weiter, der sich neben ihn gesetzt hatte.

Als er fort war, hielt der Director ihm eine Lobrede.

Das ist ein junger Mann von besondern Fähigkeiten und unermüdlicher Arbeitskraft, sagte er, dazu ein tüchtiger Jurist. Wenn der Fall mit seinem Vater ans Licht gebracht werden kann, so ist er der Mann dazu.

Frau von Grießfeld deutete auf Wilberg und Stephanie. Hier gibt es einen andern Fall von noch größerer Wichtigkeit, sagte sie. Das ist ein junges Paar, das nichts mit Mordgeschichten zu thun hat, auch nicht schmuggeln will, sondern in bester Form Rechtens um Deinen Segen bittet.

Aha! erwiederte der Director, ich habe von der Sache gehört, die eigentlich nicht zu meinen Angelegenheiten, sondern ins Hausdepartement gehört, aber ich stimme mit Vergnügen bei. Liebt Euch, Kinder, heirathet Euch und werdet glücklich, ohne je Acten darüber anzulegen.

Dieser Augenblick war der entscheidende. Der Director schloß den Schwiegersohn in die Arme und sagte lachend, er hoffe, daß er sich künftig gegen keine Regierung, am wenigsten gegen die seiner Frau auflehnen werde, was die gefährlichsten Revolutionen hervorrufe.

Die anwesenden Freunde gratulirten nach allen Seiten, die Damen küßten die schweigsame Braut, und endlich fand sich diese in den Armen des Bräutigams wieder, der maschinenmäßig annahm und hinnahm, was er zu ändern nicht den Muth hatte.

In noch viel höherem Grabe schien dies bei Stephanien der Fall zu sein. Mit der Resignation eines Opfers duldete sie alle diese Glückwünsche, und indem sie sich dem zwingenden Willen und den Verhältnissen unterwarf, behielt sie Kraft genug, ihre Gefühle zu unterdrücken. –

In der Schule des Lebens, unter den Formen sogenannten Anstandes erzogen, lernt man heucheln, lernt man lächeln und sich schicken; so war es auch mit Stephanien, und erst als sie allein in ihrem Zimmer war, sank sie erschöpft auf den Stuhl und starrte mit tobten Augen vor sich hin.

Nach einer langen Stille zog sie das Briefchen hervor, das sie am Nachmittage allein gelesen hatte. Sie hielt es gegen die kleine Flamme des Nachtlichts, es standen wenige Worte darin. –

»Ich bin zurückgekehrt,« flüsterte sie, »heut Nachmittag komme ich; ich habe Ihnen viel zu sagen, Stephanie.«

Mit einem tiefen Seufzer deckte sie beide Hände vor ihr Gesicht, ein krampfhaftes Seufzen rang sich darunter hervor. Niemand hörte es, Niemand sah es, das Nachtlicht knisterte endlich und erlosch, und noch saß die Braut unbeweglich am Rande ihres Bette.


Kapitel VI.

Im Laufe einiger Wochen, welche diesem Tage folgten, ordneten und regelten sich die Begebnisse desselben. Die beiden Mütter der Verlobten thaten sich zusammen und besprachen, was geschehen sollte, um das junge Paar recht glücklich zu machen, das heißt, um dasselbe mit allen Herrlichkeiten zu versehen, die nöthig sind, um ein Haus zu machen, Gesellschaften zu geben, und einige Bewunderung nebst möglichst vielem Neid zu erregen. – Die Verwandten und Freunde kamen, es wurde viel gesprochen, viel guter Rath ertheilt, die Verlobung veröffentlicht, Karten umher gesandt, Besuche gemacht, und eine Reihe von Zerstreuungen folgten als nothwendige Beigabe des ersten Glücks der Gewißheit.

Wilberg hatte in der Nacht nach jenem Tage das Geschehene nochmals überlegt und sich endlich gesagt, daß er Alles, was geschehen, anerkennen und wie ein Mann handeln müsse. Das Uebereilte, das Zufällige war nicht seine Schuld, aber im Grunde genommen konnte er nicht böse darüber sein, wenn ein Dämon, oder ein Genius, ihm mit einem Zauberschlage über alle Klippen forthalf, die er langsam und ungewiß umschifft haben würde. –

Er war keiner von den heißblütig Liebenden, und wenn er sich aufrichtig fragte, ob er das für Stephanie fühle, was man in schwindelnder Jugendwonne Liebe nennt, diese wilde Gluth der Sinne, dies Aufgeben des eigenen Selbst an einer andern Natur, die jeden Gedanken beherrscht und jede Fiber, so mußte er sich ein Nein! antworten. Aber er hatte doch eine Neigung für seine Verlobte, die ihn zu ihr zog; er empfand tief, daß nicht Alles war, wie es sein sollte, er fühlte einen heftigen Schmerz bei dem Gedanken, daß Stephanie ihn nicht liebe, daß sie Zwang erleide, unglücklich sei, und eine begeisternde Macht füllte dann seine Seele, wenn er sich schwor, er wolle sie glücklich machen. –

Lange dachte er darüber nach, ob Stephanie einen Andern lieben könne, und er ging den ganzen Kreis der jungen Männer durch, welche im Hause des Directors erschienen. Wie oft er dies aber auch that, er fand keinen außer dem Einen, dessen Erinnerung er scheute, den ein Gefühl der innersten Abneigung ihn zu hassen und zu fürchten zwang, während ein anderes eben so starkes Gefühl damit kämpfte und ihn heimlich antrieb, seine Freundschaft zu wünschen. –

Er fragte seine Mutter über den Assessor von Baben aus, und diese erinnerte sich ihn nur selten im Hause gesehen zu haben. Als die kluge Frau den geheimen Grund seiner Fragen merkte, lachte sie und sagte tröstend: Ich habe an diesen kalten spröden Gast gar nicht gedacht, dem sein seeliger Herr Vater Zollinspector und dessen romantisches Ende erst einige Bedeutsamkeit verliehen haben. Im Uebrigen hast Du nichts zu besorgen. Der Herr Assessor mag so vortrefflich sein, wie er will, er ist eben nur der Herr Assessor, und davon läßt sich mit Mühe leben.

Durch diese Antwort wurden die Bedenken des Bräutigams zwar nicht gehoben, aber sie wurden zurückgedrängt, um so mehr, da nicht das geringste Anzeichen vorhanden war, daß Stephanie wirklich eine andre Neigung haben sollte. Sie hatte ihren Verlobten freundlich empfangen, hatte seine Betheuerungen, daß des Himmels Beschlüsse es so gewollt hätten, mit einem leisen Lächeln aufgenommen, und die feurigen Worte über ihre glückliche Zukunft mit ergebenen Mienen gehört und mit Fassung erwiedert. – Die unvermeidliche Gewißheit schien sie bald zu beruhigen, und die Aufmerksamkeit des jungen Wilberg sie zu trösten; bald wieder war sie kalt und theilnahmlos, daß Gustav verzweifelte. – Der Assessor ließ sich nicht blicken.

So gingen die Tage hin, zwischen aufdämmernden und wieder verlorenen Hoffnungen, unerträglichen Stunden, in welchen Gustav fast zu dem Entschlusse getrieben wurde, was auch geschehen möge, sich aus dieser Pein zu retten, und anderen, wo er neues Vertrauen faßte und eine Verständigung sich anzubahnen schien. Endlich kam es an eben der Stelle im Garten, wo die überraschende Erklärung erfolgt war, zu einer weitern Auseinandersetzung. –

Wenn ich Alles recht bedenke, liebe Stephanie, sagte er, so bin ich froh, daß die Mutter, wie der Cherub, mit dem feurigen Schwerte uns zusammentrieb.

Ein Cherub trieb die beiden Sündigen aus dem Paradiese, erwiederte sie.

Wir aber erwarten, daß er uns hineinführe, rief er lachend. Glauben Sie mir, Stephanie, ich habe den Muth und den festen Willen, uns glücklich zu machen, auch wenn ich weiß – er sah sie freundlich, aber so starr an, daß sie dunkel erröthete.

Nun, was wissen Sie? sagte sie leise.

Daß Sie mich nicht lieben, erwiederte er. – Ist es nicht so? Sagen Sie aufrichtig, daß ich Recht habe.

Für uns, für Verlobte, ist das eine seltsame Frage, erwiederte sie ausweichend.

Aber eine natürliche, wenn wir die Verhältnisse bedenken, fiel Wilberg ein.

Lieben Sie mich denn so sehr? fragte das Fräulein plötzlich, und in ihrem Gesicht zuckte es spöttisch.

Wenn die herzliche Neigung, welche mich zu Ihnen zieht, und der heiße Wunsch, Ihr Leben froh und heiter zu gestalten, Liebe ist, dann darf ich ja sagen, Stephanie.

Und keine Andre hätte das je so vermocht, fuhr sie fort, kein Bild einer Glücklichern ist in Ihrem Herzen?

Gustav sah sie fragend an. In diesem Augenblick schwebte, wie ein Schatten, eine lächelnde, drohende Gestalt an ihm vorüber, aber es war ein Schatten, der sogleich verschwand. –

Nein, sagte er, kein ander Bild lebt in meinem Herzen, und das, Stephanie, hoffe ich auch von Ihnen. – Wenn Sie meine Hand nehmen, zwar ohne heiße Liebe, aber mit der herzlichen Neigung, die von der Zukunft Glück hoffen darf, so bin ich befriedigt, denn mir bleibt die frohe Hoffnung, Sie ganz zu gewinnen; nur wenn ein anderes Bild Sie begleitete, während ich vergebens um Liebe werbe, wäre es ein Unglück, Stephanie, ein Bruch des Lebens, der nicht leicht geheilt werden kann.

Er sagte diese Worte mit Offenheit und der ganzen Kälte seines Wesens, aber nicht ohne schmerzlichen Ausdruck. Sein Auge hing an ihren Augen fest, als wollte er bis in ihre Seele sehen, und Stephanie erröthete tief und ging schweigend weiter.

Sagen Sie mir das Eine, fragte Wilberg nach einer Pause, sagen Sie mir, ob ich keine Abneigung bei Ihnen finde.

Lieber Gustav, erwiederte die Braut, nach einem Bedenken, Sie haben mir gesagt, daß das Schicksal unsere Verbindung eben so gut gewollt hat, wie unsre Mütter, und ich erkenne Beides an. Gott im Himmel hat es so gefügt, daß wir verlobt wurden, ehe wir uns recht verständigen konnten, und so geht es vielen auf Erden. Unsre Eltern haben unsern Bund gesegnet, die Welt weiß es, an uns ist es nun, nachzuholen, was wir versäumt haben. Ich will Alles thun, was ich kann, um Sie zu beglücken, treu Ihnen anhängen, Sie ehren und achten!

Und lieben, Stephanie, sagte er leise; es zuckte in seiner Brust das Herz zusammen.

Ich werde Sie lieben lernen, o gewiß! ich werde – fuhr sie fort, nur jetzt – es ist so schnell, so überwältigend über mich gekommen; aber glauben Sie mir, ich kann nicht anders. Meine Empfindungen bedürfen Zeit, meine Natur will einen langsamen Weg.

Wilberg betrachtete sie mit erhöhter Theilnahme. Die Röthe ihrer Wangen war erblichen, das schöne feine Gesicht lächelte schmerzlich, und dieser zarte Körper war freilich nicht für das Extragen heftiger Lebensstürme gemacht. –

Ich verstehe Sie, Stephanie, sagte er. Es gibt Menschen, deren Empfindungen wie Champagner schäumen müssen und welche die Liebe wie ein seeliger Rausch überkömmt. Aber meine Mutter hat Recht, diese Liebe ist Leidenschaft, und Leidenschaften bestehen die Probe selten. – In ruhigeren Charaktern entwickelt sich die Liebe langsam, sie wird von Freundschaft getragen, von Achtung genährt, und ist eine reine Flamme, die mit der Zeit immer heller brennt. – Wollen Sie diese Liebe begründen helfen? Sie sollen es nicht beklagen, Stephanie.

Ich will, gewiß, ich will! sagte sie den Blick aufhebend und ihn fest anschauend. –

Er sah schön und stolz aus, sein Auge flammte, Schmerz und energischer Wille stritten sich darin.

So bin ich zufrieden, liebes, theures Mädchen, rief er lebhaft. Auch ich gehöre zu den langsamen Naturen, die überlegen und zaudern. Mögen wir beide denn froh in die Zukunft blicken. Viele sind glücklich geworden, die mit stillem Herzen ein Band knüpften, das, wie meine Mutter sagt, blaßroth vor der Hochzeit schien, aber purpurn sich färbte in der Ehe.

Dies Gespräch hatte die gute Wirkung, daß die beiden Verlobten zu einem größern Vertrauen gelangten, und ruhiger, zwangloser sich nebeneinander bewegten. Stephanie war heiter, dann und wann ruhten ihre Blicke betrachtend auf ihrem Verlobten; und als am Abend die Mutter es scherzend vermittelte, daß das vertrauliche Du zwischen ihnen eingeführt werde, stimmte die Braut lachend ein, und behauptete, daß es ihr gar nicht schwer werde, das inniger verbindende Wort auszusprechen, welches zwischen Jugendfreunden nie hätte aufgehoben werden sollen.

Als Wilberg nach Haus ging, war er lebhaft aufgeregt von den Vorgängen dieses Tages, und den wechselnden Empfindungen hingegeben. Er fühlte neben der größern Sicherheit einen Zug der Unruhe und des Unmuths in seiner Brust, der Falten auf seine Stirn legte. –

Sie liebt mich nicht, aber sie will mich lieben! murmelte er vor sich hin, seltsames Geständniß einer Braut. Und habe ich ihr nicht eigentlich dasselbe gesagt? – Lieben Sie mich denn so sehr?! – Sagte sie nicht so? und – was sollte ich antworten! Sollte ich Liebesschwüre schwören, nach heißen Liebesworten suchen? Ach! wenn man Schwüre suchen muß, wenn man, den Arm um eines Mädchens Leib geschlungen, nach Worten suchen muß, um ihr zu schwören, daß man sie liebt – wenn man, allein mit seiner Braut, nicht weiß, wovon man mit ihr reden soll – er seufzte tief auf. – Fort mit allen Gespenstern! rief er endlich halblaut, es ist so, es kann nicht anders sein. Ich will die Liebe beschwören, sie wird kommen. Wir werden uns achten, beide achten, und diese Liebe hat ja meine Mutter beglückt, mein Vater ist heiß beweint in ihren Armen gestorben, was kann ich mehr verlangen!

In diesem Augenblicke streifte eine kleine, dunkle Gestalt dicht an ihm hin. In einen Mantelkragen gehüllt und einen Hut mit großen Krämpen tief in die Augen gedrückt, sah Wilberg nichts als einen Arm, der sich plötzlich nach ihm ausstreckte und ein Papier ihm entgegen hielt. – Er fuhr aus seinem Nachsinnen auf und blieb stehen.

Was soll das? fragte er.

Nehmen Sie, sagte eine gedämpfte Stimme.

Ein Brief an mich?

Ja. –

Kennen Sie mich?

Ja. –

Er nahm das Papier, das aus einem zusammen gefalteten kleinen Zettel bestand. – Der Unbekannte entfernte sich.

Warten Sie, rief Gustav, der von seiner Ueberraschung sich erholte, wer sind Sie?

Er erhielt keine Antwort. –

Hören Sie doch einen Augenblick, fuhr er fort und verdoppelte seine Schritte.

Lesen Sie den Inhalt dieses Papiers an der nächsten Laterne, rief der Unbekannte zurück.

Was kann es sein? sagte der junge Mann, indem er stehen blieb. – Man will mich nicht kennen und kennt mich.

Langsam trat er unter die nächste Laterne und öffnete den Zettel.

»Sie sind in Gefahr, hüten Sie sich!«

stand mit großen deutschen Worten darin.

Von wem? rief er laut, indem er bestürzt umher schaute.

Von mir nicht! antwortete eine Stimme hinter ihm her, und mit Unmuth sah er in die großen boshaften Augen des alten Frese, der zwei Schritte von ihm auf dem Trottoir stand und ihn lauernd betrachtete.

Guten Abend, lieber Herr Nachbar, fuhr er in seiner spottsüchtigen Art fort, dachte doch gleich, daß Sie es waren, der vor mir hinflog, um Liebesbriefchen beim Lampenscheine zu lesen. – Von mir ist er aber wirklich nicht, fuhr er lachend fort, auf Ehre und Seeligkeit! darüber können Sie sich beruhigen; aber ich finde es ganz allerliebst, daß ein Bräutigam, der in Himmelswonnen schwelgt, zärtliche Billets auf der Straße empfängt. Bravo, Herr Doctor, Bravo!

Sie täuschen sich gänzlich, sagte Wilberg, den Zettel einsteckend.

Ach! was Sie sagen! rief der alte Herr, ich habe es ja gesehen. Der kleine schwarze Kobold schnurrte an mir vorüber, wie der Wind, aber doch sah ich das Gesichtchen. Es ist ein allerliebstes Ding. Milch und Blut, Augen wie Kohlen und ein Mündchen, mit einem Pfennig zuzudrücken.

Sie scheinen in guter Gesellschaft gewesen zu sein, erwiederte der junge Mann höhnisch lachend.

In guter Gesellschaft? schrie Herr Frese, und stieß mit seinem Bambus auf das Pflaster. Ja, ich muß Ihnen bekennen, aus lauter Freude über Sie und Ihr Glück, bin ich heut in Gesellschaft gegangen, im Casino, und bin spät sitzen geblieben, was sonst nicht meine Sache ist.

Ich weiß nicht, wie ich Ihnen so viel Freundschaft belohnen soll, sagte Gustav noch mehr lachend.

Das überlassen Sie Ihrer Frau Mutter, liebes Kind, rief Herr Frese mit dem süßen Grinsen, das jedes Mal sein Gesicht erfüllte, wenn er recht boshaft war, die wird gewiß dafür sorgen, irgend eine zarte Belohnung für meine treue Anhänglichkeit zu ersinnen. Aber, was sage ich denn, fuhr er fort, sie hat schon eine solche für mich eigentlich in Bereitschaft, denn wie Sie so eben ein unerwartetes Billet empfingen, so erhielt ich vor einigen Stunden ein solches von der Frau Geheimräthin; voll Freundschaft, voll Dank, voll schöner Hoffnungen für die Zukunft.

Für die Zukunft, sagen Sie?

Gewiß, versicherte der alte Herr, und darum wurde ich eben so vergnügt. Meine liebe Nachbarin betheuerte mir, daß es ihr den tiefsten Schmerz mache, wenn sie daran denke, daß ich sie verlassen könnte; wenn sie nicht mehr meinen Schritt, meine freundliche Stimme in ihrem Hause hören solle, und ich bin darüber so gerührt worden, daß ich den festen Entschluß gefaßt habe, ihr diesen Kummer nie zu bereiten.

Das heißt mit dürren Worten, Herr Frese, sagte Wilberg, meine Mutter hat Sie, wie ich weiß, heut gebeten, der Umstände wegen Ihre bisherige Wohnung aufzugeben, und Sie wollen nicht.

Sie haben ganz Recht, ich will nicht, erwiederte der alte Herr gelassen.

Das sollte mir leid thun. Sie kennen meiner Mutter Wünsche und wie gern wir für eine andere bequeme, schöne Wohnung sorgen würden.

Lieber Freund, rief Herr Frese, ich habe Alles überlegt. Erstens kann ich meine gute Nachbarin nicht so unglücklich machen, mich nicht mehr zu sehen; zweitens thue ich es nicht, weil ich eben so unglücklich sein würde; drittens aber liegt mir Ihr Glück am Herzen, denn eine Schwiegermutter im Hause hat noch nie einer Ehe Segen gebracht.

Lassen Sie das unsere Sorge sein, sagte Gustav.

Nein, nein! rief der alte Herr eifrig, ich schwöre es Ihnen, nicht um alle Schätze Indiens, nicht um die Liebe Ihrer schönen Braut, nicht um alle Liebesbillete, die Sie nebenbei erhalten, setze ich einen Fuß aus dem Hause. – Wohnen Sie, wo es Ihnen beliebt, lieben Sie, so viel Ihnen gefällt, heirathen Sie meinetwegen wie ein Sultan einen ganzen Harem zusammen, ich bleibe bei meiner trauernden Freundin. Aber sehen Sie dort drüben, dort an der Ecke schleicht wahrhaftig der kleine Briefträger mit den feurigen Augen.

Wo? rief der junge Mann hastig.

Er steht hinter der Vortreppe, dort im Dunkeln.

Rasch lief Wilberg über die Straße hin nach dem bezeichneten Ort, während dessen aber schloß Herr Frese die Thür auf, denn er befand sich dicht vor seiner Wohnung, trat hinein und schlug sie lachend ins Schloß.

Wohl bekomm's, Hans Narr, sagte er, jetzt bezahle ich dir das Gelächter. Suche die Ecken und Kellerwinkel ein halbes Stündchen durch, und klingle dann ein anderes halbes Stündchen, bis dir aufgemacht wird. Was ist es doch für eine schändliche Welt und wie sind die Menschen darin beschaffen!

 

Am nächsten Tage hatte Herr Frese ein langes Gespräch mit der Geheimräthin, der er mit der größten Freundlichkeit erklärte, daß er es nicht über sein Herz bringen könnte, aus ihrer Nähe zu weichen. Er war dabei die Sanftmuth und Liebenswürdigkeit selbst, und ergoß sich in Betheuerungen dankbarer Freundschaft und Anhänglichkeit, die bald Wahrheit zu sein schienen, bald wieder von seinen boshaften Nebenbemerkungen Lügen gestraft wurden. Die kluge Frau mochte es jedoch anstellen wie sie wollte, sie mochte bitten, Versprechungen und Vorwürfe machen, der alte Herr blieb dabei, er werde nicht wanken und weichen, sondern seinen Contract erfüllen.

Aber, wenn Sie meine Wünsche und Bitten nicht berücksichtigen wollen, sagte die Geheimräthin endlich empört, so sieht es mit unsrer Freundschaft überhaupt mißlich aus, denn trotz aller Ihrer Betheuerungen sehe ich deutlich, wie wenig Sie diese und mich schätzen.

Sie verkennen mich, liebste Nachbarin, erwiederte der alte Herr feierlich; was ich thue, geschieht aus wahrer Liebe zu Ihnen. – Ist es denn etwa ein Glück, eine Schwiegertochter im Hause zu haben?

Eine so sanfte, liebenswürdige Schwiegertochter, ein junges Paar, das sich so innig liebt, stets um sich zu haben, ist ein Glück, Herr Frese.

Innig liebt? sagte Herr Frese boshaft. Wissen Sie es gewiß?

Die Geheimräthin erröthete.

Wie könnte es anders sein, sagte sie.

Es ist aber anders! rief der alte Herr.

Ich verstehe Sie nicht, erwiederte die Dame. Was wissen Sie denn wieder Böses von dieser Liebe?

Herr Frese legte den Finger an seine Nase und sagte bittend:

Liebste Frau Nachbarin, nur nicht hitzig. Hören Sie mich an.

Hierauf erzählte er, was er gestern Abend gesehen und gehört und fuhr im Tone der Betrübniß fort:

Ein Bräutigam, der solche Briefchen erhält, der dann vor meinen Augen dem Boten nachläuft, welcher, ich schwöre es Ihnen, nichts anders war als ein verkapptes Mädchen – denn ich habe es gesehen mit diesen meinen Augen – kann doch unmöglich seine Braut lieben! – Wenn aber dergleichen vor der Hochzeit geschieht, was soll es nachher werden? Wollen Sie täglicher Zeuge einer unglücklichen Ehe sein? Wollen Sie erleben, daß solche zärtliche Bestellungen ins Haus gebracht werden?

Wenn ich nicht wüßte, sagte die Geheimräthin, daß Sie häufig Gefallen daran finden, zu spotten und zu erfinden, so könnten Sie mich erschrecken.

Ich erfinde nichts, erwiederte der alte Herr. Geben Sie Acht, was geschieht. Es soll mich gar nicht wundern, wenn ein unbekannter Freund die hintergangene Braut davon benachrichtigt.

Die Geheimräthin erblaßte.

Herr Frese, sagte sie, ums Himmels Willen! ich beschwöre Sie, begehen Sie keine Handlung, die uns Alle in großen Kummer bringen kann.

Ich gewiß nicht, schrie der alte Herr boshaft lachend, ich werde es nicht thun, aber wer weiß, wer dahinter steckt. Ich habe die kleine Hexe gesehen, sie ist hübsch wie ein Engel, zehntausendmal schöner als das lange blasse Fräulein Braut, und nun machte er eine wunderbare Beschreibung von dem, was er gesehen und erfahren, bis die Geheimräthin in höchste Angst versetzt war und Alles glaubte. –

Er hat, so lange er hier ist, eine geheime Bekanntschaft, sagte der alte Herr, vielleicht hat er das leichtfertige Mädchen sogar mitgebracht, und Sie mögen sagen was Sie wollen, sie ist selbst schon hier im Hause gewesen.

Wenn Sie Recht hätten, erwiederte die geängstigte Frau, es wäre entsetzlich!

Ich habe Recht, sagte Herr Frese mit Bestimmtheit, und werde Sie davon überzeugen. Lassen Sie ihn wohnen, wo er Lust hat, ich bleibe hier, und nur in dem Fall werde ich ihm Platz machen, wenn er sich dieses Opfers würdig zeigt und ich sein Benehmen und seine Heirath billigen kann.

Es kam Besuch und der alte Herr empfahl sich höchst vergnügt über sein Werk.

Wenn ich billigen kann, daß er heirathet! lachte er, als er auf der Treppe war. Das war vortrefflich gesagt. Da kann er lange warten.

Plötzlich hörte er oben im Corridor die Glasthür zumachen und leise Schritte, welche sich der Treppe näherten. Er stand still und horchte, allein er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, als eine dicht verschleierte Dame rasch an ihm vorüber schlüpfte, die einen flüchtigen Blick auf ihn warf und wie ein Schatten, leicht und geräuschlos, die Stufen hinter sich ließ.

Ehe der alte Herr sich besinnen konnte, war sie fort, und als er endlich die laute Frage that: was sie hier wünsche und wolle? hörte er die Hausthür, welche sonst immer verschlossen war, mit Behendigkeit öffnen und wieder schließen. –

Herr Frese eilte, so rasch er konnte, hinterher, aber er sah nichts auf der Straße, was ihm sehr ärgerlich war. Er hatte vorher gelogen, als er der Geheimräthin allerlei Geschichten erzählte, jetzt glaubte er selbst daran. Mit eigenen Augen hatte er ja eine Dame aus dem Corridor kommen sehen, und dort lagen die Zimmer des leichtsinnigen Bräutigams. –

Er beschloß, diesen ins Gebet zu nehmen, und schlich auf den Zehen bis an seine Thür. Er horchte, es rührte sich nichts. Lange hielt er das Ohr an der Fuge, aufs Schärfste lauschend, aber es blieb Alles ruhig. Endlich klopfte er leise und dann stärker, allein er erhielt keine Antwort.

Er ist dennoch zu Hause! sagte er mit der Hartnäckigkeit des Unglaubens und rüttelte an dem Drücker; es ist von Innen verriegelt.

Mit leisem Stöhnen bückte er sich nach dem Schlüsselloche und machte mit dessen Hülfe eine lange Beobachtungsreise durch das Zimmer; plötzlich aber fuhr er zurück, denn hinter ihm knarrte es, und sprachlos vor Schreck drängte er sich an die Wand, als er einen entsetzlichen Kopf erblickte, der sich durch den Spalt der halbgeöffneten Thür steckte. –

Ein Hut mit ungeheuren Krämpen, wildes langes Haar, das darunter hervorfiel, ein Gesicht mit groben verwegenen Zügen und gierigen lauernden Augen, war das Erste, was Herr Frese entdeckte. Er streckte die Arme aus, wie Einer, der im Traume ein Gespenst von sich abwehren will, und kein Wort zu sprechen vermag, bis er endlich, als die ganze schreckliche Gestalt hereintrat und sich ihm näherte, in Verzweiflung die Hand in die Tasche steckte und nach Geld suchte.

Hier, hier! sagte er, als der Mann den Hut abzog, es ist gut, geht fort, macht fort!

Was meinen Sie damit, Herr? fragte der Fremde mit rauher Stimme.

Ich? rief Herr Frese zitternd, ich meine gar nichts; aber was wollen Sie?

Ich wollte fragen, ob hier der Doctor Wilberg wohnt?

Ja, der wohnt hier, sagte der alte Herr aufathmend. Das wolltet Ihr also – oder Sie, das wollten Sie, guter Freund, verbesserte er sich, als er den Blick des Fremden fest und unheimlich auf sich gerichtet sah. Ich bin ein alter Mann, der hier im Hause wohnt, ein Freund des Doctors, der nicht zu Hause ist; allein ich will bestellen, was Sie mir auftragen wollen.

Ich will ihn selbst sprechen, versetzte der Fremde. Wann ist er zu Haus?

Kann es nicht sagen, erwiederte Herr Frese, bald des Morgens, bald des Nachmittags, bald gar nicht. Aber, wie gesagt, wenn ich dienen kann, wenn Sie mir Ihr Anliegen oder Ihren Namen sagen wollen. –

Der Fremde schien sich zu besinnen.

Hier, sagte Herr Frese, nehmen Sie das, es ist kalt, trinken Sie auf meine Gesundheit. –

Er hielt ihm das Geld hin, das er in der Hand hatte.

Der verdächtige Mensch ließ es in seinen Hut fallen und steckte es dann langsam ein.

Danke, Herr! sagte er und sah sich forschend nach allen Seiten um.

Nun? fragte der alte Herr neugierig und besorgt.

Ich will Ihnen etwas sagen, fuhr der Mann fort.

Was denn? Lieber Freund, ich werde es mir merken.

Ich werde wiederkommen. Guten Morgen!

Er drehte sich um und ging hinaus, indem er dem alten Herrn zwei Reihen furchtbar großer, blendend weißer Zähne zeigte. Herr Frese wagte ihn nicht aufzuhalten oder ihm zu folgen.

Infamer Spitzbube! rief er halblaut, als er nichts mehr hörte. – Der Kerl sieht aus wie ein Mörder, der vom Galgen kommt! Was geht hier vor? Was für Gesindel schleicht hier im Hause umher, in einem Hause, das zu den stillsten in der ganzen Stadt gehört? Erst eine verschleierte Dame, dann dieser Räuber, und Alle suchen den saubern Patron, den Bräutigam, wie einen vertrauten Freund. – Das halt ich nicht aus, ich ziehe aus! rief er zornig. – Nein, das lasse ich bleiben, fuhr er bedächtig fort, ich werde hinter alle diese Geheimnisse kommen und dem Heuchler da drinnen, er drohte gegen die Thür, die Luft dazu vertreiben.

 

Während Herr Frese alle diese Abentheuer bestand, war Wilberg keineswegs in der Nähe, sondern früh schon ausgegangen, um einige Einkäufe zu machen und Geschäfte abzuthun. Im Hause des Directors gab es heut eine Mittagsgesellschaft, zu der er geladen war, vorher sollte er einem Maler sitzen, weil Stephaniens Mutter darauf drang, da es in ihrer Familie stets Sitte gewesen, daß die Brautpaare gemalt wurden.

Onkel Tobias hatte dazu ein sonderbares Gesicht gemacht, den Kopf in den Nacken geworfen, den Bräutigam von der Seite angesehen und war quer durch das Zimmer marschirt, bis er vor seiner Schwägerin still stand und mit tiefer Stimme sagte:

Habe auch etwas für den Maler zu thun; soll an unserm Stammbaum eine Arbeit verrichten, die selten vorgekommen ist.

Wilberg wußte, was diese Worte zu bedeuten hatten, und er erröthete über diese Anmaßung. Ein paar Cousinen aus der Familie, die mit Stephanie im Zimmer waren, lachten und sahen die Braut mitleidig spöttisch an, die einen langen ernsten Blick auf ihren Verlobten warf.

Sie haben gewiß einen sehr alten Stammbaum? fragte dieser.

Dreizehntes Jahrhundert! erwiederte der Major mit Würde.

Merkwürdig! fuhr Gustav lachend fort, die meisten Menschen wissen kaum, wer ihre Väter oder Großväter gewesen sind. Ich bin darin weit glücklicher, mein Großvater war ein Leineweber und mein Urgroßvater ein Dorfschmied. Würdige Leute, Herr von Grießfeld, grundehrliche Leute, die nie ihres Nächsten Haus, Hof, Vieh, Magd oder Knecht begehrten; deren Ahnen aber jedenfalls auch im dreizehnten, ja selbst im ersten Jahrhundert der Menschenerschaffung gelebt haben, weil es sonst unmöglich wäre, daß sie selbst existiren konnten.

Meinen Sie? fragte der alte Herr, dicht an ihn hintretend.

Ich bin davon überzeugt, sagte Wilberg.

Die ganze Gesellschaft lachte und die Directorin reichte ihrem künftigen Schwiegersohne die Hand und sagte: Keinen Streit um die Ahnen, mag jeder die seinigen behalten, sie werden sich schon vertragen.

Stephanie sah mit einer gewissen dankbaren Freundlichkeit Gustav an.

Das war wie ein Mann gesprochen, sagte sie ihm ins Ohr, indem sie stolz die Cousinen betrachtete.

Onkel Tobias aber kehrte sich verdrießlich um und verließ das Zimmer, und seit diesem Augenblicke schien sein Widerwillen gegen den Bräutigam so gewachsen zu sein, daß er ihn keines Wortes mehr würdigte.

Heut nun, als Gustav über die Promenade ging, wo der Maler wohnte, sah er plötzlich nicht weit vor sich den Major mit einem andern Herrn im vertrauten Gespräch. Der alte Herr hing sich an den Arm seines Begleiters, und dieser rechnete mit Lebendigkeit an den Fingern, die er zuweilen erhob, vermuthlich die Gründe für seine Ansichten her, welche der Major zu bestreiten schien.

Zögernd blieb Gustav stehen, um ein Begegnen zu vermeiden. Nach einiger Zeit sah sich der Begleiter des alten Herrn um, es war der Assessor von Baben, und heftiger schlug sein Herz, denn der geheimnißvolle Zettel fiel ihm ein. Von wem konnte ihm Gefahr drohen als von diesen Gegnern? Ihr langes eifriges Gespräch kam ihm wie eine Verschwörung vor, die gegen ihn gerichtet sei; eine Menge dunkler Ahnungen und Vorstellungen stiegen in ihm auf, während er langsam folgte und überlegte, ob er ein Zusammentreffen suchen, oder es umgehen solle. –

Endlich sah er die beiden Herren sich trennen, der Assessor kehrte zurück, er blickte nachsinnend vor sich nieder; sein Gesicht war noch blasser wie sonst, der Zug eines tiefen Kummers lag darin. – Plötzlich hob er die Augen auf und erkannte den Nahenden, der ihm fast zur Seite war. Eine schnelle Röthe trat auf seine Stirne, und als sei es ein jäher Entschluß, so wendete er sich mit einigen raschen Schritten zu Gustav hin, als dieser grüßend vorüber gehen wollte.

Der Zufall führt uns zusammen, Herr Doctor Wilberg, sagte er, und erlaubt mir, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. – Ich habe hier einen Brief an Fräulein Stephanie, fuhr er fort, als Gustav sich schweigend verbeugte; der Brief ist von meiner Hand geschrieben, wollen Sie ihn dem Fräulein zustellen?

Sehr gern, erwiederte der Bräutigam lächelnd, ich will die Bestellung übernehmen.

Es mag Ihnen auffallen, sagte Baben, daß ich dem Fräulein Briefe schreibe.

Briefe? fiel Gustav ein, ich sehe nur einen.

Ich habe zwei oder drei geschrieben, wie ich aufrichtig bekennen muß.

Ohne Zweifel hatten Sie triftige Gründe zu dieser Correspondenz.

Die Gründe eines Freundes, sagte Herr von Baben im ruhigsten Tone, der den innigsten Antheil an dem Geschick eines edlen, liebenswürdigen Mädchens nimmt, das er wahrhaft verehrt!

Ein rascher Blick der Befremdung, in welchem sich eine eifersüchtige Regung zeigte, fiel auf den Sprecher, der mit derselben kalten Sicherheit fortfuhr: Sie müssen wissen, Herr Doctor Wilberg, daß ich seit Jahr und Tag in das Haus des Director Grießfeld kam und Gelegenheit hatte, die schönen Eigenschaften des Herzens und des Geistes kennen zu lernen, die Fräulein Stephanie zieren.

Ich habe davon gehört, erwiederte Gustav, obwohl ich nicht wußte, daß Sie zu den nähern Freunden der Familie gehörten.

Dessen rühme ich mich auch nicht, allein auch ohne diese Bevorzugung war es natürlich, daß ich einer jungen schönen Dame meine Huldigungen darbrachte. – Ich hoffe, Sie mißdeuten diese Worte nicht, Herr Wilberg, die mit aller Ehrfurcht gesagt sind. Ich näherte mich dem Fräulein mit der Ergebenheit eines Freundes, wir sprachen viel und gern zusammen, ich lernte sie hochschätzen und hoffe, diese Empfindungen unter allen Verhältnissen des Lebens, bis zu meinem Ende zu bewahren.

Wilberg hatte aufmerksam zugehört; die Wahrheit und Offenheit, welche in Ton und Wort lagen, verfehlten ihren Eindruck nicht.

Ich danke Ihnen für Ihre Mittheilung, Herr von Baben, sagte er. Es freut mich zu wissen, daß Stephanie einen so ergebenen Freund besitzt, der mich zum Zeugen dieser Freundschaft aufruft und mir dadurch Hoffnung macht, wenigstens einen Theil davon auch auf mich zu übertragen.

Die Röthe auf der Stirn des Assessors kehrte zurück, er schwieg, und erst nach einer kleinen Pause, während Gustav den Brief in sein Taschenbuch legte, fuhr er fort:

Die Zeilen, welche dies Papier enthält, sind gewissermaßen ein Testament – Sie drücken meine Glückwünsche und meine Hoffnungen für Fräulein Stephaniens Zukunft aus. Was ich Ihnen über meine innige Ergebenheit sagte, ist darin niedergelegt. Das Papier ist nicht versiegelt, ich habe nichts dagegen, wenn Sie den Inhalt lesen wollen.

Er ist für Stephanie bestimmt, und so gut wie versiegelt, erwiederte Wilberg.

Baben verbeugte sich leicht, er schien noch etwas sagen zu wollen, was er mühsam unterdrückte. – Die beiden jungen Männer gingen eine Zeit lang neben einander, als hinderte sie ein unsichtbares Etwas, sich zu trennen, obwohl sie gern geschieden wären. –

Endlich ergriff Wilberg das Wort und erzählte, um etwas zu sagen, von den verschiedenen Einrichtungen und Voranstalten zu seiner bevorstehenden Vermählung, und wie mancherlei Umstände, die er gar nicht geahnt habe, ein neu zu beschaffendes Hauswesen mache.

Wann haben Sie Ihre Verbindung festgestellt? fragte Baben.

In drei Monaten werde ich jedenfalls verheirathet sein, erwiederte Gustav.

Werden Sie? sagte der Assessor mit besonderem Nachdruck.

Zweifeln Sie an der Richtigkeit meiner Vorausbestimmung? rief Wilberg lächelnd.

Ich wünsche nur, daß Sie Recht haben mögen, erwiederte Baben. Sollte es der Fall sein, so wird Niemand sich Ihres Glückes mehr freuen, als ich.

Mit diesen Worten verließ er ihn, und Wilberg überlegte mißtrauisch deren Inhalt. –

Ich weiß nicht, was ich besorge, rief er endlich. Es ist mir unheimlich, neben diesem Menschen, dem ich den zufälligen Antheil an jenem verwünschten Abentheuer verbergen muß, das mich quält, und das ich nicht los werden kann; allein er ahnt nichts davon, und ich denke, die Zeit wird kommen, wo ich es offen gestehen darf. – Eines aber habe ich gewonnen, fuhr er dann lebhafter fort: Die Ueberzeugung, daß ich keinen Nebenbuhler habe! – Wo liegt denn nun die Gefahr für mich? Welcher Narr hat sich den schlechten Spaß gemacht, mir eine Warnung in die Hand zu stecken? –

Er legte die Hand auf das Taschenbuch, in welchem der Brief steckte, und murmelte leise:

Es ist sein Testament, was heißt das? Es heißt, ich nehme Abschied von Dir, auf immer! – Gut, ich werde sehen, was die Erbin dazu sagt. –

 

Eine Stunde später trat er in das Arbeitskabinet der Damen, und wie er hoffte, fand er Stephanie allein. Sie war zur Gesellschaft gekleidet, Blumen im Haar, einen prächtigen Goldschmuck, sein Geschenk, um Nacken und Arm. Er fand sie schöner als je, und betrachtete sie mit Blicken, in denen dies Geständniß lag. In ihrem Erröthen drückte sich dafür eine Antwort aus, die nichts Zurückweisendes hatte. Es war ein frohes Lächeln in ihrem Gesicht, das zu dem bessern Verständniß paßte, welches seit einiger Zeit im Umgange zwischen den Verlobten sichtbar wurde. –

Stephanie war nicht mehr verlegen, was sie sagen, und wohin sie blicken sollte, wenn sie mit Gustav allein war, die spröde Schüchternheit begann einem Vertrauen zu weichen, das eben sowohl aus dem Gefühl der Unterwerfung, wie aus einer leise erwachenden Neigung entsprungen sein konnte. –

Gustav hatte Alles gethan, um sich freundlich und gefällig zu erweisen, doch immer war eine gewisse Schranke stehen geblieben, die ihn heimlich verletzte und seinen Stolz zuweilen aufrief. –

In diesem Gefühle wies er alle Anmaßungen des Onkel Tobias mit derbem Spott zurück. Er hatte sich gelobt, in keinem Falle je dankbar dafür zu sein, daß das Fräulein von Grießfeld ihm ihre Hand reiche, und seine unmuthige Aufregung hatte ihn einst zu Aeußerungen verleitet, die ziemlich unverhüllt ausdrückten, was er dachte.

Bei Stephanie war jedoch der Erfolg ein ganz anderer gewesen, als er voraussetzte. Sie blickte ihn mit solcher Freundlichkeit an, wie es noch nie geschehen war, und sagte dann mit vollbetonter Stimme:

Ich würde den Mann nicht achten können, der sich selbst nicht höher schätzte, als alle die Nichtigkeiten gesellschaftlicher Einrichtungen oder verbrauchter Vorurtheile.

Und was achtest Du denn zumeist an dem Manne, den Du liebst? fragte er leise.

Den männlichen Muth, der sich und die ihm angehören, keine Demüthigungen gefallen läßt, erwiederte sie.

Jetzt, als er Stephanie lächelnd und geschmückt ihn erwartend erblickte, fielen ihm ihre Worte ein. Er umarmte sie ungezwungen, wie ein Bräutigam, und rief dann lachend:

Seit Du meinen männlichen Muth herausgefordert hast, bin ich ein ganz anderer geworden, als ich war. Ich athme freier, ich habe Hoffnungen, ich sehe in Deinen Blicken etwas, das mich froh und glücklich macht. Habe ich Recht, liebe Stephanie? Oft es nicht so? Wir lernen uns jetzt näher kennen, indem wir uns Auge in Auge betrachten, und kommen uns endlich vor, wie ein paar Menschen, die sich lieb haben müssen, wenn sie nur wollen.

Sie standen beide Hand in Hand und sahen sich an.

Und Du willst? sagte er flüsternd.

Gewiß, ich will! erwiederte sie.

Und ich glaube es! rief er mit Herzlichkeit, ich glaube es Dir jetzt, denn dies: Ich will! klingt ganz anders als damals, wo Du es zuerst sagtest. – Ich suchte Dein Herz, Stephanie, Du wichst zurück. War es allein der Zwang, den Du scheutest, oder war ich es selbst? Was mißfiel Dir an mir?

Ich weiß es nicht, erwiederte sie zögernd.

Es war Deine Schüchternheit, und mein gewaltthätiges Eindringen. – »Man merkt die Absicht, und man wird verstimmt!« rief er lachend. – Aber wenn Du wüßtest, mit welchen Sorgen ich mich quälte. Ich fürchtete, daß ein dunkler Schatten zwischen Dir und mir stände, der mein Bild in Nebel hüllte. Mit diesem Schmerz ging ich und kam zurück.

Ich verstehe Dich nicht, erwiederte Stephanie.

Ein Glück für mich, daß es so ist! fuhr er fort, und lächelnd zog er sie auf den Lehnstuhl, setzte sie auf sein Knie, umfaßte sie mit beiden Händen, und begann nun eines jener langen Gespräche, in denen Liebende unerschöpflich sind. – Die Landschaftsmalerei einer glücklichen Zukunft öffnete ihre Herzen, und unter dem Austausch der Farben, die immer helleres Roth annahmen, verging eine geraume Zeit, ehe Gustav plötzlich mit der Hand an sein Taschenbuch schlug und lebhaft sagte:

Bald hätte ich etwas vergessen. Ich habe einen Brief für Dich, den ich unter besondern Umständen empfangen habe; hier ist er.

Er nahm das Papier und reichte es Stephanie hin, welche, die Aufschrift erkennend, mit einer zuckenden Bewegung es von sich wies. –

Was soll das sein? sagte sie, ich habe keine Briefe zu empfangen.

Von einem treuen Verehrer und Freund, erwiederte er ruhig, der Dir sein Testament sendet, wie er sagt, die letzten Wünsche für Dein Glück.

Stephanie hielt den Brief in ihrer Hand fest, ihre Blicke ruhten unstätt darauf. Plötzlich schlang sie beide Arme um den Hals ihres Verlobten und legte den Kopf an seine Brust. – Sie sprach nicht, aber Gustav empfand ihr stilles Bekenntniß.

Erst nach einer langen Pause sagte er leise:

Du hast ihn gewiß sehr lieb gehabt? und er war der Schatten, der zwischen uns stand. – Wir müssen auf richtig sein – ich will Dich nicht quälen – ich erkenne und begreife Alles – aber jetzt in dieser ernsten Stunde, theure Stephanie, jetzt muß es ganz klar sein zwischen uns – jetzt darf kein Schatten mehr zwischen uns stehen.

O! fürchte nichts, sagte sie sich aufrichtend, mißverstehe mich nicht; Du bist gut, aber Du hast Recht, ich darf Dir nichts verschweigen.

Sage mir das Eine nur, rief er hastig: Hast Du ihn geliebt?

Wenn man lieben kann, ohne je dies Wort auszusprechen, erwiederte sie, dann muß ich es bekennen.

Und nun, liebst Du ihn noch?

Kannst Du diese Frage an mich richten, erwiederte sie leise und ihn anblickend, während meine Hände Dich festhalten?

O! Stephanie, rief er mit dem Ton des Glücks, ich bitte Dir mein Vergehen ab. Nein, Du liebst mich, Du bist mein! Ich war fern, als er Dir nahe war, und ich finde es natürlich, daß ein junger, schöner, reichbegabter Mann die ersten Neigungen Deines Herzens gewinnen konnte.

Er war der Einzige, erwiederte Stephanie, der nicht war wie die Anderen. Der mir anders erschien, fuhr sie erröthend fort, verständig, edel in seinen Aussprüchen, kühn in seinen Anforderungen, männlich in Allem, was er sagte und that. –

Sie bemerkte den beobachtenden Blick, den Gustav bei diesem Lobe auf sie richtete, und reichte ihn den Brief hin. –

Lies dies Blatt, sagte sie, es wird, wie ich hoffe, mich nicht Lügen strafen. –

Er öffnete den Brief und durchlief flüchtig die Zeilen, plötzlich aber hielt er inne und las langsamer:

 

»Wenn ich für Sie, meine theure Freundin, um das reinste und schönste Glück bitte, so geschieht es dennoch unter dem Gewicht eines tiefen Kummers, der mich fast erdrücken will. Ich glaube an eine sonderbare Verkettung meines Schicksals mit dem Ihrigen, und eine düstre Ahnung überschleicht mich, daß ich bestimmt sein könnte, den herbsten Schmerz über ein Wesen zu bringen, das ich vor Allen glücklich sehen möchte. –

Was aber auch geschehen mag und geschehen muß, rechnen Sie mir es nicht zu, Stephanie; glauben Sie, daß auf Erden Ihnen kein treuerer Freund lebt, der mit Leben und Blut, mit jedem Opfer bereit ist, diese Freundschaft zu besiegeln, der aber Dinge nicht zu ändern vermag, die außer seiner Macht liegen. –

Unter den Leiden, die ein Menschenherz heimsuchen, sind die, welche wie Gewitterstürme über uns hereinbrechen, die entsetzlichsten. Gott bewahre Sie davor! Er gebe, daß Sie sich nie getäuscht sehen, daß der Mann Ihrer Wahl stets rein und ohne Fehl vor Ihnen stehe, würdig Ihrer Liebe und Ihrer Achtung, würdig des Glücks, das ihn erwartet.«

 

Hier ließ der Bräutigam das Blatt sinken. Ein Strom heißen Blutes drang von seinem heftig schlagenden Herzen in seinen Kopf und verdunkelte seine Augen. Eine ungeheuere Angst faßte ihn an, ein Bangen, das ihn ersticken wollte, denn plötzlich trat eine schreckliche Ahnung vor seine Seele.

Ich weiß nicht, was diese geheimnisvollen Worte sagen wollen? rief Stephanie, das Blatt aufhebend. Du darfst nicht böse darüber sein; es sind Ergüsse, die Du verzeihen kannst. Ich habe keine Zweifel an Dir, ich glaube an Dich! Jeder, der Dich kennt, hält Dich lieb und werth.

In ihrer Angst über den hohen Grad von Aufgeregtheit und Zorn, den sie in seinem Gesicht erblickte, legte sie die Hände auf seine heiße Stirn und sah ihn liebevoll tröstend und bittend an.

Ergriffen von dieser Hingebung, ließ Gustav es stumm geschehen, seine verstörten Mienen wurden ruhiger, bis er plötzlich sie heftig an sich preßte und mit hastiger Stimme sagte:

Ja, er hat Recht, Dich zu warnen, aber er hat kein Recht, mich unwürdig zu heißen. – Du willst an mich glauben, Stephanie, ich danke Dir. Liebe geht weiter als Alles, was die Menschen richten und verdammen. Liebe begleitet ja den Mörder selbst zur Ruhestätte und sitzt weinend auf seinem Grabe; sie klammert sich an die Eisenstäbe des Kerkers, sie fliegt über Länder und Meere, und die Unsterblichkeit, das Jenseit, das Wiedersehen, wer hat es erfunden, als die Liebe!

Seine Augen strahlten einen Schimmer der Begeisterung aus, die der Gedanke gibt, der sich über das drängende Leben erhebt, und Stephanie, die sein Gesicht noch nie so ausdrucksvoll und stolz gesehen hatte, betrachtete ihn mit schöner Freude.

In diesem Augenblick öffnete die Directorin die Thür und klatschte in die Hände. –

Das dachte ich mir, sagte sie, da sitzen sie beide, und vergessen die ganze Welt. – Der Tisch ist gedeckt, die Gäste warten, doch irdische Speise bedarf das Völkchen nicht. – Wenn es allen Leuten so wohl wäre, käme eine andre Schöpfung zu Stande, da aber außer der Liebe auch der Hunger die Menschheit verbindet, so seid so gut und bequemt Euch, auch an uns zu denken.

Mit mütterlicher Sorgfalt verbesserte sie die kleinen Mängel an Stephaniens Toilette und fuhr dabei fort:

Wenn Du die Schönste nicht in unserm Kreise bist, sollst Du doch die Häßlichste nicht sein. Einer Braut soll man nie anmerken, daß der Bräutigam sie ans Herz gedrückt hat, aber halte ihn heut in strenger Obhut, es drohen schwere Gefahren!

Welche Gefahren? fragte Gustav.

Gefahren aus schönen Augen, rief die Dame lachend. Herzensgefahren sind auch Lebensgefahren, und Pfeile aus einem Versteck von langen Wimpern, wie aus undurchdringlichen Gehegen geschleudert, die der wahre Lustgarten aller gefährlichen Abentheuer sind, haben schon mehr Schaden gethan, als die Giftpfeile sämmtlicher indischer Krieger.

So wollen wir vereint diesen schrecklichen Gefahren entgegen gehen, sagte der Bräutigam scherzend. Du wirst sehen, daß ich wie ein Held sie bestehe.


Kapitel VII.

Die Thüren des Speisesaales waren geöffnet, und die Gesellschaft, welche geladen war, erwartete den Ruf zu Tisch, als Frau von Grießfeld mit dem Brautpaare hereintrat. –

Lebhaft sprechende Gruppen von Damen und Herren hatten sich in dem großen Zimmer vertheilt, und nur die Nächststehenden wendeten sich den Eintretenden grüßend entgegen. –

Eine Tante aus der Provinz fiel Stephanie um den Hals und brachte ihre stürmischen Glückwünsche, mit einigen Thränen gesegnet, zu Stande; dann wurde der Bräutigam vorgestellt, betrachtet, mit Lebhaftigkeit befragt, und mit dem Vorschlag unterhalten, nächsten Sommer jedenfalls die Tante zu besuchen, welche eine malerische Schilderung der Reize ihres Wohnsitzes begann.

Es dauerte einige Minuten, ehe Wilberg Zeit fand, die Augen von dieser kleinen knixenden, beweglichen, erschütterten Tante zu wenden; indem er sie aber aufschlug, sah er sich gegenüber ein Gesicht, das einen eben so furchtbaren Eindruck auf ihn machte, als wäre das Medusenhaupt ihm vorgehalten worden. –

Er konnte den Blick nicht abwenden und doch sich nicht überzeugen, daß er sich nicht täusche. Es war der Kapitain Rintel, wie er leibte und lebte, groß, dürr, mit der langen röthlichen Nase, mit den großen, klaren Augen, mit der faltigen und gewaltigen Stirn. – Statt des Wollshawls trug er aber heut eine weiße Binde, statt des langen gelben Ueberziehers einen blauen Frack, auf dem ein paar Orden steckten, und der ungeheure ergraute Haarbusch auf seinem Kopfe war wohl gekämmt und in anständige Form gebracht.

Der Kapitain unterhielt sich mit dem Director, dem Major und einem Kreise von Herrn, die ihm aufmerksam zuhörten. – Es war seine scharfe, harte Stimme, die einen durchdringenden Klang hatte, es war auch seine rasche, oft kurzabbrechende Redeweise, und doch war Wilberg zweifelhaft, denn der Kapitain mit seinem langen Körper sah weit über die Umstehenden fort, und blickte den Bräutigam an ohne das geringste Zeichen ihrer früheren Bekanntschaft, ohne die geringste Störung in seinen Mittheilungen, kurz er war so kalt und theilnahmlos, als habe er alles Gedächtniß verloren.

Wie ist es möglich? Wie kann er in dies Haus gekommen sein? rief der junge Mann sich zu; in demselben Augenblick aber, wo er mit widerstreitenden Eindrücken rang, fand er seitwärts in dem Kreis der Damen am Fenster die Widerlegung jedes Zweifels. Es war Anna, die dort saß, und ihr liebliches frisches Gesicht vorwärts beugte, um, aufmerksam gemacht von ihrer Nachbarin, nach ihm hinzuschauen. Zwischen den braunen Scheiteln blickten ihn die strahlenden übermüthigen Augen herausfordernd an, das kecke Lächeln auf ihren Lippen schien fragen zu wollen: Kennst Du mich noch? Die kleine, gelenkige Gestalt, von schwarzer Seide umflossen, war ganz, wie er sie gesehen hatte, und rief mit Ungestüm alle Erinnerungen jener unvergeßlichen Nacht herauf.

Im nächsten Augenblick aber wandte sich Anna ihrer Unterhaltung zu und schien sich nicht mehr um den Bräutigam zu kümmern.

Sie wollen mich nicht kennen, sagte dieser sich selbst. Ich verstehe, sie haben Recht, jetzt gilt es, unser Geheimniß zu bewahren. – Diese Ueberzeugung überwältigte seine Unruhe; glücklicher Weise war die gesprächige Tante unermüdlich in Fragen, und als sie endlich losgelassen wurden, war Wilberg völlig gefaßt auf die Rolle, welche er zu übernehmen hatte.

Der Director ergriff ihn bei der Hand und stellte ihn dem Kapitain vor. Hier ist mein Schwiegersohn, sagte er. Wir Juristen sehen einen Prozeß für gewonnen an, wenn wir das erste Urtheil in der Tasche haben. So gebe ich denn auch dem Bräutigam schon den Namen, der eigentlich erst von der Kirche erstritten werden soll.

Bis die Priester mit der Ehe nichts mehr zu thun haben, rief der Kapitain lachend.

Da kommen Sie bei unsern Mädchen übel an, erwiederte Herr von Grießfeld. Mögen Juristen und Philosophen immerhin beweisen, die Ehe sei nichts Kirchliches, sondern ein bloßer Contract zwischen zwei Menschen, die überein gekommen sind, ein gemeinsames Geschäft anzufangen, sie wollen nicht allein die Formel aus dem Kirchenbuch, sondern wollen auch einen Myrthenkranz, ein Hochzeitskleid und das ganze stattliche Gepränge. Die Hälfte würde unvermählt sterben, wenn Brautschau und Brautschmuck fehlen sollten.

Der Widerspruch und das Lachen, welche diesen Sarkasmen folgten, ließen Wilberg Zeit, Gewißheit darüber zu erhalten, daß der Kapitain ihn nicht kennen wollte. Die unbefangene Ruhe, mit welcher Rintel ihn behandelte, einige allgemeine Fragen an ihn richtete und dann es dem Director überließ, ihm mitzutheilen, daß Herr Rintel ein alter Bekannter des Majors sei, dem man das Vergnügen verdanke, ihn und seine Tochter hier zu sehen, machte auf ihn einen belebenden Eindruck. – Er war nicht mehr allein mit der Schuld, die er empfand; er konnte einen Theil davon auf die mächtigen Schultern des Mitschuldigen werfen, und dieser mit seiner stolzen Sicherheit flößte ihm großes Vertrauen ein.

Sie müssen wissen, sagte der Kapitain, daß ich seit einer Reihe von Jahren nicht in der Hauptstadt gewesen bin. Ich lebe auf dem Lande in einem Winkel verborgen mit dem Volk und bei dem Volk. Ein Mann aus der feinen Gesellschaft hätte es vielleicht nicht gerechtfertigt erachtet, bei dem ersten Besuch auch sogleich als Gast zu bleiben, einem Landmann und einem Landmädchen verzeiht man dagegen die Einfachheit der Sitten. Wir machen unsre Bekanntschaften zuweilen auf der Landstraße, werden die besten Freunde in der ersten halben Stunde, und vergessen es so leicht nicht, mit wem wir unser Brod gebrochen haben.

Ist alte Soldatenart! rief der Major dazwischen. – Hoffe nun auch, daß wir uns öfter zusammen finden.

Das wäre möglich, erwiederte Rintel. – Ich wünsche mein Grundstück zu verkaufen und einen andern Aufenthalt zu suchen. –

Lebt sich gut hier! sagte der Major.

Nicht für mich, fiel Rintel ein. Die Steinhaufen machen mir Brustschmerzen, ich muß Luft, grüne Bäume und Arbeit haben, umherlaufen und in Wald und Feld vergessen können, daß es Menschen, Sorgen und Gesetze gibt.

Haben Sie so große Abneigung gegen die Gesetze? fragte der Director.

Die gründlichste, die man haben kann, erwiederte der Kapitain, denn je mehr ich sie betrachte, je mehr widerstehen sie mir. Die Gesetze eben sind es, die mir den Aufenthalt selbst in meinem Rückzugswinkel verleiden. Sie quälen den Menschen von der Wiege bis zum Grabe, schreiben ihm vor, wie er gehen und stehen soll, binden ihn, nicht mit siebenfachen Stricken, sondern schnüren ihn ganz und gar ein und machen Automaten aus uns. Wo aber irgend Einer nicht will, wie die zahllosen Gebote es ihm befehlen, wird er verfolgt, gehetzt, getreten, gestraft, gefangen und gehangen, wenn es sein kann. Dabei aber haben die Menschen solchen Schaden schon an ihren Seelen gelitten, sie sind so verdummt, herabgewürdigt, entmannt und verknechtet von dem, was Gesetzlichkeit heißt, daß sie die Ruthe küssen, die sie straft, und zu jeder Schlechtigkeit und Nichtswürdigkeit die nöthige Erziehung genossen haben.

Sie scheinen üble Erfahrungen gemacht zu haben, sagte der Director lächelnd.

Hab's gemacht! erwiederte der Kapitain, und kenne die Sache aus dem Grunde. – Man kann nicht vorsichtig genug sein; ich bin mit darum hierher gekommen, um einem Freunde beizustehen, der von einem schlimmen Handel bedroht wird.

Wilberg hörte nichts weiter, denn er wurde von Stephanien abgerufen, aber die letzten Worte des Kapitains waren ihm bedeutungsvoll, froh und schwer zugleich. Er konnte nicht zweifeln, daß sie ihn selbst betrafen.

Ich muß Dich dem Fräulein vorstellen, sagte Stephanie, indem sie auf Anna deutete. – Sie glaubt in Deinem Gesicht eine große Aehnlichkeit mit einem Herrn, den sie gekannt, wieder zu finden.

Die Tochter des Kapitains stand lächelnd auf und verneigte sich eben so schelmisch und tief, wie damals, als er zuerst zu ihr ins Zimmer trat. –

Sollten wir uns wirklich noch nie gesehen haben? fragte sie ihn prüfend anblickend.

In der That, erwiederte Wilberg, mühsam seine Fassung erzwingend, ich erinnere mich nicht – aber es ist dennoch möglich.

Nein, wenn Sie zweifeln, so ist es nichts, fiel sie schalkhaft spöttisch ein.

Ich weiß nicht, wo ich die Ehre gehabt haben könnte, sagte er mit wachsender Verlegenheit.

Sehen Sie wohl, darin liegt die Täuschung, fuhr sie fort, und sonderbarer Weise geht es mir ganz eben so. Vielleicht haben wir uns auf einer Reise getroffen, oder in meinen Träumen sind Sie mir erschienen. Es geschieht zuweilen, daß man lebhaft von Dingen und Menschen träumt, die man nie sah; erblickt man sie dann später wirklich, so sucht man vergebens danach, wo und wie man früher schon mit ihnen zusammentraf.

Sie glauben also an Ahnungen? fragte er lächelnd.

Gewiß glaube ich daran, erwiederte Anna lebhaft, und da ich ein Sonntagskind bin, sehe ich sogar zuweilen Gespenster. –

Sie lachte muthwillig, und ihre Lust zum Scherz theilte sich dem ganzen Kreise mit, der mit sichtlichem Wohlgefallen das schöne Mädchen betrachtete, die ein ungewohntes Leben in die gewöhnlichen Gesellschaftsformen brachte

Die Gespensterseherei, sagte Stephanie, streitet nicht gegen die Aufklärung, sie ist sogar die neueste Mode.

Wir haben Teufelsbanner im Staatsrathe, und Geisterbeschwörer am Ministertische, rief einer der Herren.

Das heißt, sie beschwören den Geist, daß er auf immer von uns weiche, schaltete ein Andrer ein.

Wie die gelehrten Herrn doch Alles drehen und deuteln, rief Anna. Ich habe nichts damit zu schaffen, ich spreche von wirklichen Gespenstern, von Kobolden, die nächtlich vor den Betten sitzen, den Schlafenden mit ihren glühenden Augen anstarren, bis er in ängstliche, schreckliche Träume verfällt, auf wilden Rossen durch Nacht und Nebel über öde Haiden jagt, abentheuernde Prinzessinnen verfolgt, mit Räubern und Narren kämpft, und endlich, entsetzt erwacht, den Spuk noch lange für Wahrheit hält. Solche Gespenster mögen hier selten sein, aber ich sage, wie Hamlet, es gibt vieles zwischen Himmel und Erde, wovon unsre jungen Herren, die jetzt sämmtlich Philosophen sind, sich nichts träumen lassen.

Das macht, erwiederte Wilberg, weil uns die Lebendigen genug zu denken geben.

Muß denn ein Bräutigam auch denken? fragte Anna. Mir scheint, er dürfe nur empfinden, seine Gedanken müssen Gefühle werden, seine Sorgen rosenrothe Kleider tragen, und wenn schwarze Gespenster ihn beschleichen, muß er sie zu beschwören verstehen.

Lebhafter Beifall und Gelächter begleiteten ihre Worte, unwillkürlich aber folgte Gustav der Richtung ihrer Blicke, und plötzlich erblickte er dicht in seiner Nähe den Assessor, der in seinem schwarzen Kleide und beweglichem Ernst wirklich wie ein Gespenst aussah. Er sprach mit dem Major und der Tante, und schien von dem geselligen Kreise an der andern Seite keine Notiz zu nehmen.

In diesem Augenblick erfolgte der Ruf zur Tafel, und plötzlich, ohne nach Stephanien umzublicken, bot Wilberg Anna den Arm, obwohl von vielen Seiten derselbe Versuch gemacht wurde, und der Assessor ebenfalls näher trat.

Ich werde die Ehre annehmen, sagte Anna, sich gegen Stephanie wendend, weil es ein altes Gesetz in unsrer Heimath ist, daß ein Brautpaar nicht beisammen sitzen darf, aber unter der einen Bedingung, daß ich meinem Freunde Rudolf Ersatz für seine getäuschten Hoffnungen gebe. – So soll es sein, rief sie in ihrer neckischen Weise. Wir tauschen und lassen Jeden den Schaden tragen.

Stephanie willigte lächelnd ein, und als man die Plätze meist vertheilt sah, trennte man sich und fand an den entgegengesetzten Seiten ein Unterkommen. –

Es war eine zahlreiche Gesellschaft, bald wurden die Gespräche vereinzelt und in kleinen Kreisen geführt. Anna sprach lebhaft mit ihrem Nachbar zur andern Seite, einem alten Herrn, der entzückt von ihrer Naivetät war, und Gustav wartete lange und mit steigender Ungeduld auf den Augenblick, wo er Gelegenheit haben würde, ihr flüsternde Eröffnungen zu machen.

Aber dieser Augenblick wollte nicht kommen. Mit absichtlicher Neckerei wußte das muthwillige Mädchen ihn immer von Neuem in die gemeinsame Unterhaltung der Nachbarn zu ziehen, und wenn er endlich den Zeitpunkt gekommen glaubte, und die ersten Worte zwischen ihnen gewechselt waren, brach sie ab und wendete sich von ihm, um irgend eine Frage an den alten Herrn zu richten, der es an unerträglich langen und langweiligen Antworten nicht fehlen ließ.

Endlich sagte der junge Mann leise: Es scheint, daß Sie absichtlich jede Mittheilung, die wir uns zu machen hätten, vermeiden wollen?

Welche Mittheilung? fragte sie.

Können Sie das fragen? erwiederte er. Mittheilungen über unser früheres Zusammentreffen.

Haben Sie sich darauf besonnen, rief sie lebhaft, und wandte sich wieder zu dem alten Herrn, dem sie rasch erzählte, was wir schon wissen, und schalkhafte Bemerkungen daran knüpfte. Der alte Herr wunderte sich und erzählte seinerseits, daß es ihm oft so mit Menschen gehe, die er kenne und doch nicht wisse, wohin er sie thun solle. Wilberg hörte gepeinigt die lange Geschichte an.

Nun? sagte Anna endlich, ihn mit den glänzenden Augen anblickend. Sie wissen also jetzt, wo es war. Auf einer Reise?

Allerdings auf einer Reise.

Wahrscheinlich bei Nacht?

Bei unheimlicher Nacht.

Das klingt entsetzlich! Aber ich habe geschlafen, der Mond schien und beleuchtete mein blasses Gesicht. Sie konnten es lange nicht vergessen.

Gewiß nicht.

Bis die Erinnerung starb, als Fräulein Stephanie das ganze Gedächtniß des glücklichen, jungen Herrn in Beschlag nahm.

Der alte Herr, dem sie diese Worte zuflüsterte, lachte laut auf und nickte ihr zu, indem er Wilberg mit Triumph betrachtete. – So ist es, sagte er, in solchen Tagen werden alle Erinnerungen über Bord geworfen.

So mögen sie denn im Grunde des Meeres versenkt bleiben, erwiederte Anna, und was nützt es auch, sie zu wecken?

Das Gespräch wurde zum Scherz, bis Gustav endlich von Neuem den Ernst hineinzog.

Was kann Ihre Absicht sein, sagte er, diese Verstellung durchzuführen? Warum wollen Sie nicht den Augenblick benutzen, um mir wenigstens ein freundliches Wort zu sagen; mir sagen, wann und wo ich ohne Scheu mit Ihnen von dem reden kann, was mich in so große Gefahr setzt? – Der Assessor von Baben –

Dort sitzt er, sagte Anna zu dem alten Herrn.

Wer? fragte dieser.

Der Herr von Baben, ein vortrefflicher junger Mann. Er blickt aufmerksam hierher, denn seit mehreren Jahren kenne ich ihn, obwohl unsere Bekanntschaft immer in Bruchstücke zerfiel, weil er nur selten seinen Vater besuchte. – Jetzt ist dieser durch einen Zufall ums Leben gekommen, was den Sohn in düstre Schwermuth versetzt. Er hat sich viele Mühe gegeben, alle Umstände jenes unglücklichen Ereignisses zu erforschen, und scheint von dem Gedanken geplagt, er müsse den Tod seines Vaters an dem Schuldigen rächen.

Das finde ich sehr natürlich, fiel der Tischnachbar ein.

Ich ebenfalls, fuhr die Dame fort; auch ist kein Zweifel, daß er gewisse Spuren entdeckt zu haben meint. Er wartet nur die Gewißheit ab und würde, wenn er diese erhielte, hier vielleicht an der Tafel aufstehen, um den oder die Verbrecher zu verhaften, wenn sie sich etwa unter den Gästen befänden.

Ja, das würde ich auch thun, rief der alte Herr.

Ich auch, sagte Anna lachend. Ich habe ihn aber sehr lieb, meinen armen Freund, und möchte, daß er in anderer Weise verführe. Er hat uns lebhaft zu unserer Reise gedrängt, hat uns mit Hülfe des Majors, seines Freundes, hier eingeführt, umgiebt uns mit seiner Sorgfalt unaufhörlich, und ist zu unserem Dienst stets bereit.

Wie ein Cavalier dies sein muß.

Das ist er, ein Mann von strenger Ehre, doch großmüthigen Herzens. Wir sinnen darüber nach, ihn von seiner Schwermuth zu heilen, und wollen noch heut mit einem Freunde verabreden, wie es am besten geschehen kann. Heut Abend hoffen wir, ihn in seiner Wohnung zu finden.

Der alte Herr fand diesen Eifer der Theilnahme eben so interessant wie aufopfernd, und erzählte aus seiner Jugend ein langes Beispiel von edelmüthiger Freundschaft, während der Nachbar auf der andern Seite in Nachdenken über das versank, was er gehört hatte. Er wußte jetzt, warum er fortgesetzt verleugnet wurde, und erkannte plötzlich einen wohl angelegten Plan seines Verfolgers, dem er allerdings einen Grad von Fanatismus zutraute, der des Aeußersten fähig war. Er malte es sich aus, wie der Bluträcher mit der finstern Entschlossenheit in seinem Gesicht aufstehen könne, um laut zu rufen: Jetzt weiß ich, wer der Mörder meines Vaters war, dort sitzt er! –

Unwillkürlich sah er starr auf Baben, der mit Stephanien fortgesetzt sprach, und indem er die Hand auf die Lehne ihres Stuhles stützte, leise Fragen an sie zu richten schien. Ein hoher Tafelaufsatz, der in einen Blumenkorb endete, diente ihnen zum Versteck gegen Späherblicke; nur von Zeit zu Zeit sah Gustav, wie Stephaniens Augen ihn zu suchen schienen, und wie sie leise herüber lächelte, als sie ihn stumm und nachdenkend den Teller zerkritzeln sah. –

Da Anna gar nicht aufhören konnte, mit dem alten Herrn zu lachen, der ihr betheuerte, daß er in seinem ganzen Leben sich noch nie so gut unterhalten habe, wandte er sich endlich dem Gespräch zu, das der Kapitain ihm gegenüber führte, der auf sein Lieblingsthema, auf die Lage des Volks und dessen Noth gekommen war. – Er machte haarsträubende Schilderungen von dem Elend und der Verwahrlosung der untern Klassen und brachte mit seinem kalten Spott und seiner Rücksichtslosigkeit die feinen Damen und Herrn, welche gegen ihn stritten, in Schrecken und Entsetzen.

Das Schicksal hatte einen eingefleischten Geheimrath und eine Dame von reinem Blut neben ihn gesetzt, die in Vorurtheilen groß und alt geworden waren, und spaßhaft genug war es, wie anfänglich die größte Einigkeit zwischen Allen herrschte, indem sie über die Schlechtigkeit, Verdorbenheit und Sündigkeit der Zeit und der Menschen sich unterhielten. – Der Geheimrath fand dabei die Suppe vortrefflich, die Baronin lobte die Champignons einer Sauce, ihr Nachbar war entzückt über den Schinken in Burgunder, und während sie sämmtlich seufzten über die zunehmende Entsittlichung, über die Menge der Bettler, über die Hungersnoth der Weber im Gebirge, trat der bitterste Hohn immer stärker in die Augen und um die Mundwinkel des Kapitains.

Ich glaube, wir bekommen jetzt eine Trüffelpastete? sagte der Geheimrath, indem er die Nasenflügel weit und lüstern öffnete.

Noch nicht, erwiederte sein Nachbar unruhig, wir können noch nicht so weit sein.

Der Director gibt selten Diners, bemerkte ein Dritter, aber man ist vortrefflich.

Ich bin ein großer Freund von Seltenheiten, lachte der Geheimrath, aber hier wünschte ich sie fort. Was meinen Sie?

Er stieß den Kapitain an, der einen leisen knurrenden Ton von sich gab, wie ein Kampfhahn, der seine Sporen klirren fühlt. –

Gewiß, ich wünschte sie fort! sagte er, den merkwürdig rasch essenden Herrn betrachtend.

Wissen Sie wohl, begann die Baronin das Messer niederlegend, daß vorgestern hier ein alter unglücklicher Mann verhungert ist!

Es ist nicht wahr, rief der Geheimrath; in unserer wohlthätigen Residenz, wo so viel für die Armen gethan wird, verhungert Niemand. – Der Mensch ist freiwillig verhungert.

Wie so, freiwillig? fragte Rintel.

Es war ein alter Schneider, oder so etwas, fuhr der Geheimrath fort. Er bekam eine Armenunterstützung, aber er wohnte in einer Kammer, die ein Fenster ohne Scheiben hatte. Dadurch mag er krank geworden sein, lahm war er auch; er wollte besser unterstützt sein, das ging nicht so leicht, und statt nun ins Arbeitshaus zu gehen und um Aufnahme zu flehen, kroch er in seine Kammer und kam da um, ohne sich weitere Mühe zu geben.

Wir müssen eine neue Sammlung veranstalten, rief die Baronin, oder ein Concert machen, oder einen Ball arrangiren. Es ist entsetzlich, von wie vielen Betteleien man jetzt überlaufen wird.

Das Geben nimmt kein Ende, meine Gnädigste, erwiederte der Geheimrath. Wir haben zahllose Vereine, aber die Menschen sind selbst Schuld an ihrem Elend. – Fleißig arbeiten und beten sollten sie, so würde ihnen Geduld und Ergebung kommen. Aber wir sind bald so weit, daß sie nicht mehr bitten, sondern fordern werden. Die Frechheit wird in ein System gebracht, nichtswürdige Gedanken kommen in die Köpfe, Jeder möchte schwelgen und prassen und sieht mit Neid und Bosheit auf die Besseren.

Was nennen Sie die Besseren? fragte Rintel.

Auf uns, fuhr der Geheimrath ruhig fort, die wir Rock und Wams ausziehen müßten, wenn wir auf den communistischen und sozialistischen Unsinn hören wollten, der jetzt von Fantasten, Narren und Taugenichtsen aller Art gelehrt und gepredigt wird.

Narren und Taugenichtse, erwiederte der Kapitain, haben von je an das Elend der Welt verschuldet.

Sehr gut! rief der Geheimrath – sehr gut! Der Lachs ist wundervoll – er muß ein enormer Fisch gewesen sein. – Ja, das Beste ist, man lacht die Narren aus und sperrt die Taugenichtse ein.

Ich wollte, man hinge sie sämmtlich auf, murmelte Rintel.

Wann wird denn die Hochzeit sein? fragte der Geheimrath die Baronin, indem er nach Stephanien hinüberblickte.

Ich denke in drei Monaten, sagte diese.

Da werden wir also jedenfalls etwas Brillantes sehen. Wilberg hat viel Vermögen.

Halten Sie denn die Parthie für so besonders? sagte die Dame im wegwerfenden Tone.

Besonders? Nun, das eben nicht, aber – sie werden ein angenehmes Haus machen.

Es werden sich doch Manche zurückziehen, fuhr die Baronin fort, oder nur aus Rücksichten sich einführen, sonst – Sie kennen den Bräutigam nicht? fragte sie den Kapitain.

Nein, aber er sieht aus wie ein wackrer junger Mann.

Wacker! rief die Baronin lachend; ja, in Gottes Namen! Aber ich begreife doch die Grießfeld nicht, man wundert sich sehr; selbst nahe Verwandte haben es widerrathen. Ich würde es nie zugeben.

Steht er im üblen Ruf? fragte Rintel.

Die Dame neigte sich zu ihm hin und sagte leise: Die Grießfelds sind eine Familie, gegen die sich nichts einwenden läßt, und statt des Doctor Wilberg würde sich gewiß ein andrer Schwiegersohn gefunden haben. Da sitzt der Assessor von Baben neben der Braut; es sind zwei oder drei Cousins vorhanden, die Offiziere sind; aber die Verirrungen werden Mode.

Der Kapitain verzog das Gesicht zu einem satanischen Lachen. Er hatte jetzt vollkommen genug gehört, um seinem Aerger Luft zu machen.

Ach, ich verstehe, sagte er, Sie meinen, dieser junge Herr da sei der Ehre nicht würdig; aber, wissen Sie, ich habe im Geheimen mich über seinen Leichtsinn gewundert.

Ist er leichtsinnig? rief die Baronin erfreut.

Leichtsinnig bis zur Narrheit. Ich würde ihm meine Tochter nicht geben.

Die arme Stephanie! rief die Baronin mit einem Blick des Mitleids. – Sie kennen also seine Streiche?

Oho! ob ich sie kenne. Ist es nicht der thörichtste Leichtsinn, daß er sich in Kreise drängt, wohin er nicht gehört? Die meisten Menschen werden mit Sattel und Steigbügeln geboren, eine auserwählte Klasse mit Sporen und Reitpeitsche. So ein Mensch aus dem Volk muß beim Volke bleiben; will er darüber hinaus, wird er den Sattel doch nimmermehr los; jeder Narr oder jeder Schuft, der Sporen hat, wird ihn reiten wollen.

Die Baronin betrachtete ihren Nachbar mit Ungewißheit, als wolle sie ermitteln, zu welcher Klasse er denn eigentlich gehöre.

Schlimme Sache das! fuhr der Kapitain mit einem seiner grimmigen höhnischen Blicke fort, und wird nicht eher besser werden, bis alle Sättel und alle Sporen zerbrochen sind; bis die Menschen keine Rang- und Standesunterschiede mehr kennen; bis Jeder gilt, was er ist, Jeder seine Kräfte anstrengt, um zu erreichen, was er vermag, und Niemand mehr Recht hat, als was die Gesetze Allen geben.

Das Lächeln erstarb auf den Lippen der gnädigen Frau.

Keine Standesunterschiede! sagte sie, das verstehe ich nicht. Sie meinen doch nicht – Gleichheit!

Völlige Gleichheit, nirgend ein Vorrecht, rief der Kapitain triumphirend. Keine Barone und keine Geheimräthe; Alles gleiche, freie Bürger.

Der Herr Kapitain ist ein Demokrat! ein schrecklicher Demokrat! schrie der Geheimrath laut lachend. Die ganze Tischgesellschaft richtete die Blicke hinüber.

Ein Demokrat? Ah! gut gesagt, erwiederte er, ja das bin ich. Das heißt ein Mann, der kein Unrecht dulden will, keinen Uebermuth, keine Verachtung des Volks, von dem alle Gewalt kommt. – Sie, Herr Geheimrath, lieben mit Zärtlichkeit die Trüffeln und Schinken, ich liebe die Menschen. Sie empfinden eine Art Krampf beim Anblick einer Pastete, ich beim Anblick einer verstockten Mumie. Sie versetzen sich in Begeisterung bei dem Gedanken an das nächste Diner, wo die Austern am saftigsten sein werden, ich denke mit Begeisterung an die Zeit, wo es einmal keine Diners mehr giebt, aber lauter satte frohe Menschen.

Ein Gelächter, dem eine um so größere verlegene Stille folgte, brach über den Geheimrath los, der in einige Verlegenheit gerieth, aber doch mitlachte. –

Jeder tröstet sich über die Unvollkommenheiten der Welt, wie er kann, rief er lustig, die Achseln zuckend.

Ja wohl, jeder tröstet sich, und die Barmherzigen trinken mit einem Seufzer über das Elend des Volks in Lumpen ihren Champagner und denken an einen Ball zum Besten der Armuth.

Aber Sie können doch nicht wollen, daß wir sämmtlich von Brod und Wasser leben sollen! sagte der Geheimrath mit Anstrengung, ein ungeheures Stück Pastete verschluckend.

Nein, erwiederte der unerschütterliche Kapitain, aber ich kann wollen, daß dem Volk die unnützen Pastetenesser erspart werden; kann wollen, daß man zu Arbeit und Nahrung Jedem hilft, und lieber Gott! wie vielen deiner hartbedrückten Wesen könnte geholfen werden, wenn die Menschen menschlich sein lernten.

Frau von Grießfeld fand es für dringend gerathen, den Stuhl zu rücken und die Tafel aufzuheben, aber der Kapitain hatte mit seinen Grobheiten und Tollheiten einen großen Theil der Gesellschaft in Harnisch gebracht. Man betrachtete ihn wie einen Wilden, der durch seine barbarischen Gebräuche Grausen erregt, und spöttelte heimlich über Vater und Tochter, die, wie man fand, mit ihrem auffallenden Wesen gut zu ihm paßte.

Nach dem Kaffee nahmen die Gäste Abschied. Der Kapitain empfahl sich mit höflich stolzer Würde, aber Niemand ersuchte ihn, wieder zu kommen.

Das ist ein närrischer Kauz, rief der Director lachend, einer von den Weltverbesserern in grauen Haaren.

Ich meine nicht, Onkel Tobias, sagte Frau von Grießfeld, daß wir Ihnen besondern Dank für diese interessante Bekanntschaft schulden.

Begehren auch keinen! erwiederte der Major verdrießlich. – Ist nicht meine Sache – Baben – wo ist er?

Er hat seinen edlen Freund aus der Provinz begleitet, rief der Geheimrath. Ich sah sie zusammen gehen.

Die spöttischen Bemerkungen lenkten sich auf den unglücklichen Assessor, der in die allgemeine Verurtheilung gezogen wurde. –

Das ist auch so Einer, dem nicht zu trauen ist, sagte der Geheimrath.

Ein tüchtiger Arbeiter von großer Gesetzkenntniß und Scharfsinn, sagte der Director. Ich bin Willens, ihn in's Ministerium zu ziehen.

Das möchte ich doch widerrathen. Ich habe Aeußerungen von diesem jungen Herrn gehört, die eine völlige beamtliche Unfähigkeit anzeigen.

Welche Aeußerungen?

Spöttereien über Einrichtungen und Gesetze, moderne Theorien, Reformen des ganzen Justizwesens.

Wenn es weiter nichts ist! sagte der Director gleichgültig.

Aeußerungen über die Unfähigkeit des Staatsraths, über die Unfähigkeit der Gesetzmacher, über das Recht des Volks, sich Gesetze zu geben, über die lächerlichen Ehegesetze, die Unfreiheit der Richter.

Der Director runzelte die Stirn. – Die Weisesten sind immer die Jüngsten, murmelte er achselzuckend.

Der Witz auf den Justizminister über die Betstunden, wo die Gesetze im Wege der Gnade und der Verzückung entstehen, soll von diesem geistreichen Assessor stammen.

So? fragte der Director. Wissen Sie das gewiß?

Der Geheimrath nickte. – Nun, dann ist es allerdings Zeit, ihn zur Erleuchtung statt in's Ministerium nach Insterburg oder Silberberg zu versetzen, sagte der hohe Beamte.

Hier wenigstens wünsche ich ihn nicht mehr zu sehen, fiel Frau von Grießfeld ein, indem sie ihren Gatten bei Seite zog. – Ich habe vorher einen offnen Brief gefunden, der an Stephanie gerichtet war. Er enthielt Abschiedsworte und Glückwünsche, verworrene Klagen und seltsame Drohungen. Es ist mir aber dadurch deutlich geworden, daß es dem Herrn Assessor gefallen hat, eine kleine Intrigue anzuzetteln. Um Stephaniens Ruhe und Zukunft scheint es mir nach dieser Aufklärung nöthig, seine Ungezogenheit zu strafen. – Er muß auf's Land!

Ich werde dafür sorgen, erwiederte der Director. –

Der Geheimrath stand von fern, spitzte die Ohren und rieb die Hände; er hatte die letzten lauter gesprochenen Worte gehört. –

Ich habe es ihm längst zugedacht, murmelte er, und daß er jetzt den Grobian hier in's Haus schleppt, um mich zu blamiren, macht das Maß voll. Er muß auf's Land. – Das ist ein prächtiges Wort: Er muß auf's Land! –

Er lachte und küßte entzückt Frau von Grießfeld die Hände.

Der Fall des eben noch so hoch gepriesenen jungen Mannes war entschieden. Er hatte, wie ein hoher Vorgesetzter behauptete, gespottet und unbeamtliche Gesinnungen geäußert; der andere hohe Beamte glaubte es ohne Beweis, sobald seine Eigenliebe gekränkt wurde, den Gnadenstoß aber erhielt er durch die gnädige Frau, um der Familienruhe willen.

Während dies alles beschlossen wurde, gingen die Verlobten Hand in Hand in dem leeren Saale auf und nieder. Stephanie war angeregt und zum Scherze geneigt; fast schien es, als seien die Rollen zwischen ihnen getauscht, denn nur mit größter Anstrengung erzwang Wilberg ein Lächeln, das in der Unruhe seines Herzens jeden Augenblick Schiffbruch zu leiden drohte. Anna hatte kein Wort mehr mit ihm gewechselt, aber sie hatte neun Mal ihren Zeigefinger langsam aufgehoben und wieder fallen lassen, indem sie ihrem Nachbar weiter mittheilte, wie sie den Freund heute noch aufsuchen wolle.

War dieß nun ein Zeichen für die Stunde? Sollte er sie um neun Uhr erwarten? – Wo? an welcher Stelle? – Er wußte es nicht.

Als der Kapitain so rauh und schonungslos gegen seinen Widersacher stritt, herrschte eine allgemeine Stille; es war unmöglich, eine Frage an Anna zu richten, die mit der lebhaftesten Theilnahme ihre glänzenden Blicke auf den Vater richtete und seine Worte mit einem beifälligen leisen Nicken ihres Kopfes begleitete.

Mein tapferer Vater! sagte sie, als der Geheimrath ausgelacht wurde, er ist immer derselbe unbeugsame Kämpfer für das Recht – Finden Sie das nicht? Sagt er nicht, was wohl nie ein Mensch diesen Larven gesagt hat? Und sieht er nicht aus wie ein Streiter Gottes, so stolz, schön und gewaltig!

Gustav, an den sie diese Worte richtete, fühlte den Verstoß gegen die Formen der Gesellschaft, obwohl auch er sich heimlich ergötzte. Er lächelte ihr zu mit dem Ausdruck der Beistimmung, und doch mit der Zurückhaltung, in der die abweichende Meinung sich erkennen läßt.

Wo die Luft schwül ist, thun Gewitterschläge am besten, rief die junge Dame mit ihrer spöttischen Schalkhaftigkeit, und hier ist es zum Ersticken; aber dem Mohren ist die Tropensonne fühl; man kann in der Hölle lustig sein, wenn man nur an Schwefel gewöhnt ist.

In dem Augenblick erhob sich die Gesellschaft, und unter dem Lärm der Stühle und Menschen flüsterte Wilberg eilig:

Theuerste Anna, haben Sie mir denn gar nichts mehr zu sagen?

Petrus! Petrus! erwiederte sie eben so leise, indem sie sich verbeugte und den Finger ein wenig aufhob, ehe die Uhr schlägt, wirst du mich verrathen!

Und jetzt, wo er mit Stephaniens Händen spielte und ihre Finger an feine Lippen zog, murmelte er leise jene Worte.

Das war eine fatale langweilige Gesellschaft, rief die Braut, und eigentlich sollte ich zürnen. Statt allen Spöttern zum Trotz nicht von meiner Seite zu weichen, erobert der junge Herr eine schöne Tischnachbarin im Sturm; aber Du bist angeführt worden.

Angeführt? wie soll ich das verstehen.

Das Fräulein vom Lande ist so ungezogen wie ihr Vater, fuhr Stephanie fort. Ich habe es wohl gesehen, wie oft Du Dich bemühtest, galant zu sein, und wie sie eben so oft Dich mit ihrem seltsamen einbohrenden Lachen abfertigte.

Sie hat prachtvolle Augen, sagte Wilberg.

Im Ernst, rief Stephanie, findest Du diese Augen schön?

Schön? erwiederte er, nein, aber anziehend.

Also geistreich. – Nennst Du diese lebhafte Geschwätzigkeit wirklich geistreich?

Nein, das will ich nicht sagen, aber sie weiß damit anzuregen.

Hat sie Dich denn so sehr angeregt, mein armer Gustav, lachte Stephanie ihn betrachtend und die Hand an sein Kinn legend. Du kommst nicht los, ich muß wissen, wie es mit Deinem Geschmack steht. Aufrichtig und parole d'honneur, findest Du dies auffällige Wesen liebenswerth?

Liebenswerth? ich kenne sie ja nicht.

Aber wie Du sie kennst, so weit Du sie kennst.

Dann muß ich sagen: nein!

In diesem Augenblick schlug die Gemäldeuhr an der Wand mit sonoren Schlägen die sechste Stunde, und mit einem leichten Zucken zog Gustav den Kopf zurück. Es ist eine wilde Pflanze, sagte er, in voller Freiheit aufgewachsen, ungehegt und von keinem Gärtner gezogen. Sie weiß nichts von den Formen der höheren Gesellschaft und vernachlässigt sie, darum paßt sie nicht in gesellige Kreise, wo Worte und Gedanken abgewogen werden.

Sie muß auf's Land! rief Stephanie, dort mag sie weiter gedeihen. Ich hoffe, sie wird Dich nicht mehr langweilen; also fort mit ihr!

Du bist, wie ich denke, besser gefahren, erwiederte Gustav lächelnd.

Wenigstens ist es bei uns nicht ganz so schweigsam hergegangen, sagte sie erröthend.

Und vertraulich, wie es mir vorkam, fuhr er fort.

Du hast scharf gesehen, lächelte die Braut.

Ich sah, wie der Herr Assessor, mein schwarzer Widersacher, den Arm auf die Lehne Deines Stuhls stützte und, zu Deinem Ohre geneigt, Dir etwas zuflüsterte. Was war es?

Ja wenn Du es wüßtest!

Ein jäher Zorn zuckte durch seine Brust.

Er sprach von mir? Oder vielleicht von sich selbst; von den Wirkungen seines Briefes, zu dessen Träger er mich gemacht.

In Stephaniens Augen schimmerte die Freude über diese Erregtheit und zugleich Besorgniß.

Ich habe gehört, sagte sie, daß Männer, die sich nicht völlig verstehen, am besten thun, sich ganz zu meiden. – Meide ihn, lieber Gustav.

Er haßt mich, ich weiß es, sagte Wilberg, und in seinen Blicken brannte der Haß.

Wer wird so weit gehen, erwiederte sie; aber ich weiß nicht, wie ich es nennen soll: er fragte seltsam hin und her, bis zuletzt, als er die Hand auf meinen Stuhl legte –

Nun, zuletzt?

Er fragte mich etwas, – ich darf es Dir wohl nicht sagen – sie lächelte. Er sprach über die Unbeständigkeit der Neigungen, über den Leichtsinn, mit dem Ehen ohne wahre Liebe geschlossen würden.

Unverschämt! rief Gustav, mit dem Fuße stampfend.

Wie kannst Du so böse sein! sagte sie ängstlich.

Ja, Du hast Recht, erwiederte er erheitert, es ist Thorheit; was geht mich dieser Assessor, was geben mich seine Abhandlungen an! Mag er sie halten, wenn er will, und mag er sich trösten, wie er kann. – Wir wollen ihn Beide meiden! fuhr er dann lachend fort, indem er die Braut zum vertrauten Platz in die Nähe des Fensters führte; ich hätte auch gar nichts dagegen, wenn er mir nie wieder in den Weg träte, wenigstens will ich nicht mehr an ihn denken, sondern nur an Dich.

 

Aber dieser Wunsch, so natürlich er war, konnte doch nicht so leicht erfüllt werden; die Stunden liefen rasch vorüber in Scherz und Geplauder; die Geheimräthin saß am Spieltisch, die Verlobten waren zwanglos sich überlassen, und doch blickte Gustav von Zeit zu Zeit bedenklich nach der Uhr, die sich nicht aufhalten ließ. Seine Gedanken hefteten sich an den Zeiger, und während Stephanie die Kosten der Unterhaltung trug, schwebte eine Andere vor seinen Blicken. Er sann über den Vorwand nach, um zu gehen, und konnte den rechten nicht finden; plötzlich hob die Uhr aus und schlug neun Mal; erschrocken stand er auf.

Du willst fort? fragte Stephanie verwundert.

Ich muß, ich habe es einem Freunde versprochen. Aber, sagte er tröstend, ich lasse meine Mutter zum Pfande und kehre bald zurück.

Ich lasse Dich nicht, rief sie, ihn festhaltend.

Es entstand ein Streit unter Lachen und Betheuerungen, der mit Verstimmung endete.

Wenn meine Wünsche nichts gegen den Freund vermögen, sagte Stephanie, so muß ich mich bescheiden.

Ich komme wieder in einer Viertel-, in einer halben Stunde! mit diesen Worten eilte er fort.

Stephanie konnte nichts thun, als ihn bei der Gesellschaft entschuldigen, die hin und her rieth, wem das späte Stelldichein gelte und die mißmuthige Braut nur noch mehr verstimmte.

 

Während dessen eilte Wilberg rasch davon. Der Mond schien hell und schied die schweren Schatten der Häuser scharf von den glänzenden Lichtseiten auf den Straßen, wo es still und kalt war. Nur dann und wann kamen Menschen, deren Gestalt und Ansehen die Aufmerksamkeit des jungen Herrn erregten, denn immer glaubte er, daß er Anna oder den Kapitän oder Beide auf seinem Wege finden müsse, aber es war nicht so; er sah sich stets von Neuem getäuscht. Langsamer weiter gebend, bog er Ecke um Ecke, und befand sich endlich nahe an seinem Hause, ohne eine Spur entdeckt zu haben.

Es ist doch ärgerlich, murmelte er; es ist dringend nöthig, daß ich sie finde. Diese ängstliche Sorge muß aufhören, ich muß frei athmen können; denn ich komme mir vor wie ein Verbrecher, der des Urtheils harrt, das jeden Tag das Richtbeil auf ihn fallen lassen kann.

Er blieb stehen, sah sich nach allen Seiten um und bemerkte nichts.

Bei Gott! rief er, dies Warten, bis es dem Zufall gefällig ist, die Wahrheit an den Tag zu bringen, ist schlimmer, als ein offenes Hintreten und die Folgen erwarten. Wenn es sich jetzt nicht lösen läßt, wenn meine Freunde von der Grenze mich vergebens warten lassen, habe ich die größte Lust, mich selbst zu melden und diesem unheimlichen Gespenst zu sagen: Da bin ich, ich that es; so war es, nun entscheide.

In dem Augenblick trat aus der dunklen Seite der Straße ein Mann, der quer darüber fortschreitend an dem Wartenden hart hinstreifte, welcher ihn aufmerksam betrachtete. – Der mächtige Körper des Fremden war in einen gelblichen Mantel gehüllt; unter dem breitgekrämpten Hute blickten ein paar feurige Augen; er sah aus wie Einer, der nichts Gutes im Sinne hat und seine Gelegenheit absehen will. Unwillkürlich trat Wilberg einen Schritt zurück, als er den Mann stehen bleiben und sich zu ihm umwenden sah.

Was wollen Sie? fragte er im festen Tone.

Ich sollte denken, erwiederte der Andere, daß wir uns früher schon gesehen hätten.

– Gesehen? Wo?

In einer Nacht, wo es schlimmer herging als heute, rief der Mann roh auflachend. – Meinen Sie nicht, Herr? Da unten im Kreuzbruch war's heiß genug.

Jetzt kenne ich Euch, sagte Wilberg. – Sanders. Heißt Ihr nicht so?

Ja wohl, Herr! Sanders, mit Gottes Hülfe.

Und wo ist der Kapitain, wo seine Tochter? Ihr bringt mir Nachricht; wo sind sie?

Ich weiß es nicht, nicht ein Wort.

Nicht? – Gut, aber weßwegen seit Ihr hier?

Der Schmuggler streckte seine Hand aus und legte sie auf Gustav's Schulter.

Halten Sie still, Herr, ich thue Ihnen nichts, sagte er laut. – Ich habe nur versprochen, zu sehen, ob Sie der Rechte sind, weiter geht mich der Handel nichts an.

Welcher Handel? Was soll das? rief der junge Mann, die Hand ungestüm fortschleudernd.

Hier kommt der, den Sie fragen müssen!

Zwei Herren traten rasch heran. –

Ich glaube, sagte der Vorderste, die Frage ist überflüssig. Sie kennen mich?

Herr von Baben! rief Wilberg bestürzt.

Und dieser Herr wird Ihnen nicht weniger bekannt sein. Es ist der Freund meines unglücklichen Vaters, der Major von Grießfeld: – Sie überzeugen sich?

– Vollkommen.

Ich denke, Herr Wilberg, daß Sie in diesem Augenblicke auch eben so vollkommen unterrichtet sind, um was es sich handelt, und daß Sie uns erlauben, mit Ihnen in Ihre Wohnung zu treten, um uns eine Unterredung zu gewähren.

Mit Vergnügen. Ich bin dazu bereit.

Schlechtes Vergnügen! brummte der Onkel Tobias.

Sanders, sagte Baben, Du bleibst hier im Flur und erwartest uns. – Gib das Kästchen her.

Der Schmuggler reichte ihm ein flaches, polirtes Etui. Wilberg öffnete die Thür. Wenn es Ihnen gefällig ist, sagte er.

Die Herren stiegen die Treppe hinauf. Der Schmuggler schlug die Thür zu, besah das Schloß und versicherte sich, daß er es leicht öffnen konnte. Dann lehnte er seinen riesenhaften Körper an den Eingang, kreuzte die Arme und lachte wild auf, als er oben die letzten Tritte verhallen hörte.


Kapitel VIII.

Ungefähr eine halbe Stunde vor dieser Begebenheit war Herr Frese von seiner Ressource nach Haus gewandert und hatte höchst verdrießlich den Weg zurückgelegt. Er hatte heute seine Frau Nachbarin nicht gesehen, alle seine Neuigkeiten waren bei ihm geblieben. Er hatte die schönsten Bosheiten ausgesonnen, sich eine ganze Erzählung zurecht gemacht, in der es von Damen, Räubern und Abentheuern wimmelte, aber es wollte sie ihm Niemand abnehmen. –

Als er an das Haus gelangte, blieb er unter den Fenstern der Nachbarin stehen und lauschte, ob er nicht die Spur eines Lichtes entdecken könnte; er überzeugte sich jedoch, daß es finster darin sei, und zornig stieß er seinen Stock auf das Pflaster und sagte ingrimmig:

Es ist wahrhaftig Schade, daß ich eine so tiefe Aversion vor allem Heirathen habe. Wäre das nicht, ich heirathete diese Wittib. Wir wollten sehen, wer es am längsten aushielte. Ich wollte ihr die Gesellschaften abgewöhnen durch meine angenehme Gesellschaft, durch meine Unterhaltung, die sie so ergötzlich findet. Ach! was muß es interessant sein, eine angenehme Frau zu haben und einen angenehmen Sohn dazu, die man alle Tage erheitern und erfreuen kann. Nun morgen, morgen! fuhr er lachend fort, indem er den Schlüssel ins Schloß steckte; aber indem er die Thür öffnete, erstarb ihm der Ton im Munde, denn dicht an ihm hin, wie ein Schatten, trat eine verschleierte Dame ins Haus, ehe er Zeit gehabt hätte, ihr den Eingang zu versperren.

Madame! Fräulein! Mademoiselle! schrie Herr Frese, als er wieder Athem hatte; so hören Sie doch! Was fällt Ihnen ein? Wen suchen Sie in der Nacht? –

Die Dame stand still und sagte mit leiser, süßer Stimme: Es ist allerdings auffallend, daß ich so spät in dies Haus trete, allein ich habe einen Auftrag an Herrn Wilberg, der nicht bis morgen warten kann.

Einen dringenden Auftrag! –

Herr Frese musterte die Dame von Kopf zu Fuß. Sie war ganz schwarz gekleidet und ohne Zweifel dieselbe, die er heute früh schon gesehen.

Hier unten, sagte er, wohnt die Frau Geheimräthin, wenn Sie zu der wollen.

Ich habe bei der Frau Geheimräthin nichts zu thun, erwiederte sie.

Aha! rief Herr Frese, also nur bei dem jungen Herrn.

Nur bei ihm. Das finden Sie wahrscheinlich seltsam?

Oh! nicht im Geringsten, ich finde es sogar ganz in der Ordnung; aber die Frau Geheimräthin möchte es leicht anders finden.

Das glaube ich auch, sagte die schwarze Dame, und der alte Herr hörte deutlich, wie sie unter dem Schleier lachte.

Sie waren Beide inzwischen die Treppe hinaufgestiegen. Die Flurlampe brannte trübe; Herr Frese bemühte sich vergebens, etwas vom Gesicht der Unbekannten zu sehen.

Wo wohnen Sie? fragte diese plötzlich.

Ich? sagte der alte Herr erstaunt; hier wohne ich. Das ganze Stockwerk habe ich gemiethet, nur die beiden Zimmer dort im Corridor hat der Herr Doctor jetzt inne.

Die Dame öffnete die Glasthüre, und neugierig folgte Herr Frese nach.

Ich habe es gleich gedacht, er ist nicht zu Haus! rief er triumphirend.

Er muß zu Haus sein, erwiederte die Unbekannte, stärker klopfend.

Er muß? ah! – Er weiß also, daß Sie kommen?

Freilich, er weiß es.

Das ist somit ein bestelltes Zusammentreffen. Allerliebst! murmelte Herr Frese; wart, du sollst mir nicht entkommen. Fort kommst du nicht wieder, schwarze Dame, und sollte ich dich mit Gewalt festhalten, Polizei und Wache und endlich meine liebe Nachbarin und den saubern Herrn Sohn holen. Aber List hilft mehr als Gewalt, und wer steht mir dafür, daß dies Frauenzimmer, die keck und verschlagen wie ein kleiner Teufel zu sein scheint, nicht einen Dolch oder doch ein Messer bei sich führt? Also höflich und artig, Frese! Mit Artigkeiten erreicht man Alles.

Diese Betrachtungen stellten sich bei dem alten Herrn ein, während er mit der Unbekannten vor der Zimmerthür stand und von Zeit zu Zeit immer von Neuem anklopfte.

Nein, er ist nicht zu Haus, sagte er endlich; aber er muß kommen, es wird gewiß nicht lange dauern.

Er kann unmöglich falsch verstanden haben, murmelte die Dame halblaut.

Er kömmt auf jeden Fall! rief Herr Frese. Es ist ein außerordentlicher junger Mann.

Sie loben ihn? fragte die Unbekannte.

Aus Grund meines Herzens! betheuerte der alte Herr. Ich habe nie einen so exemplarisch moralischen Menschen kennen gelernt; alle Tage bringt er neue Beweise dafür. Sie werden mir das zugeben.

Ich habe es nie untersucht, sagte sie.

Aha! rief der alte Herr, in seiner gewöhnlichen Art grinsend, Sie bekümmern sich um dergleichen nicht, ich will es glauben. Aber es ist kalt und zugig hier, kein Aufenthalt für eine schöne junge Dame. Ich mache Ihnen den Vorschlag, ein wenig bei mir einzutreten und den säumigen jungen Herrn zu erwarten.

Herr Frese erwartete eine Ablehnung und war darauf gefaßt, seinen Ton zu ändern. Er pumpte sich die Brust voll Luft, um mit möglichster Gewalt, wenn Bitten nichts halfen, einen fürchterlichen Schrei auszustoßen.

Die Dame betrachtete ihn einen Augenblick im Scheine des Mondes, der hell durch das große Glasfenster in den Corridor fiel, und der alte Herr konnte sich eines leisen Zitterns nicht erwehren. Die finstere Gestalt der Unbekannten stand vor ihm wie eine mitternächtliche Erscheinung; das tiefe Schweigen machte ihn entsetzlich bange.

Darf ich hoffen, daß Sie mein Anerbieten nicht zurückweisen? sagte er so süß er konnte.

Ich bin bereit, da Sie es wünschen! erwiederte sie, und dem alten Herrn kam es vor, als lache sie abermals. Diese unerwartete Willfährigkeit machte ihn bestürzt. Allerlei Gedanken kamen über ihn: es konnte ein verkleideter Mann sein! Aber er hatte nicht Zeit, diesen Eingebungen Raum zu schenken. Die Dame schritt voran und Herr Frese folgte. Er hatte keine andere Hülfe im Hause als seine alte Dienerin, die längst schlief, und unten die Magd und den halb tauben Hausknecht der Geheimräthin; um aber der Fremden Achtung oder Furcht einzuflößen, hielt er es für rathsam, mehr zu lügen, als gut war.

Treten Sie gefälligst herein, sagte er, die Lampe brennt, mein Bedienter ist ein junger eifriger Bursche, der von meinem alten Johann gut angelernt wird. Aber ich bin so ein alter ehrlicher Deutscher, ich quäle meine Leute nie mit unnützen Diensten.

Sie haben zwei Diener für Ihre eine Person? erwiederte die Fremde, indem sie in das kleine Vorzimmer trat, in welchem ein Nachtlämpchen brannte.

Ich habe noch eine Haushälterin und ein Küchenmädchen, sagte Herr Frese, indem er ein Licht an der Lampe anzündete; ferner sind unten im Hause der Bediente des Herrn Doctors und die Dienerschaft der Frau Geheimräthin. Es ist dies ein wohlbewachtes, lebendiges Haus. Ein einziger Ruf reicht hin, ein halbes Dutzend rüstige Männer bei Tag und Nacht auf die Beine zu bringen.

So, sagte er, die Fremde betrachtend, jetzt bitte ich Sie näher zu treten. Hier ist mein Wohnzimmer, dicht dabei schlafen meine Leute. Wir müssen etwas leise sprechen, wenn es Ihnen beliebt.

Sie bewohnen das ganze Stockwerk? Fragte die Dame.

Von vorn bis hinten, erwiederte er.

Aber was thun Sie mit den vielen Räumen, wenn Sie hier in diesem engen Gemach wohnen, schlafen und leben? rief die Fremde lachend.

Das ist so meine Sitte, sagte der alte Herr. Ich gehe aus einem Zimmer in das andre spazieren.

Und dafür verschwenden Sie jährlich eine Geldsumme, die Sie weit nützlicher anwenden könnten, wenn Sie dieselbe der Armuth zufließen ließen.

Potz Tausend! rief Herr Frese, zum Theil belustigt von dieser Art, Vorwürfe zu machen, zum Theil verwundert, daß es der Fall sein könnte; allerdings ja – aber ich bin nun einmal als Verschwender geboren. Andere nennen mich freilich Geizhals, rief er lustig gestimmt, das heißt so sagen die, denen ich nichts borgen will. Im Uebrigen lebe ich still und allein, wie ein guter Bürger es soll, sehe keinen Menschen und lasse mir höchstens des Morgens von meiner alten Susanne erzählen, was draußen passirt.

Die Dame hatte sich in den großen Lehnstuhl gesetzt, der am Ofen stand; ein Tischchen schied sie von ihrem Wirth, der das Licht darauf gesetzt hatte und aus dem abgeschabten Sessel, auf dem er sich niedergelassen hatte, sie neugierig und boshaft betrachtete. – Das flackernde Licht warf einen matten Glanz auf die von Rauch geschwärzten Tapeten. In den Ecken im Hintergrunde standen ein paar ungeheuere Schränke, dazwischen ein Sopha mit verschossenem Ueberzug, am Fenster ein Schreibpult und hinter diesem ein mächtiger Kasten von Eisen.

Es gefällt Ihnen wohl nicht besonders hier? fragte Herr Frese lachend. Nun, wenn es auf blankes Täfelwerk, Sammettapeten und Goldleisten ankommt, so besitze ich die auch. Sehen Sie dort hinein, in die Vorderzimmer, sie sind wie neu; aber es ist nicht behaglich, darum wohne ich hier.

Das ist wohl Ihr Geldkasten? sagte die Fremde, auf den Kasten deutend.

Geldkasten? Warum nicht gar! rief der alte Herr. – Geld habe ich nie im Hause. – Wäsche, alte Bücher, Schriften liegen darin.

Sie sind ein Geizhals, erwiederte die Dame, Sie haben es selbst bekannt, und Geizige trennen sich nie von ihrem Mammon.

Herr Frese legte die Hände auf den Tisch und stützte sein langes Kinn auf die Daumen. –

Maden Sie keinen Spaß, Mademoiselle, sagte er, Sie können das nicht wissen.

Ich weiß mehr, wie Sie denken, rief die Dame. Wir sind Beide allein in diesem Hause, Niemand sieht und hört uns, kein Mensch ahnt, daß ich meine Hand auf diesen Geldkasten lege.

Was wollen Sie damit sagen? schrie Herr Frese zurückprallend, denn die kleine Hand der Fremden führte einen Schlag auf den Deckel der Kiste, die sie erreichen konnte, daß das Eisen klang.

Ich will sagen, fuhr die Dame fort, daß es nicht vorsichtig von Ihnen war, einen Fremden Abends spät heimlich in Ihre einsame Wohnung zu führen.

Eine liebenswürdige junge Dame! lachte der alte Herr mit ängstlichem Gesicht, oh! wer würde das nicht gerne tun!

Wissen Sie denn so gewiß, daß ich liebenswürdig und jung bin? rief die Fremde spöttisch.

Ich zweifle durchaus nicht daran; nein! ich bin davon überzeugt.

Wenn ich aber keine Dame wäre! fuhr sie fort, indem sie sich langsam aufrichtete.

Herr Frese saß starr, die Hände aufgestemmt, als wolle er den Sessel verlassen, aber er wagte es nicht.

Wer sollten Sie denn sonst sein? stotterte er.

Ich weiß es selbst nicht, rief die Dame mit tiefer Stimme. Aber wer sagt Ihnen, daß ich unter diesem Mantel nicht Waffen verborgen habe ein breites, furchtbares Messer?

Ha! schrie der alte Herr entsetzt, denn er sah, wie sie die Hand unter den Mantel steckte.

Um Sie abzuschlachten! rief die Dame aufspringend; aber in dem Augenblick brach sie in ein schallendes Gelächter aus und schlug die kleinen Hände zusammen. Ich glaube wahrhaftig, Sie haben sich gefürchtet, sagte sie, noch immer lachend. Seh' ich denn aus wie ein Räuber?

Ich weiß ja nicht, wie Sie aussehen, erwiederte Herr Frese neuen Muth schöpfend, aber das weiß ich, daß es mir sehr angenehm sein würde, wenn Sie endlich mir Ihr Angesicht vergönnen wollten.

Die Dame löste das Band am Hut und plötzlich sah der alte Herr in Anna's übermüthiges, lachendes und schelmisches Gesicht.

Ein Ausdruck stummen Erstaunens, der einem Erschrecken gleich kam, drückte sich in seinen Mienen aus. Er beugte sich vor, um sie besser zu betrachten, und griff nach dem Licht, das in seiner Hand zitterte.

Nun! rief die Dame, nicht wahr, ich jage Ihnen kein Entsetzen mehr ein?

Nein, nein! erwiederte er, aber – nennen Sie mir Ihren Namen.

Den werde ich verschweigen, wenigstens bis auf ein ander Mal. –Sie sehen mich noch immer erstaunt an, als suchten Sie etwas in meinen Zügen. Vielleicht ist es eine Erinnerung? Haben Sie eine Tochter, die mir gleicht?

Ich habe keine Kinder, erwiederte der alte Herr. – Ich war nie verheirathet, fügte er hastiger hinzu.

Und Sie haben immer so allein und freudlos gelebt?

Freudlos! rief der alte Herr. Warum freudlos? Meinen Sie, weil ich allein lebe? Da lebe ich ja in steten Hoffnungen.

Anna sah ihn ernsthaft an.

Was haben Sie noch zu hoffen! sagte sie. Ja freudlos, ganz freudlos muß solch Leben sein, ohne ein Wesen, das man liebt, ohne ein Herz, dem man vertraut, ohne eine Seele, die man versteht und von ihr verstanden wird.

Haha! schrie Herr Frese, Sie sprechen beinahe wie meine Nachbarin.

Sie thun mir leid, fiel Anna ein, denn Sie scheinen sich selbst um Ihr Leben betrogen zu haben.

Sie sind ein kleiner Professor, erwiederte er boshaft, und könnten Vorlesungen über das Glück des Lebens halten.

Ich will Ihnen eine Vorlesung halten, sagte sie, hören Sie zu. – Wie Sie da vor mir sitzen, lese ich in Ihren Zügen die Geschichte Ihres Lebens. Sie sind von jung an ein Egoist gewesen. Ihr rothes Gesicht, Ihre lebhaften Augen, die Unruhe in Ihren Muskeln, deuten auf einen heftigen, reizbaren Charakter und stürmische Leidenschaften. – Sie haben nie einen wahren Freund gehabt, denn die Freundschaft fordert, wie die Liebe, Opfer und Treue. Sie haben nur der Selbstsucht gehorcht, von Andern stets gefordert, aber nichts dafür geben wollen. Geld gewinnen, wie und wodurch es sei, das ist die Aufgabe gewesen, der Sie dienten. Sie sind ein hartherziger Mann; denn Hartherzigkeit und Geiz sind Zwillingskinder niedriger Seelen.

Professorchen, machen Sie es nicht zu arg! rief Herr Frese in einem Tone, der zwischen Spott und Aerger lag.

Lassen Sie mich weiter sehen, fuhr Anna fort, indem sie sich über den Tisch beugte und mit ihren blitzenden Augen ihn durchdringend betrachtete. – Auf der andern Seite des kleinen Tisches saß der alte Herr im Schein der dunkelbrennenden Kerze, Hohn, Verachtung und doch auch Verlegenheit in seinem verzerrten rothen Gesichte.

Ich täusche mich nicht, sagte Anna. Sie haben die gehaßt und verfolgt, die Ihrer Selbstsucht nicht gehorchen wollten, Sie konnten mitleids- und erbarmungslos sein, wenn es Ihr Vortheil war oder Ihre Eigenliebe gekränkt wurde. Sie waren eitel und glatt von außen, innen voll Lüge und Dünkel, hochmüthig und verderbt. Sie haben nie einen Menschen geliebt, nie Gutes und Schönes achten gelernt, nie Edles bewundert. Ihr ganzes Wesen drückt einen rohen Sinn, eine Verwilderung des Gemüths aus, welche die Menschen, die Sie umgaben, mit Furcht, Mißtrauen und Abscheu erfüllen konnten.

Herr Frese wußte nicht, was er sagen sollte zu dieser Fluth von Anschuldigungen, die, mit lachendem, hübschem Munde gegeben, doch nachdrücklich wie ein Gewittersturm über ihn herfielen. Er konnte kein spottendes Wort finden, das Gelächter starb auf seinen Lippen; er sah daß kecke Mädchen mit einem Tigerblick, endlich aber bittend an und schüttelte den Kopf. –

Mademoiselle, rief er, oder was Sie sind, es thut mir leid, daß Sie so übel von mir denken, aber gegen Sie würde ich niemals hartherzig sein, und bin es, wie ich denke, auch nicht gewesen. Es ist lustig, wahrhaftig sehr lustig, daß ich mir hier und spät in der Nacht solche Epistel halten lassen muß und von wem?

Von einem jungen Mädchen, erwiederte Anna lächelnd, aus der Sie nicht wissen, was Sie machen sollen. Lassen Sie es gut sein, lieber alter Herr, ich bin bei alledem Ihre Freundin, mehr als Sie meinen. Ich sehe Sie alt, hinfällig, mit der Welt zerfallen, das thut mir weh. Ich weiß, Sie sind böse und meinen es böse auch mit mir, wie mit allen Menschen; doch ich wünschte, Sie wären gut und gerecht. Sie spotten und höhnen die Welt, und die Welt höhnt und haßt Sie wieder. Habe ich nicht Recht? – Kennen Sie einen Menschen, der mit Liebe Ihnen anhängt? – Sie haben keinen, ich sehe es an Ihrem düstern Gesicht. Ihr ganzes Leben hat nicht hingereicht dazu, und wenn Sie sterben, wird kein Auge naß werden. Sie empfinden, was ich sage, aber ich, ich empfinde es mit Ihnen.

Der alte Herr saß stumm und bewegungslos vor dem seltsamen Mädchen, die ihn mitleidig und theilnehmend zu betrachten schien. Plötzlich hörte man von außen laute Stimmen und feste Schritte auf der Treppe.

Es sprechen mehrere Menschen draußen, rief Anna, lebhaft aufstehend; sehen Sie, wer es ist, ich erwarte Sie hier.

Herr Frese gehorchte ohne Widerrede. Er ging hinaus, öffnete die Thür, und vor ihm standen die drei Herren, welche wir kennen.

Es ist ein glücklicher Zufall, daß ich Sie finde, sagte Wilberg, indem er die Hand des alten Herrn faßte. ich bitte Sie, uns in mein Zimmer zu begleiten und Zeuge unserer Unterredung zu sein.

Sie werden mich entschuldigen, erwiederte der alte Herr bestürzt, aber –

Kein Aber, Herr Frese, rief der junge Mann; ich glaube, diese Herren werden damit einverstanden sein.

Vollkommen, sagte Baben, ich bitte gleichfalls darum.

Aber hören Sie mich nur einen Augenblick, flüsterte Frese.

Wilberg hörte nicht; er führte ihn mit sich fort, schloß die Thür seines Zimmers auf, zündete rasch Licht an und ersuchte die Herren Platz zu nehmen.

Unsere Geschäfte können rasch abgethan werden, sagte Baben, indem er den Mantel abwarf und das Kästchen, welches er in der Hand trug, auf den Tisch stellte. Er richtete einen finsteren Blick auf Gustav und sagte langsam:

Sie werden nicht leugnen, daß Sie derjenige sind, den ich seit zwei Monaten suche.

Ich weiß nicht, ob Sie mich gesucht haben, erwiederte Wilberg.

Ein seltsamer Zufall, fuhr Herr von Baben fort, führte uns zusammen. Ein unbedachtes Wort regte meinen Verdacht an, ich verfolgte dessen Spur und bald war es mir gewiß, daß Sie und kein Anderer der Mann sind, durch dessen Leichtsinn ich meinen Vater verloren habe.

Herr von Baben! rief Wilberg erregt.

Ja oder nein? fiel der Major mit harter Stimme ein. Kurze Antwort, weiter nichts.

Ich muß fragen, erwiederte Gustav, ob Ihnen die Umstände genau bekannt sind, die mich in eine Lage brachten, in welcher mir zuletzt jeder freie Wille fehlte.

Das zu ermitteln, wäre Sache des Richters oder des Gesetzes, fiel Baben ein, mir gegenüber handelt es sich allein um die That. Sie waren es, der das Pistol auf meinen Vater abdrückte, Sie verschulden, daß das scheu gewordene Pferd sich bäumte und überschlug. Sie sind sein Mörder.

Ah! rief Herr Frese, der bisher still zugehört hatte, an der mecklenburgischen Grenze – jetzt begreife ich Alles.

Er hat mit Ihnen davon gesprochen? fragte Baben rasch.

Ja, sagte der alte Herr, ich kann es nicht leugnen, der Herr Doctor vertheidigte damals den Mörder mit Hartnäckigkeit, zu meinem Erstaunen und zum Entsetzen seiner Frau Mutter. Wer hätte denken sollen – es ist unmöglich, es ist ganz unmöglich!

Ausflüchte helfen nichts, rief der Major mit dem Fuße stampfend. Nochmals: Ja oder nein?

Ja, sagte Wilberg stolz, ich war es, ich drückte das Pistol ab, aber ich fühle mich frei von Schuld, ich bin kein Mörder!

Einen Augenblick sahen sich die Männer stumm und drohend an, dann sagte Baben: Sie bekennen, was ich wußte, leugnen würde nichts gefruchtet haben. Lange war ich zweifelhaft, ob ich Sie dem Gesetz überliefern sollte, und ich würde dies gethan, meine Sache dem Spruch der richterlichen Gewalt unterworfen haben, die ihr Amt verrichtet hätte, allein Sie stehen einer Familie nahe, die ich achte und hoch halte: Sie sind verlobt mit einer jungen Dame, die mir theuer ist.

Ich verbiete Ihnen, diese Dame, meine Verlobte, mit einem Worte zu erwähnen, rief Wilberg heftig und stolz.

Ihre Schande, fuhr Baben ruhig fort, würde auf Schuldlose zurückfallen, Ihr frevelhafter Leichtsinn würde ein Herz zum Tode verwunden, das Sie – er hielt inne.

Eine tödtliche Blässe bedeckte Gustavs Gesicht, seine geballte Hand zitterte auf dem Tisch, auf welchen er sich stützte, aus seinen Augen strahlte eine wilde Entschlossenheit.

Es ist feige, rief er, Beleidigungen auszusprechen, während genug vorhanden ist zwischen uns, um die Abrechnung zu halten, die Sie wünschen können. Dies ist, wie ich denke, die Ursache Ihres Kommens, fuhr er ruhiger fort. Ich begreife Ihre Schonung. Es ist Ihnen nicht genug, das Gesetz zum Richter zwischen uns zu machen; dies würde die Verhältnisse prüfen; es würde finden, daß ich den Thatsachen nach unschuldig bin, daß der Zufall mich zum Theilnehmer einer an sich strafbaren Handlung machte. Aber Sie haben Recht, und ich danke Ihnen. Nicht eine Familie allein, auch eine andere, die Ihnen befreundet ist, würde in einen schimpflichen Prozeß gezogen werden, den Sie mit überlegter Berechnung vorbereitet haben. – Der Kapitain, Anna, Sie haben beide hierher gelockt, mir gegenüber gestellt, um uns Alle zu verderben.

Um Gerechtigkeit zu üben! fiel Baben mit starker Stimme ein, Gerechtigkeit ja, was ich auch selbst leiden mochte. Offen wollte ich als Kläger auftreten, ich war meiner Sache gewiß trotz aller Verstellung.

Und was hinderte Sie daran? rief Wilberg im Tone der Verachtung.

Baben schwieg. Seine Stirn röthete sich, er senkte den Kopf und hob ihn wieder empor. –

Es ist keine Zeit zum Leugnen und Lügen, sagte er, ich werde aufrichtig sein. – Sie haben mir heut Gelegenheit gegeben mich zu überzeugen, daß Sie geliebt werden. Ich saß an Stephaniens Seite, während Sie bemüht waren, mit Ihrer Freundin sich zu verständigen. In jener Stunde änderte ich meine Absicht und gelobte mir, einen andern Weg zu wählen. – Niemand soll erfahren, was die Ursache unseres Kampfes gewesen ist. Der Major wird schweigen, von diesem Herrn erwarte ich das Gleiche. – Ich bringe mit, was wir brauchen.

Er öffnete das Kästchen, das auf dem Tisch stand. Hier sind Pistolen, in fünf Minuten kann Alles abgethan sein.

Wie! rief Wilberg bewegt, hier in meinem Zimmer, auf der Stelle!

Einer von uns beiden, fuhr Baben düster fort. – Laden Sie eine der Pistolen, Major, in Beisein des Herrn, der zum Zeugen dient. Legen Sie beide Waffen unter ein Tuch, und wählen Sie dann, Herr Wilberg. Der Tisch mag zwischen uns sein.

Zufrieden? fragte der Major, indem er Gustav und den alten Herrn anblickte.

Wilberg schwieg. Er besaß ein muthiges Herz, aber so furchtbar und so nahe hatte er die Entscheidung nicht erwartet. In diesem Augenblicke dachte er an seine Mutter, an den Jammer, der sie erwartete, an Stephanien, an alle Folgen einer That, die, wie sie auch ausfallen mochte, Elend und Entsetzen über Alle bringen mußte, die er liebte, und Todtenblässe überdeckte von Neuem sein Gesicht, seine Muskeln wie seine Empfindungen zogen sich krampfhaft zusammen.

Keine Antwort? rief der Major höhnisch. Hab' es gedacht! und er trat mit dem Fuß auf, daß die Dielen bebten.

Ich bin bereit! sagte Gustav, an der empfindlichsten Stelle getroffen, wo ein Mann verletzt werden kann. Ich hätte gewünscht – aber laden Sie, Onkel Tobias, jedes weitere Wort ist hier überflüssig.

Der Major nahm die Pistolen und näherte sich dem alten Herrn, der bis jetzt regungslos auf seinem Stuhle gesessen hatte.

Kommen Sie hierher, sagte er, nehmen Sie eines der Lichter.

Wozu? fragte Herr Frese.

Der Major starrte ihn an. –

Laden! rief er, Pulver, Kugel!

Ist es denn wirklich Ernst, fragte der alte Herr erschrocken.

Element! schrie der Major. Nehmen Sie.

Er hielt ihm das eine Pistol hin.

Was? Ich! rief Herr Frese aufspringend, daß ich ein Narr wäre. Um keinen Preis!

Sie sollen nur Zeuge sein, sagte Wilberg.

Nur!! schrie der alte Herr, ich werde mich hüten und Zeuge sein. Es ist Wahnsinn, es ist Verrücktheit! Es ist ein schändlicher offenbarer Mord!

Das boshafte Grinsen, mit dem er Anfangs den ganzen Handel angehört, war aus seinem Gesicht verschwunden, und mit wärmerer Theilnahme, als er sie je Wilberg bewiesen hatte, sagte er ängstlich und warnend:

Denken Sie an Ihre Mutter, deren einziges Kind Sie sind. Ich will's nicht leiden, und sollte ich die Stadt zusammen schreien. Wenn Sie unschuldig sind oder auch schuldig, es ist einerlei, es giebt Gesetze und Richter, und ein paar Jahre Gefängniß sind immer besser als sich todtschießen lassen.

Hinaus! rief der Major, indem er das Pistol auf ihn richtete.

Mord! Mord! schrie Frese, nach der Thür fliehend, wo er in größter Angst den Drücker suchte; aber in dem Augenblick, als von der einen Seite der Major ihn am Arm ergriff und zurückzog, wurde die Thür von außen mit Heftigkeit aufgestoßen, und herein trat Rintel, an dessen linker Hand Anna sich fest hielt.

In seinen Mantel gehüllt, den Hut auf dem Kopf, stand die lange hagere Gestalt auf der Schwelle, und überblickte die Gruppe im Zimmer. Der alte Herr riß sich vom Major los und stierte die Erscheinung an, wie wenn er einen Geist erblickte. Schrecken und Ueberraschung lähmten seine Zunge, er hielt sich an dem Stuhle fest, und als der Blick des Kapitains ihn traf, fuhr er zusammen, als fasse ihn eine ungeheure Furcht.

Ich komme! sagte Rintel, indem er an dem alten Herrn vorüber bis an den Tisch ging, wie ich sehe, zur rechten Zeit, um eine Thorheit und ein Verbrechen zu hindern. Er nahm den Hut ab und wendete sich zu Baben.

Sehen Sie mich nicht so finster an, junger Herr, ich denke, wir kennen uns und sind beide ohne Furcht um unsere Sache.

Kapitain, erwiederte Baben, Sie zwingen mich durch ihr Erscheinen an diesem Orte zu Fragen und Forderungen, die ich vermeiden wollte.

Fragen und Forderungen?! rief Rintel zurück. Oho! was soll es sein? Was wollen Sie fragen, was Sie nicht wüßten und längst gewußt haben? Daß ich bisweilen über die Gränze fuhr, um Einkäufe zu machen, weil ich Zöllnerwirthschaft verachte, Unrecht nicht dulden will, ist bekannt genug gewesen; ich hab's nie geleugnet. Oft genug haben wir beide über die heillose Wirthschaft gesprochen, das arme Volk beklagt, die schlechten Einrichtungen verdammt, und wenn Sie an jenem Abend in Friedland gewesen wären, wie der junge Herr da, Sie wären mit uns gefahren. Leugnen Sie, wenn Sie es können!

Ich frage nicht danach, was sein könnte, sondern was ist, erwiederte Baben; ich bin berufen, Rechenschaft zu fordern für das, was mir geschehen ist.

Rechenschaft fordern, fiel Rintel ein; schöner Vorsatz das, Herr von Baben. Rechenschaft fordern für einen Zufall, dessen Ursachen in den schmachvollen Zuständen liegen, unter denen wir leiden. Und von wem Rechenschaft fordern? Von einem unschuldigen jungen Mann, der genug Kummer und Leid dafür schon getragen hat. Wie aber wollen Sie sich rächen, Herr? Wie ein Criminalrichter sind Sie zu Werke gegangen; listig, schlau, überlegt, von niederer Leidenschaft getrieben.

Herr Rintel! rief der junge Mann.

Heiße so! erwiederte der Kapitain, und hätte Anderes von Ihnen erwartet. Wären Sie zu mir gekommen und hätten gefragt: Was wissen Sie von der Geschichte? hätte Ihnen keine Silbe verhehlt. Statt dessen schlichen Sie umher, fragten aus, warben Verräther, und als Sie sicher waren, luden Sie mich dringend zu dieser Reise ein, um den Triumph zu genießen, den jungen Herrn da mit unserem Anblick zu ängstigen und zuletzt zu verderben.

Hier sind wir nun, fuhr er langsamer fort, hier stehe ich, ich und Anna, und wollen erwarten, wie Sie an uns Rache nehmen. Klagen Sie nur an, wir werden nicht leugnen.

Ich bin die Schuldige allein, rief Anna, indem sie vortrat und mit festen stolzen Blicken den Kläger betrachtete. Ich saß an der Seite des Verbrechers da, ich beredete ihn, uns zu folgen, belustigte mich an seinem Bedenken, spottete über seine Furchtsamkeit und reichte ihm zuletzt das unglückliche Pistol, um – einen Schuß in die Luft zu thun! Wir haben uns auf jener nächtlichen Fahrt kaum kennen gelernt, fuhr sie fort, sich an Gustav wendend, aber sagte ich Ihnen nicht: ein unglücklicher Augenblick entscheidet oft über ein Menschenleben? Jetzt sehen Sie die Wahrheit, aber wenn gestraft werden soll, will ich die Strafe tragen. Ich bin gekommen, um an Ihre Stelle zu treten. Entscheiden Sie, Rudolph. Wollen Sie mich vor Ihre Richter schleppen, gut, ich werde ein offenes Bekenntniß ablegen; wollen Sie Blut, ich bin dabei. Nehmen Sie das Mordgewehr und drücken Sie ab.

Sie legte die Hand schmerzlich lachend auf Babens Arm, der in steigender Unruhe und Ungewißheit vor ihr stand, und sagte leise:

Wohin hat sich Ihr großmüthiges und edles Herz verirrt? Welcher Dämon war es, der alle guten Geister aus ihrer Brust verbannte? Haben Sie nie geahnt, was ich litt und leiden mußte, wie kummervoll ich an Sie dachte?

Kummervoll! rief Baben heftig, dürfen Sie dies schwerwiegende Wort gebrauchen, wenn Sie leichtfertigen Sinnes, ja Anna, leichtfertigen Sinnes, Abenteuer solcher Art wagen? Mit einem fremden Manne an der Seite Gesetz und Sitte verachten, ihn zum Frevel – gegen meinen Vater! antreiben, ihn verbergen –

Sagte ich es nicht, fiel Anna lächelnd ein, das sind die Beweggründe. Fort mit dem leichtsinnigen Mädchen, fort mit ihr aus Sinn und Gedächtniß. Ein junger Herr begegnet ihr auf der Landstraße, und sofort breitet sie ein Netz von verlockenden Fäden um sein Haupt aus. Der Vater beginnt die Intrigue, die Tochter setzt sie fort. Was schadet es, daß der Vater ein Mann ist, der Jedem gern dient, und so auch diesem jungen Herrn, der seinen Paß eingebüßt hat. Was thut es, daß man die Tochter seit Jahren kennt und ihr tausendmal gesagt hat, sie habe das edelste, reinste, fröhlichste Herz voll Neckerei und warmer Menschenliebe. Ein kläglicher Zufall führt ein Unheil herbei; ich will es nicht wagen, mit einem Worte die Wunde zu berühren, aber ob ich sie empfunden habe?! – Ein einziger Trost durchdrang das Herz des leichtsinnigen Mädchens. Er hat den Vater verloren, sagte sie, ich habe einen Vater, der auch ihm Vater sein wird. Er hat einen Verlust an seinen besten Lebensgütern gelitten und vielleicht, reuig mußt du es bekennen, trugst du zu der Schuld bei. Aber du wirst es vergüten; du wirst ihm Ersatz leisten; du wirst nie wieder die Schicksalsmächte versuchen; du wirst es ihm schwören, an seinem Herzen, zu seinen Füßen! Deine Liebe soll ihm vergelten, und in dieser heißen Liebe wird sich aller Schmerz und alle Furcht auflösen. – Ach! was sage ich da, rief sie mit lachendem Munde, während ihre Stimme leise bebte und über ihre Augen sich ein trüber Schleier ausspannte. Wie unweiblich, wie leichtsinnig, wie unmanierlich ist das! Doch es ist nun leider meine Art so. Oft habe ich mit ihm im Walde gesessen, die schönen sittsamen Damen aus der Stadt hätten es nimmermehr gethan – wir wanden Kränze, wir lachten und bauten uns unsre Welt. Oft habe ich die Sternenblumen gefragt: liebt er mich, oder nicht? aber ich wußte es, und mein Vertrauen war so groß, daß ich nie an einen Schiffbruch dachte. Nun liegen die Kränze zerrissen, die Blumen sind verblüht, und wenn sie wieder kommen, kann ich nicht mehr fragen. So geht es, meine lieben Herren, einem armen, leichtfertigen Mädchen, und nun, Herr Rudolph, reißen Sie mein Angedenken nur frisch aus, bis auf den letzten Hauch. Da sind meine Hände, die Ketten müssen fest sein, die ich nicht sprenge, und wo liegt das Gefängniß, in welches Sie mich führen? Wohin, Rudolph, wohin? Ist das mein letzter Zufluchtsort?!

Baben hatte ihre Hände ergriffen, die sie ihm entgegenstreckte. Sein stolzes Herz hatte einen Kampf bestanden, in welchem Scham, Reue, die letzten Stöße harter Entschlüsse mit Freude und Entzücken kämpften. Mit Augen voll Liebe und überströmender Leidenschaft zog er sie in seine Arme:

Theure, geliebte Anna, rief er, ach! Du weißt nicht, was ich gelitten habe; Du weißt nicht, wie furchtbar ich geprüft wurde. Mein Vater todt, ich von Zweifeln und Verdacht gepeinigt. Meine Nachforschungen steigerten meine Unruhe. Man hatte einen jungen Mann in Deiner Gesellschaft gesehen. Wer war er? Wohin war er gekommen? Hier entdeckte ich ihn, ich hatte nicht Ruhe, nicht Rast. Ich glaubte ihn in fortgesetzter Verbindung mit Euch, während er um die Hand eines Mädchens warb, die – ich auf's Höchste verehrte. Welche Kette von Leichtsinn, von Unwürdigkeit, von Freveln! Ich war zum Aeußersten entschlossen, ich wollte aufhören zu leben.

Und nun? sagte Anna, beide Hände auf seine Schultern legend und ihm zulächelnd: Was nun, Du ungestümer Mann?

Entscheiden Sie, Major, rief Baben, indem er seine Arme fest um Anna schlang; sagen Sie mir, was ich thun muß.

Abgemacht! erwiederte Onkel Tobias, gerührt und heftig mit seinem langen Kopfe nickend. – Ist die beste Genugthuung, die ein Mensch bekommen kann.

Nun, rief Baben, wenn Sie das sagen, mein strenger väterlicher Freund, dann ist der letzte Schatten verschwunden. – Versöhnung, Herr Wilberg, Versöhnung mit der ganzen Welt. Ich hoffe, daß wir die besten Freunde werden und einträchtig bei einander wohnen.

Halt da! rief der Major, habe von einem andern Unwetter vernommen. Liberale Gedanken – revolutionäre Geschichten – Spott über hohe Vorgesetzte! – Wollen den jungen Herrn fortschicken nach Litthauen oder dergleichen. Müssen sehen, wie wir den Sturm beschwören.

Er trat mit dem Fuße auf und sah den Assessor bedenklich an.

Aha! rief Rintel, bläst der Wind von der Seite, um so besser.

Er trat an den Tisch und führte Herrn Frese an der Hand, mit dem er eine Zeit lang leise gesprochen hatte. Der alte Herr sah verlegen aus, aber er lachte ohne das bösartige Grinsen, als Anna ihm entgegen rief:

Nun, mein freundlicher alter Herr und Beschützer, jetzt wissen Sie, wer die arge Wahrsagerin ist, die Ihnen so schlimme Streiche spielte.

Aber Du weißt nicht, wer er ist? sagte Rintel.

Ein Verwandter, fiel Herr Frese hastig ein.

Wollte einst Deine Mutter heirathen, sagte der Kapitain, war seine leibliche Cousine. Ich nahm sie ihm fort, und seit dieser Zeit haben wir uns nicht mehr gesehen. Ist ein langer Haß, eine lange Trennung gewesen.

Aber in Zukunft soll es anders sein, rief Anna. Ich weiß von der Geschichte meiner Mutter genug, um auch von Ihnen Manches zu wissen. Als ich Ihren Namen hörte und Sie sah, fiel mir Alles wieder ein, und mit gutem Grunde konnte ich Ihnen eine prophetische Strafpredigt halten. Aber heut feiern wir ein großes Versöhnungsfest, also Versöhnung auch zwischen uns. Wenn es Ihnen zu einsam wird, hier in der Stadt von Stein, wenn sie froh sein und Menschen sehen wollen, die es gut meinen, so kommen Sie zu uns hinaus. – Sie wissen, was ich Ihnen sagte.

Herr Frese blickte sie so gefühlvoll an, wie es selten geschehen war in seinem Leben. – Es ist merkwürdig! rief er, überaus merkwürdig, ich hätte es nimmer geglaubt, aber ich werde kommen! – Er hielt Anna's Hand fest und sah ihr in's Gesicht, mit einem Ausdruck voll Liebe, die aus alten Erinnerungen sich regte, dann ließ er sie los und faßte den jungen Wilberg.

Herr Doctor, sagte er mit seinem gewöhnlichen Grinsen, heirathen Sie jetzt in Gottes Namen, ich gebe meinen Segen dazu und die Wohnung obenein. Ich ziehe aus, sobald wie Sie es wünschen. Mit meiner Frau Nachbarin will ich es morgen abmachen. Ach! wie wird sie sich freuen, wenn sie hört, daß ich Sohn und Töchterchen gefunden habe, die mit mir weinen und lachen und mich trösten und pflegen wollen.

Und nun hört, rief Rintel, indem er seinen langen Arm um Anna und Baben legte. Mir ist in dieser Stadtluft ganz weh und übel geworden. Morgen in der Frühe geht es fort. Euch beide hier nehme ich mit mir. – Nach Litthauen sollen sie Dich so wenig schicken, wie ins Ministerium. Schüttle den alten Staub von Deinen Füßen, mein Sohn, und werde ein Müller, die Müllerin da ist Dein. Wer zu uns kommen will, der komme, er soll willkommen sein. Wir aber passen nicht in diese städtische Gesellschaft, in diese abgeriebenen, unerträglichen Formen, die man Anstand und Sitte nennt, und die Alles bedeuten; was aber dahinter sitzt, darnach fragt Niemand. Fort, hinaus mit Euch, wohin Ihr gehört: Fort mit Euch auf's Land!


In der Wohnung, welche Herr Frese sonst bewohnte, wurde drei Monate nach jenem Tage die glänzende Hochzeit des jungen Doctors mit Fräulein Stephanie gefeiert. Der alte Herr war jedoch kein Gast dabei, er war nach der Mühle an der Grenze gereist, und ist seitdem schon dreimal dort gewesen. Zum letzten Male hob er des Müllers Sohn aus der Taufe und sagte feierlich, als er den Knaben küßte:

Der soll mein Erbe sein! –

Der Kapitain lachte. Er fährt noch immer dann und wann mit seinem Kabriolet und der grauen Stute durch das Kreuzbruch nach Friedland. –



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