Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Verschwimmende Epochen

Das erste Symposion

Weißt du noch, wie das war? Aristipp-Argelander hatte mir erzählt, und ich bin hier im Wesentlichen seiner Darstellung gefolgt. Dies ist indes mit Einschränkung zu verstehen; denn die Seitenromane der Herrin wurden darin nur gestreift, und ich fand bald Gelegenheit, sie selbst unter vier Augen zu befragen. Viele Einzelheiten der »Liebe in Marmor« und der »Liebe in Lumpen« sind auf die offenherzigen Berichte aus ihrem Munde zurückzuführen.

Wir verließen die neuerstandene Lais in dem Augenblicke, da sie sich zu einem Maler begeben wollte und noch in der Wahl des Meisters schwankte. Aber der Wunsch Aristipps gab den Ausschlag, und Zeuxis behielt den Vorrang. Der wollte sich nicht mit einem einfachen Porträt begnügen, sondern entwarf einen bildlich-dramatischen Vorgang mit ihrer Figur im Mittelpunkt. Die alte, weiterhin von Plutarch aufgegriffene Legende besagt: »Diese berühmte und vielgeliebte Hetäre, die ganz Hellas mit Verlangen entzündete, verließ einst das von grünlichen Wellen bespülte Akrokorinthos und gelangte in das Thessalische Land. Aber dort in Thessalien lockten sie die Weiber, aus Neid und Eifersucht über ihre Schönheit, in den Tempel der Venus und steinigten sie dort. Daher empfing und behielt dieses Bauwerk den Namen: der Tempel der mörderischen Aphrodite. Das Land aber wurde für die Freveltat der Weiber durch den Ausbruch einer Pest gestraft.« Griff der Maler anachronistisch vor, indem er diesen legendären Vorgang darstellte? Das hatte ich nicht zu prüfen, denn für mich lag ja Plutarch, Zeuxis, die gesteinigte und die lebende Lais in derselben Zeit-Ebene. Ich hatte Gelegenheit, das Gemälde zu sehen und festzustellen, daß dem Künstler seine Absicht vortrefflich gelungen war. Hier wurde der Neid der Thessalischen Weiber vollkommen begreiflich, und der mörderische Akt enthielt eine Huldigung für die Gestalt der Hetäre. Zeuxis erläuterte dabei: Ich vertrat früher die Ansicht, man müsse die Schönheit einer Siebenheit lebender Frauen verschmelzen, um eine einzige künstlerische Schönheit herauszubekommen. Aber bei der Lais ist das anders; ihre Schönheit reicht aus, um siebenundsiebzig andere Vorbilder zu ersetzen.

Tage und Nächte flossen mir ineinander, und nur noch in vereinzelten Momenten überfiel mich das Staunen darüber, daß ich hier gegen den Zeitenstrom schwamm.

Von der Tempelseite traten zwei Männer heran, Gryllus-Gregory und ein Unbekannter mit einem prachtvollen bärtigen Gelehrtenkopf. Dies ist Aristarch aus Samos, erklärte mein Freund, und bei ihm hast du den schönsten Anlaß, deine kalendarischen Verschrobenheiten zu korrigieren.

Herr Aristarch, sagte ich, es wird mir schwer, das vertrauliche Du einer solchen Autorität gegenüber anzuwenden. Wollen Sie mir gestatten, bei der mir geläufigen Ausdrucksform zu verbleiben?

– Wie es dir, oder wie es Ihnen beliebt. Habe ich selbst doch hier so manches Neue mir angeeignet, seitdem ich mit den Lebenden von Neu-Amathus in Beziehung kam. Es handelt sich fast durchweg nur um eine Erweiterung der Formen und Begriffe, selten um eine völlige Neueinstellung. Ich hätte schon auf Samos sagen können: »Eppur si muove!«

»Aber nicht mit diesen italienischen Worten des Galilei. Wo haben Sie die gelernt?«

– Drüben in der Staatsbücherei dieser vortrefflichen Kolonie. Es ist ja kaum eine Wegstunde von diesem Attischen Gelände, in dem wir stehen, bis zu den Modernitäten Ihres zwanzigsten Jahrhunderts. Und Unsereiner findet sich schnell in erweiterte Anschauungen. Ich leugne nicht, daß mich da manches überraschte, Ihre Apparate auf der Sternwarte und in den Experimentiersälen, Ihre neuen Methoden in allem Naturkundlichen. Denn schließlich, von meiner eigenen astronomischen Grundlehre, bis zur parallaktischen und spektroskopischen Erforschung der Spiralnebel und bis zu Einsteins Gravitationstheorie ist ein nicht unbeträchtlicher Schritt.

»Und den haben Sie wirklich sozusagen von Gestern auf Heute zurückgelegt?«

»Du mußt schon entschuldigen, Aristarch,« unterbrach Gryllus-Gregory; »dieser Herr leidet noch immer an Rückfällen, und obschon er die Zeit-Relativität kennt, ist sie ihm noch nicht eine Bewußtseinsform geworden. Seine Vorstellung von Gestern und Heute ist anders metronomisiert als die unsrige.«

– Das wird sich schon ausgleichen, sagte Aristarch, namentlich wenn er gewahren wird, wie unsere Philosophen und Künstler im Kontakt mit der neuzyprischen Kolonie eine erhöhte Vorstellungsstufe gewonnen haben; wie in ihrem raumzeitlichen Denken, Wissen und Fühlen die Verschmelzung der Epochen perfekt geworden ist. Stellen Sie sich eine osmotische Erscheinung vor, – sprach er, zu mir gewendet, – eine Diffusion der Zeiten durch die Membranen der Einzelwesen. Altes und Neues sind Bestandteile unseres Erlebens geworden; unser Äschylos kennt die neue Dramatik, unser Parmenides weiß in Kantischer und nachkantischer Philosophie Bescheid, unser Aristoteles im Darwinismus. . . .

– Und die Probe darauf wollen wir baldmöglichst anstellen! rief fröhlich erregt Lais, die herangetreten war und die letzten Äußerungen vernommen hatte. Wie wäre es mit einer Erneuerung der Symposien nach Platonischem Muster? Ich denke mir das sehr interessant. Wir müßten von den nämlichen Voraussetzungen ausgehen wie die Genossen von damals, um zu ganz anderen Folgerungen zu gelangen, da uns ja nunmehr ein weit ausgedehnteres Sachwissen zu Gebote steht. Ein Gelehrter des zwanzigsten Jahrhunderts überschaut das Altwissen von seinem erhöhten Standpunkt und glaubt uns weit voraus zu sein. Kehren wir einmal die Perspektive um. Nehmen wir ihn, mit seinen uns jetzt bekannten Kenntnissen zum Objekt und beurteilen wir ihn von unserem Standpunkt aus. Ich habe schon etliche eingeladen und erwarte auch euch in meiner Behausung. Ihr wißt, es ist da ganz behaglich. Also keine Widerrede – in einer Stunde bei mir! – –

Es wurde bei ihr ein frugales Mahl gereicht, dazu als Getränk kein hitziger Pramner, sondern ein blaßroter Landwein, den wir uns obendrein mit Wasser verdünnten. Denn es war natürlich durchaus nicht darauf abgesehen, in den antiken Saufkomment zu verfallen, wie er mit seinen riesigen Trinkkübeln das Platonische Gastmahl beim Agathon durchfeuchtet und dort mehrere Teilnehmer in stark angekatertem Zustand erscheinen läßt. Wir hatten vielmehr in der Hausdame eine Vorsitzende, die sich zwar keine präsidialen Rechte anmaßte, deren Gegenwart indes genügte, um jeden Exzeß auszuschließen. Daß die Freiheit des Gesprächs dabei durch keine Prüderie eingeengt wurde, versteht sich von selbst. Lais wäre die letzte gewesen, die etwa die Beachtung einer zimperlichen Regel beansprucht hätte.

Liebe Gäste, so begann sie begrüßend, unser Anfangsthema ist sehr einfach, und wir werden in seiner Durchführung auf geringere Schwierigkeiten stoßen, als die ersten Herrschaften, die es behandelten. Weil wir ja Behandlungsmittel in Händen haben, von denen jene noch nichts wußten. Damals bewegten sich die Teilnehmer des Dialogs in der nämlichen Zeitebene, während ihr, meine Gäste, historische Verschiedenheiten aufrechnen könnt und dazu über viel weitere, vormals ungeahnte Betrachtungsmethoden verfügt.

»Über das Wesen der Liebe«, – so hieß einst das Motiv des Gastmahls, und eben dasselbe wollen auch wir uns zur Behandlung vorlegen. Nur den Auftakt des ehemaligen Dialogs wiederhole ich hier, um der Vermutung Raum zu geben, daß jene Platonischen Leute von Anfang an in Besinnungslosigkeit disputierten. Dort heißt es nämlich, es wäre doch sonderbar und ärgerlich, daß noch kein einziger Dichter den großen, schöpferischen Gott Eros angerufen und verherrlicht habe; noch kein Mensch habe es bis zum Tage jenes Gastmahls gewagt, den Gott der Liebe würdig zu preisen, wonach es sich endlich gezieme, das so sträflich Versäumte nachzuholen! Und diesen Unsinn hat sich die gebildete Corona um Agathon und Sokrates bieten lassen, ohne aufzuspringen und zu rufen: Schweig, Blödling! Kein Dichter, faselst du, hat den Eros gepriesen? Weißt du nichts von Euripides und Sophokles, von deren Hymnen auf Eros? Aber nein, die Corona blieb stumm und bekundete durch ihr stillschweigendes Einverständnis nur, daß sie in diesem Punkte ebenso ignorant war wie der Sprecher, – – ich bemerke zu meiner Freude, daß unser verehrter Demokritos das Wort zu ergreifen wünscht.

Demokritos: Liebe Lais und werte Genossen, ich glaube wir kommen rascher vorwärts, wenn wir anstatt herb zu kritisieren, das Erotische Thema selbständig aufgreifen. Über den Eros als schöpferische Kraft, als Regenten im Liebesleben der Natur, ist schon viel Treffliches gedacht und gesagt worden, und es bleibt uns unbenommen, die vorhandenen Linien späterhin auf unsere Weise zu verlängern. Beginnen wir indes damit, die Liebe mit dem Denkprozeß selbst in Verbindung zu setzen. Jeder Denkvorgang nämlich ist meines Erachtens ein Liebesakt, oder um es auf die deutlichste Formel zu bringen, ein Begattungsakt, und wenn es bei Personifikationen verbleiben soll, so haben wir uns bei Eros und Aphrodite dafür zu bedanken, daß unser Denken überhaupt von irgend einem Punkt zum nächstfolgenden vorrückt. Alles Denken vollzieht sich in Assoziationen, in dem paarweisen Auftreten zweier gedanklicher mann-weiblicher Individuen, die im Gehirn aufsteigen und sofort geschlechtlich aufeinander angewiesen sind. Erweisen sie sich als zeugungsfähig, so entspringt aus der Befruchtung das Kind, der neue Gedanke, der gleichviel, ob bedeutend oder unbedeutend, die Ideengeneration fortsetzt. In der Regel liegen die erzeugenden Gedanken sehr nahe beieinander und das Zeugungsprodukt ist infolgedessen nicht viel wert, wie auch die aus Familien-Inzucht hervorgehenden Sprößlinge gewöhnlich nicht viel taugen. Die Ideen müssen Distanz haben, wenn sich aus ihrer Kopulation bedeutsame Frucht entwickeln soll.

Aber ein Gehirn zerfällt in viele Provinzen, und oft wohnen die Gedanken so weit auseinander, daß sie sich nicht finden können. Sie bleiben getrennt, zum Zölibat verurteilt. Inzwischen sinnt Eros auf Mittel, um die Assoziation herbeizuführen; er präpariert Romane, und es verschlägt ihm nichts, daß sie in tausend Gehirnen nicht zur Durchführung kommen: im tausendundeinten erreicht er sein Ziel.

Prüfen wir das an Beispielen. Ein primitiver Denker beobachtet den winzigen Funken an einer geriebenen Harzmasse. Eine Vorstellung steigt in ihm auf: »die Elektrizität«. Bei anderer Gelegenheit bemerkt er einen aus Wolken züngelnden Blitz. Auch dafür hat er Wort und Begriff, die Idee »Blitz« ist in ihm vorhanden. Beide Ideen sind zeugungsfähig, aber sie können seit Thales Zeit nicht zu einander. Obschon in Millionen von Hirnen eingelagert, blieben sie in diesen raumzeitlich geschieden, und niemals war die eine dort und dann zur Stelle, wo und wann die andre sich regte, niemals durch viele Jahrhunderte.

Bis Eros ihnen einen Weg fand und sie zusammentrieb wie Dido und Äneas in die nämliche Höhle. Hier spürten sie ihre Nähe, entflammten für einander, umarmten sich, zeugten im selben Augenblick. Das Kind ihrer Liebe ist die neue Idee: Gewitter – ein elektrischer Vorgang.

Ein anderer Primitiver hat die Verdunstung einer Wassermenge beobachtet und dazu die Tatsache, daß sich ein Dunst zu Tröpfchen verdichtet. Das ergibt in ihm eine Idee, die vielleicht nicht über den Bezirk seines Kochtopfes hinausreicht. Abseits davon entsteht ein neuer Gedanke, der einer Kreislinie, in der jeder Punkt einen Anfang und zugleich ein Ende vorstellt. Der Gedanke wandelt diese Linie ab und spürt die gleichmäßige Unendlichkeit der Bewegung. Endlich stürzen beide Gedanken aufeinander, und ein Ideenkind blüht hervor, das die Züge beider trägt, des Vaters: Kreis, – der Mutter: Verdunstung. Die neue Idee, »Kreislauf des Wassers«, beschränkt sich nicht mehr auf den engen Erfahrungsbezirk einer häuslichen Hantierung, sondern umspannt die Erde, die Atmosphäre und alle Ozeane.

Könnte sich daraus durch abermalige Verkuppelung als gedanklicher Enkel der Kreislauf des gesamten Weltgeschehens entwickeln? Ja, das ward erlebt, und ein Moderner könnte sich auf einen neuen Philosophen berufen, auf Friedrich Nietzsche, der selbst das Entstehen dieses Gedankens ganz erotisch feiert, als eine offenbarende Entbindung. Wir Alten, die wir jetzt das Vorher und Nachher umfassen, wir dürfen dazu lächeln. Denn was der Neue als das Neueste pries, »die Ewige Wiederkunft«, ist ja selbst nur in solchem Kreislauf zustande gekommen, und unsere alte »Apokatastasis«, verkündet vor Pythagoras und Heraklit, hat sich in dem neuen Manne nur wiedergeboren als »Wiederkehr des Gleichen«. Da wären wir im Umsehen beim Anfang des Weltalls und dürfen fragen: Hat auch dort Eros mitgewirkt in Gedankenbildung und Körpergestaltung, ist am Ende die Liebe das formende und regulierende Prinzip des Universums? Lais, du Schriftkennerin, was meinst du dazu?

Lais: Ich meine mehreres. Erstens braucht man sich auch heute kaum einen Zwang anzutun, um sich unserem uralten Hesiod anzuschließen, der die Liebe als den Kern der Welt ansah. Seine Theogonie ist eine Kosmogonie, sie beginnt mit dem formlosen Urstoff, dem Chaos, aus dem Erde, Unterwelt und Eros hervorgingen. Dieser wird die einigende und bindende Macht, die alle Wesen der Welt entstehen läßt und in harmonischer Ordnung erhält. Ich meine aber ferner, daß diese durch Liebe bedingte Ordnung wirklich durchweg einen Kreisverlauf aufzeigt und daß wir heute zum erstenmal befähigt sind, dies am lebendigen Beispiel zu beweisen. An unserer Tafel befinden sich die Persönlichkeiten, die ich aufrufe, Männer des Denkens, deren Liebe zur Wissenschaft gewirkt hat wie die Liebe von Mann zu Weib: fortzeugend in Hervorbringung des Gleichen; oft freilich mit Überspringung vieler Geschlechter, aber in zyklischer Wiederkehr. Mit wem wollen wir den Anfang machen?

Aristipp: Ich schlage vor, mit dem Ältesten der Runde. Eben sprachst du vom Chaos, und weiter werden wir kaum zurückgreifen können. Hören wir also eine Autorität in chaotischen Dingen. Deinem Gaste Thales gebührt der Vorrang.

Thales: Es würde mir übel anstehen, Genossen, wollte ich mich vor euch in Szene setzen als den Urvater der Erkenntnis. Nein, ich selbst bin nur ein Glied in dem Kreislauf, und wenn der Volksspruch mich obenan auf die Tafel der sieben Weisen gestellt hat, so verdiene ich diesen Rang wesentlich durch mein Bekenntnis: Ich wiederhole, was vor mir war und was nach mir in unabsehbaren Zyklen wiederholt werden muß. Wie begann das? Mit der Idee eines Liebesaktes, einer Zeugung aus Vater Apsu und Mutter Thiamat, die beide als Urwasser im Weltanfang vorgestellt werden. So lehrte es die Babylonische Legende, so die indische Rig-Veda, so die Altweisheit der Ägypter. Das habe ich nur wiederholt und fortgebildet, indem ich diese Zeugung aus dem Bereich des rein Dichterischen, des von Göttern und Dämonen Beherrschten heraushob in die Stellung eines wissenschaftlichen Prinzips. Bei mir zuerst wird im Wasser der Begriff des Elements kenntlich. Nun, und heute? Steht die Wissenschaft nicht wieder am Anfang? Da sind, wie ich erfuhr, Männer aufgetreten, welche die Element-Lehre, die Chemie der Welt, vollendeten; durch ein gewaltiges, alle Erscheinungen in sich begreifendes Schema, das sie benennen: »Das periodische System der Elemente«. Seht es euch doch an, dieses wunderbare System! Wiederum steht ganz zu oberst, auf besonderem Platz am Anfang in der ersten Reihe das Wasser, der Wasserstoff mit dem Atomgewicht eins. Und sie blicken hinein in die Struktur der Atome und erkennen abermals mit Hilfe der neuesten Disziplin, der Quantentheorie, das Wasser-Element als das Primäre. Sie erbauen ein Atom-Modell wie ein Abbild des Sonnensystems, worin Kleinkörperchen, Elektronen, den Kern in Liebe kreisend umwerben. Und nochmals behauptet unter all diesen Konstruktionen das Modell des Wasserstoffs den Vorrang. Somit: was die Neuzeitler als ihre Entdeckungen hinstellen, sind im Hauptsinne genommen Bestätigungen. Und mit aller Bescheidenheit sei es gesagt: im Kreislauf des Erkennens wird man mich als persönlichen Vorläufer nicht übersehen dürfen.

Aristipp: Ganz gewiß nicht. Doch sei die Einschränkung erlaubt, daß die Entwicklung zwar kreisartig verläuft, aber doch nicht streng kreisförmig. Das Bild einer Spirale oder Schraubenlinie wäre wohl noch geeigneter. Denn wir gelangen bei jeder folgenden Umdrehung an Erweiterung oder Erhöhung des Wissens.

Anaximander: Das wollen wir gern zugeben. Wenn nur die gelehrten Nachfahren sich mit demselben Eifer der Ursprünge erinnerten, wie wir nunmehr ihre Fortschritte verfolgen. Aber in dieser Hinsicht haben wir Grund zur Klage. Man nennt uns nur so im Allgemeinen, gelegentlich und nebenbei, aber man verschweigt unsere Namen an wichtiger Stelle. Seit Jahrzehnten spricht alle Welt, wenn von der Entstehung des Weltsystems die Rede ist, von der Kant-Laplaceschen Theorie. Da verlange ich, als der nächste bei Meister Thales, meinen Platz. Wäre das historische Bewußtsein in der Menschheit heut so lebendig wie einst bei uns, so müßte es unzweideutig heißen: »die Anaximandrische Theorie!« Kant hatte sie vierzig Jahre vor Laplace, aber ich beinah dritthalb Jahrtausende vor Kant! Die ganzen mechanischen Prozesse bei Entstehung des Sonnensystems, die Verdichtung der Festkörper aus dem Flüssigen, der berstende Feuerkreis, die durch Zentrifugalkraft abgespaltenen mondförmigen Ringe, kurzum, das Wesentliche stammt doch aus meiner Intuition. Und hiermit hängt noch ein Anderes, ebenso Bedeutsames zusammen: der Darwinismus. Da glauben sie schon recht gewissenhaft zu verfahren, wenn sie sich der Vorläufer Lamarck, Geoffroy Saint-Hilaire, Oken und Goethe erinnern. Anstatt klar hinzustellen: der Darwinismus ist von mir und hat den Namen »Anaximandrismus« zu führen. Der biologische Hauptsatz »Omne vivum ex aqua«, Dogma der vorgeschrittenen Paläontologie, ist in meiner Lehre verankert, wonach aus dem Meeresschlamm alle Lebewesen hervorgingen, einschließlich des Menschen, der seine Linie auf fischartige Organismen zurückleiten muß. Steckt nicht die gesamte Morphologie in meiner These: »aus Tieren anderer Art ist der Mensch hervorgegangen«? Und was war wohl durchgreifender, dieser magistrale Satz, oder die Einzelheit einer Stufe vom Menschen zum anthropoiden Affen? Übrigens bin ich gern bereit, meinen Prioritätsruhm noch zu teilen und nahezu die Hälfte davon meinem Nachbar an dieser Tafel zu überlassen.

Empedokles: Ich bin mit weniger zufrieden, werde allerdings einen gewissen Anspruch verteidigen. Denn man nehme den Bestand meiner Forschung aus dem Darwinismus heraus, und sehe dann, was übrig bleibt: das Ideelle ginge dabei verloren. Ich rede von der moralischen Substanz in dieser Lehre, also daß wir im Wandel der Arten nicht nur eine Metamorphose zu erblicken haben, sondern eine Emporzüchtung vom niederen Typus zum höheren. Heut mag es einem Akademiker leicht von der Zunge gehen: »da trat Darwin auf – da kam Herbert Spencer – da erschien das Prinzip vom Kampf ums Dasein, vom Überleben, des Passendsten, des Zweckmäßigsten« – nur daß dieses Prinzip von mir herrührt, das vergißt er zu erwähnen, falls er es überhaupt gewußt hat. Aber ich selbst teile den Ruhm nochmals, und wenn ich mir von den Lorbeern nehme, was mir gebührt, so lasse ich noch genug übrig, um daraus einen Kranz für diesen dort zu winden. Willst du sprechen, Heraklit? – Nein, er schweigt, er will sich nicht einmal der knappen Rätselsprache bedienen, die ihm einst die geistige Signatur gab, – er versenkt sich ganz in den Trinkbecher, um seinem Kernspruch »Alles fließt« die erfreulichste Seite abzugewinnen. Recht so! Aber du sollst deinem Kranz nicht entgehen, Genosse, denn du gehörst zu uns beiden als dritter im Bunde der Alt-Darwinisten, die wir nicht diesen Titel tragen, aber die Sache selbst. Du, großer Monist, bist der Anfangsdenker der evolutionistischen Weltanschauung, und die späteren Evolutionisten sind deine Fortdenker . . .

Aristipp: Das könnte man aber auch seelenwandlerisch auffassen: Ihr drei habt vielleicht aus euren Seelen Bestandteile abgespalten, und diese haben sich in neuen Leibern Behausungen gesucht. Darwin mit Anaximandrischer Seele, Spencer mit Heraklitischer oder Empedokleischer, das wäre für mich keine unmögliche Vorstellung. Und das gäbe, weiter ausgeführt, eine ansehnliche Galerie. Da müßten auch die Gegner der Selektionslehre, die Fanatiker des Beharrens, ihren Platz finden: vielleicht war Cuvier nichts anderes als Parmenides in zweiter Körperausgabe. Alles schon dagewesen, pflegen die Neueren zu zitieren, was sie nicht abhält, das Wort fortwährend zu verleugnen und sich beständig auf das neueste zu stürzen, mit dem Vorurteil: dieses wäre denn doch noch nicht dagewesen!

Gryllus: Wie sollten sie auch anders? Das Zitat selbst ist ja auch schon dagewesen, ist älter, als wir alle hier; steht im Koheleth des Salomo, ganz zu Anfang: »Was gewesen ist, dasselbe wird sein, und was geschehen ist, dasselbe wird geschehen, und es gibt nichts Neues unter der Sonne; ist ein Ding, von dem man spricht: Schau, das ist neu! – längst war es in den Zeiten, die vor uns gewesen!« Freilich, Lais, den Salomo konntest du zu diesem attischen Dialog nicht gut einladen, aber wir haben ja den eben genannten Parmenides als Ersatzmann . . .

Parmenides: . . . der sich nur darüber verwundert, daß ihr alle die Worte Altzeit und Neuzeit noch so oft im Munde führt. Ich mache euch daraus keinen Vorwurf, denn auf euch lastet der Sprachzwang, und der Ausdruck gehorcht nicht immer der Einsicht, für die ich selbst die Fassung fand: Es gibt nur Bestehendes, kein Stoff erleidet in Quantität oder in Qualität Veränderungen. Das Sein ist zeitlos, – ein ewiges Jetzt – es ruht in sich selbst standhaft verharrend. Und ich meine: eure persönlichen Beweise vom Kreislauf aller Erkenntnisse liefern allesamt schöne Beiträge für das Ineinanderschwimmen aller vermeintlichen Epochen mit ihren scheinbaren Grenzen.

Thales: Man müßte doch vielleicht Ausnahmen zulassen; wenn man zum Beispiel eine besonders hervorragende Sentenz vornimmt, die einem bestimmten Manne angehört. Da fällt mir Spinoza ein, der ja nach Parmenides genau so in unsere zeitlose Gegenwart fällt, wie wir alle. Von ihm rührt das messerscharfe Wort her: Wenn die Dreiecke denken könnten, würden sie sich ihren Gott dreieckig vorstellen. Diese Sentenz war doch einmal neu und ganz originell! – – – Aber nein! im Moment, wo ich den Satz ausspreche, merke ich schon meinen Irrtum, und die Parallelstelle geht mir durch den Kopf . . .

Xenophanes: Hier steht der Zeuge dafür, daß selbst ein so wurzelecht klingendes Wort wie das von Spinoza nichts anderes war, als Aufguß über altem Kraut. Und dieses Kraut wuchs in meinem Garten. Ich verzichte auf die Wiederholung des Wortlauts . . .

Aristipp: Aber ich nicht, denn das gehört zum Programm! Xenophanes hat gesagt: Wenn die Ochsen, die Rosse, die Löwen malen könnten, so würden sie ochsenartige, roßähnliche und löwenhafte Göttergestalten malen. War das also später die Wiedergeburt des gleichen Gedankens oder nicht? und hat die Welt das Recht, den Spinoza als Überwinder des Mythologismus, des Anthropomorphismus zu nennen? da doch schon Xenophanes genau mit der gleichen Denkwaffe dasselbe leistete, nämlich die Aufstellung des Pantheismus!

Das Programm schien unerschöpflich. Wo man die Fragestellung mit modernem Inhalt ansetzte, erscholl das gleiche Echo aus der Vorzeit. Demokrit hätte bei Erörterung der Atomtheorie allen Anlaß gehabt, seine Lichter flammen zu lassen, allein er zog es vor, dem Tafelgenossen Leukippos die Beleuchtung der Zusammenhänge anzuvertrauen. Es war staunenswert zu vernehmen, wie dieser sich schon in die letzten Ergebnisse der Atomistik vorgearbeitet hatte, bis zu den Raumgittern der Atome in Kristallen, die durch unsere Spektroskopie erforscht werden, und deren Lagerung in Diagrammen anschauliche Darstellung findet; und wie er dann rückblickend die Linie nachwies, die von den heutigen Röntgen-Spezialisten, bis zu Lukrez, Demokrit und zu ihm, Leukippos selbst, führt. Mit Nachdruck verweilte er bei dem zuerst von ihm geprägten Wort: »Nichts geschieht grundlos, alles mit innerem Grund und durch Notwendigkeit«; um auch in der atomistischen Entwicklung die Notwendigkeit aufzuspüren und deren Grund in uralten Denkprozessen aufzudecken.

Fernwirkung! bei deren Erörterung macht sich das Bestreben geltend, vom Antlitz der Physik die erotischen Züge abzulesen, die planetarischen Tänze als ein zärtliches Umschweben aufzufassen und in »der Magnete Hassen und Lieben« mehr zu erkennen, als nur eine dichterische Floskel. Hier öffnete sich zugleich in der Debatte eine neue Arena, und das Schulpferd »Priorität« wurde in allen Gangarten geritten. Es ging um den Entdeckerruhm der Kopernikus, Kepler und Newton, und da zeigte sich eine ganze Kohorte von Vorgängern: die Vertreter der pythagoreischen Astrophysik, Hippasos aus Metapont, Ekphantos aus Syrakus, Seleukus aus Erythrea, natürlich auch der hier anwesende Aristarch, lauter Kopernikanische Menschen, denen die Kugelgestalt der Erde, die Beleuchtung des Mondes durch die Sonne, sogar die Rotation der Erde und die fernwirkenden Kräfte im Universum geläufig waren. Aber wie denn? Auch die Fernwirkungen sind in der neueren Physik abgelöst worden, und die »actio in distans« erfuhr eine radikale Umgestaltung durch die beiden Gewaltigen Faraday und Maxwell. Waren deren Geistestaten nicht die Begründung einer ganz neuen Epoche, ganz original, vorläuferlos? Hat irgendeinem Alten schon etwas geahnt von »Kraft-Feldern«, »Kraftlinien«, »Feldgleichungen«, von der Überwindung der Fernwirkung durch die Nahewirkung, mit der sich die Felder von Punkt zu Punkt, ohne Sprung durch den Raum übertragen? Hier stieß man auf eine kritische Stelle, an der die zyklische Wiederkehr versagte. Nein, von diesen hochmodernen Theorien konnten die klassischen Urväter, soviel sie auch schon vorweggenommen hatten, nichts gewußt haben.

Bis Leukippos aufstand und sachlich erklärte: Ich hab's gewußt, gesagt und geschrieben. Nur mit einem einzigen Satze, aber an dem läßt sich nicht deuteln und rütteln, und er soll bestehen bleiben zum gültigen Beweise. Eine Wirkung in die Ferne so erklärte ich, Leukippos der Lehrer unseres Demokrit, ist nur denkbar durch Ausflüsse in unmittelbarer Berührung von Punkt zu Punkt, durch mechanische Nahewirkung in Druck und Stoß. Also verkündet rund vierundzwanzig Jahrhunderte vor Faraday und Maxwell.

Und über das reinphysikalische hinweg bewegte sich das Gespräch nach anderen Gebieten der Naturkunde, der Psychologie bis ins Politische und Soziale. Festgestellt wurde, daß die geologischen Weisheiten des Engländers Charles Lyell schon im Xenophanes von Elea vorgebildet waren. Dem Philosophen Fechner, der uns die Pflanzenseele begreiflich machte, wurde der alte Metaphysiker Anaxagoras zugeordnet mit seinem Ausspruch: Die Pflanzen sind nicht nur belebt und beseelt, sie haben sogar: »Noun kai Gnosin«, Verstand und Einsicht. Ja, bei einem gelegentlichen Absprung vom Theoretischen ins Staatspraktische kam unvermutet eine sozusagen fossile Erscheinung auf den Plan, Phaleas von Chalcedon, ein Pythagoreer, der schon Anno Olim die Forderung aufgestellt hatte, die gesamte Industrie müsse verstaatlicht werden.

Habe ich schon erwähnt, daß auch Lukian bei diesem Symposion zugegen war? Wenn nicht, dann wird es Zeit, das Versäumte nachzuholen. Mir vor allen, sagte er, kommt es zu, diese Betrachtungen zusammenzufassen, und mir am wenigsten wird man es verübeln, wenn ich aus der Nachzeit zitiere, da ja eben diese Nachzeit nicht müde wird, aus mir zu schöpfen. Das beruht also auf Gegenseitigkeit. Mir schwebt da eine Stelle vor aus den Merksprüchen des mir sonst sehr sympathischen Mephisto: wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht? ein Wort, das ja durch unsere eigenen Betrachtungen anscheinend voll bewahrheitet worden ist.

Lais: Bloß anscheinend? Ich dächte, durch so vieler Zungen Mund wäre diese Wahrheit durchaus sichergestellt!

Lukian: Nein, Lais, nur zur Hälfte! Klugheit und Weisheit bleiben allerdings im Repetierwerk eingeschlossen, aber die Dummheit ragt an allen Ecken weltenweit darüber hinaus. Denn die Zeit wie die Weisheit erstreckt sich eindimensional ins Unendliche, alle Wahrheit kann auf einer unendlichen Linie aufgereiht werden. Simplex sigillum veri, eine Wahrheit erfließt folgerecht aus der anderen, jede findet somit im Zeitverlauf ihre Vorgängerin auf derselben Linie, die zwar grenzenlos ist, aber nur einfach ausgedehnt. Die Dummheit aber, wie alles Falsche und Fehlerhafte, repräsentiert eine vieldimensionale Unendlichkeit, und ihre Möglichkeiten sind so ungeheuerlich, daß sie sich am Zeitfaden gar nicht aufreihen lassen. Sonach hat Mephisto unrecht: die Nachwelt kann tatsächlich sehr viel Dummes ausdenken, das die Vorwelt nicht gedacht hat, und von diesem Vorrecht macht sie dauernd den ausgiebigsten Gebrauch. Unter hundert Dummheiten führen neunundneunzig ein ganz selbständiges Dasein, elternlos, es hat keinen Zweck, ihrer Herkunft nachzuspüren, da sie keine besitzen. Und es sind ihrer so viele, daß sie mit dem Übergewicht der Majorität die Wahrheit erdrücken. Dazwischen gibt es freilich auch vereinzelte Torheiten mit Fortpflanzungsorganen, Elite-Dummheiten mit langer Vergangenheit und Zukunft, und zu diesen gehören merkwürdigerweise einige Hauptsätze der Logik, die von der Menschheit als wahr angenommen werden, ohne Rücksicht darauf, daß keine Wahrheit mehr vorstellt, als eine vielfach gestützte Vermutung.

Aristarch: Leider hat der Vorredner recht, und wir hätten uns die Frage vorzulegen: gibt es überhaupt eine Philosophie? Nein, es gibt nur die Liebe zu ihr, und unser Großmeister Pythagoras, der das Wort erfand, hat es sehr treffend aus den zwei Teilen Philo Sophia zusammengesetzt. Ja er selbst, Pythagoras von Samos, lehnte für sich den Titel des Weisen ab, wollte nicht Sophos genannt werden, sondern nur Philo-Sophos.

Lais: Aber wir haben doch heute eine ganze Reihe wirklicher feststehender Erkenntnisse der Naturphilosophie besprochen, um nur an einen Fall zu erinnern: die Weltentstehung nach der Lehre unseres Genossen Anaximander.

Anaximander: Verzeih', Lais, ich vertrat allerdings meine Urheberschaft, aber wenn mir in peinlichem Verhör Daumenschrauben angesetzt werden, so müßte ich bekennen: es handelt sich hier wie durchweg nur um die Priorität einer Hypothese. Mir ist es natürlich sehr erwünscht, daß sie durch Kant und Laplace so mächtig gestützt wurde, aber sie bleibt hypothetisch, ja gerade das Beispiel des Laplace zeigt uns, daß niemand imstande ist, Wahres und Widerlegbares auseinanderzuhalten. Nichts auf der Welt hat mich so stutzig gemacht, als folgende Begebenheit, die ich erst unlängst erfuhr. Als Laplace forschte, waren 43 Umläufer der Sonne bekannt, Planeten und sonstige Satelliten, und diese 43 gehorchten sämtlich einunddemselben Bewegungsgesetz, ihre Umläufe erfolgten ausnahmslos in der Richtung der Sonnenrotation, fast genau in der Ebene des Sonnenäquators, sie waren also, wie man es bezeichnet, »rechtläufig«. Hieraus schloß Laplace – ich bringe sinngetreu seine eigenen Worte –: Eine so merkwürdige Erscheinung kann nicht Wirkung des Zufalls sein, sie zeigt vielmehr eine gemeinsame Ursache an, die alle diese Bewegungen bestimmt hat; und zwar nach der Analyse der Wahrscheinlichkeiten so sicher, daß man mehr als vier Billionen gegen eins wetten kann, hier herrscht kein Zufall, sondern ein regulierendes Weltprinzip. Diese Wahrscheinlichkeit ist weit größer, als die der Richtigkeit aller geschichtlichen Begebenheiten, über die sich kein geistesgesunder Mensch den geringsten Zweifel erlaubt. Steht aber die Grundursache so unerschütterlich fest, dann muß man logisch fortschließen: Niemals wird ein Planet, ein Mond, ein Komet am Himmel wahrgenommen werden, der seine Bahn anders ausführt als rechtläufig. Klingt das unumstößlich?

Lais: Unbedingt: und du widerlegst dich selbst, indem du hier eine Wahrheit aufstellst, deren Erschütterung unmöglich ist.

Anaximander: So höre weiter! Sie wurde nicht nur erschüttert, sondern umgeworfen. Denn seit Laplace hat sich die Zahl der beobachteten Umläufer über jene 43 erhöht, und einige der neuentdeckten waren nicht rechtläufig, sondern – man staune! – sie sind rückläufig! Die Billionenrechnung wurde ein müßiges Zahlenspiel gegenüber der Wirklichkeit, und vor ihr hat Laplace seine Wette verloren. Auf welche Wahrheit soll man sich also noch verlassen? Auf den Satz irgendwelcher Logik, etwa auf einen mathematischen Lehrsatz, der doch nur logisches Produkt ist und uns, wie der Nachfahr Leibniz sagt, als verité éternelle zu gelten hat? Nein, seitdem man auch mathematische Irrlehren aufgedeckt hat, steht nichts mehr fest, nicht einmal der Glaube an den Bestand einer historischen Tatsache. Denn die Sicherheit dafür, daß irgendein geglaubtes Ereignis, der trojanische Krieg, der peloponnesische, die Schlacht bei Marathon, oder was immer wirklich stattgefunden hat, bleibt weit unter dem Billionenmaß. Und in der Regel begnügen wir uns ja auch mit weit bescheideneren Beträgen. Unsere Voraussicht, auf Tag müsse Nacht folgen, dann wieder Tag, gründet sich auf Erfahrungen, die insgesamt lange nicht so hoch hinaufreichen, vielmehr in engen Millionengrenzen stecken. Trotzdem sind wir überzeugt, und wohl uns, daß wir so überzeugungstreu organisiert sind, denn sonst würden wir nicht einmal Philo-Sophoi sein, nur betrogene Betrüger, taumelnde Figuren im Irrgarten der Pseudosophie.

Lais: Dann wollen wir aber diesen Vorzug unserer Organisation kräftig ausnützen. Existieren keine unbedingten Wahrheiten, so gibt es doch Annäherungen, und diesen nachzuspüren ist doch wohl ein echt philosophisches Beginnen.

Demokrit: Gewiß. Und dieses Prinzip der Annäherung spielt ja auch in den neuen Forschungen eine so große Rolle. Wenn nur nicht dahinter ein neuer Fallstrick ausgespannt liegt. Da sich unsere Debatte einmal auf den Seitenweg der Skepsis begeben hat, so erscheint es mir angezeigt, auch vor dem allzugroßen Vertrauen für die allmählige Erschließung der Wahrheit durch Näherungswerte zu warnen. Vielleicht ist alle Erforschung eine Lotterie, in der das große Wahrheits-Los auf eine bestimmte Nummer fällt. Sind wir ihr näher, wenn unsere Nummer sich sehr nahe bei dieser bevorzugten Nummer befindet? Nein, wenn sie sich von ihr auch nur durch eine Ziffer unterscheidet, dann ist sie eine Niete. Man findet ein Naturgesetz und hält es für gültig. Die Erprobung zeigt durchweg: ganz gültig war es denn doch nicht, aber annähernd. Dann bleiben zwei Urteile gleichberechtigt: entweder zu sagen: es ist ziemlich richtig, oder es ist ganz falsch. Denn zweimal zwei ist unbedingt vier, und der Näherungswert 3 plus 99 Hundertstel kann zwar für praktische Zwecke genügen, ist aber theoretisch genau so falsch wie jene Planetenregel von Laplace, die für das Momentbewußtsein dieses Forschers vollkommen ausreichte und dennoch nicht stand hielt. Und wir selbst, die wir uns verbanden, um mit unseren erweiterten Kenntnissen das alte Symposion fortzusetzen, was sehen wir vor uns? die Annäherung an ein Vakuum! haben wir nicht Ursache, einen disputierenden Sokrates zu beneiden, der mit seinem Nichtwissen prahlte und dabei frisch-fröhlich mit seiner Ignoranz allen Geheimnissen entgegengaloppierte? der weit entfernt von nihilistischer Anwandlung vermeinte, man könnte sich durch viel Gerede zu allen Erkenntnissen emporschwatzen? Uns wird jetzt anders zumute. Uns erscheint, um an eine Sentenz Pascals anzuknüpfen, das Wissen als eine Kugel, die sich beständig vergrößert, sich selbst zum Unheil: weil ja jede Vergrößerung ihrer Oberfläche nur die Zahl ihrer Berührungspunkte mit dem Unbekannten vermehrt! sodaß sie unfehlbar dem grenzenlosen Nichtwissen entgegenschwillt. Ja, vielleicht enthält diese Kugel nur einen Kern, nur eine zentrale, primäre Urweisheit, von der wir uns immer weiter entfernen, je mehr wir nachdenken, und forschen, verlockt von dem Reiz des unbekannten Jenseits!

Lais: Lieber Demokritos, du bist der Mann der Kontraste, du kannst so, und kannst auch anders, aber offen gesagt gefielst du mir besser, als du uns Aussichten öffnetest, anstatt sie sämtlich zu versperren. Noch vor einer Stunde warst du beim Gott Eros, den du so hübsch als Kuppler vorstelltest, als Gelegenheitsmacher für Gedankenbegattung und als Erzeuger fruchtbarer Tochter-Ideen. Möchtest du nicht versuchen, wieder dahin zurückzufinden? das wäre doch sehr verdienstlich. Mich friert in diesem Vakuum, und ich fühle mich sehr unbehaglich in der Eiskruste, die du um die Debatte gelegt hast.

Demokrit: Ich weiß nicht, ob sie sonderlich abschmelzen wird, wenn wir auf das Liebes-Thema zurückgreifen. Denn wir wollen doch hier nicht lyrisch tändeln, sondern den Dingen auf den Grund gehen . . .

Lais: . . . und auf dem Grunde finden wir doch die Liebe, das erwärmende Lebensprinzip, und du selbst hast ja wiederholt ausgeführt, daß sich die Grundmotive der Natur, die der Forscher Anziehung, Affinität, Wahlverwandtschaft benennt, als Erscheinungen der Liebe begreifen lassen.

Demokrit: Das ist der eine Standpunkt. Aber der andere, diametral entgegengesetzt, läßt sich ebensogut behaupten. Weil nämlich alles Geschehen bipolar eingerichtet ist. Und um nicht in Einseitigkeit zu verfallen, wird man sich vorhalten müssen, daß Liebe und Haß vollkommene Äquivalenzen sind, einfach vertauschbar, wie die Dimensionen in der Geometrie. Die Liebe, Mutter aller Dinge? sehr gut. Der Haß, Vater aller Dinge? ebensogut.

Der schweigsame Heraklit hob seinen Becher zum zecherischen Gruß, und sein Zutrunk war nicht schwer zu deuten. Er enthielt den stummen Ausdruck des heraklitischen »Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aller Dinge König; alles kommt durch Streit und Notwendigkeit zum Leben.«

Wir verstehen uns, ergänzte der Sprecher. Und wer überhaupt das Wort Notwendigkeit im Munde führt, steht schon auf deinem Standpunkt; denn die Notwendigkeit, die Kausalität, ist ein reiner Kriegsbegriff. Das läßt sich sogar experimentell beweisen. Alles Weltgeschehen beruht auf den Bewegungen der Atome, und deren Wirken ist nichts anderes als ein unausgesetztes, gnadenloses, ungeheures Bombardement. Sie kennen gar kein Tätigkeitsgebiet außer dem Schlachtfeld. Vergegenwärtigen wir uns die Vorgänge, die heutzutage jeder meiner Zöglinge, jeder atomistische Physiker zu verifizieren vermag. Diese Vorgänge sind schrecklich genug, und alles, was in erotischer Betrachtung wie ein Idyll aussieht, wird durch sie in Metzelei verwandelt. Nehmen wir ein Liebespaar, das unter einem Blütenbaum Zärtlichkeiten austauscht. Der Jüngling berauscht sich am Hauch seines Mädchens, saugt ihr die Küsse von den Lippen, – wie reizend! Jeder Kuß ist ein pneumatischer Vorgang, eine Leistung ihres Atems. In diesem Atem tobt der Geschoßhagel der darin wütenden kleinsten Gaskörper, mit einer Kraftleistung von 16 000 Meterkilogrammen, auf den Tag berechnet. Der Kriegstechniker weiß, daß schon zehn Meterkilogramm imstande sind, einen Krieger außer Gefecht zu setzen. Nehmen wir an, daß jene Verliebten sich im Verlauf ihres Verhältnisses alles in allem fünf Tage lang schnäbeln, – ist das zu viel, Lais? Nein? gut, dann spielt sich in ihren Lungen ein Gasprozeß ab, dessen lebendige Kraft ausreicht, um eine Legion von Soldaten, gleich zehn kriegsstarken Kohorten zu vernichten. Und kein anderes Bild paßt hierher als ein kriegerisches, denn die Organe der Kosenden sind, real genommen, Schlachtzonen für das Artilleriefeuer der Atome, die mit unendlichem Waffenvorrat gerüstet eine unendliche Munitionsvergeudung betreiben. Jedes Gasmolekül rast, wird geschleudert, prallt, äußert gewaltsame Energien. Die Möglichkeit eines Waffenstillstandes ist ihm fremd; selbst wenn es sich zersplittert, sind seine Splitter noch prallwütige Allerkleinstkörper, deren Sturmlust und Bombardierdrang alle Abenteuer überdauert. Und mit der Wucht der Trillionen, der Quatrillionen, stürzen sie einher in diesem Kampf, auf dessen Grund die lyrische Betrachtung nichts anderes wahrnimmt, als das Walten süßer Liebe in zärtlichem Sommernachtstraum.

Aber nicht nur die Körperlichkeiten zeigen atomistische Struktur, sondern auch die Kräfte, und von den Kräften bis zu den Gedanken und Empfindungen ist nur ein Schritt. Da zeichnet sich, schon fast erkennbar, ein grauenvolles Spiegelbild. Was zusammengefaßt unserer Wahrnehmung heute als Güte, Zuneigung, freundliches Zusammenfließen der Seelen erscheint, löst sich atomistisch zu einem Gewirr unendlich kleiner Denk- und Gefühlpartikel, die im Geistigen das immense Bombardement der Kleinkörper wiederholen. Und dann, wenn wir bis zu dieser Auffassung vorgedrungen sind, werden wir dein Wort, Heraklit, dadurch bestätigen, daß wir es erweitern: der Krieg ist nicht nur der Vater aller Dinge, sondern die Dinge selbst sind der anschaulich gewordene, objektivierte Krieg. Alles Geschehen ist kriegerisches Geschehen, der Kampf ist die einzig mögliche Form des Seins.

Und auch das findest du vorgebildet, im mythologischen Bewußtsein der Altvorderen, die den Streit und die Liebe, Eris und Eros, nur durch einen Laut abtönten; die den Lyriker Apollo mit den fernhintreffenden Pfeilen rüsteten, und der Venus den Mars gesellten.

Lais: Aber trotzdem, die freundliche Empfindung ist doch nicht aus der Welt zu schaffen, es gibt doch zärtliches Sehnen und Liebesakte, denen alle Lebewesen in unstillbarer Lustbegier nachjagen?

Demokrit: Was diese wahrnehmen ist die Projektion der Welt auf eine Empfindungsplatte, die nicht das Wesen des Geschehens festhält, sondern eine spiegelnde Illusion. Der Liebesakt an sich vollzieht sich wiederum, atomistisch in Belagerung und Bombardement, mit vehementen Wurfgeschossen aus Samenfäden, die in das Bollwerk der Eizelle Bresche legen. Und die Lust der Seele rührt daher, daß sie diesen kämpferischen Vorgang unmittelbar als so zweckvoll empfindet wie keinen andern. Sie weiß: aus diesem Sturmvorgang wird ein neuer Kämpfer geboren, eine Generation von Kämpfern, und dieser Ewigkeitskrieg in Konzentration gespürt bedeutet: geschlechtliche Freude. Ich lese die Mißbilligung auf deinem Gesichte, und wirklich, du hörtest mich schon ganz anders sprechen. Aber das andere ist nicht richtiger als das eine, denn die Richtigkeit ist ein Phantom, und ein denkender Mensch hat vor jeder theoretischen Frage nur die Wahl: entweder in bedeutungslosen Tautologien zu reden, oder kontradiktorische Lösungen als gleichberechtigt anzuerkennen.

Empedokles: Ich bin nicht ganz deiner Meinung, Demokrit, es erscheint mir vielmehr möglich, das Kontradiktorische durch Zwischenglieder zu überbrücken. Was die Liebe und den Haß betrifft, so habe ich dies zu meiner Zeit durch eine Lehre versucht, die wohl imstande ist, alles Verhalten von Mensch zu Mensch klarzustellen, also zur Basis einer durchgreifenden Soziologie zu dienen. Diese Zwischenglieder sind von rhythmischer Natur. Die Liebe, so sagte ich, Philia, Harmonia, und der Haß, Neikos, lösen einander in zyklischem Rhythmus ab, und hieraus ergibt sich in weitem Rahmen der periodische Wechsel von Weltbildung und Weltzerstörung; in engerem Rahmen die Attraktion der Menschen im Gefühl der Gleichheit, und die Repulsion im Gefühl der Freiheit. Das sind für mich die auf Liebe und Haß begründeten Kontradiktionen, und wenn sie, wie ich annehme, periodisch verlaufen, so folgt daraus, das in alle Ewigkeit der Sozialismus und der Antisozialismus einander ablösen müssen. Hierin liegt für mich nach meiner gegenwärtigen Auffassung das Aufsteigen des erotischen Problems zur höheren Stufe des Weltproblems, denn als geschlechtlich klebt es an der engen Beziehung von Mann zu Frau, während es universal gedacht weltgeschichtliche Bedeutung beansprucht. Es genügt also nicht zu erklären, daß jeder einzelne durch Liebe bezwungen sich seiner Sonderexistenz zu entäußern hat, um in den brausenden Strom der Gattung einzumünden, denn hieraus würde sich noch kein Rhythmus ergeben. Vielmehr muß in ihm als periodisches Gegenstück der Haß auftreten, der ihn antreibt, sich der Gattung zu entziehen. Er pendelt also zwischen Extremen, schwingt sich zum Pol der Kollektivgestaltung, zur Gattung, und schnellt zurück zum Pol der Persönlichkeit, die auf das Gleichheitsbewußtsein der Masse mit Haß reagiert. Mythologisch gesprochen: Venus und Amor, die Hüter der Gattung, sind zugleich die Gottheiten des kollektiv gearteten, gleichmachenden Sozialismus, und wenn sie allmächtig wären, gäbe es außer ihm keine Weltgestaltung. Aber neben ihnen erhebt sich Discordia, Eris, die nach Homer auf der Erde wandelt und das Haupt bis zum Himmel streckt, stark genug, um sich mit jenen auf einen periodischen Wechsel einzulassen. Sie ist es, welche Individualitäten erzieht, eigenwillige Persönlichkeiten, denen in der Geschichte die Führerrollen zufallen, die Herrscher werden durch Macht, Reichtum und geistige Überlegenheit. Es hat also keinen Sinn, von einer Idealgestaltung zu reden, der die Menschheit entgegenzufahren wäre. Denn das Ideal des Weltgeistes ist der Rhythmus in Masse und Persönlichkeit, und dieses ist längst verwirklicht.

Lais: Ich bin nun schon froh, daß in unserer Runde überhaupt noch einer die Liebe etwas gelten läßt, wenigstens als periodische Teilnehmerin in rhythmischer Gestaltung. Dieses Halb zu Halb und die Mitwirkung der Liebe bei der Ideenpaarung war so ziemlich das einzige, was wir zum Lobe der aphrodisischen Kräfte gehört haben. Die Advokaten des Eros sind hier entweder spärlich vertreten, oder sie wechseln mitten in der Verhandlung die Rolle und schlagen sich zur Opposition. Ich hätte statt der Forscher die Dichter einladen sollen, da wäre ein ander Lied herausgekommen.

Demokritos: Nämlich das Allerweltslied, das wir gerne den Barden und sangesfrohen Chortafeln überlassen. Deren Texte gehen nicht viel über das Anfangspensum einer Lateinschule hinaus: amo, amavi, amatum, amare. Unser Programm ging doch weiter, und es ist nicht unsere Schuld, wenn wir auf der Kehrseite der Liebe Punkte herausfanden, die uns stärker beschäftigten als die ewigen Gestrigkeiten, mit denen sich die Erotiker von Fach die Zeit vertreiben.

Lais: Solche betrachtenswerte Punkte wären doch auch noch auf der Schauseite der Liebe zu entdecken. Wie steht es denn mit dem Bestreben der Menschen, Weltbilder zu entwerfen? Ist hier nur die freie, parteilose Erkenntnis am Werke, oder tragen wir Züge der Liebe hinein? Ich sollte meinen, das täten wir. Schon das Wort »Kosmos« scheint mir für diese Vermutung zu sprechen; denn Kosmos ist »Schmuck«, und in jedem Weltbilde sind Schmuckstücke vorhanden, mit denen wir die Natur behängen wie ein Mann seine Geliebte.

Demokritos: Ja, so verfahren wir allerdings, und du bist auf richtiger Spur, wenn du jede Formung eines Weltbildes als liebesbetont annimmst. Weil wir, vor die Wahl gestellt, irgendein Weltbild gefällig oder garstig zu gestalten, uns lieber für das Schöne entscheiden und dabei übersehen, daß wir es überhaupt nicht gestalten können. Denn uns fehlt hierzu eine Kleinigkeit: das Aufnahmeorgan. Wir lichtbildnern die Welt mit einer staarblinden Camera, und ihre Klänge treffen auf Taubheit. Daß wir Augen und Ohren besitzen, ändert nichts daran, ja unser bißchen Organbesitz reicht gerade aus, um uns erkennen zu lassen, daß uns das wirkliche Organ abgeht. Stelle ein ganz ungeübtes, amusisches Ohr einer Symphonie gegenüber. Es vernimmt Geräusche, bestenfalls Klänge, die es nicht künstlerisch zu erfassen vermag; ebensowenig wie das Auge einer Ameise, die auf dem Zeus des Phidias herumkrabbelt, zur Kenntnis der Bildnisfigur gelangt. Wie nun, wenn es eine Universalsymphonie gäbe und eine Universalfigur, die tönende und sichtbare Welt, die ihre Botschaften in Tonbündeln und Strahlenbündeln aussendet? Haben wir das mindeste Recht, anzunehmen, daß unser Ohr und Auge ausreicht, diese ungeheure Klangbild-Symphonie zu verstehen? Wir erleben einen mörderischen Krieg und werden schmerzlich davon betroffen. Aber dieser ganze Krieg ist vielleicht nur eine Fortissimo-Note in einem Scherzo-Teil der Universalsymphonie. Wir erleben eine Menge von Eindrücken, die wir als freudig und liebesbetont empfinden, so stark betont, daß wir als leitendes Thema dieses Geschehens ein Liebesmotiv voraussetzen. Aber die Summe dieser Eindrücke braucht nichts anderes zu sein als ein Walzertakt in einer Danse macabre. Denn in universalem Hörsinn können wir nicht unterscheiden, ob ein schmachtseliger Musikant fiedelt oder der Tod. Und hier operieren wir noch mit zwei Sinnen, die überhaupt in die Ferne dringen, während Geruch, Geschmack und Getast auf Distanz schon versagen, wogegen wir noch tausend unbekannte Sinne nötig hätten, um auch nur eindrucksweise die Vibrationen der Welt zu erfahren. Ein neuzeitlicher Forscher hat gesagt: in der Merkwelt der Muschel befinden sich nur Muscheldinge, in der Merkwelt der Wespe nur Wespendinge; woraus zu schließen: in unserer nur Menschendinge, in einem vergrößerten aber gegen das Universum doch verschwindend kleinen Horizont. Und damit entwerfen wir Weltbilder, mit unseren winzigen Menschendingen bevölkern wir den Kosmos! Abbilder dieser beschränkten Dinge werfen wir nach außen, und wir glauben zu konzipieren, während wir nur aus geringem Innenbestand etwas extrahieren. Unsere Helferin ist die Selbsttäuschung, eine Macht, die zur Liebe die innigsten Beziehungen pflegt. Was schon daraus, erhellt, daß wir mit dem Entwurf fast aller Weltbilder beim Zweckvollen landen. Denn der Zweck ist ein Etwas, das wohltut, das aus dem Bezirk des liebend-gütigen herzukommen scheint, das auf Erhaltung abzielt, und sei es auch nur auf die Erhaltung der Energie. Alles in allem: jedes Weltbild ist ein Gebilde, bei dessen Konstruktion die Liebe mithelfen darf; es dient zur Befriedigung einer inneren Begierde und besitzt objektiv den Wert einer Phantasmagorie.

Lais: Fände sich wenigstens in irgendwelchem Weltbild ein Platz für die allgemeine Menschenliebe?

Demokrit zögerte mit der Antwort und sein Nachbar benutzte die Pause:

Lukian: Du mußt es ihm schon hoch anrechnen, daß er nicht rundweg verneint. Darin zeigt sich seine Güte, die eine Möglichkeit offenläßt, um keinem philanthropisch Gestimmten den Weg zum Heil zu versperren. Ja, man könnte sagen, daß er selbst einst diesen Weg gewiesen hat, denn Demokrit war doch der erste bewußte Vollbürger der Welt, der erste Kosmopolit, und Kosmopolitismus ist im Völkerleben der klarste Ausdruck der allgemeinen Menschenliebe, – – so etwa würde Seneca sprechen, wenn er hier zugegen wäre.

Lais: Lukian, Lukian! ich glaube, du stellst uns eine Falle! So würde Seneca sprechen? würde? Und wie sprichst du denn?

Lukian: Ziemlich genau entgegengesetzt; denn ich stehe auf dem Standpunkt, man muß die Menschen sehr schlecht kennen, um sie zu lieben. Und man wird hauptsächlich deshalb Kosmopolit, weil sich in nationaler Engnis die Unausstehlichkeit der Nebenmenschen noch weit lästiger bemerklich macht, als in internationaler Weite. Mit Eros und Anti-Eros hat das im Grunde nur wenig zu tun. Die Geschichtsschreibung mag den Kosmopoliten auffassen als einen Exponenten der Liebe, als Träger der Weltfriedens-Idee, als den Verkünder des tausendjährigen Reiches, in dem die Schwerter zu Sicheln und die Spieße zu Winzermessern umgeschmiedet werden. Aber im lebendigen Bewußtsein des Kosmopoliten ist von dieser Sendung nicht viel vorhanden. Er liebt die andern nicht, er will ihnen nur möglichst aus dem Wege gehn. Wenn er weit umherschweift in der Welt, sich bald da, bald dort niederläßt, so sagt man von ihm fälschlich, daß er sich überall wie zu Hause fühlt. Nein, ihm wird wohl im Ortswechsel, weil er sich nirgends wie zu Hause fühlt, und weil er gerade die Nachteile jeder Seßhaftigkeit zu vermeiden wünscht. Er sucht nicht viele Menschenbrüder, sondern er verringert nach Kräften den Kontakt mit möglichst vielen Menschenbrüdern, er verspürt dauerndes Heimweh nach dem Ausland. Schließlich überwindet das Weltbürgertum nicht den Nationalismus, sondern es züchtet nur einen Nationalismus in großen Maßen. Der Voll-Europäer wird bewußter Anti-Asiat, und selbst wenn es möglich wäre, alle Menschenbrüder unter einen Hut zu bringen, so würde der Nationalkrieg der Menschheit bestehen bleiben gegen alle Gottesgeschöpfe, die zufällig nicht Menschenform besitzen. Aber soweit sind wir ja noch lange nicht. Vorläufig führt der Fortschritt der Weltbürgerei nur zu der Einsicht, daß jedes Land um einen Grad lieblicher wirkt von außen gesehen, als von innen. Ihr berühmten Kosmopoliten unseres Kreises, Demokrit und Aristipp, ihr lächelt mir zu, und ich nehme das für eine Bestätigung der Ansicht, daß euer Weltbürgertum viel weniger mit der allgemeinen Menschenliebe verflochten ist, als mit der Hedonik, mit der persönlichen Glückseligkeit. Und gewiß stimmt ihr mir auch bei, wenn ich behaupte: euer Kosmopolitismus ist ganz und gar nicht darauf angelegt, Propaganda zu üben, zur Nacheiferung anzuspornen; er will isoliert bleiben; und in einer Welt voller Kosmopoliten würde es sich nicht mehr verlohnen, ein Kosmopolit zu sein! –


Hier erfolgte eine Unterbrechung. Es wurde dunkel im Saal, dann wieder hell, und im Wechsel der Beleuchtungen zerflossen für meine Wahrnehmung die Wände des Raumes. Das war ein transitorischer Vorgang, an dessem Ende ich mich in die freie Landschaft versetzt fühlte. Unwillkürlich folgte ich dem Zuge der Menschen, die sich nach einem anderen Gebäude hinbewegten. Ich kannte es nicht, allein die Bauform ließ keinen Zweifel über seine Bestimmung aufkommen. Das riesige Oval verriet unzweideutig eine Arena. Sollte hier etwa die Debatte über Dinge der Liebe und zyklische Ereignisse fortgesetzt werden? Das war kaum anzunehmen. Alle Zeichen wiesen vielmehr darauf hin, daß hier in der Arena eine Begebenheit bevorstand, die bedeutend genug sein mußte, um die rasche Vertagung jenes Symposions zu rechtfertigen. Im Gewühl erhaschte ich den letzten Sprecher und befragte ihn: Sagen Sie, Herr Lukian, was gibt es da? vielleicht eine Erneuerung der Olympischen Spiele? – Ich weiß es selbst nicht genau, entgegnete er, aber ich vermute allerdings so eine olympische Episode; möglicherweise sogar eine, die ich selbst einmal bearbeitet habe. Keinesfalls dürfen wir das versäumen. Die Arena hat dreißigtausend Sitzplätze und wer will, kann hinein. Komm nur mit, Fremdling!


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