Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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II. Die Liebe in Lumpen

Hätte ein Beobachter aus späteren Zeiten in den Hofstaat der Lais sehen können, so würde er in Einzelheiten des geselligen Treibens ein Vorbild der Cours d'Amour erblickt haben, wie sie nach vielen Jahrhunderten in der Provence tagten. Freilich wären auch verschiedentliche Einschränkungen des Vergleichs nicht außer Acht zu lassen; vor allem der Unterschied des Zweckes, der bei den Liebesspielen der Troubadourzeit auf die affektierte Nachahmung eines obersten Gerichtshofes hinauslief. Tiefgründige Fragen aus der Philosophie und Jurisprudenz der Liebe wurden hier mit ungeheurer Gründlichkeit behandelt, spitzfindig erörtert mit dem pompösen Apparat eines Reichstribunals, das Lösungen zu finden hatte, und sie auch wirklich in Arrets d'Amour als rechtsverbindlich niederlegte. Aber das war doch nur Scheinzweck, während die graziöse Unterhaltung über alle erdenklichen Probleme und Einzelfälle der Liebeswelt die Hauptsache blieb. Und in diesem Betracht waren die Cours d'Amour wesentlich nur Wiederauflebungen der Geselligkeit, die in den Gärten der Lais unter dem Szepter der Herrin blühten.

War hier die Weiblichkeit, abgesehen von minderwertigem Gefolge, nur in einer Hauptperson vertreten, so schwebte deren Figur über dem Ganzen nicht nur als Veranstalterin, sondern auch als Preis. Für die Männer galt es schon als eine Gunst, zu diesen Festen geladen zu werden und damit in die engere Konkurrenz zu gelangen; aber von dieser Bevorzugung bis zur Gewinnung des Preises war ein weiter, mühseliger Weg. In den meisten Fällen wurde das große Los überhaupt nicht gezogen, und die vorzüglichsten Gäste mußten sich mit gesellschaftlichen, rhetorischen, dichterischen Erfolgen begnügen, da der erotische Erfolg nicht zu haben war. Allein die Möglichkeit blieb offen, und von Zeit zu Zeit ereigneten sich wundervolle Ausnahmen; wenn sich der Schwarm verlaufen hatte, kehrte einer auf heimlichem Wege nach dem Pavillon zurück, um die Gnade zu empfangen, die ihm zuvor ein nicht mißzuverstehender Blick der Herrin verheißen hatte.

An einem sonnendurchglühten Juni-Nachmittag schienen die allgemeinen Aussichten besonders günstig zu liegen, denn die Herrin befand sich in ersichtlich gehobener Laune; und wer die Zeichen zu lesen verstand, die der Genius loci aufsteckte, der mußte es für wahrscheinlich halten, daß der Sieger im heutigen Wettbewerb mehr zu erwarten hatte als den platonischen Trostpreis freundlicher Anerkennung. Die Becher kreisten, und Lais ging mit gutem Beispiel voran, um einem auserlesenen Gewächs vom Berge Pramnos auf Ikaria alle Ehre zu erweisen. Dem Getränk von Samos in der Lage verwandt, zeigte dieser Pramnische Wein auch Qualitäten höherer Ordnung, er erhob sich zur Rangstufe des Nektars. In den Augen der Lais entzündeten sich Funken des Übermuts, und in manchem Gast wagte sich die Deutung hervor, daß sie die nächste Nacht nicht in vestalischer Einsamkeit verträumen würde. Da hieß es für jeden einzelnen, alle Glanzlichter seiner Persönlichkeit spielen zu lassen, um das Primat zu erringen.

Aber bei aller Stimmungshöhe blieb sie einstweilen Herrin ihres Urteils, und dieses neigte keineswegs zum Enthusiasmus, als einige der Geladenen, dem Programm entsprechend, ihres Geistes Erzeugnisse auszubreiten begannen. Mehrere Dichter hatten das Wort. Sie trugen aus ihren neuesten noch unveröffentlichen Werken vor und fanden in der männlichen Corona lebhaften Beifall. Denn es galt ein für allemal als stillschweigende Verabredung, daß jeder jeden lobte, weil bei Befolgung des entgegengesetzten Prinzips jeder jeden getadelt hätte. Und das wäre zur Erreichung des Endzweckes für alle unvorteilhaft gewesen. Die Solidarität der Trefflichkeit mußte sie verbinden, damit die Herrin nicht unter Geringen einen Erträglichen, sondern unter Heroen den allervorzüglichsten auswählte.

So empfing auch der junge Dichter Melampides von den Herren das Zeichen der Anerkennung, während Lais wider Vermuten mit Kritik einsetzte. Sie fand seine kleinen Gedichte blutlos im Inhalt, übertrieben und schwülstig im Ausdruck und fügte sarkastisch hinzu: in der Lyrik gibt es kein Markten in der Taxe zwischen Gut und Mindergut; eine Lyrik, die nicht ersten Ranges ist, muß als Null bewertet werden.

»Du tust mir weh, Lais!«

– Weil ich dir sage, was du dir selbst sagen müßtest? was hättest du davon, Freund, wenn ich deine Lieder mit milderem Ausdruck als zweiten Ranges bezeichnete? Du würdest dann fortfahren, Lyrik zu treiben, um vielleicht noch die Vollendung zu erreichen. Aber eben dies liegt nicht im Felde der Möglichkeit, weil sich die Lyrik nicht erarbeiten, nicht verbessern und verfeinern läßt. Sie ist vorhanden oder sie ist es nicht; und die kleinste Probe genügt, um ihr Dasein oder ihr Fehlen aufzuzeigen. Versuche dich auf anderen Gebieten, Freund, vielleicht steckt ein großer Staatsmann, ein großer Feldherr in dir, und es wäre schade, wenn du ein erreichbares Ziel versäumtest, um dem einzigen nachzujagen, das niemals erzwungen werden kann. Und du Proleus, was hast du mitgebracht?

»Eine Ode auf dich selbst, herrliche Lais:

    Der Anmut Zauber, die Alles den Sterblichen
    Süßer macht und mit Würde bekleidet,

        Verlockt zum Glauben
        An das Unglaubliche,
        Unbestechliche Zeugen aber
        Bleiben die kommenden Tage.

    Dem Menschen geziemt, von den Göttern nur Schönes
    Zu sagen: leichter ist dann seine Schuld.
    Dein Haupt, Göttin Lais, meine Dichtung bekrön' es,
    Nimm sie auf mit göttlicher Huld!

Ob ich als Göttin dich grüße, erwog ich, oder als Menschen;
Aber, du bist wohl eher vom Göttergeschlecht, o Lais!«

– Bist du zu Ende? sagte Lais; dann muß ich dir die Eröffnung machen, daß ich an dem Unglück trage, ein sehr starkes Gedächtnis zu besitzen. Wie froh wäre ich, wenn es mich jetzt im Stich ließe! aber es sagt mir, daß deine Ode aus mehreren Teilen zusammengeschweißt ist, und daß der eine von Pindar herstammt, der andere vom Delphischen Orakel. Wie merkwürdig! Pindar besang den König von Syrakus, der Delphische Spruch feierte den Spartanischen Lykurg, und du hast es ermöglicht, diese zwei Männer zu einer Frau zu verschmelzen!

Zurufe wurden laut: Aber das ist doch auch eine Kunst, die Anerkennung verdient!

– Nein, das ist Künstlichkeit, Erkünstelung, aber keine Kunst. Ich rede nicht vom Thema, das mich bestechen sollte, und somit auch meinen Anbeter bestach. Wer mich in Versen als Göttin preisen will, dem bleibt das unbenommen; denn das Göttliche ist ein Superlativ wie ein anderer, und der Superlativ bleibt immer die Zuflucht für einen Poeten, dem das Positive nicht einfällt. Aber eine Dichtung, die auf mich passen soll, muß mich umhüllen wie ein mir zugedachtes Kleid und darf nicht zurechtgeschnitten und zusammengeheftet sein aus Stücken von Männergewandung, am allerwenigsten von einer, die dem schneidernden Urheber gar nicht gehört. Selbst mit einer Freigestaltung nach Pindar oder irgendwem wäre mir nicht gedient, denn jede Poesie die nicht einen neuen Gedanken anschlägt, eine neue Empfindung erklingen läßt, bleibt Plagiat. In diesem Betracht sind neun Zehntel aller Dichter, die den Parnaß bevölkern, Plagiatoren. Ich höre so oft sagen: dieser oder jener besitzt in seinen Strophen die Anakreontische Süßigkeit, er ist ein neuer Anakreon. Ganz falsch! um ein neuer Anakreon zu sein, müßte er zu allererst ganz anders dichten wie der alte Anakreon, und wenn er das nicht vermag, so wird er nicht sein Fortsetzer und Erbe, sondern nur sein Kopist.

»Herrin Lais,« meinte ein Gast, »du bist heute sehr ungnädig aufgelegt, und wir täuschten uns, als wir noch vor kurzem eine rosige Stimmung an dir wahrzunehmen glaubten. Du schienst so angeregt von diesem köstlichen Pramner . . .«

– Daß du eine leise Berauschtheit bei mir vermutetest. Kann schon sein, mit Recht. Aber jeder Rausch hat seine besonderen Empfindlichkeiten, und wenn hier die Dichter zu Worte kommen, so wünsche ich, daß mir auch aus ihren Gaben ein Rausch entgegenweht; nämlich jene Ekstase, die unmittelbar und naiv aus dem Ingenium quillt und nicht aus dem Vorsatz »jetzt will ich einmal mein Talent leuchten lassen!« Übrigens scheinst du ja auch nicht mit leeren Händen erschienen zu sein, also laß hören, Demetrios!

»Fast fehlt mir der Mut, und ich bin jetzt ungewiß, ob hier die rechte Gelegenheit für meinen Vortrag gegeben ist, denn meine Dichtung behandelt nicht eigentlich die Liebe, sondern besitzt vielmehr einen sozusagen lehrhaften Inhalt.«

– Umso besser. Ein Poet, der etwas lehrhaft Geistiges behandelt, entgeht manchen Gefahren, schon deshalb, weil er ein viel freieres Feld vor sich hat, als die Lyriker, die immer nur neue Fäden vom alten Rocken der Verliebtheit abspinnen. Was ist es denn?

»Eine dialogische Szenenfolge: der Held am Scheidewege. Als sprechende Personen erscheinen: der jugendliche Herkules, Arete die Tugendgöttin und die Fee der lasterhaften Verführung, die ich Diaphthora nenne.«

»Ein schönes und ergiebiges Thema, das der Entfaltung von Kontrasten reichen Spielraum gewährt.«

»Ja, das war es, was mich lockte: der Kampf des guten und des bösen Prinzips, der von Urbeginn in des Menschen Brust tobt und bis in Ewigkeit nicht ausgekämpft sein wird. Keinem bleibt der schwere sittliche Entschluß erspart, jeder wird zum Herkules, und wenn es mir gelang, den Alciden als Typus herauszuarbeiten, so darf ich sagen, daß ich damit aller Mannheit den Spiegel vorhalte.«

– Gewiß, gewiß, meinte Lais; es kommt nur darauf an, wie du das gestaltet hast, und mit welcher Überzeugungskraft deine Poesie die Wirksamkeit der beiden Prinzipe herausstellt.

Demetrios las sein kleines Versdrama vor, dessen Wortinhalt sich leicht ergänzt, wenn man mit dem szenischen Gang bekannt gemacht wird. Herkules erscheint in waldiger Einöde, innerlich zerrissen, denn er spürt in seinen jungen Adern das Wallen des Götterbluts, das ihn zu hoher Tugend ruft, und spürt dabei in seiner Liebe zu Dejanira eine Triebkraft, die ihn vom erhabenen Ziele abdrängt. Um ihn verwandelt sich die Szene in einen schwellenden Zaubergarten, dessen Herrin, die Wollustkönigin Diaphthora, ihm mit allen Reizen und der einschmeichelndsten Beredsamkeit entgegentritt. Sie, die Schöpferin der Freuden im Olymp und auf der Erde, von Amoretten, Grazien und leichten Musen umgaukelt, verheißt ihm unvergängliche Wonne, wenn er sich ganz ihrem Dienst hingibt; wenn er nur noch auf die Stimme seiner Sinne hörte, um jeder strengen Arbeit abgewandt von Genuß zu Genuß zu fliegen. Abermals verwandelt sich die Szene, derart, daß der Hintergrund des Lustgartens den Blick auf eine steinige Wildnis freigibt, mit Steilpfaden eines rauhen, von einem leuchtenden Tempel bekrönten Gebirges. Der Hochsopran der Verführerin verflicht sich mit den sonoren Tönen der Tugendgöttin Arete zu einem Streit-Duett, das den Helden von beiden Seiten bestürmt. Fast scheint er der Verlockung zu erliegen, in der er den süßen Anruf der geliebten Dejanira zu vernehmen glaubt. Allein, bald zeigt sich in aller Hoheit das Sittengesetz, das, wiewohl zuerst von den sinnlichen Regungen übertönt, schließlich das Gewissen des Mannes mit Elementargewalt emporreißt. Aus dem Chaos seiner Seele gebiert sich das Licht, aus dem Tumult seiner Gefühle der edle, gottwürdige Vorsatz. Er beschreitet den steilen, dornigen Weg, dem Tempel entgegen, der sich vor ihm, dem in Tugend Geläuterten, öffnen soll, um ihn in die schwer zu verdienende Unsterblichkeit aufzunehmen.

Die Zuhörer genossen dieses Drama nicht in gedrängtem szenischen Abriß, sondern mit dem ganzen strophischen Wohllaut einer in wechselnden Versmaßen skandierten Poesie. Lebhafter Beifall entlud sich auf den Vortragenden, der eine stets bereite Saite des Menschentums angeschlagen und mit unleugbar vornehmen Kunstmitteln zum Erklingen gebracht hatte.

Lais sagte: Ich bin auf den zweiten Teil deines Stückes gespannt. Lies weiter!

»Aber Herrin,« versetzte Demetrios, »es ist doch zu Ende. Ich konnte doch nicht ein neues Versgerüst um die Taten des Herkules bauen, nachdem wir bereits erfahren haben, daß er sich auf Lebenszeit der Tugend verschrieben hat.«

– Das ist bedauerlich, da du uns doch ein Lehrgedicht versprochen hast. Was du verfaßtest, ist ein Vorspiel, wonach der Dichterphilosoph erst eigentlich zu beginnen hätte. Er müßte entwickeln, daß die Wirksamkeit des Helden wirklich eine tugendhafte gewesen ist.

»Das gehört doch zum Grundbestand des Mythos und ist aller Welt bekannt.«

– Ich weiß nichts davon, Demetrios. Ich weiß nur, daß Herkules nach seiner Prüfung am Scheidewege ein ganz übler Bursche geworden ist, ein wilder Strolch und Wegelagerer, der alles totschlug, was ihm über den Weg lief. Seinen Lehrmeister Linos, den musengeweihten Sänger, der ihn im Saitenspiel unterwies, erschlug er mit der Leier. Als er einer Gesandtschaft aus Orchomenos begegnete, die in Theben nur einen amtlichen Auftrag auszurichten hatte, schnitt er den Gesandten Nasen und Ohren ab. Kurz bevor er sich in die Knechtschaft des Eurystheus begab, ermordete er fünf unschuldige Kinder seiner nächsten Familie, seine eigenen Kinder warf er lebendig ins Feuer . . .

»Im Wahnsinn, Lais! er litt an einem Tobsuchtsanfall.«

– Sein ganzes Dasein war eine fortgesetzte Tobsucht, und die Legende betont diese Anfälle, um nur überhaupt einen mildernden Umstand für den Bösewicht herauszubringen.

»Aber er hat doch auch Räuber erschlagen und wilde Tiere, in seinen unsterblichen zwölf Arbeiten!«

– Nicht aus eigenem Willen, sondern auf Befehl des Trottels Eurystheus, als Sklave eines feigen, verblödeten Despoten. Nicht als Mensch betätigte er sich, sondern als zweibeiniger Kraftspeicher, und er bedurfte sogar noch des Kommandos, um seine bestialischen Instinkte gegen andere Bestien loszulassen. Also er erwürgte dabei den Nemeischen Löwen im Dienste der Menschheit, nämlich genau so, wie der Löwe im Dienste der Löwenheit handelt, wenn er Menschen erwürgt, die für ihn die Schädlinge sind. Dann wieder reinigte er die Ställe des Augias durch einen künstlichen Wassersturz. Eine schöne Sittentat! um einen Haufen Rindermist fortzuwaschen, muß einer den Stempel der Tugend tragen! Weiterhin seine selbständigen Abenteuer, die nichts anderes sind, als ein Kette von Schurkereien. Brauche ich dir die Geschichte des Eurytus, des Iphitus, der Iole zu erzählen? da dampft es von Brand, Mord, Plünderung, Betrug, unschuldige Menschen werden in einen Knäuel der Gemeinheit verstrickt und man könnte ebensogut von der Moral einer Giftschlange reden, wie vom Sittenbewußtsein des Herakles . . .

»Aber der Dichter hat doch die Freiheit, die Vorgänge zu deuten, wie es sein Programm erheischt?«

– Hättest du das nur getan, Demetrios! Der poetischen Lizenz gewähre ich jeden erdenklichen Spielraum. Gestalte einen ganz neuen Herkules, verändere die Mythologie, mache unsere Anschauung deiner Originalidee dienstbar, und du sollst mir im Range gelten wie Homer und Hesiod. Aber du berührst ja gar nicht den mythischen Grundbestand. Du setzt in deinem Vorspiel den späteren Tugendhelden als ganz selbstverständlich voraus, und gibst ihm sonach einen Auftakt, der gar nicht anders ausfallen kann, als sinnlos. Ist dein Herkules der nämliche, an den wir alle denken und denken müssen, dann widerstreitet es aller Vernunft, ihn als Figur an den Scheideweg zu stellen und die Tugend als siegreiche Fee zu allegorisieren. Und sofern deine wohlklingende Poesie eine Lehre enthält, lehrt sie absurd und verbrecherisch; sie mahnt: überantwortet euch der Tugend, um Kraftklötze zu werden, die sich in Dummheit, Tollheit und viehischer Brutalität austoben. Gelinder ausgedrückt: deine ganze Dichtung ist ein elementarer logischer Schnitzer, und wenn die Legende vom Helden am Scheidewege sich verewigt, – wie ich beinah vermute, – so wird dadurch nur bewiesen werden, daß die logischen Schnitzer unausrottbar sind. Du kannst dich also schließlich mit andern Dichtern und Philosophen trösten, die Schönheit und Wahrheit zu finden hoffen in den Höhlengängen eines undurchdringlichen Labyrinths.

»Ich kann deiner Ansicht nicht folgen«, opponierte ein Teilnehmer, der prachtvoll gebaute und leidlich intelligente Sarpedon aus Elis. »In dem, was du als Labyrinth bezeichnest, befinden sich doch Merkzeichen, die bei aufmerksamer Betrachtung einen Sinn ergeben, und du wirst es mir nicht verdenken, Lais, wenn ich mich diesem Sinn anschließe.«

Sarpedon, aus vornehmem Geschlecht entsprossen und ansehnlich begütert, war aus Neigung und Beruf Vertreter aller Leibesübungen und hatte sich nicht nur in der Palästra, sondern auch bei den ernsthaften Kampfspielen in Nemea und Korinth als Wettläufer, Ringer, Faustkämpfer und Speerwerfer ausgezeichnet. Er gehörte zu den Anwärtern auf die Gunst der Lais und war fest überzeugt, daß sie ihm eines Tages zufallen müßte nach dem unverbrüchlichen Gesetz der Polarität, das die zarte Schönheit des Weibes so willig macht, sich der Gewalt eines Heros auszuliefern. Heute schienen ihm die Aussichten besonders günstig zu liegen, da die feinfühligen Geistesarbeiter, die Dichter, durchweg mit so übler Zensur abgeschnitten hatten. Aber er war schlau genug, um sich einen weiteren Vorsprung nicht etwa dadurch zu sichern, daß er der Dame einfach nach dem Munde redete. Dadurch hätte er sein Spiel nur verdorben, denn Lais, das wußte er genau, machte sich nicht viel aus den Echomenschen, schätzte vielmehr nur die Selbstsicheren, die im Redeturnier ihren Mann standen. Daraus ergab sich das Programm dieses Sprechers: Er ergriff den Anlaß, um seine persönliche Eigenart zu verfechten, und zwar im Anschluß an dies Thema Herkules, gegen den sich Lais so scharf ereifert hatte.

– Ich meine, so sagte er, – wir täten gut, die Begriffe von Tugend und Laster ganz beiseite zu stellen, wenn wir über Leistungen gewaltiger Körperlichkeit disputieren; mit dem Vorbehalt, unser Urteil zu erweitern, sobald wir von der Einzeltat zur Summe der Taten übergehen. Jede für sich besitzt freilich nur einen dynamischen oder Geschicklichkeitswert und erlaubt keinen Rückschluß auf Edelmut oder Schurkerei . . .

– Wie kannst du das sagen, Sarpedon – rief Lais; – gelten denn die Motive gar nichts?

– Ihre bürgerliche Geltung verschwindet im heroischen Verstande, wo alle Taten nur ein einziges Motiv voraussetzen: den Siegeswillen. Es handelt sich gar nicht um den Nemeischen Löwen, um den Erymanthischen Eber, um Kerberos, um Antäos, sondern darum, daß ein Mann existierte, der das Höchstmaß an Kraft leistete, und dem wir Kräftigen nachzueifern haben in Athletik und Gymnastik, weil ohne dies Gegengewicht alle Triebe von der Geistigkeit aufgesogen würden und die Welt in ihr verdunsten müßte.

– Mit andern Worten, Sarpedon, du polemisierst gegen das Geistige, in dem wir unsere Ideale erblicken . . .

– Nein, Lais, nur gegen diejenigen, die eine Welt der Geistigkeit für existenzmöglich halten, ohne daß ein Riese Atlas sie trägt. Du bist schön und geistreich, aber glaubst du, daß du es wärst wenn nicht in Adern deiner Vorfahren das Blut der Titaniden pulsiert hätte? oder daß in Äonen noch schöne und geistreiche Menschen leben werden, ohne die Vorsorge derer, welche die Überlieferung der Stärke, der Behendigkeit, des Mutes lebendig halten? Da hast du das Bild der Tugend, die wir in einem Herkules symbolisieren. Ob der einen Unhold überwältigte, ob ich in der Arena einen Gegner mit der Faust niederschlage, das ist für sich belanglos, mag im Einzelfall sogar lasterhaft erscheinen, denn ich zermalme die Knochen eines Menschen, den ich nie zuvor sah, der mich niemals beleidigte. Und dennoch! Aus tausenden von Akten in der Folge der Geschlechter, aus Akten ohne oder gegen Moral, setzt sich eine Wirksamkeit zusammen, die den Titel der Sittlichkeit verdient; denn sie bewahrt die Menschheit davor, ein Gewimmel garstiger Schatten zu werden; sie erst ermöglicht ihr, die Geistigkeit zu pflegen, ohne die Gefahr, vor lauter Geist sich zu entkörpern.

Diese Argumente wären nicht ganz eindruckslos geblieben, wenn nicht jetzt, zum Unglück für den Sprecher, Demetrios sich erhoben hätte mit dem Verlangen, Lais sollte nunmehr ihr hartes Urteil gegen sein Scheidewegstück widerrufen; denn die Gründe des Kraftmenschen wären unwiderleglich und sprächen zugleich für seine eigene dichterische Gestaltung.

– Lieber Demetrios, versetzte Lais, du kämpfst um eine verlorene Sache, die darum nicht gewonnen wird, weil ich mich augenblicklich in der Minorität befinde; denn die Minderheit ist in der Regel das Zeichen des Rechtes. Ein mäßiges Werk wird nicht dadurch vorzüglich, daß es sich mit einem großen Namen und durch eine Allerweltstaxe deckt. Trage es in Olympia vor während der Spiele, die dein Herkules gestiftet hat, und Apoll behüte dich, daß die Hörerschar dir gestattet, es bis zu Ende zu lesen. Was aber dich betrifft, Sarpedon, so scheint mir, daß du es darauf anlegst, auch mich durch einen Gewaltsieg zu überwältigen.

»Sagen wir besser: dich zu erobern; ich käme mir selbst verächtlich vor, wenn ich bei der Vergünstigung, in diesem Haus zu verkehren, jemals einen andern Vorsatz gehegt hätte.«

– Aber du bedienst dich dabei eines Fechtertricks, den ich durchschaue. Du verallgemeinerst den Sonderfall für eine ferne, undurchsichtige Zukunft, während die Einsicht nur gewonnen wird, wenn man die Gegenwart an der Vergangenheit abmißt. Wenn wir ein Kulturvolk geworden sind, so geschah es nicht, weil die brutalen Triebe der Titanen und Titaniden weiterwirkten, sondern weil sie überwunden wurden. Wir stünden noch heute auf der Stufe der Urmenschen, wenn die Muskeln regierten und nicht die Gehirne. Griffe deine Methode durch, so würden wir zurückgeworfen in die Vorzeit, wie ja auch tatsächlich im Stadion Kampfspiele geübt werden, die besser in die Zeit der Argonauten und der kalydonischen Jagd hineinpassen als in unsere. Die Zuschauer sind – leider! – von diesen Roheiten entzückt, sie berauschen sich an Bildern des Mutes und der Wehrhaftigkeit, und sie übersehen dabei, daß in unserer Kriegstechnik und Strategie der Diskuswerfer, der Ringer und Boxer überflüssige, ja lächerliche Figuren geworden sind. Wer heute als Pädagoge nur Kampfspiele wiederholt, wie sie um Patroklus' Grab ganz sinngemäß waren, der könnte ebensogut nach Trojanischem Muster mit einem hölzernen Pferd eine Festung erobern wollen. Du sprichst von der Gefahr der Entkörperung, während uns das Gespenst der Entgeistigung weit näher bedroht. Schon heute erleben wir es, daß zu Olympia der Geistesmensch in den Schatten gedrängt wird und sich mit den Resten der Lorbeern begnügen muß, die von den Triumphen der Athleten abfallen. Hüten wir uns davor, zur alleinherrschenden Religion einen Kraftkultus auszurufen, der die Glieder geschmeidig macht und die Seelenfasern erstarren läßt. Ich bin genügend gegen den Verdacht geschützt, als wollte ich die gymnastischen Künste abschaffen; ich weiß sie zu schätzen und pflege sie persönlich. Aber sie sollen unsere Dienerinnen bleiben, nicht wir ihre Leibeigene werden, nicht wir als Knechte der Körpermechanik der Verödung anheimfallen.

* * *

Wenige Minuten später lieferte die Herrin in einem Anflug von Übermut eine launige Ergänzung zu ihrer Ansage, wie, um der Gesellschaft einen Beweis ihrer eigenen Gliederdressur zu bieten. Man erging sich plaudernd in den Parkwegen und plötzlich rief Lais: Sarpedon, du Schnellfüßiger, jetzt fange mich! Wie eilte sie dahin über den Rasen, geradeaus, unvermutete Haken schlagend, mit raschen Voltigen über niedriges Gesträuch! Trotzdem hätte sie der Meisterläufer natürlich in wenigen Augenblicken eingeholt, aber schon saß sie hoch im Geäst einer jungen Weißbirke, mit einem Vorsprung, den sie ihrer Schlankheit und Leichtigkeit verdankte, während der ungleich, massivere Verfolger hier an ein Hindernis geriet. Der erste Zweig, den er prachtvoll anspringend erfaßte, brach ab, er fiel mit Wucht zu Boden, während ein helles Gelächter von oben her ihm seine Niederlage bestätigte. Dann schwang sie sich herab und verzuckerte ihm das Erlebnis mit Worten, die ironisch klangen aber tröstend gemeint waren: Du siehst, Sarpedon, ich bin schon dabei, mir deine gymnastischen Lehren anzueigenen; habe ich dich heute besiegt, so findet sich wohl einmal die Gelegenheit, mich von dir besiegen zu lassen.

Diese entfernte Aussicht war nicht imstande, den Fachmann, der soeben vor einer schwachen Dilettantin kapitulieren mußte, sonderlich zu begeistern. Wer würde heute der Glückliche sein? Überhaupt einer? Er jedenfalls nicht, und diese Einsicht war ihm schmerzhafter, als die lahme Lende, die ihm bei jedem Schritt an den Absturz erinnerte. Ziemlich verdrossen überließ er den Platz an der Seite der Dame einem andern aus dem Troß der Bewerber, einem Manne, der sich bis dahin mit keiner Silbe an den Unterhaltungen beteiligt hatte, aber entschlossen war, das Versäumte nachdrücklich wiedereinzubringen. Es gelang ihm auch, die Herrin in einen Seitenweg des Parkes hineinzumanövrieren, und hier, nur von ihr gehört, entfaltete er sich zu besonderer Beredsamkeit.

Praxaspes war Asiat, bekleidete in Persien einen satrapenartigen Posten, und hatte auf seinen Reisen längst erfahren, daß die Gewalt schwermaterieller Gründe an keine Landesgrenzen gebunden ist. Der Zutritt zu dieser Gesellschaft war ihm zunächst auf Grund seines hohen Ranges zuteil geworden; man erzählte von ihm, daß er im Orient Liegenschaften besaß, größer als der ganze Peloponnes, man fand daher seine fürstliche Haltung ganz natürlich und ihn selbst als Zimmerschmuck ausreichend geeignet.

»Wie lange gedenkst du dich noch in Griechenland aufzuhalten?« fragte Lais.

– Das wird lediglich von dir abhängen, entgegnete Praxaspes. Die Landschaften und Bauten fesseln mich nicht, sie sind überall dieselben. Du aber bist anders als die andern, und ich gehre nach deinem Besitz. Fällst du mir zu, dann bestimme du selbst, wie lange du mich haben willst. Verwirfst du mich, so sage es mir mit einem Wort, und mein Verbleib in Europa ist beendet.

»Du redest sehr deutlich, Satrap, und wir Griechinnen sind ein solches Geradezu nicht gewöhnt, wenn uns vertrauliche Wünsche vorgetragen werden. Aber man muß deinem Asiatentum schon ein weniges nachsehen, hinsichtlich der Tonart. Ich beabsichtige auch nicht, deine Sprechweise zu zarten Umschreibungen zu erziehen, will vielmehr ganz gelassen zuhören, was du mir etwa noch in deiner Angelegenheit mitzuteilen hast.«

– Ich halte dafür, meine Absicht genügt, denn das Weitere sind Selbstverständlichkeiten. Jeder wirbt mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Der eine sucht dich mit Versen zu gewinnen, der andere mit Philosophie, der dritte mit Kraftkünsten, und alle zusammen verstehen sich auf Überredung mit weitschweifigen Worten. Mögen sie sehen, wie weit sie kommen, das ist ihre Sache. Ich gehe einfacher zu Werke. Ich begehre etwas Einziges und setze etwas Einziges dagegen; nämlich ein Vermögen, mit dem du ganz Ägina und Argolis auskaufen kannst. Und da du ebenso klug bist, wie schön und anmutig, so wirst du solches Angebot nicht in den Wind schlagen.

»Du täuschst dich in der Voraussetzung, Praxaspes. Ich bin nicht klug, oder vielmehr, ich unterliege launischen Anwandlungen, und meine Laune gebietet mir gerade jetzt, unklug zu sein. Hättest du von deinem Einsatz gar nicht gesprochen, sondern mir überlassen, ihn als Morgengabe nur zu ahnen, so wäre deiner Überrumpelung vielleicht gelungen, was deiner kalten Rechnung mißglückt. Ich bin nicht unempfindlich gegen Reichtum, aber ich lehne ihn ab, wenn er mir auf der Wagschale hingehalten wird, mit der herrischen Forderung, mich als Marktware auf die andere Schale zu legen.«

– Lais, deine schöne Bildersprache ist nur eine Verkleidung der Tatsache, daß du deinen Vorteil verleugnest. Deine berühmte Berufsschwester Phryne, in deren Armen ich froh geworden bin, hat ihr Interesse weiser wahrgenommen. Und ich mache dir kein Geheimnis daraus, daß sie mir zufiel für den zehnten Teil dessen, was ich dir soeben anbot.

»Schade um deinen Goldschatz, den du so leichtsinnig vergeudest. Denn schon der hundertste Teil hätte ausgereicht bei der Phryne, die sich nach einem allbekannten Tarif verhandelt. Lerne also den Unterschied kennen zwischen Hetäre und Hetäre, von denen die eine jeden Begüterten annimmt, während vor der andern ein Krösus vergeblich bettelt.«

– Du gebrauchst starke Ausdrücke. Aber selbst wenn ich bettelte, würde ich meinem Range noch nichts vergeben, denn vor einer Gottheit darf auch der Größte flehen . . .

»Ich bin Lais, und keine Gottheit.«

– Du sollst eine werden. Zeige dich mir geneigt, und ich erbaue dir in meinem Lande, bei Ekbatana, einen Tempel, der durch seine Pracht alle Heiligtümer von Hellas verdunkeln soll. Dort soll dein Bild in Elfenbein und Gold aufgerichtet werden als Lais Chariessa, und Aphrodite wie Artemis werden dich beneiden. Hundert Tauben und zwanzig Pfauen lasse ich täglich auf deinem Altar opfern . . .

»Warum nicht gar lebendige Menschen! Sage Satrap, hast du gar keine bessere Verwendung für deine Reichtümer als zu solcher blasphemischen Torheit?«

– Wenn nicht bessere, so doch auch andere: an der Grenze von Medien herrscht seit Monaten Hungersnot, und ein weiter Distrikt ist der Verzweiflung ausgeliefert. Ich mache mich anheischig, helfend einzugreifen durch Kornversorgung, mit dem Aufgebot vieler Millionen von Drachmen, um das Hungergespenst zu verscheuchen.

»Entsetzlich, Satrap! wie, – du machst dich erst anheischig, du hast nicht schon längst getan, was du vermochtest, du wartest auf einen Anlaß?!«

– Auf ein Signal von dir! Laß doch sehen, Lais, ob du berechtigt bist, mir Hartherzigkeit vorzuwerfen, wenn du selbst vor die Wahl gestellt wirst, hart zu sein oder milde! Opfere mir diese nächste, diese eine Nacht, und den Hungernden ist geholfen. Und wenn du verneinst, wenn du auch nur zauderst, so mache mich nicht verantwortlich für die Gewissensqual, der du anheimfallen wirst.

»Praxaspes, du verübst an mir eine unerhörte Erpressung! Abscheulicher als jemals eine körperliche Vergewaltigung über eine Frau erging! Und ich muß all meine Seelenkraft zusammennehmen, um mich dieser Tyrannei zu erwehren. Du kamst hierher, mich mit Schätzen zu erzwingen, – nun biete ich sie dir; da! nimm! – sie riß sich ein kostbares Schmuckstück vom Gewand – und verwandle den Erlös in Brot für die Hungernden. Es ist mein bestes Kleinod, nicht wertvoll genug, um eine ganze Provinz zu retten, aber ausreichend, um viele Familien zu sättigen. Warte, Tyrann, ich hole noch mehr aus meiner Truhe – –«

– Nicht nötig, Lais, behalte deine Edelsteine. Es stand in deinem Belieben, mir eine Freude zu versagen, nicht aber, mich zu demütigen. Hier endet die Herrschaft deines Stolzes. Der notleidenden Landschaft wird geholfen werden ohne dein Almosen. – Er wandte sich zum Fortgehen.

Lais streckte ihm die Hand zum Abschied entgegen, aus dem Gefühl heraus: eine entsetzliche Werbung mit wohltätiger Frucht. Der Asiat nahm ihre Hand nicht. Sein erhitzter Satrapenhochmut fand eine Kühlung: die Hetäre bot ihm eine Freundlichkeit, und jetzt behielt er die Oberhand: indem er die Gunst ausschlug und der Dame den Rücken kehrte.

* * *

Schon während des Spaziergangs im Garten hatte Lais beim Blick durch die Grenzhecke eine ziemlich unschöne Gestalt wahrgenommen, die sich da draußen im Gelände wegelagernd umhertrieb. Sie kannte den Menschen von Athen her, wo er ihr in den Straßen als ein strolchendes Kuriosum aufgefallen war, ohne daß sie Veranlassung genommen hätte, sich um seine Bekanntschaft zu bemühen; was ja nicht weiter verwunderlich, denn der Glanz sehnt sich nicht nach der Berührung mit der Dürftigkeit. Nachträglich hatte sie sich freilich wegen dieser Unterlassung Vorwürfe gemacht, denn sie wußte wohl, daß in dem unscheinbaren Gesellen eine Persönlichkeit steckte. Jetzt, da sie ihn auf der benachbarten Wiese wiedererblickte, fuhr ihr eine Idee durch den Kopf, der sie sofort nachgegeben hätte, wenn sie nicht durch das Intermezzo mit Praxaspes abgedrängt worden wäre. War der Kerl noch draußen? dann konnte man ihn ja hereinrufen lassen. Aber nein, so schroff wollte sie sich doch an der gesellschaftlichen Form nicht vergehen. Indeß auf eine kleine Exzentrizität konnte man es schon ankommen lassen, zur Erholung von Debatte und Aufregung, auf ein Impromptu abseits, von dem die Gäste zunächst gar nichts zu erfahren brauchten.

Einer Dienerin gab sie die Weisung, den Eingeladenen mitzuteilen, die Herrin fühle sich etwas ermüdet, und hätte sich für kurze Zeit in die inneren Gemächer zurückgezogen; sie hoffe, die kleine Unpäßlichkeit bald zu überwinden und würde sich freuen, bei ihrem Wiedererscheinen die Corona noch vollzählig zu finden.

Rasch entschlüpfte sie aus der Parkumfriedung und hielt Umschau im freien Terrain. Der Mensch war nicht zu sehen, doch verriet ein hingeworfenes Bündel schäbigen Gewandes, daß er nicht weit sein konnte. Und richtig, da kam er schon angeprustet, quer über den Acker, triefend, vom Teich her, wo er ein erquickliches Bad genommen hatte. Lais verbarg sich hinter einer Platane, um dem Anblick der Nacktheit auszuweichen, die übrigens nichts Schreckliches bot, denn der Mann war gut gebaut und hätte sich im Gymnasion sehen lassen können. Jetzt rannte er noch ein paarmal auf und ab, um der Verdunstung in Sonnenluft den Prozess zu überlassen, den der Kulturmensch sonst vom Badelaken erwartet; dann warf sich der Primitive sein Mantelzeug über und rief: Lais, wozu das Versteckspiel? Meine Toilette ist beendet, du kannst ruhig hervorkommen. Sage mir bloß, was willst du überhaupt hier draußen, bei dir ist doch in der Villa Gesellschaft?

»Du hast wirklich viel freie Zeit zum Herumspähen, Diogenes: ich suchte einen Philosophen und finde einen Spion.«

– Das könnte einunddasselbe sein, denn alle Philosophie betreibt Spionage und will das Versteckte aufspüren. Viel Staat ist mit der ganzen Beschäftigung nicht zu machen; sie bleibt Danaiden-Arbeit, man schöpft in löchrige Fässer, oder noch schlimmer, man melkt den Bock und will die Milch mit einem Sieb abfangen. Du, Lais, scheinst mit deinen Hausphilosophen auch nicht recht zufrieden, sonst würdest du nicht auf die Landstraße wandern, um einen vagierenden Zyniker aufzusuchen.

»Mein Drang wäre gerechtfertigt, wenn ich bei dem Zyniker Gedankendinge anträfe, die sich von denen der Schöngeister und Metaphysiker ebenso gründlich unterschieden, wie sein Kostüm von den gepflegten Trachten meiner Umgebung. Ich habe mich, offen gestanden, am parnassischen Quell etwas übernommen und trage Verlangen nach einem ordinären Haustrunk.«

– Es wäre die Frage, ob der bei mir vorhanden und ob er dir schmeckt, wenn ich ihn verzapfe. Es könnte Schlammwasser beigemengt sein. Aber möglich wäre ja alles. Man kann sich auch mit einer Pfütze befreunden, sintemal sie im Wiederschein ein hübscheres Farbenspiel gewährt als ein klares Gewässer. Du bist vielleicht in der Lage eines Tafelgastes, der zuviel Hausmannskost bekommen hat und in dem ein Schlemmergelüst nach Fäulnisgeschmack aufsteigt. So oder so, du könntest bei mir eine Enttäuschung erleben, wenn du bei mir Erkenntnisse erwartest, die dir irgendwie zusagen. Denn mein Denken vagabundiert wie ich selber, und es liegt mir nichts daran, feste Ergebnisse zu gewinnen. Wenn ich für eine Ansicht einen Beweis habe, freue ich mich schon auf den Gegenbeweis der nächsten Minute.

»Du scheinst wenigstens aufrichtig zu sein.«

– Auch das nicht. Höchstens insoweit, als ich dir aufrichtig einräume, daß ich auch dem Schwindel nicht abgeneigt bin. Man nennt mich den »Kyon«, den »Hund«, weil ich eine hündische Lehre vertrete. Dabei läuft Ehrlichkeit und Betrug durcheinander. Du wirst es ja nicht weiterplaudern, wenn ich dir vertraue, daß mein Benehmen und meine Tracht nur Verkleidungen sind zu gewissen Zwecken.

»Das mußt du mir näher erklären, Diogenes.«

– Wozu? Du lebst weit entfernt von meiner Welt, befindest dich wohl dabei, stehst gänzlich jenseits meiner Experimente. Wo es mir gut dünkt, sie auszuüben, verfolgen sie doch eine Werbung. Aber um dich will ich nicht werben.

»In keiner Hinsicht?« fragte sie, und sie konnte es sich nicht versagen, in Tonfall und Blick einen leisen Zug der Gefallsucht einfließen zu lassen; wie, um zu erproben, ob ein Wilder unter allen Umständen wild bleiben könnte.

– In gar keiner Hinsicht, Lais. Dein schrulliger Momentimpuls macht mich nicht irre. Ich vertrage Gespött, ja ich locke es sogar oft genug absichtlich hervor; nämlich das Gespött der Verächtlichen, deren Hohn von mir abläuft wie Wasser von einem Entenrücken. Aber ich mache mich nicht gerne in einem Ernstfalle lächerlich. Wer den Satyr spielt, eignet sich darum noch nicht zum Hansnarren. Stellen wir uns gleich auf gleich: ich erlasse dir meine Versuche, und will auch nicht zur Kurzweil in deine Experimente verwickelt werden.

»Aber Diogenes! wie kommst du nur darauf, mir dergleichen zuzutrauen. Bleiben wir also im Ernstfalle: könnte ich nicht die ehrliche Absicht haben, dich meinem Kreise anzugliedern? Du bist nicht der Erstbeste, du besitzt einen Namen und eine Gefolgschaft. Stelle mich auf die Probe: ich wäre augenblicklich bereit, dich ungeachtet deiner Struppigkeit in meine Gesellschaft einzuführen und dich dort mit der nämlichen Freundlichkeit zu behandeln, wie den Elegantesten meiner Herren. Darin läge doch eine Reverenz für deine Person; und du fändest Gelegenheit, mit Respekt angehört zu werden von Leuten, die dir sonst auf der Straße nur den Schimpftitel »Kyon« nachwerfen.«

– Mit andern Worten, du beharrst auf deinem Vorhaben, eine lächerliche Szene herbeizuführen. Nein, Lais. Wer mich hören will, der muß zu mir kommen. Er wird mich schon finden, auf dem Felde oder in meiner Tonne. Übrigens, meine Tonne ist auch nur eine Verkleidung, eine Fopperei, die ich mir für etliche Wochen erfunden habe, um dem Pöbel ein Stichwort zu geben. Ich besitze auch eine ganz manierliche Lehmhütte, und ich lade dich ein, mich dort zu besuchen, aber ohne Anhang, denn mehr als zwei Menschen haben nicht Platz.

»Schließlich werde ich noch erfahren, daß dein berühmter Wassertrunk aus hohler Hand auch nur ein Schaustück für die Gasse gewesen ist, und daß du in deiner halkyonischen Villa einen guten Tropfen verwahrst.«

– Da bist du auf der rechten Vermutung, Lais. Es lebt kein Mensch, wie er zu leben vorgibt, und wenn ich mir zu Zeiten eine behagliche Pause verstatte, so suche ich mir hierfür keine Zeugen unter den Gaffern. Also wirklich: meine versteckte Hütte hat eine Lichtluke, zu meinem Hausrat gehört ein Spiegelscherben, ein Kamm, ein zweiter ungeflickter Mantel, ein Büchschen mit wohlriechender Salbe, und es kommt vor, daß ich mich zu eigenem Spaß fein mache. Wenn ich mir den Bart gestriegelt habe, sehe ich ganz erträglich aus, und jedenfalls viel gefälliger als der Sokrates. Aber vor der Menge muß ich den Wildverwahrlosten spielen, um nicht in eigener Figur meine Lehre Lügen zu strafen. Die Menge versteht nur, was ihr dick aufgetragen vorgesetzt wird.

»Und du selbst glaubst an deine Lehre vom Segen der absoluten Bedürfnislosigkeit?«

– Ich halte sie für die bequemste unter den Anweisungen der praktischen Philosophie und für die kürzeste Linie zwischen Wunsch und Erfüllung. Sie erfordert keine Vorbereitung, keine Berechnung und verbürgt namentlich die Unabhängigkeit, die sich sonst die Tausende in der Republik zwar einreden, aber nicht besitzen. Nur der Zyniker ist frei, während die andern sich von der Knechtschaft ihrer Sorgen um den Genuß nicht losreißen können. Die Armut kann nicht enttäuscht werden, und Schulden werden niemals einen drücken, dem kein Mensch Kredit gewährt. Wohl aber fällt der Reichtum in Enttäuschungen, denn es liegt in seiner Natur, Schlösser öffnen zu wollen, zu denen er als Schlüssel gar nicht paßt. Vor einer Stunde sah ich einen Mann aus deiner Tür schreiten, den Perser, dem man unermeßliche Schätze nachsagt. Auf seinem Gesicht stand ein Drama mit eindeutigem Text. Denn wenn ein Geldfürst dich besucht, so will er dich, und wenn er mit verkniffenen Zähnen davon geht, so hast du ihn abfallen lassen. Sein Schlüssel hat nicht gepaßt, und der Ärger darüber erdrosselt auf Wochen seine Freude am Reichtum. Morgen wird er vielleicht zur Phryne wandern, und da wird sein Schlüssel passen. Mit welchem Effekt? er wird ihm zugleich mit dem Leibe der Gekauften den Grund für eine verstärkte Wut aufschließen, denn in den Armen der Phryne wird ihm erst zehnfach fühlbar, was du ihm verschlossen hast. Von den Männern, die dich belagern, kommen einzelne ans Freudenziel, die Mehrheit erschöpft sich in Anstrengungen und verzehrendem Neide. Nun gälte es ein Problem: Ist die Lust größer, wenn man es erlangt, sich an dir zu ergötzen, oder der Schmerz, wenn man alle seine Nerven bis zum vergeblichen Ausgang aufgepeitscht hat? Jedenfalls verfährt der Bedürfnislose weiser, der dich erst gar nicht begehrt. Der Zyniker erachtet deine Schönheit wie die des Regenbogens; der Anblick kann ihm nicht entgehen, aber er wird sich nicht die Beine lahm rennen, um der Schönheit ganz nahe zu kommen.

»Lieber Diogenes, in deiner Betrachtung steckt doch ein Fehler, du erklärst dich bedürfnislos in allen Dingen, von denen du weißt oder zu wissen glaubst, daß sie nicht für dich geschaffen sind. Aber du empfindest doch das Bedürfnis, mit solcher Erklärung auf mich Eindruck zu machen, und du befriedigst es. Es gewährt dir Genugtuung, deine Sonderstellung zu betonen, als die eines Mannes, der sich gegen Einflüsse von unbestreitbarer Stärke behauptet. Und das erinnert mich an die billige Äsopische Weisheit vom Fuchs und den sauren Trauben. Es lag dem Fabeldichter fern, seinen Schlaufuchs als ein Muster seelischer Erhabenheit vorzustellen, im Gegenteil, der arme Wicht mußte sich selbst eine Lüge vorflunkern, sein Verzicht war erzwungen, und die Trauben wären ihm wundervoll süß erschienen, wenn er nur an sie herangekonnt hätte. Stelle dir nun, Diogenes, einen unmöglichen Fall vor: die Trauben kämen zum Fuchs herab, würde er sie verschmähen? oder ins Persönliche übersetzt: ich legte es darauf an, dich zu erobern?«

– So würde ich erwidern: der Zyniker scheut die Anstrengung und hat gar keinen Anlaß, sich über Unmöglichkeiten den Kopf zu zerbrechen.

»Wie inkonsequent! Denn das, was du zu vermeiden vorgibst, besorgst du doch fortwährend. Nach deiner eigenen Angabe ist doch die Philosophie eine unmögliche Angelegenheit, eine Danaiden-Arbeit, und du hörst nicht auf zu philosophieren. Ob Philosoph in Flittern, oder Philosoph in Lumpen, das bleibt nebensächlich. Genug, daß du dir am Unmöglichen den Kopf zerbrichst. Und ich sehe nicht ein, inwiefern da die eine Unmöglichkeit vor der andern bevorzugt werden soll.«

– Da hast du mich also gleich bei zwei Fehlern betroffen: ich habe Bedürfnisse, und ich strenge mich an. Gehe noch einen Schritt weiter und stelle fest: ich habe das Bedürfnis nach Inkonsequenz. Einverstanden. Denn da ich mich gegen jede Gewalt auflehne, so muß ich wohl auch gegen die Tyrannei der Folgerichtigkeit ankämpfen. Es gibt keinen schlimmeren Sklavenhalter und Fronvogt als die Konsequenz, und wer dieses Joch willig erträgt, begeht eine Infamie. Alles Elend der Welt rührt davon her, daß der Mensch die Fuchtel der Idee auf sich nimmt und nicht davon abläßt, sich von ihr wundprügeln zu lassen. Zeige mir einer die Idee, die sich konsequent durchführen ließe, deren Durchführung jemand erlebt hat, zeige mir einer die Gesegneten, die in irgend einem Verhältnis stehen zu den Unzählbaren, die von der Idee unterwegs zu Krüppeln geschlagen wurden! Konsequenz, das heißt: mit dem Kopf durch die Wand, und die Wände sind allemal härter als die Köpfe. Gewöhnlich ist es für den Kopf ratsamer, Löcher in die Logik zu stoßen, denn oft genug befreit ein »Widerspruch in sich selbst« aus einer unleidlichen Zwangslage. Wenn ich meine elende Hütte aufgebe und herumvagiere, habe ich gar keine Wohnung und bin obdachlos, das ist korrekt gedacht. Da denke ich lieber inkorrekt: jetzt habe ich eine größere und bequemere Wohnung als der Prasser Alcibiades, der ganze Himmel ist mein Dach. Die Einstellung des Gemütes auf die Lebensstufe wäre korrekt; wer bescheiden lebt, hat auch bescheiden zu empfinden, und die Logik bestätigt das mit der Sprache, die für beide Schlichtheiten ein und dasselbe Wort festsetzt. Aber ich lebe wie ein Hund und bin stolz wie ein Monarch. Plato hat diese Inkonsequenz ganz richtig herausgefunden, als ich mit schmutzigen Schuhen auf seine kostbaren Teppiche kam: Du willst meinen Hochmut zusammentreten, – sagte er – aber womit? mit deinem Hochmut! Ich wurde einmal von Seeräubern ergriffen und auf den Sklavenmarkt geworfen. Als ich von den Bietern gefragt wurde, was ich verstünde, rief ich ihnen zu: Ich verstehe das Befehlen, wer von euch Sklaven hat Lust, einen Herrn zu kaufen? Jeder Mensch hat eine bestimmte Größe, über die er nicht hinauskann, und der Konsequente erkennt dies an. Der Inkonsequente macht sich hundertmal größer, als er ist, und zeigt dabei, daß der logische Begriff der Grenze gar nicht existiert, wenn man nur den Mut hat, sich unlogisch einzuschätzen. Wovon gingen wir denn aus? Ja, recht, du verlangst, ich sollte mir den Kopf über ein Problem zerbrechen: was ich wohl tun würde, wenn du deinen Stolz verleugnetest, um dich mir darzubieten. Vorhin entgegnete ich, daß ich keine Lust hätte, mir darüber einen Gedanken zu machen, jetzt spreche ich wieder anders. Vorhin taxierte ich die Voraussicht für unmöglich, jetzt befreie ich mich von der Konsequenz und taxiere: sie könnte möglich sein. Also verlohnt es sich, darüber nachzudenken.

»Und mit welchem Ergebnis?«

– Du verlangst schon wieder Eindeutigkeit, also einen Entschluß, von dem ich nicht mehr zurückkönnte; nachdem ich dir eben auseinandergesetzt habe, daß es mir aufs äußerste widerstrebt, mich auf irgend etwas festzulegen. Vielleicht geht mein Lumpenstolz so weit, daß ich nicht nur ein Almosen ausschlage, sondern sogar das Königreich deiner Gunst? Ich würde dann noch tausendmal größer sein, als ich mich auf dem Sklavenmarkt machte. Denke, Lais, welch ein Nachruhm! Die Geschichte spräche gar nicht mehr von dem Mann in der Tonne, nein, es hieße: Diogenes, das war der Heros, der Einzige, der einer Lais widerstand!

»Das anhören zu müssen! Ich hätte Lust, dich einfach stehen zu lassen, um nicht weiter ein Problem zu erörtern, das mir so unerwartete Beleidigung einträgt!«

– Wieso, Lais? Weil ich mir vorbehalte, dir zu widerstehen? Aber damit würdest du doch schon recht unverhüllt zugeben, daß du es darauf anlegst, mich zu verführen? Und wenn du das zugibst, wie darfst du dich der Peinlichkeit aussetzen, deine Absicht nicht zu erzwingen? Es sähe deiner Energie nicht ähnlich, durch Flucht ein Gefecht abzubrechen, bevor du alles aufbietest, um es zu gewinnen. Immerhin, es könnte ja auch möglich sein, daß ich mich irrte. Sogar wahrscheinlich. Es machte mir Vergnügen, die Unterhaltung bis auf diesen Punkt zu bringen, aber der Weg war falsch. Du hattest gar keine Absichten auf mich, nicht im allerentferntesten. Du wolltest mich nur auf die Probe stellen, rein zum Spaß, nichts weiter.

Lais war froh, auf so gute Art aus dem Manöver zu kommen und reichte ihm die Hand: »Also dann auf gute Freundschaft. Lasse dich bald wieder in meiner Nähe sehen, es plaudert sich so gut mit dir. Sage doch, Diogenes, du bist hier doch fern von deiner Hütte, wo gedenkst du die Nacht zu verbringen?«

– Ich schwanke noch zwischen deiner Schlafkammer und einer Ackerfurche; wunschweise genommen, natürlich.

»Du Schalk mit deinen losen Redensarten! Man kann dir nichts übel nehmen. Gott Morpheus segne dir deine Ackerfurche.«

– Das wird er bestimmt tun. Ich stehe sehr gut mit Morpheus, ich kann träumen, wovon ich will. Für meine Furche ist gesorgt. Er wird mir die Lais über Nacht in meine Arme legen, und gut geträumt ist halb genossen. Träume du denselben Vorgang, dann fehlt nichts mehr zum ganzen Genuß.

Sie entfernte sich langsam. Wandte sich wiederholt um und winkte ihm zu. Die Schar der Gäste hatte sich stark gelichtet, es waren nur noch drei oder vier gegenwärtig und auch diese entfernten sich bald, denn die Herrin verhielt sich zerstreut, markierte verletzende Einsilbigkeit und traf nicht die geringsten Anstalten, um sie zu längerem Bleiben zu nötigen. Von den Herren war es natürlich längst herausgebracht, auf welches Stegreifspiel sich die Herrin inzwischen eingelassen hatte, und sie waren so ziemlich einer Meinung: dieses Intermezzo war höchst überflüssig; beinahe geschmacklos: auf dem Felde mit dem wüsten Landstreicher Diogenes! Nun wenigstens, im Hauptpunkt war von dem nichts zu befürchten, eine Gefahr für die Nacht war nicht vorhanden. So ein Lumpenkerl konnte ihnen allenfalls in der Unterhaltung Konkurrenz machen, aber nicht darüber hinaus. Das Terrain war gesichert, man konnte getrost den Heimweg antreten. –

Still lag die Villa im Dunkel der späten Abendstunde, das von der wolkenverhüllten Mondsichel nur auf Augenblicke ein dürftiges Licht empfing. Die Dienerschaft hatte sich auf Geheiß der Gebieterin längst zur Ruhe begeben. Lais wandelte durch die Parkwege, geriet an die Grenzlinie und blickte hinaus, vom tiefen Schatten einer Ulme bedeckt. Da stand der Mann aus Sinope, mit verschränkten Armen, unbeweglich. Wie! er lag nicht in der Furche? Er wird schon hineinfinden, lasse er sich nur die Zeit nicht lang werden!

Sie begab sich in ihr Schlafgemach und begann sich langsam zu entkleiden. Löschte das Licht und streckte sich aufs Lager, ohne irgendwelche Anwandlung von Schlafmüdigkeit. Sie erhob sich wieder, entzündete die Lampe abermals und nahm eine Schrift vor, die ihr Skopas als äußerst belehrend und unterhaltend empfohlen hatte. Eine halbe Stunde strengte sie sich mit Lesen an. So etwas Langweiliges, kam ihr vor, hätte sie überhaupt noch nie in Händen gehabt. In die Ecke mit der dummen Scharteke! Wenn sie wenigstens zum Schlaf machen taugte; aber auch das nicht; man ärgerte sich nur über die Zeitverschwendung bei solcher Lektüre.

Sie nahm einen Überwurf um und schritt abermals in den Garten, fest entschlossen, die Grenzhecke und das Gitter zu meiden. Nur nicht wieder an die Ulme! oder höchstens auf einen Augenblick. Sollte man das für denkbar halten? Da steht er noch immer, festgewurzelt, mitten in der Nacht. Sie rief ihn an.

»Diogenes! worauf wartest du da?«

– Auf deinen Ruf.

»Ich rufe dich nicht.«

– Du hast es soeben getan. Und aus deiner Stimme ruft mein Freund Morpheus, der die beiden Schlafhälften vereinigen will.

»Die Tür ist offen. Komm herein. Diogenes!«


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