Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Orgien im Geiste

Lais, so vernahm ich weiter, ging allmählich dazu über, ihren Kreis zu erweitern. Sie verfuhr dabei mit sorgfältiger Auslese, und auch die wenigen Auserwählten durften sich vorerst nur als Statisterie eines beginnenden Hofstaates betrachten. Bis auf einen, der auch als Einzelfigur nicht übersehen werden konnte, und nach wenigen Tagen als schätzbarer Gast unseres engeren Zirkels begrüßt wurde. Das war der jugendliche Bildhauer Skopas, dessen Name eben anfing, mit dem Ruhm des Praxiteles in Wettbewerb zu treten. Er besaß dazu Einsichten in das Wesen der Kunst, die durch die Schulung des Auges und der Hand allein nicht erworben werden können; ein Vorwegnehmen künftiger Erkenntnisse, die sich auf die Verbundenheit künstlerischer und wissenschaftlicher Elemente richten. Ewig unzufrieden mit seinen eigenen hervorragenden Leistungen, die ihm nur als unvollendete Ansätze erschienen; zu etwas Höherem, vielleicht so Hohem, daß es ewig unvollendbar bleiben mußte, weil nicht einmal die allergetreueste Nachbildung der Natürlichkeit die restlose Erfüllung des bildhauerischen Problems bringen könnte. Je getreuer wir bildnern, sagte er, desto mehr werden wir Kopisten. Unsere Aufgabe ist, etwas hinzustellen, was das primäre Schöpfungswerk übertrifft; so wie es aussehen müßte, wenn der Former außer seinem Gestaltungswillen noch das Wissen des Pythagoras, die Poesie des Anakreon und die Technik des Prometheus in sich getragen hätte. Und das nachher trotzdem den Betrachter als etwas Natürliches anspricht. Wären wir dazu imstande, so würden wir Gestalten schaffen, in denen die Metaphysik der Schönheit und der Liebe sinnfälligen Ausdruck gewänne. Dieses Problem zu bewältigen geht wahrscheinlich über Menschenkräfte; allein Skopas behauptete, daß er sich der Lösung näher fühle in der Betrachtung der Lais, wenn er ihr ohne jegliches Gerät gegenüberstände, ganz loskäme von der Vorstellung eines Modells, und ihre Erscheinung wie etwas fließend Traumhaftes auf sich wirken ließe. Freilich nur auf Minuten spüre er das wie eine Erlösung, da er sogleich in geometrische Betrachtungen verstrickt würde und zwischen Traum und Realität keinen Halt zu fassen vermöchte. Ist das eine Pein, so sei es doch eine wollüstige; ihm, dem Skopas, sei kein Wesen bekannt, dessen bloße Gegenwart solche Qualschwelgerei zu erzeugen fähig wäre, wie diese Lais; und er wäre überzeugt, daß sie nicht einmal ahnte, welchen Tumult im Künstlergeist sie anstifte.

»Da hätten wir wieder einen Beleg zu deiner Lehre,« bemerkte Aristipp, zu Demokrit gewendet. »Lais wirkt katalytisch auf den Meister Skopas, in dessen Hirn zwei kontradiktorische Ideen toben, eine rein künstlerische und eine wissenschaftliche. Es bleibt abzuwarten, ob die Katalyse ausreicht, um die Verschmelzung beider hervorzurufen.«

Könnten wir nicht die Sache auf eine einfachere Form bringen? fragte Lais ganz harmlos. Zugestanden, ich gefalle ihm recht gut, aber dann reicht mein Ehrgeiz nur bis zu dem Wunsche, er möge mich abformen, und mir sein Werk überlassen. Ihr müßt nämlich wissen, daß er mich bisher ein einziges Mal gemeißelt hat und, – wollt ihr's glauben, was er mit dem Steinbild gemacht hat? Verkauft hat er's, der Bösewicht! um blankes Gold verschachert nach Asien – der ideale Künstler! Bekäme ich's nur fertig, ihm zu zürnen, wie er es verdient!

Deine schalkhafte Miene, Lais, beweist, daß dein kleiner Zorn nur die Maske ist, hinter der du die Würdigung meiner Motive verbirgst. Denn du weißt sehr gut, wie das zusammenhing, und daß du allenfalls Ursache hättest, mein Mißgeschick, nicht aber meine Willfährigkeit anzuklagen. Und nun gab er der Runde die Erläuterung. Ja, er hatte sie geformt, und im üblichen Ateliersinne war das Werk keineswegs mißraten. Im Gegenteil, es konnte als ein Muster von Ähnlichkeit gelten und enthielt darüber hinaus die klare Andeutung, daß der Meister beflissen war, in dem Bilde eine Synthese von Frau und Göttin, von Lais und Venus zu liefern. Allein, da hatte sich ein materielles Hindernis eingeschlichen: im Innern des Steins stieß er auf einen winzigen blasigen Streifen, der ihn zwang, eine gewisse Linie in der Lendengegend um ein Unmerkliches anders zu gestalten, als sie ihm vorgeschwebt hatte. Kein Beschauer hätte das jemals entdeckt, nur er selbst, der Meister, stand mißmutig vor seiner Arbeit mit dem grollenden Bewußtsein: wenn solchem Bildwerk das Geringste fehlt, dann fehlt ihm alles! und beinah-vollendet heißt gänzlich verpfuscht! Stundenlang stand er davor mit dem schweren Hammer in der Hand, um sich den entscheidenden Impuls abzuringen. Er wartete auf den vandalischen Moment, auf den furchtbaren Schlag, der aus ihm hervorbrechen sollte, um sein Werk zu zertrümmern. Jetzt hob er wieder das Zerstörungswerkzeug, wieder versagte der Entschluß, – und fast zur selben Zeit erschien in seiner Werkstatt das Fatum in Gestalt zweier Menschen, die seinem Willen eine gänzlich veränderte Richtung gaben.

Der eine war ein Steinhändler aus den Penthelischen Bergen, der mit einem Lastwagen vorgefahren kam. Darauf lag ein großer Marmorblock. Ob Skopas Lust hätte, den zu kaufen. Ein Prachtstück, wie es dem Bildhauer kaum je zuvor vor Augen gekommen war. Mit einem feinen, hellbläulichen, wie von Cirruswolken herabgeholten Pigment und einer offensichtlichen molekularen Struktur, die das Künstlerauge zu allen Hoffnungen entflammen mußte. Skopas schwankte keinen Augenblick, denn schon hatte er in dem Marmor die Umrisse einer Laidischen Venus hineingeträumt, die alles bis dahin Vorstellbare übertrafen. Aber der Händler nannte einen so exorbitanten Preis, daß Skopas verzagte. Sein Besitz an geprägten Werten reichte nicht aus, um diese Forderung zu erfüllen.

Gerade als der Mann sich anschickte, mit der kostbaren Last davonzufahren, meldete sich ein zweiter Händler, ein Agent aus Smyrna mit dem Verlangen, in der Werkstatt Umschau zu halten. Er käme im Auftrag eines vermögenden Kunden in Kleinasien, dem daran läge, einen echten Skopas zu besitzen. Diese weibliche Statue – was die wohl kosten würde? Fünf Minuten zuvor hätte der Meister vielleicht geantwortet: Räume sie mir bloß aus dem Gesicht, möglichst weit fort, und sie ist dein. Jetzt besann er sich. Er nannte genau die Summe, die der Marmorhändler verlangt hatte und fügte hinzu: Eine Bedingung! Kein Geld in meine Hand! Verständige dich mit dem Mann am Fuhrwerk da draußen, schaffe mir den Block ins Haus, dann ziehe ab mit dieser verstümperten Venus! Verlade sie auf ein Schiff, und ich werde Äolus um einen Sturm bitten, der das Fahrzeug samt der Venus auf den tiefsten Meeresgrund versenkt!

Der Agent aus Smyrna vermeinte, mit einem Wahnsinnigen zu verhandeln. Aber die Gelegenheit war doch zu verlockend, um sie entschlüpfen zu lassen, denn was am rohen Marmor wie eine verschwenderische Übertreibung aussah, stellte doch nur einen Spottpreis vor, am fertigen Meisterwerk gemessen. Im Augenblick wurde der Handel perfekt, und noch in der nämlichen Stunde hielt der neue Block seinen Einzug in die Werkstatt, aus der die steinerne Lais verschwand. Wir werden später erfahren, welch seltsamem Schicksal sie auf asiatischem Boden entgegenging. Um eines vorwegzunehmen: sie unterlag keinem Sturm, sie selbst entfesselte einen Orkan und eine Brandung, die bis an den Ursprung ihrer Entstehung zurückschäumte.

* * *

»Da hätten wir nun den Marmor,« sagte Lais, »dazu den Künstler und schließlich auch mich mit meiner steten Bereitschaft, ihm solange er will, Modell zu stehen, – und nur eines hätten wir nicht: den Anfang der Arbeit; denn seit einigen Wochen tut er überhaupt nichts.«

– Du irrst, Lais. Ich arbeite unausgesetzt mit dem inneren Auge, und es käme mir nicht darauf an, in dieser Beschäftigung noch ein Jahr fortzufahren, wenn ich nur sicher wäre, mit den geometrischen Fragen fertig zu werden, die mich dabei bestürmen. Ja, ich würde deswegen bis ins Unabsehbare pausieren, auf die Gefahr hin, daß man nicht mehr von dem Bildhauer, sondern nur von dem Faulpelz Skopas spräche.

– Das wäre noch kein Vorwurf, versetzte Demokrit. Ein echter Künstler soll nichts anderes als ein Stück Natur sein, und die Natur ist von Grund aus faul. Ihr innerstes universales Gesetz ist das Beharrungsvermögen, die Trägheit, und in all ihrer scheinbaren Geschäftigkeit versteckt sich das Hauptprinzip, Arbeit sparen, mit äußerstem Kraftgeiz zu operieren und durchweg auf den Nullpunkt der Anstrengung hinzusteuern. Nichtsdestoweniger leistet sie allerhand, die Natur, und wir erleben dauernd die Effekte ihrer Betriebsamkeit, die sich physikalisch genommen als eine Summe von unendlich vielen Faulheiten darstellt. Ich nehme an, Skopas, daß sich in dir ein ähnliches Wunder vollzieht. Denn magst du auch im Sonderfall einen einzelnen Menschen zum Vorbild wählen, dein Hauptmodell bleibt doch die Natur selbst; von ihr siehst du die Knauserei ab, um plötzlich etwas vor uns hinzustellen, das uns wie ein Produkt der Freigebigkeit überraschen wird.

– Aber er schont sich ja garnicht! warf Aristipp ein. Er verdichtet vielmehr alle Anstrengung auf Probleme, die sich nicht mit Schlägel und Meißel, sondern nur mit dem Verstand lösen lassen. Schon zweimal sprachst du, Skopas, von geometrischen Betrachtungen, und ich möchte dich bitten, uns in deine Gedankengänge zu führen, da ich selbst schon nahe daran war, ähnliche Pfade aufzusuchen. Besinnst du dich, Lais? die körperlichen Minima und Maxima als mögliche Grundlagen einer neuen Ästhetik? Aber schließlich bin ich nur ein aufmerksamer Beschauer, du hingegen als schaffender Künstler vermagst in dieser Hinsicht Einsichten zu erreichen, die unsereinem versagt bleiben.

– Das ist mir noch sehr zweifelhaft, sagte Skopas. Sicher ist mir nur das eine, daß die Zeiten der reinen Kontemplation und des naiven Nachbildens vorüber sind. Ob die Kunst an sich dabei gewinnen wird, das steht dahin. Aber wir stehen unter einem Zwange und haben danach ebensowenig zu fragen, als wir uns Sorge machen dürfen, ob wir den Olymp von Gottheiten entvölkern, wenn wir die Mechanik des Naturganzen ergründen. Beim Apoll! – es gibt gar keinen Apoll, es gibt nur den Rhythmus der Poesie und die Saitenschwingungen auf einer apollinischen Leyer. Warum beten wir also die Götter an, die wir Menschen erst erschufen? Weil wir unsere eigene Phantasie anbeten, die uns Dinge vorgaukelt jenseits der Wirklichkeit. Und hier entsteht die große Frage: sind wir Künstler berechtigt, solche Halluzinationen als Bestimmungsgründe der Kunst anzurufen? Versündigen wir uns nicht an der Wahrheit, wenn wir auch nur versuchen, unsere gesetzlosen Träume in Substanz nachzuformen? Wir stellen bewußte Lügen hin in Farbe, in Erz und Marmor und wollen dabei doch den Anspruch auf natürliche Wahrheit aufrecht erhalten. Man vergegenwärtige sich, ein Äschylos unternähme es, seine Träume auf die Bühne zu setzen, so wie er sie geträumt hat, also außerhalb der Kausalität, mit der ganzen Anarchie der Motive, die das Träumen charakterisiert. Wer ließe sich das gefallen, wendete sich nicht entrüstet ab von solcher Gauklerbühne, die aller Logik der Tragödie, ja selbst noch eines begreiflichen Puppenspiels Hohn spräche? Wie muß der Dichter erst seinen Traum nach strengsten Verstandesgrenzen durchkorrigieren, damit er überhaupt nur szenenmöglich wird! Aber ich, der bildende Künstler, soll es wagen dürfen, eine transzendente Traumfigur mit ihren organischen Unmöglichkeiten in Plastik zu übersetzen . . .

»Ja gewiß, Skopas, das darfst du wagen, und wenn dir zum Beispiel eine fischschwänzige Seenixe oder ein Zentaur gelingt, so brauchst du dir nicht die geringste Sorge zu machen, weil dergleichen in der Natur nicht vorkommt.«

– Sehr sinnreich, liebe Lais, und zugleich sehr falsch. Denn du übersiehst, daß die Nereide wie der Zentaur nur additiv aus naturwahren Elementen zusammengesetzt sind. Wenn ich dich aber in Marmor als Venus vergöttliche, so treibe ich entweder einen blanken Wortunfug, oder ich fälsche deine Linien zugunsten einer Traumgestalt, die nur anders, aber ganz bestimmt nicht besser ausfallen kann, weil im Punkt der Schönheit, wo sie von Natur aus vorhanden, alles Höher-Nieder, Besser-Schlechter seinen Sinn verliert. Sinnvoll bleibt nur, daß jede deiner Linien ein bestimmtes, wiewohl im Raum variables Gebilde darstellt, das mathematisch ergründet werden müßte, bevor man sich vermessen dürfte, das Wesen des Schönen zu erforschen. Und hier sind wir leider erst in den ersten unbeholfensten Anfängen. Die Zahl, als das Bestimmende aller Kurvenlehre, haben wir kaum in ihren rohesten Elementen abgetastet, und von der unendlichen Meisterschaft, mit der die Natur die Zahl zur Schönheit umbildet, wissen wir nicht mehr als ein Schiffsknecht im Piräus von der Astronomie. Wie sollten wir auch? Mit aller vorgespiegelten Ästhetik reden wir immer um die Sache herum, ohne uns je die Frage vorzulegen, ob es denn hier überhaupt einen zuverlässigen Maßstab gäbe.

»Aber Skopas, wie käme eine Messung an Gefühle heran? Den einzigen Maßstab, den wir brauchen, liefert uns die Erfahrung im Bereich der Gefühle. In unseren Landschaften leben bekanntlich die schönsten Menschen der Welt, und daß wir uns in diesem Betracht keiner Illusion hingeben, das läßt sich beweisen: denn aus der Fülle der Schönheit ist ja unsere bildende Kunst entstanden, die auf der Erde nicht ihresgleichen findet.«

– Und merkst du nicht, Lais, daß du eben in einem logischen Fehlerzirkel um den Kern der Sache herumläufst? Es ist ja hart, es einer anerkannten, auch von mir genugsam gepriesenen Schönheit ins Gesicht zu sagen, aber es muß heraus: dein Erfahrungsmaßstab ist nicht brauchbar, denn er stützt sich auf ein doppeltes Bekanntlich, das zusammen nichts liefert als zwei Unbekannte. Wenn es wahr ist, daß es hierzulande von Schönheiten wimmelt, warum entfaltet man vor dir, vor der Phryne, vor Alcibiades, Phädrus und noch höchstens fünf oder sechs Lebewesen solch Ruhmesgepränge? Die Prämisse stimmt schon nicht, und noch viel weniger dein Gefühlsmaßstab, denn der schwankt nicht nur von Person zu Person, sondern er wechselt sogar in einunddemselben Betrachter. Einer meiner weitgereisten Freunde erklärte mir, man brauche nur nach Smyrna zu fahren, um sein Schönheitsideal gründlich zu modifizieren. Lande man dann auf Tenedos bei Troja, so versänke wieder alles Erlebte vor dem Glanz der Tenedierin, bis dann, – falls man sich so weit wagte – die über alle Begriffe schönen Perserinnen jede Vorerinnerung verdunkelten. Und das Seltsamste: weder auf Tenedos noch in Smyrna hat jemals eine Künstlerschule bestanden. Sollte vielleicht von einer gewissen Schönheitsstufe im Volke angefangen der Künstler als solcher entbehrlich werden? Da hätten wir ja zu deiner Gefühlsthese ein recht scharfes Gegenargument: die Menge unserer heimischen Künstler würde beweisen, daß dem Schönheitssinn künstlich aufgeholfen werden muß, weil unsere Natur nicht genügend vorgesorgt hat.

– Du sprichst jetzt ironisch, Skopas, versetzte Aristipp, und du darfst dir das gestatten angesichts einer Dame, von der du selbst überzeugt bist, daß keine Erscheinung in Persien oder in Tenedos ihr gegenüber standhalten würde. Du darfst dir die Selbstironie um so eher gestatten, als wir ja wissen, daß dein eigenes Bewußtsein beim Formen der Laidischen Aphrodite alle nur denkbaren Rauschzustände durchmachte.

– Mit allen leidigen Folgen des Rausches bis zum Bersten des Schädels. Weil mir aus der Seelentiefe immer wieder die furchtbare aber unausweichliche Mahnung aufstieg: Ernüchtere dich in der Wahrheit, deren Quellen nicht auf dem hohen Olymp sprudeln, sondern in einem Abgrund! Ich fange jetzt an, dem Plato recht zu geben mit seiner Fehde gegen Homer und Hesiod, die in Wirklichkeit ein Kampf ist gegen das Göttergesindel. Wäre auch nur ein tausendstel der Olympischen Laster, wie die Dichter sie darstellen, auf der Erde heimisch, so lebten wir in einer Verbrecherwelt, mit der verglichen der Aufenthalt bei den Kannibalen ein Idyll zu heißen verdiente. Und ich werde den Verdacht nicht mehr los, daß dieses Verbrechertum auch irgendwie in unseren Versinnbildlichungen der göttlichen Körperlichkeit auftreten müßte. Diese zeushaften, appollinischen, aphrodisischen Züge und Linien sind bemakelt durch den Anhauch der Sünde. Sollte ich mich je dazu aufraffen, unsere Lais neu zu bildnern, so soll es Lais werden, nicht die Kuppelmutter Venus. Und ohne Berauschtheit, mit klarem Kopf will ich dabei versuchen, dem großen Rätsel auf die Spur zu kommen, das zwischen Schönheit und Erkenntnis nistet.

– Ein gewaltiger Vorsatz, – äußerte Demokritos, – der ein gepanzertes Herz voraussetzt. Denn zunächst wirst du damit nichts anderes erreichen, als eine Sturmflut der Entrüstung in der gesamten Künstlerschaft. Aber vielleicht bin ich imstande, dich mit einigen Stärkungen zu versehen. Waffen müssen wir uns holen aus der Rüstkammer, Herztropfen aus der Gedankenapotheke der Pythagoreer und der orientalischen Weisen, die bereits die Zahl als das Wesen aller Dinge erkannt haben. Diese Lehre wird wörtlich zu nehmen sein, ohne Ausflucht und Hinterpförtchen, durch die man die im Vordergrund anerkannte Zahl wieder hinten herauswirft. Also sie ist nicht das Wesen »gewisser Dinge«, »einiger Dinge«, sondern restlos aller, mit Einschluß der seelischen, der Künste, der Schönheit und der Liebe. Denn die Erscheinungen der Welt, zumal die künstlerischen, sind nicht anders zu begreifen als in der Liebe; und wenn wir dahin gelangen, die Zahl als Norm für jedes Verständnis aufzustellen, so werden wir schließlich auch die Liebe als abhängig von der Zahl anzuerkennen haben.

»Wozu dieser Umweg?« stichelte Agenor, der von den Zusammenhängen nicht allzuviel begriff; »wenn die Liebe auf den Markt gebracht werden kann, so läßt sie sich ja ohne Weiteres in Zahlen umrechnen.«

Demokrit ließ diesen sarkastischen Seitensprung unbeachtet und fuhr fort: – Es ist bezeichnend, daß gerade die substanzloseste aller Künste uns den deutlichsten Fingerzeig für die Wertung der Zahl liefert; und daß Ton wie Klangverbindung, die doch in Lusterregung und Liebeswerbung eine so ausgezeichnete Rolle spielen, eine nachweisbar enge Beziehung zum Zahlenreich offenbaren. Die Musik ist der Genuß der Seele, welche zählt, ohne es zu wissen. Dieser pythagoreisch gefärbte Satz klingt widerspruchsvoll, denn wenn sie es nicht weiß, was berechtigt uns zu erklären, daß sie zählt? Nun wohlan! die intuitive Sicherheit, mit der wir dies behaupten, zeigt an, daß in der Seele etwas vorgeht, das sich der Schullogik gänzlich entzieht: sie tritt gleichzeitig als Erkennerin und Fühlerin auf, die erkennende ist fähig, die fühlende zu beobachten und ihr gewisse Dinge begrifflich zu erläutern, die dem reinen Gefühl schlechthin unfaßbar bleiben müssen. Die Seele findet also in sich selbst eine Instanz, an die sie appellieren muß, wenn sie über die vage Empfindungsdämmerung zum Licht empor will, und diese übergeordnete Instanz spricht mit den Zeichen der Größenlehre.

Lais erinnerte daran, daß Aristipp ihr bereits in Korinth ähnliches vorgetragen habe in gewissen Andeutungen, die sich mit denen Demokrits ergänzten. Allein nimmermehr hätte sie es für möglich gehalten, daß auch in der Seele eines Künstlers Vorstellungen platzgreifen könnten, die irgendwie mit solchen Anschauungen verträglich wären. Und sie leugne nicht, daß sie einen herzlichen Widerstand verspüre gegen eine Gedankenrevolution, die früher oder später das reine Gefühl entwurzeln müßte.

Wenn sie dazu imstande ist, rief Skopas, dann bleibt dem Künstler eben nichts übrig, als sein Gefühl auf den Altar der Erkenntnis zu legen. Vielleicht entwickelt sich aus dem Opferbrand eine neue, eine wissende Empfindung, eine neue Kunst, die schreiten lernt, anstatt zu taumeln . . .

. . . und die dabei, – ergänzte Lais, – das Sirenenhafte aufgibt, den Reiz des Jenseitigen, Außerweltlichen. Wir alle sehnen uns doch nach einem Reich, in dem sich die Seele nur darum glücklich fühlt, weil sie dort der Tyrannei des Verstandes entrückt ist.

– Die Anspielung auf die Sirenen können wir getrost aufnehmen, erklärte Demokrit. Weshalb wohl? Weil es gerade diese fabelhaften Künstlerinnen waren, die zu allererst die Überlegenheit des Wissens verkündeten. Und dem Homer war dies sehr wohl bewußt, da er von den Sirenen dichtete, die zauberische Gewalt ihres Gesanges hätte nicht sowohl in der honigsüßen Annehmlichkeit ihrer Stimmen bestanden, nicht in der außerordentlichen Lieblichkeit ihrer Melodie, als vielmehr in der Versicherung, »daß sie alles wüßten«, was auf dem ganzen Erdboden geschähe, und in dem Versprechen, ihre Zuhörer gelehrter zu entlassen, als sie gekommen seien. Kein geringerer Reiz, glaubt Homer, hätte einen so großen Mann wie Ulysses so mächtig dahinreißen können, daß selbst die Gewißheit eines unvermeidlichen Untergangs nicht vermögend gewesen wäre, ihn von den fatalen Klippen der Zauberinnen zurückzuhalten. So ist es bestätigt im zwölften Gesang der Odyssee, der zuerst von allen menschlichen Zeugnissen die unbegrenzte Suprematie des Wissens ausruft.

Hier im Kreise der Lais wurde der Sirenenvergleich verlängert. Ja, selbst auf die Gefahr des Untergangs hin müsse man versuchen, bei den bösen Klippen Anker zu werfen, da kein Gefühlsschwung die dämonische Kraft des Wissenwollens zu brechen vermöge. Aristipp, der wie erinnerlich schon damals einen Teil der Schwingungstheorie ahnte, wurde darin noch weit übertroffen durch Demokrit, der garnicht mehr daran zweifelte, daß sich alle Kunst- Schönheits- und Liebesempfindung auf bestimmte, wissenschaftlich erfaßbare Erregungszustände zurückführen lassen müßte. Er bezeichnete sie als »Formen der mathematischen Lust« und begründete dies in einzelnen Motiven, die sich dereinst einmal im Ausbau zu einem großen Lehrgebäude zusammenschließen werden.

Die zählbare Tonschwingung, die Tonfolgen und Klangverbindungen mit ihren zwar höchst verwickelten aber sicher vorhandenen numerischen Abhängigkeiten bildeten nur den Anfang für die Orientierung. Einige Gedankenexperimente führten bald weiter. Es ist sehr wohl denkbar, meinte der Philosoph, aus dem Klang zum Bild zu gelangen, vom Akustischen zum Optischen vorzustoßen. Mir ist die Idee nicht abenteuerlich, eine Metalltafel durch Gesang in Schwingung zu versetzen und das Ergebnis dieser Vibration in Linien sichtbar zu machen. Ähnliche Linien sind sicher auch in der durchtönten Luft, in den Membranen des Ohrs und in den feinsten Fasern des Gehirns vorhanden. Zugleich öffnet sich hier die Perspektive, Tonfolgen und Akkorde in Figuren zu verwandeln, die aus Linienelementen zusammengesetzt sind, mithin irgendwie den geometrischen Sinn ansprechen müssen. Sonach hat sich die Hoffnung darauf zu richten, in der Gestalt und in dem Wechsel dieser einzelnen Figuren, in ihrer geometrischen Analyse den wahren Grund der Entzückung zu entdecken, der uns mit der Qualität der »Schönheit« überfällt, wenn ihre Vereinigung im Bildwerk oder im lebenden Körper auf uns wirkt. Man kann es also mit Erweiterung unseres früheren Satzes aussprechen: »Die bildhafte Schönheit ist eine geheime Übung der Seele, welche analytische Geometrie treibt, ohne es zu wissen.«

– Gestehe, Aristipp, – unterbrach ich den Bericht, – hier schmückst du deine Erinnerung. Sollte nicht Argelander dazwischenreden, während du den Demokrit sprechen läßt? Seine Anspielungen bezogen sich doch auf Chladnische Klangfiguren und auf eine Optophonie, die den elektrischen Induktionsstrom voraussetzt. Bei aller Bewunderung für den Scharfsinn des Mannes, – das kann er noch nicht gewußt haben!

– Du verfällst in den nämlichen Fehler, Freund, wie die tausende von Menschen, welche die zuvor erwähnte Stelle im Homer überlesen haben, ohne ihren tiefen Sinn zu verstehen. Denn der unbesiegliche Drang nach Erkenntnis war dem urklassischen Zeitalter versagt, und dennoch erscheint Odysseus mit ihm begabt. Erinnere dich, daß Demokrit den Begriff der Atomkomplexe um viele Jahrhunderte früher gefaßt hatte, als die moderne Physik, und daß diese ihn erst neu bilden mußte, um in seinen Spuren fortzufahren. Ich berichte also, wenn nicht wörtlich, so doch sinngetreu und überlasse ihm wieder das Wort, dessen Hintergrund du dir als einen gedankenexperimentellen vorzustellen hast.

* * *

Vielleicht wird das Leben der ganzen Menschheit nicht ausreichen, um das Studium der Linie bis auf den Punkt zu treiben, wo die sachliche Erforschung mit dem Schönheitsgefühl zusammenklingt. Indem wir tastend versuchen, zu ermitteln, wie weit wir noch davon entfernt sind, offenbart sich zuerst die leidige Tatsache, daß die Größenlehre selbst noch im Rohzustand steckt, und daß sie als Führerin knapp erst anfängt zu begreifen, wohin sie uns überhaupt führen soll. Die Seele als intuitive Mathematikerin ist dem Lehrmeister vorläufig unabsehbar voraus, ja sie steht eigentlich schon am Ziele, ohne zu wissen, wie sie dahin kam; dort wartet sie auf den Magister, der ihr erklären soll, was dieses Ziel bedeutet.

Der Mathematiker legt die Gesetze der Kurven fest nach Gattungen, er vernachlässigt die einzelne, individuelle Kurve, sie wird schon in eine der bestimmten Gattungen passen. Aber das Gesetz erreicht die einzelne, wirkliche Kurve nur näherungsweise, und unter den Millionen von Kurven, welche die Natur auf der Oberfläche des schönen Weibes oder Mannes konstruiert, befinden sich nur einige wenige, die dem allgemeinen Gesetz ganz exakt entsprechen. Es machen sich winzige Unterschiede geltend, und in der Fülle dieser Unterschiede liegt der Schönheitsreiz. In jedem Punkte ist jede Linie, auf gewisse Grundachsen bezogen, nach Distanz und Winkel in Zahlenwerten bestimmbar, aber nur das Schönheitsauge vermag sich in dieser unermeßlichen Zahlenwelt vollkommen zurechtzufinden, während der rechnende Verstand über alles hinweggleitet, was nicht glatt in die Gesetzesformel aufgeht. Das empfindende Auge treibt also eine viel gründlichere Geometrie als der Größenforscher, es umfaßt alle Zahlenkomplexe und erschöpft sie, während sich die theoretische Mathematik einstweilen mit den losen Annäherungen begnügt, die gerade hinreichen, um die Formeln für einige Dutzend Liniengattungen hinzuschreiben, für Kreis, Ellipsenbogen, Hyperbel-Ast, Spirale, Cissoide und so weiter. Von diesen Linien kommt kaum eine in der wirklichen Schönheitswelt vor; dagegen Myriaden von Arten, deren Biegung minimale Besonderheiten aufzeigt. In diesen minimalen Abweichungen vom Grundtypus liegt alles beschlossen, was für uns das Schöne vom Unschönen trennt, und alle Grade vom Abscheu über die Gleichgültigkeit hinweg bis zur höchsten Entzückung sind in ihnen enthalten. Hier erhebt sich als ein Hauptprinzip die Wichtigkeit der kleinsten Differenzen, das in den meisten Erscheinungen die ausschlaggebende Rolle spielt. Zwei Endeffekte können in ungeheuerlichem Abstand von einander auftreten, während die bewirkenden Ursachen eng beieinander liegen. Die Verrückung eines Tones in einer langen Melodie reicht aus, um sie aus der Erhabenheit in die Niederung der Gemeinheit herabzudrücken, wie auch die Gehirnschwingungen beim Genie, beim Wahnsinnigen, ja beim Idioten fast identisch verlaufen. In den optischen Schönheitslinien vollends ist unsere Wertung gänzlich abhängig von den kleinsten Differenzen, die wir mit dem Zahlensinn nicht mehr als abgrenzbar erfassen, die aber der Intellekt unweigerlich in das Gebiet der Zahl verweist. Die Seele entwirft – ohne es zu wissen – ihre Achsenkreuze, Bezugssysteme, legt ihre Tangenten an die Biegungen, mißt die Winkel, zählt die Abstände mit unendlich verfeinertem Maßstab und vereinigt die Ergebnisse in Gefühlen, die nichts anderes sind, als höchste Betonungen mathematischer Lust.

»Wenn du solche Lust als existierend annimmst, so müßte sie doch schon unabhängig vom künstlerisch-erotischen beim reinen Mathematiker vorhanden sein.«

– Er besitzt sie in hohem Grade. Thales hat sie gehabt, und Pythagoras befand sich offenbar im höchsten Lustrausch, als ihm die Entdeckung seines Lehrsatzes zur Opferung der Hekatombe anfeuerte. Ich selbst habe als Mathematiker diese Zustände durchgemacht und bekenne noch heute, daß sie mich mit der Kraft einer hitzigen Schwelgerei ergriffen haben.

»Aus dieser Beichte zeigt sich,« sagte Lais, »wie sehr sich die Welt irrt, wenn sie sich die Arbeit eines Gelehrten ausschließlich wie die sanfte Ampel auf einem Altar vorstellt . . .«

– Ihr Licht kann zur wilden Flamme emporschlagen, und unterscheidet sich dann nicht mehr von den Ausbrüchen der Emotionen, als deren alleinigen Herd man sonst das Gefühl betrachtet. Wie das zugeht? Es erklärt sich, wenn man sich die Größenlehre als das vorstellt, was sie wirklich ist: »die Wissenschaft von dem, was sich von selbst versteht.« Die Forschung entschleiert eine Selbstverständlichkeit nach der anderen und befreit damit von einer schweren geistigen Not, von einer Bedrängnis, die nicht minder heftig auftritt, wie im Körperlichen der Hunger und die Liebe. Die unmittelbare Vorstufe ist allemal eine Art von Verzweiflung, denn es ist nicht auszuhalten, dicht vor dem Selbstverständlichen zu stehen und dabei doch die fürchterlichen Riegel zu spüren, die uns den Zugang verwehren. Der Denkakt bedeutet also eine Sprengung, die blitzhafte Entladung unseres Selbst, die der Tortur des Nichtbegreifens entrinnt, um in den beseligenden Schoß der Evidenz zu sinken. Und in solchen Momenten befällt uns die Ahnung, daß diese Wissenschaft noch eine höhere Aufgabe vor sich hat als Rechnen und Zirkeln in eigener Theorie und Praxis; daß sie noch anderes leisten wird, als Sätze aufstellen, Sternenbahnen in Formeln zu zwingen, Seefahrer zurechtweisen und die Mittel liefern zum Bau von Brücken und Aquädukten. Die Helligkeit ihrer Evidenz muß sie überfließen lassen in das Gebiet, wo sich die Sinne tummeln, freudvoll, aber unwissend.

»Du entwarfst ein zwiefaches Bild, Demokrit. Zuvor maltest du das Gefühl als im Vorsprung und nun als im Rückstand befindlich.«

– Im bildlichen Vergleich mag das wohl so herauskommen, allein das liegt im Wesen jeder Analogie, deren Sinn und Vorzeichen sich nach dem Standpunkt des Betrachters ändert. Ich möchte daher ergänzen: Das Gefühl umspannt eine dunkle Unendlichkeit, die Wissenschaft auf ihrem gegenwärtigen Stand eine hell beleuchtete Endlichkeit. Beiden gemeinsam ist die erforschbare Zahl, die sich im Dunkeln verliert, im Hellen so klar hervortritt, daß wir die engen Erforschungsgrenzen erkennen. Nehmen wir zum Beispiel etwas ganz Elementares: die Primzahlen. Wir kennen ihr Gesetz nicht, und vermögen nicht einmal anzugeben, ob sie überhaupt einem Gesetz unterliegen. Sollte es in vielen Jahrhunderten gefunden werden, so wird es vielleicht in jenes Dunkel hineinragen, das heute noch dem Gefühl allein gehört, und ein kleiner Abschnitt dieses Gebietes könnte von ihm bestrahlt werden. Ich persönlich halte dies für möglich, nach meiner Überzeugung, daß alle von uns angenommenen, anscheinend unüberbrückbaren Dualismen nur Vorläufigkeiten sind. Man nennt mich, den Demokritos von Abdera, als den Entdecker des physikalischen Massenbegriffs, von welchem gesondert der Begriff der Kraft existieren muß. Wieder ein Dualismus, eine Vorläufigkeit! Kommt es einmal dazu, den Kraftbegriff allein gelten zu lassen, dann verschwindet die Masse, und das Denkvermögen von Jahrtausenden kann aufgezehrt werden, bevor sich das Menschenhirn zu dieser lebensgefährlichen aber wahrscheinlich unabwendbaren Vereinheitlichung entschließt. Im Geschmack und Geruch finden wir wieder den Dualismus. Wir denken – wenn wir schon sehr weit vorgeschritten sind – an chemische Beziehungen zwischen Substanz und Organ, aber der Schritt vom Quantitativen zum Qualitativen der Sinnesempfindung erscheint uns unmöglich. Und wie nun, wenn dieser Chemismus sich einmal als ein System von Bewegungen in meinen Atomkomplexen kundgibt? Dann gerät dieser Dualismus ins Wanken, denn diese winzigen Bewegungen müßten in Raum und Zeit erfolgen, einer Messung in Zahl zugänglich sein, und damit wären wir dann auf dem besten Wege zu einer Algebra des Geschmacks und des Duftes, die freilich sehr viel schwieriger ausfallen wird, als die der Klänge und Gesichtseindrücke. Alle diese Erkenntnisse können in einem Treffpunkt zusammenlaufen, in dem die Dualitäten: Stoff und Kraft, Körper und Geist, Verstand und Gefühl, Denken und Empfinden untergehen. Sogar die Liebe kann dort von dem Schicksal der schwesterlichen Schwingungen ereilt werden, als eine Gefühlsfestung, die mit einem Hagel atomistisch-mathematischer Geschosse bestürmt wird.

»Diese Burg, die Akropolis der Liebe wird nicht kapitulieren!« rief Lais; »eine grauenhafte Vorstellung! Und ich als Frau möchte nicht dabei sein, wenn sie auch nur dem ersten Ansturm ausgesetzt würde. Einstweilen nehme ich das Recht des Zweifels so gut wie du in Anspruch: du stellst jeden Dualismus in Frage, und ich bezweifle deine Prognosen.«

– Es sind keine Prognosen, sondern Ausblicke auf Möglichkeiten, noch richtiger gesagt: auf Denkbarkeiten . . .

»Die ich anerkenne, ohne dir durchaus zu folgen,« äußerte Aristipp mit einem mitleidigen Blick auf Agenor, der längst abgefallen war und nur noch stumme Hilflosigkeit markierte; »ich fürchte mich nicht vor dem Unbegreiflichen, allein ich finde doch in deinen Ausführungen so manches, was selbst für mich zu weit ins Orphische, Mystische hineingeht.«

– Werde so alt wie ich, und du wirst alle Scheu abstreifen. Ich war schon ziemlich betagt, als ich das dir bekannte Prinzip der »Irrationalitäten« in der Größenlehre entdeckte, die ich »Alogai« nannte, weil sie als geborene Paradoxien auftreten, gleichsam außerhalb der Logik. Und dabei befand ich mich in exakter Bearbeitung der strengsten Wissenschaft.

Diese Irrationalitäten, heute noch kaum faßbar, werden einmal alle Denkkreise durchsetzen, und schon damals, als ich sie fand, erwuchs mir die Vorstellung: Jeder Zweig der höheren Einsicht ist dazu bestimmt, in Paradoxie auszulaufen. Das liegt im Kreislauf des Weltganzen: Mystik am Anfang und Mystik am Schluß; Tragödie des Denkens, das unwiderleglich anerkennen muß, was ihr mit allen Anzeichen des Unverständlichen entgegentritt und durch keine Erfahrung gerechtfertigt werden kann. Das Sicherste, was wir im Erkennen besitzen, ist der Gegenwartspunkt, die Tatsache, daß wir gerade diesen Punkt, diese Sekunde erleben. Aber dagegen erhebt sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit der Frage: kann diese verschwindende Winzigkeit deines gefühlten Lebens die zeitliche und sachliche Achse des Weltalls sein? Aus der vielfachen Unendlichkeit aller Zustände, Lagerungen, Impulse, Beschleunigungen wird ein ganz vereinzelter, ganz bestimmter Zustand herausgegriffen mit der Anforderung, gerade dieser solle wirklich sein in dem einzigen Zeitlichen, dessen Evidenz wir spüren? Genau das Gegenteil ist der Fall: die Wirklichkeit hat die Wahrscheinlichkeit Null, das heißt, sie ist unmöglich. Also schon die anscheinend untrügliche Sicherheit dieser Sekunde wirft uns in eine Paradoxie, der wir nur entfliehen können, wenn wir die ganze Wahrscheinlichkeitslehre ablehnen. Aber damit fallen wir in eine andere Paradoxie, die genau so unerträglich ist wie die erste; denn die Wahrscheinlichkeitsdisziplin ist die letzte Zuflucht des Verstandes, der einzige Halt, den er ergreifen muß, wenn er sich mit allen mechanischen Erklärungen als mit vergeblichen Versuchen erschöpft haben wird. Auch wir, meine Freunde, wir haben uns heute in allen Erörterungen auf den Pfaden der Wahrscheinlichkeit bewegt; um etwas als möglich zu erspähen, was dem Alltagsverstand schlechthin als unmöglich erscheint. Daß wir unterwegs durch mehrfache Paradoxien hindurchmußten, darf uns nicht schrecken, und ebensowenig darf es uns entmutigen, daß wir nur den losen Ansatz zu einer Denkbarkeit fanden; daß nämlich zwischen der Lust der künstlerisch-erotischen Empfindung und der geometrischen Lust Fäden laufen, wenngleich zu feine, als daß sie sichtbar zu machen wären. Wir befinden uns da in der Lage wie ein Forscher, der aus gewissen Erscheinungen folgert: auf der Sonne müssen die und die Substanzen vorhanden sein. Derartiges läßt sich erschließen, aber nicht beweisen, ganz abgesehen davon, daß auch ein Beweis nichts anderes bedeutet, als eine mit sehr vielen Stützen versehene Vermutung.

Ich habe also nichts bewiesen, nichts prognostiziert, sondern nur Vermutungswege vorgeschlagen. Und unserem Bildhauer zum Trost füge ich hinzu, daß die hier aufgestellten Möglichkeiten keinen Bestimmungsgrund für sein gegenwärtiges Schaffen enthalten; denn sie erstrecken sich über Myriaden von Jahren, nach deren Ablauf – wahrscheinlich – weder Kunst, noch Liebe, noch Leben überhaupt vorhanden sein wird. Die Geschlechter galoppieren übereinander hinweg, jede folgende Generation kann der Aufdeckung der Fäden näher kommen, aber keine wird das Erkenntnisziel erreichen, denn dies liegt dort, wo sich der Zirkel der Zeiten schließt: in jener Ferne, wo die Welt in den Urnebel zurücksinkt, aus dem sie vor Äonen entstand.

* * *

Skopas gab sich einen Ruck, wie einer, der eine schwere Beklemmung abschüttelt. Ich bin fest überzeugt, sagte er, daß der Tartarus des Zweifels an das Elysium des geometrischen Rausches grenzt. Einen Schritt hinüber, und ich bin im Paradiese. Willst du mir dabei helfen, Lais?

Die frohlockte: Wann du willst, Meister. Ich werde in deiner Werkstatt erscheinen, sobald du rufst, und solange verweilen, als du dich inspiriert fühlst.

– Und ich, schloß Skopas, werde mich solange inspiriert fühlen, als du verweilst. Auch ich wage es hier mit einem Paradoxon: Mein neuer Marmor umschließt unendlich viele Figuren, die seit Ewigkeit in ihm schlummern. Eine einzige will ich herausholen, die beste von allen, und dieses eine soll Wirklichkeit werden!


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