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Unser jeweiliger Aufenthalt auf den einzelnen Inseln war nicht so kurz, als es nach dieser Darstellung manchem Leser scheinen möchte. Ich habe mich da eines Verfahrens bedient, das auch der Lehrfilm anwendet, wenn etwa das Wachstum einer Pflanze in Zeitverkürzung veranschaulicht wird. Gerade durch Überschlagung der zwischenzeitlichen Glieder soll die Deutlichkeit des Vorgangs gesteigert werden. Sonach verlief unsere Fahrt, chronologisch genommen doch erheblich gedehnter, als dieser Bericht verrät, und mancherlei Einzelheiten, die hier als im Minutenmaß ausgeführt wurden, haben in Wirklichkeit Stunden und Tage beansprucht. Und hieraus erklärt es sich auch, daß eine auf's Praktische gestellte Natur wie unser Amerikaner allmählich gewisse Zeichen von Ungeduld aufsteckte. Er wäre nun schon so lange unterwegs, das Entdeckungsprogramm sei doch im Großen und Ganzen schon vollzogen, und er verspüre Heimweh nach seinen heimischen Geschäften; und wenn er sich auch nicht als Despoten der Expedition aufspielen wolle, so wünsche er doch bald ein Limitum.
Das mußten wir ihm schon bewilligen, und zwar derart, daß wir eine bestimmte Gruppe als die letzten festlegten, auf der wir Aufenthalt nehmen wollten. Ich hatte in meinem Nostradamus eine Stelle gefunden, die lose auf sie anzuspielen schien, und dieser dunkle Hinweis wurde durch gewisse Mitteilungen ergänzt, die uns unterwegs gerüchtweise angeflogen waren. Ich entsann mich einer gelegentlichen Äußerung Forsankars, der von »Inseln Ethischer Kultur« gesprochen hatte; und durch weiteres Kombinieren mit Hinzuziehung unserer Lagekarte ließ sich deren Position auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit im Süden der Tuskarora-Fläche nautisch bestimmen.
Dahin hielten wir also den Kurs, mit dem Versprechen, etwaige kleinere Inseln, an denen wir nunmehr vorbeikämen, nur ganz flüchtig zu berühren. Es sollte uns genügen, wenn wir von diesen Objekten nur soviel erhaschten, als nötig war, um das Gesamtbild der Entdeckung abzurunden. Dementsprechend wird hier auch der Bericht eine abermalige Zusammendrängung erfahren. Nur die äußersten, eindringlichsten Momente will ich herausstellen, mit dem Vorbehalt, den Finalsatz der Expedition auf den Inseln der Ethischen Kultur wiederum etwas breiter auszumalen. –
Die nächste Insel, die wir anliefen, Dubiaxo, liegt klimatisch wie geistig in einer Atmosphäre des Nebels. Ich möchte sie die »Insel der Zweifler« nennen, nach dem Hauptprinzip, das auf ihr Geltung gewonnen hat. Die Bewohner haben sich – wie schon manche Philosophen seit Pyrrho – in den Gedanken versponnen, daß der Mensch überhaupt in keinem Betracht zu einer halbwegs sicheren Einsicht gelangen könne. Die Natur, so meinen sie, und besonders unsere Organe und Verstandesapparate befinden sich in einem unaufhörlichen Wechselspiel des Täuschens und Getäuschtwerdens, alles was uns als Denkprozeß, als Empfindungsvorgang, als Erlebnis erscheint, ist nur Halluzination. Und aus diesem Prinzip ziehen sie logisch ziemlich einwandfrei die Folgerung, daß es im Grunde recht gleichgültig wäre, was der Mensch beginne, wie er plane, arbeite, sein Leben gestalte, da er ja nie wissen könne, ob er überhaupt ein Leben absolviere.
Es verlohnt sich nicht, ihnen mit Beweisen beizukommen, denn sie halten ihre Argumente für unüberwindlich, und so phlegmatisch sie auch diese Argumente vortragen, so merkt man doch, daß es ganz unmöglich ist, sie zu entwurzeln. Freilich könnte man ihnen zurufen: wenn ihr schon ganz waschechte Skeptiker sein wollt, so bezweifelt doch auch euren Zweifel! Wo nichts Denkbares gilt, kann doch auch euer Argument der absoluten Ungültigkeit nichts gelten!
Sie haben dagegen nur ein trübes Lächeln. Diesen Fehlerzirkel des Denkens, so murmeln sie, haben wir in uns selbst schon tausendmal abgehaspelt. Schließlich muß man an irgendeinem Punkte dieses Zirkels haltmachen, sonst bliebe man ganz ohne Prinzip, und an irgendein Prinzip muß man sich doch klammern. Das ist ein Zwang, dem wir nicht ausweichen können, also sind wir Skeptiker und leben skeptisch.
»Also ihr gebt wenigstens zu, daß ihr lebt. Das ist schon ein Zugeständnis.«
– Wenn euch an diesem Scheingeständnis etwas liegt, so soll es uns scheinbar freuen, in dem Zustand, der uns augenblicklich wie eine reale Existenz vorkommt. Ob dieses wirklich der Fall ist, das läßt sich niemals ermitteln, denn zwischen Wachen und Träumen ist ein zuverlässiges Kriterium niemals auffindbar. Sie, Herr, sind fest überzeugt, daß Sie sich auf einer Expedition befinden, und daß Sie soeben die seltsame Insel der Zweifler entdeckt haben. Hätten Sie sich aus ihrer Heimat nie herausgerührt und die ganze Fahrt nur geträumt, so wären Sie davon genau ebenso überzeugt, so lange der Traum anhält.
»Aber das Moment des Erwachens gibt die wirkliche Sicherheit. Ich habe in der verflossenen Nacht geträumt, ich befände mich in Berlin. Als ich aufwachte, erkannte ich meinen Irrtum mit absoluter Helligkeit. Das Schiff, meine Gefährten, unsere Matrosen, der Ozean und der Anblick ihrer Insel gab mir im Augenblick die volle Evidenz des wahren Erlebens.«
– Nur die subjektive Evidenz, die auch alle Täuschungen begleitet. Sie können in der nächsten Minute abermals aufwachen und eine ganz neue, völlig ungeahnte Evidenz erleben. Sie können sich dann auf einem fernen Stern der Milchstraße vorfinden, oder in der Arche Noahs, oder in einem außermenschlichen Zustand Ihrer Körperlichkeit. Niemals gelangen Sie an eine objektive Instanz. Der Stuhl des entscheidenden Richters ist unbesetzt, und Ihre eigene Persönlichkeit zerfällt immer in zwei Parteien, von denen nur die eine gegenwärtig ist, während die Gründe der abwesenden gar nicht gehört werden. Sobald Sie aufwachen oder einschlafen, tritt das Gegenspiel ein: die andere Partei deklamiert, und die erste ist verschwunden. Es wird also immer nur in die Luft hineinplädiert, ohne daß die leiseste Möglichkeit vorhanden wäre, ein Urteil zu erzielen.
»Schließlich bleibt immer noch die Sicherheit des Gefühls. Man kneift sich mit aller Gewalt in den Arm, man spürt den Schmerz und daran erkennt man, daß der Traum aufgehört hat.«
– Und darauf wollen Sie sich verlassen? Das ist, mit Verlaub zu sagen, kindisch und einfältig. Alle Sinne führen irre, und das Gefühl mindestens so stark, wie Auge und Ohr. Nehmen Sie eine Flocke von fester Kohlensäure. Sie ist so eisig kalt, daß Quecksilber darauf im Augenblick gefriert. Aber wenn Sie sie mit dem Finger berühren, erklären Sie sie für kochend heiß, und der Schmerz objektiviert sich in einer Brandblase. Wenn einem das ganze Bein abgenommen ist, spürt man immer noch die Hühneraugen am nicht vorhandenen Fuß; der Verstümmelte weiß, und das Auge bestätigt, daß das Glied fehlt, sein Gefühl behauptet trotzdem das Gegenteil. Von den übrigen zahllosen Sinnestäuschungen ganz zu schweigen. Selbst der gelehrteste Mensch steht den Erscheinungen gegenüber, wie das Kind, das nach dem Mond greift. Ja, der ganze Inhalt Ihrer europäischen Wissenschaft ist doch gar nichts anderes als der fortgesetzte und auf ewig unerfüllbare Versuch, den Menschen aus diesen Täuschungen herauszuwickeln, wobei immer nur ein alter Sinnentrug durch zehn neue ersetzt wird. Wir auf der Insel Dubiaxo verfahren nur konsequent, indem wir ein für allemal den Zweifel als den alleinigen Souverän des Denkens erklären.
»Und wie verhalten Sie sich, wenn einmal alle Sinne aller Beteiligten über eine Tatsache genau dasselbe melden? Da haben Sie doch eine unumstößliche Kontrolle?«
– Nicht im Geringsten. Denn das, was Sie eben sagen, kommt überhaupt niemals vor. Die Sinne widersprechen einander schnurstraks und dauernd, im Größten wie im Kleinsten. Ich sehe Sie, mein Herr, was heißt das? Es ist die Umschreibung dafür, daß ich von Ihnen ein winzig kleines Bildchen auf der Netzfläche meines Auges habe. Und dieses Miniaturbildchen steht verkehrt, mit dem Kopf nach unten. Schon haben Sie den Krieg zwischen Gesicht und Gefühl, denn der Tastsinn behauptet ganz etwas anderes. Er führt das Auge ad absurdum, er will mit festen Maßstäben messen und verfällt nun seinerseits ins Absurde, denn um aus den Maßstäben etwas zu erfahren, müssen wir wieder das Auge heranholen, dessen verschrumpfendes Zeugnis wir soeben verworfen haben. Also unlöslicher Wirrwarr schon im ersten Anlauf aller Betrachtung.
»Aus dem die Physik und Mathematik den Ausweg zu finden hat.«
– Schöne Auswege haben wir da erlebt. Die Physik soll eine mathematische Angelegenheit sein. Ei, wie pompös! Sie hat sich mit mathematischer Unfehlbarkeit aufgedonnert, um schließlich herauszubekommen, daß für jeden Punkt im Universum eine andere Geometrie gilt. Wo aber unendlich viele Herren mit unendlich verschiedenen Verordnungen Gewalt haben, da regiert selbstverständlich gar keiner, das besagt: die Geometrie ist ein Phantom, sie existiert überhaupt nicht als reale Brauchbarkeit. Selbst die Exakten geben heut zu, daß die mechanisch-mathematische Weltanschauung in allen Fugen kracht und nahe daran ist, sich in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Und nun gar in aller Psychologie, in der Erkenntniskritik, wo sie Wunder versprach, was hat die Mathematik geleistet? Ein einziges fadenscheiniges Gesetzelchen, einen papierenen Paragraphen, eine Lächerlichkeit!Der Sprecher meinte offenbar das sogenannte Weber-Fechnersche Gesetz, den ersten und allerdings unzureichenden Ansatz zu einer mathematischen Ausgestaltung der Psychophysik Nun ist aber – nach Ihrem Kant – in jeder Lehre so viel Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin anzutreffen. Und da in allen Geisteslehren nicht eine Spur von zuverlässiger Mathematik steckt, so gibt es gar keine Geisteswissenschaft, und nichts bleibt übrig als die absolute Skepsis an allem, was gedacht wird. Der mathematische Siegesrausch ist verflogen und hat sich in einen kontramathematischen Katzenjammer verwandelt . . .
»Sie wollen sagen, die Menschheit hat ein paar Jahrtausende lang regulär mathematisch geträumt und findet sich beim Erwachen in einer irregulären, unmathematisch konstruierten Welt?«
– Beim Erwachen? Wieso denn? Auch davon wissen wir ja nichts. Es ist vielleicht nur eine andere Traumphase, die Ihnen jetzt, wo Sie sich in unseren Verdacht einzufühlen anfangen, als Wachzustand erscheint.
»Ihnen aber ebenfalls. Sie sind augenblicklich davon überzeugt, daß Sie mir etwas erklären. Was haben Sie zuvor getan und was werden Sie nach unserer Abreise tun?«
– Ich habe, ein Amt, das heißt, ich bin in der Illusion befangen, ein Amt zu verwalten. Äußerlich betrachtet leben wir ja, und Ihnen selbst mag die Wirtschaft auf dieser Insel nicht sehr viel anders vorkommen, als Ihre eigenen imaginierten Lebensformen. Also was mein Amt betrifft, so bin ich hier »Skeptophylax«.
»Das würde ungefähr dem »Nomophylax« der alten griechischen Freistaaten entsprechen, also dem Gesetzeshüter, der obrigkeitlich über die Beobachtung der Normen zu wachen hat.«
– Daher der Name. Ich sorge dafür, daß das Prinzip des Landes, die Skepsis, der Verdacht, der Argwohn, durchweg aufrecht erhalten wird; angefangen von den Schulen, deren Lehrplan mir unterstellt ist. Die Knaben, Jünglinge, Mädchen und Jungfrauen lernen ihre Fächer, erhalten ihren Unterricht in Sprache, Rechnen, Geographie, Geschichte, und so weiter, wie vermutlich auch anderswo. Nur daß der Lehrer in jeder Lektion ihnen unablässig das größte Mißtrauen gegen den Lehrgegenstand einträufelt. Sie erfahren zum Beispiel, daß die Erde sich um die Sonne dreht, vorausgesetzt, daß man provisorisch die Existenz einer Erde und einer Sonne annehmen will. Der Lehrer erläutert dazu, daß auch die gegenteilige Behauptung – Drehung der Sonne um die Erde – ihre Berechtigung hat. Ich selbst kontrolliere oft den Unterricht und verschärfe die Zweifel: es wäre sehr wohl möglich, daß überhaupt gar keine Drehung stattfände und daß alles stillstünde . . .
»Herr Skeptophylax, das geht zu weit. Sie übertreiben die Skepsis. Gewisse Dinge bleiben doch dem Verstand erkennbar.«
– Nicht ein einziges. Muß ich Sie an Ihre eigenen Berühmtheiten erinnern? Parmenides hat jede Bewegung geleugnet. Wir folgern das nur weiter aus und halten darauf, daß in den jungen Seelen der Zweifel aufsteigt; auch an der Sonne und an deren Helligkeit. Anaxagoras lehrte, daß der Schnee schwarz sei. Wir tragen das den jungen Leuten vor mit dem skeptischen Anhang »vielleicht«. Wir können es nicht wissen. Möglicherweise ist der Schnee schwarz und die Sonne dunkel.
»Bei dieser Erziehung wird es Ihnen schwer fallen, irgendwelche Definitionen aufzustellen.«
– Brauchen wir auch nicht. Es gibt keine Definitionen, sondern nur Infinitionen. Sie unterscheiden zum Beispiel mit anmaßender Sicherheit zoologische Arten. Die Natur weiß hiervon nichts, und wenn der Mensch Unterscheidungsstriche einträgt, so betrügt er sich selbst. In der Südsee gibt es Inseln, deren Bewohner vor anderthalb Jahrhunderten nur Vögel und Fische kannten. Danach also hatten sie ihre Definitionen. Als fremde Fahrer zum erstenmal Ziegen heranbrachten, erklärten die Insulaner: das sind bestimmt keine Fische; folglich müssen die Ziegen zu den Vögeln gerechnet werden. Einfältige Leute? Aber genau so einfältig verfahren Sie, wenn Sie irgendwelche Abgrenzung für möglich halten. Dem Skeptiker fließt alles ineinander, die Arten, die Individuen, die Erscheinungen, das Ich und das Nicht-Ich.
»Damit sind Sie ja nahe beim Solipsismus?«
– Nahe? Nein. Wir sind längst darüber hinaus. Der Solipsist glaubt nur an sein Innenbewußtsein und hält es für unmöglich, von diesem auf die Dinge und auf andere Menschen zu schließen. Wir glauben auch nicht an das Innen-Ich. Was da innen vorgeht, und was ihr andern nach Verstand, Instinkt, Vernunft, Empfindung, Wort, Begriff und griechisch nach Nous, Dianoia, Logos, Idea auseinanderlegt, das schwebt für uns in einem gestaltlosen Nebelchaos, und wir geben uns gar keine Mühe, da irgendwelche Sichtung zu veranstalten. Und dieser Verzicht ist die beste Vorschulung für das Weitere, für den jungen Menschen, der mit Zweifel gesättigt aus der Schule ins Leben tritt. Ich muß mich schon so ausdrücken, in der Ihnen geläufigen Redeweise, da wir uns sonst ganz und gar nicht verständigen könnten. Also er handelt sozusagen, er arbeitet, schafft sich eine Existenz und pflanzt sich fort. Aber der anerzogene Denk- und Willensverzicht bleibt ihm treu. Er quält sich nicht damit, weite Pläne zu bauen, lange Veranstaltungen zu treffen und sich in einer Welt der Zwecklosigkeiten auf umständliche Ermittelung des Zweckhaften einzulassen. Ihm genügt das Nächstliegende, zumal auch in diesem die Tat beständig von der Täuschung begleitet wird. Ein Beispiel: Wir hatten vor zwei Jahren ein Schadenfeuer in einem Gäßchen der Stadt. Was tut man in einem solchen Fall? Man löscht mit Wasser, weil man eben von der alten eingewurzelten Übung nicht los kann. Aber die Skepsis meldet sich auch hier mit der Frage: hat dieses Löschen einen Sinn? Wäre es nicht vielleicht zweckhafter, mit Spiritus, mit Öl oder mit Sauerstoff zu spritzen?
»Es ist anzunehmen, daß Sie diesem törichten Zweifel kein Gehör gaben, sondern bei der stets bewährten Wassermethode verblieben.«
– Ja, das taten wir aus alter Gewohnheit, Aber eines der abgelöschten Häuser war, wie sich später herausstellte, ein Seuchenherd. Die Pestilenz griff um sich, und in der Stadt starb der vierte Teil der Einwohnerschaft. Hätten wir damals mit Spiritus gespritzt, so verbrannte das Seuchenhaus mit allen Infektionskeimen in wenigen Minuten, und das wäre sehr viel zweckvoller gewesen. Da sind wir wieder bei den Definitionen: man sagt Schadenfeuer, wo man Nutzfeuer sagen sollte. Und so auch umgekehrt. Sie in Europa haben in einer Welt von gescheiten Nutzvorrichtungen gelebt und Sie haben den gräßlichsten Schaden davon gehabt. Ihnen fehlen ein paar Millionen Skeptiker. Jetzt blicken Sie nach rückwärts und glauben, die Fehler zu entdecken. Aber Ihr ganzes System war ein einziger großer Fehler, und wird ein Fehler bleiben, wenn Sie bei der vermeintlichen Zweckmäßigkeit und bei weitausschauenden Plänen verharren. Weil sämtliche Richtigkeiten von heute lauter Falschheiten von morgen sind. Wir auf der Insel Dubioxa sind wenigstens von vornherein mit den Enttäuschungen befreundet, und diese fallen um so geringer aus, je weniger wir Veranstaltungen treffen, um ihnen zu entgehen.
»Ich schließe aus alledem, daß Sie eine Art Schattendasein führen. Und die Menschen sehen auch danach aus. Ein eigentlicher Lebensdrang, ein turgor vitalis, wird in ihrem Äußeren nicht ersichtlich. Eine verschwommene Melancholie liegt über ihnen, etwas unbestimmt Vernebeltes . . .«
– Sie brauchen uns deswegen nicht zu bedauern. Ein Schatten lebt auf seine Weise ganz erträglich. Er stößt sich nirgends, er gleitet um alle Ecken, Kanten und Vorsprünge herum, an denen der Vollkörper Hindernisse findet und sich wundschlägt. Da ist ein Graben, eine Schlucht, ein Abgrund; Sie als Person müssen ausweichen, wenn Sie nicht tötlichen Absturz erleiden wollen, der Schatten fliegt glatt hinüber. Weil der Schatten ein zweidimensionales Gebilde ist, das von der Körperwelt nur die geometrischen Bedingungen, aber nicht die praktischen empfängt. Ein Schattendasein ist somit weit unabhängiger und ideeller als ein körperhaftes, und wenn es dem zum System erhobenen Zweifel gelingt, uns den Schatten anzunähern, so müßten Sie uns darum beneiden. Allerdings sind wir noch nicht ganz soweit, das an sich vorzügliche Prinzip hat sich noch nicht vollkommen ausgewirkt. Wir zollen der Körperlichkeit noch manchen Tribut, so durch Schmerzempfindung. Ich zum Beispiel werde sehr von Gallensteinen geplagt, und habe gerade in diesem Augenblick einen bösen Anfall.
Unser Doktor Wehner machte sich anheischig, ihm zu helfen, eventuell durch einen operativen Eingriff. Aber davon wollte der Mann nichts wissen: Skepsis ist besser als Chirurgie. Auch beim ärgsten Schmerz verläßt mich nie die Zweifelsfrage: ist es denn wirklich nicht bloß eine geträumte Qual? Ich könnte ja im nächsten Moment zu einer gänzlich schmerzfreien Existenz erwachen, etwa als ein Schatten, dem die zweidimensionalen Gallensteine nicht die geringste Beschwerde verursachen.
Es fiel mir schwer, diese Möglichkeit mitzudenken. Allein ich mußte mir gestehen, daß eine derart ins Extreme gesteigerte Skepsis ihrem Inhaber tatsächlich einen gewissen Vorteil zu gewähren vermöchte. Wie war es denn mit den klassischen Skeptikern, mit Pyrrhon, Karneades, Ainesidemos, Sextus Empirikus? Man muß sie wohl als Vorläufer des auf der Insel herrschenden Prinzipes gelten lassen. Und wahrscheinlich operierten sie alle mit der Vermutung, daß im Höchstgrad des Zweifels eine Wohltat verborgen liegen könnte.
Auf den Vorstufen eines Hauses bemerkten wir ein paar kleine Mädchen, die mit Puppen spielten. Diese noch lange nicht schulpflichtigen Kinder zweifelten nicht. Sie wußten ganz genau, daß ihre Puppen lebendige Geschöpfe waren. Es gab also doch noch einleuchtende, unbedingte Wahrheiten in dieser vom Mißtrauen zernagten Gemeinschaft, die vom Wissen nichts wissen wollte.
* * *
Nicht weit von Dubioxa befinden sich etliche Inseln, die wir aus dem bereits erwähnten Grunde der Zeitbedrängnis nur von fernher mit den Blicken begrüßen durften. Sie wären uns gänzlich verschlossen geblieben, hätte uns nicht unser Gewährsmann von der Zweifel-Insel einige Angaben zufließen lassen. Es muß späteren Expeditionen vorbehalten bleiben festzustellen, ob diese Mitteilungen den Tatsachen entsprechen, oder ob gerade hier das Prinzip des Zweifels ein neues Feld der Betätigung findet.
Die Bewohner der Insel Tivarela, so erfuhren wir, sind seit langer Zeit zur Vorstellung eines besonderen Weltbildes erzogen worden. Während wir in Europa bis in dieses Jahrhundert auf die Offenbarungen der Relativitätstheorie warten mußten, besteht diese Lehre dort bereits seit vierzig Dezennien. Ein großer ortsansässiger Forscher Namens Olhazen, ein Zeit- und Geistesgenosse des Kopernikus, war ihr Begründer. Und so kam es, daß die Insulaner fast gleichzeitig das kopernikanische und das relativistische System in sich aufnahmen. Hieraus ist zu folgern, daß sie in geistiger Hinsicht einen enormen Vorsprung vor uns besitzen. Während wir uns noch anstrengen, der gedanklichen Schwierigkeiten Herr zu werden, ist ihnen die Relativität aller Erscheinungen längst in Fleisch und Blut übergegangen. Wie eine Selbstverständlichkeit hat sie von ihnen Besitz ergriffen, und es erscheint sonach angezeigt, das Gebiet nach dem herrschenden Prinzip als die Relativitäts-Insel zu bezeichnen.
Die Leute kommen sozusagen mit ererbten relativen Vorstellungen zur Welt. Wenn ein Kind einen Kreisel treibt, so fühlt es bereits die Relativität der Rotation. Es macht ihm Spaß, den Kreisel als stillstehend und das Weltganze um das Spielzeug rotierend zu denken. Oder es läßt einen Drachen steigen; sobald es ihn heranzieht, sagt es sich mit innerer Genugtuung: diese Erscheinung bliebe ganz unverändert, wenn der Drache hoch in der Luft feststünde und wenn die Erde mit allem was darauf an dem Faden heraufgezogen würde.
Ein derartig organisiertes Bewußtsein verflüssigt natürlich auch die Ausdrucksform und verwandelt die starre Rede in eine Relativsprache. Die Insulaner sagen mit derselben Leichtigkeit: »dieser Wagen fährt auf der Landstraße« und die »Landstraße fährt entgegengesetzt unter diesem Wagen«. Ganz eingebürgert sind Redewendungen wie: »Der Brei geht um die Katze« – »der Kork wird entflascht« – »das Haar fährt durch den Kamm« – »man rupft die Gans aus den Federn« – »der Park promeniert vorüber« – »das Siegel wird entbrieft« – »das Laub bebäumt sich« – »man schneidet sich die Füße von den Hühneraugen« – was alles übrigens so genau ist wie die Ansage: »die Sonne geht im Osten auf«.
In der relativen Welt dieser Insel führen Raum und Zeit nur noch das Scheindasein, zu dem sie die neue Erkenntnisphysik verurteilt hat. Das heißt, jeder feststehende Maßstab ist verschwunden, und die Dimension der Zeit ist mit jeder Raumdimension vertauschbar. Und diese Einsicht hat sich dort längst in der Praxis des täglichen Lebens durchgesetzt. Auf die Frage: wie spät ist es? kann man die Antwort hören: sechs Meter; wie groß ist dein Schwesterchen? zwei Sekunden. In den Gedankenkreisen der Tivarelaner hat der Begriff der Gleichzeitigkeit seine Prägnanz verloren, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung verfließen die Grenzlinien. Sie führen keine Geburts- noch Sterberegister, weil diese an zeitliche Bestimmungen gebunden sind, deren Wesenlosigkeit sie erkannt haben. In ihrem Unterricht erscheint die Weltgeschichte relativiert und auf den Grundton »Vielleicht« abgestimmt, der ihre Verwandtschaft mit den Skeptikern der Nachbarinsel verrät: Es ist »möglich«, daß Cäsar und Cleopatra zur gleichen Zeit gelebt haben; daß die Hinrichtung der Maria Stuart und ihr Tod auf denselben Tag fielen; es ist auch möglich, daß Christus im Jahre 7 nach Christi Geburt geboren wurde. Vom Standpunkt des Beurteilers hängt es ab, ob er die Schlacht von Marathon als die Ursache oder als die Wirkung des Griechensieges über die Perser bezeichnen will. Und wenn »Entdeckung« definiert wird als das Gewahrwerden eines bis dahin Nichtbekannten, so läßt sich behaupten: die Amerikaner haben den Kolumbus entdeckt.
Diesen Anschauungen gemäß finden sich auf der Insel Einrichtungen und Gepflogenheiten, in die sich unsereiner kaum hineinzudenken vermag. Behörden und Ehen gelten als relativ, die Ämter und die Gattinnen sind sonach – wie die Dimensionen – vertauschbar. Wenn ich meinem Gewährsmann trauen darf, so vollzieht sich dies in Formen, die zwar sehr grotesk auftreten, aber doch nicht aller Möglichkeit widerstreiten. Es wird zum Beispiel ein Schulmann plötzlich Polizeiminister, während der bisherige Polizeipräfekt zur Post, und der Oberpostmeister zur Schule versetzt wird. Wir dürfen dagegen nicht einwenden, daß solches Hinundher doch üble Folgen haben könnte. Denn die Begriffstrennung nach Böse und Gut wird ja nicht anerkannt, und zudem hat sich hier gezeigt, daß man ein Amt vorzüglich verwalten kann, ohne von dessen Wesen und Obliegenheiten die geringste Ahnung zu besitzen. Ja, viele Insulaner behaupten sogar, daß sich eine wahre Objektivität in staatlichen Geschäften nur bei solchen Beamten einstellt, die nicht eine Silbe von dem verstehen, was sie verfügen und unterschreiben. Was nun die Beziehung von Gatten zu Gattinnen betrifft, so weisen die Leute darauf hin, daß auch in den Bereichen des absoluten Denkens, also in den alten Kontinenten, relative Ehen vorkommen sollen; sie hätten also nur ausgebaut und zum Prinzip verallgemeinert, was sich anderswo höchstens in Andeutungen hervorwagt. Unnötig, besonders zu betonen, daß hier eine falsche Information mitspricht. Ich weiß wohl, daß sich Perikles einmal auf ein verändertes Bezugsystem einrichtete, als er seine legitime Gemahlin mit Aspasia vertauschte; ich muß aber daran festhalten, daß sich ein solcher oder ähnlicher Fall seitdem in Europa nicht wiederholt hat.
Einige Besonderheiten verdienen Erwähnung. Nietzsche hat die Frage aufgeworfen und als diskutierfähig bezeichnet, ob die Zeit »umkehrbar« sei; ob man retrospektiv empfinden könne. Die Bewohner dieser Insel suchen dies dadurch zu ermitteln, daß sie gewisse Personen zu einem Leben mit umgedrehter Zeit anhalten; also wie in einem verkehrt abgerollten Film. Einigen Individuen soll dies schon bis zu einem gewissen Grade und in engen Zeitspannen geglückt sein. Unterstützt wird diese Methode durch äußerst schnell bewegte Karussells, da nach der Relativitätstheorie eine rasche Rotation verjüngt. Der Technik und dem Willen der Versuchspersonen wird dabei natürlich das Äußerste zugemutet. Sollte auf Tivarela das Problem des relativen Daseins mit verkehrtem Ablauf gelöst werden, so wären die Ergebnisse vorerst ganz unvorstellbar. Denn bei der sukzessiven Verjüngung gelangt man doch schließlich an den kritischen Punkt des Geborenwerdens, und hier versagt unsere Phantasie. Aber die Ultrarelativisten der Insel behaupten, daß sie die Aufgabe dereinst auch über diesen schwierigen Punkt hinaus bewältigen werden. Und sie fügen zu Ehren des Prinzips hinzu, daß gerade hierin der wahre Lebenszweck der Menschen begründet liege. Wir fahren im Dasein, so sagen sie, beständig gegen den Wind, und aus dieser Anstrengung entspringen all die schauderhaften Symptome der Überalterung. Überwältigen wir die Zeitgebundenheit, machen wir uns die Zeit tributär, die uns so lange vorwärts gepeitscht hat! Es muß gelingen, den Kurs radikal umzustellen, mit dem Winde zu segeln, und dadurch zur Jugend des Menschentums überhaupt zu gelangen. Alles ist relativ, und nur das Relative ist absolut. Das will sagen, daß wir am Ende aller Dinge doch auf etwas Absolutes hinsteuern, auf das absolute Glück einer konstanten Verjüngung, die einzig und allein durch unser Prinzip der Relativität erzwungen werden kann!
* * *
Wenn man sich mit leidlich gebildeten aber nicht gerade erleuchteten Menschen über hochwissenschaftliche Leistungen unterhält, so stößt man oft genug an die Frage: wozu dient das? was kann man im Leben damit anfangen? Und man gerät dann wirklich in Verlegenheit, weil jene Leistungen eben nur sich selbst bezwecken. Hier zum erstenmal auf den entlegenen Inseln zeigte es sich, daß rein theoretische Dinge auch einer lebendigen Gestaltung fähig sein können. Und so traf uns auch die Kunde nicht ganz unvorbereitet, daß in der Nähe von Tivarela sich ein anderes meerumspültes Gebiet befände, dessen Kultur sich auf ein ursprünglich abstraktes Prinzip gründe.
Es handelt sich um die Insel Obalsa, deren Bevölkerung ein, wie ich glaube, recht lohnendes Studienobjekt darbietet. Denn sie verwirklicht bis zu ansehnlichem Grade ein Prinzip, das im neuzeitlichen Denken zu immer stärkerer Geltung gelangt. Ich spreche von der »Philosophie des Als Ob«.
Wenn wir von ihr reden, so denken wir zunächst an den berühmten deutschen Weltweisen Hans Vaihinger, der sie zuerst systematisch entwickelt und sie zugleich zu einem Instrument für künftige Denkforschung geschärft hat. Aber gerade er hat auch in Vorläufern, zumal in Kant, gewisse Urquellen des Als Ob nachgewiesen, und ich nehme an, daß auf der genannten Insel noch andere, uns unbekannte Quellen gerauscht haben mögen.
Der an sich einfache Grundgedanke zeigt uns das Gesicht eines gedanklichen Abenteuers: der denkende Mensch erreicht seine Wahrheiten nur auf Wegen, die mit lauter Unwahrheiten gepflastert sind. Auf diesen Unwahrheiten spazieren wir dahin, »Als Ob« sie selbst Wahrheiten wären. Wir schreiten auf Unmöglichkeiten, um bei Gewißheiten zu landen. Man denke an den Reiter, der über die dünne Eisdecke des gefrorenen Bodensees dahintrabt. Er müßte logischer- und dynamischerweise einbrechen und ertrinken. Trotzdem erreicht er das sichere Ufer. Ohne bildlichen Vergleich: in allen Wissenschaften werden bewußtfalsche Begriffe und Urteile angewendet, Fiktionen, die als solche gänzlich unhaltbar sind, die sich aber in aller Falschheit als vortreffliche Werkzeuge zur Wahrheitsfindung erweisen. In der Physik, Chemie, Mechanik, Mathematik, aber auch in der Ethik und Religionsphilosophie wimmelt es von solchen Fiktionen, deren wir uns bedienen, »Als Ob« sie richtig wären. Sie sind sozusagen die Falschschlüssel oder Dietriche, die wir probieren müssen, um die Geheimfächer der Natur zu öffnen und die darin verborgenen Echtheiten herauszuholen.
Auf der Insel Obalsa hat dieses Prinzip blühendes Leben angesetzt. Die Staatsform war vordem konstitutionell-monarchisch, und der König hatte sich so zu benehmen, Als Ob er sich durch seinen Eid ganz streng an die Verfassung gebunden fühlte. Bei einer bestimmten Gelegenheit wurde der Monarch entthront, und seine Getreuesten schwenkten von ihm ab, Als Ob sie niemals in ihrem Blut einen Tropfen monarchischer Überzeugung verspürt hätten. Diese Getreuen bekannten sich nunmehr zur republikanischen Staatsform, und man glaubte an ihr Bekenntnis, Als Ob sie niemals vorher das Entgegengesetzte beschworen hätten.
Die Diplomatie und das Rechtswesen sind auf Treu und Glauben gestützt, haben unbedingte Ehrlichkeit und Offenheit zur Voraussetzung. Man fertigt Aktenstücke mit einem sittlichen Ernst, Als Ob man fest entschlossen wäre, jede Zeile in der Ausübung zu bewahrheiten, man unterschreibt sogar unmögliche Verträge, Als Ob man an deren Möglichkeit glaubte. Jedes Gesetz erhält eine klare Fassung und lautet so präzis, Als Ob es nur einer Auslegung fähig wäre und nicht etwa auch einer anderen, die seinen Sinn ins Gegenteil verkehrt.
Im Staatsetat der Insel Obalsa figurieren Summen als Aktivposten, die arithmetisch so sicher auftreten, Als Ob sie vorhanden wären. Der Kämmerer verwaltet den Schatz und er verknüpft dabei Finanzkenntnis, Umsicht und Gewissenhaftigkeit derart, Als Ob er in seinem Schatze wirkliches Geld vermutete.
Bezüglich der Unterrichts- und Religionsanstalten möge eine Erinnerung das Verständnis erleichtern. Wir besitzen alte Dokumente, die uns darüber belehren, daß schon in grauer Vorzeit die bewußtfalsche Fiktion förderlich gehandhabt wurde. Ich zitiere aus den Bekenntnissen eines Isis-Priesters zu Memphis: Man bekümmert sich nicht darum, uns zu überzeugen, daß Isis und Osiris, Horus, Serapis und Typhon wirklich Götter sind; aber man gewöhnt uns an, ihnen, ihren Bildern und Allem was nur die mindeste Beziehung auf ihren Dienst hat, so zu begegnen, »Als Ob« sie Götter wären . . . Wer weiß besser als wir Priester, daß dieser Apis, ungeachtet seines weißen Dreiecks auf der Stirn ebensosehr ein Stier als irgendein anderer Stier, daß der Ibis eine Art von Störchen, und daß es lächerlich ist, einer Katze wie einer Göttin zu begegnen oder vor einer Meerzwiebel sich demütig im Staube zu wälzen? . . .Von den vergöttlichten Meerzwiebeln berichtet u. a. Juvenal. Wenn es also Betrug ist, Wahrheiten vor dem Pöbel zu bekennen, deren Glanz er nicht ertragen könnte, so ist es ein heilsamer, ein notwendiger Betrug; und eben dadurch hört die Sache auf, diesen Namen zu verdienen. Jenes Als Ob wird gerechtfertigt, und es macht keinen Unterschied, ob die Augurn nach Memphis, nach Rom oder nach Obalsa versetzt werden.
Ihre professoralen Gefährten von den Wissenschaftskanzeln ähneln ihnen auffallend. Sie halten Vorlesungen in allen erdenklichen Disziplinen und dozieren so, als ob sie das wüßten, was sie dozieren. Und eben dadurch offenbaren sie ihr Ingenium, denn wie schon Montesquieu hervorgehoben hat: man braucht viel Geist, um das zu lehren, was man nicht weiß.
Es wird auf der Insel sehr viel geheiratet und geschieden. Und beinahe in jedem Fall von Eheschließung und Ehetrennung absolviert der Mann zwei fiktive Erlebnisse; da er zuerst der Vorspiegelung unterliegt, er könne nicht ohne, und später, er könne nur ohne diese Frau existieren. Genau so, Als Ob anfänglich nur diese eine in Betracht gekommen wäre, und nachher, Als Ob gerade diese eine nicht hätte in Betracht kommen dürfen. Ist ein Hausstand begründet, dann gibt das Paar, so lange die Ehe vorhält, Gesellschaften, Als Ob nicht ein Dasein zu zweien, sondern nur zu sehr vielen einen rechten Sinn hätte. Die eingeladenen Gäste reden über Tische alle gleichzeitig, Als Ob dies das beste Mittel wäre, sich zu verständigen und angenehm zu unterhalten. Sobald eine Gesellschaft bis tief in die Nacht dauert, sucht man die Teilnehmer mit aller Gewalt am Aufbruch zu verhindern, Als Ob man nicht froh wäre, daß sie endlich nach Hause gehen.
Kunst und Literatur finden auf Obalsa ausreichende Pflege. Romandichter und Bühnenschriftsteller schaffen Werke über Werke mit einem Produktionseifer, Als Ob ihnen bei der Niederschrift etwas einfiele. Die Komponisten entwickeln in Sonaten und anderen Konzertstücken wahre Wunderbauten polyphoner Steigerung, Als Ob sie Themen und Motive besäßen, aus denen sich etwas entwickeln ließe. Die Autoren empfinden bei ihren Arbeiten eine Art Wollust, Als Ob sie die Muse begatteten. Wie ja auch die Verschnittenen gewisser sinnlicher Erregungen fähig sein sollen, die ihnen ein sexuelles Vermögen vortäuscht. Jene Autoren der Insel stellen vielleicht eine Art geistiger Eunuchen dar, die ihre Fähigkeiten so anzuwenden wissen, Als Ob durch sie eine Befruchtung erfolgen könnte.
Das Zeichen des »Als Ob« ist das Symbol. Dementsprechend verlangt das Prinzip der Insel, daß dem Symbol die allergrößte Wichtigkeit beigemessen werde. Die Fahne gilt als bedeutsamer, als die Sache, die durch die Fahne symbolisiert wird. Hunderte von erfindungsreichen Bürgern zerbrechen sich unablässig die Köpfe darüber, welche Veränderungen man an den Farben, an den Dimensionen, an den Stellungen der heraldischen Vögel auf der Flagge anbringen könnte; und sie legen größeres Gewicht auf die zeichnerische Einzelheit eines Dokuments, eines Aktensiegels oder behördlichen Gummistempels, als auf den Inhalt der zugehörigen Urkunden. Die Tatsachen, die hinter oder unter dem Symbol stehen, mögen ja oft genug unerfreulich sein; allein sie wirken doch so, Als Ob sie durch das Symbol gedeckt ihren eigenen verdrießlichen Charakter verleugneten. Und das gilt den Als-Ob-Leuten genau so, Als Ob die Tatsachen an sich angenehme Erscheinungen wären.
Alles in allem genommen gehören also die Bewohner dieser Insel zu dem kleinen Bestand der relativ Bevorzugten. Auf dem Polynes zwischen Hawai und Aleuten dürften sie in dieser Hinsicht in der vordersten Reihe stehen. Ich glaube aber, daß auch wir in den alten Kontinenten ihnen kaum den Rang streitig machen können. Weil bei uns das Prinzip des Als Ob noch nicht als Lebensnorm durchgedrungen ist, unsere Völker sich vielmehr so verhalten, als ob nur die Wirklichkeit, nicht aber irgendwelche Fiktion für sie Geltung besäße. Hierfür dient als Grundlage die durchgreifende Ehrlichkeit im Bewußtsein unserer Völkerkonzerne, und ich hoffe, mit dieser Annahme auf keinen Widerspruch zu stoßen.
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Sollte in späterer Zeit ein Leser auf den Gedanken verfallen, sich in diesem Archipelagus anzusiedeln, so würde ich es als besondere Pflicht erachten, ihm den Wohnsitz auf einer bestimmten Insel zu widerraten. Ich meine auf Atrocla, einem Staatswesen, dessen Beschreibung mir nicht leicht fällt. Es ist ein Gelände der Unbequemlichkeit, dessen Hauptprinzip mir darin zu liegen scheint, daß die eine Hälfte der Bevölkerung es darauf anlegt, der anderen Hälfte das Dasein zu versäuern. Man muß indes hier die an der Oberfläche liegenden Erscheinungen und deren Gründe auseinanderhalten. Forscht man tiefer, so erkennt man, daß hier beachtenswerte Kulturmotive am Werke waren.
Seit Alters her erfreut sich nämlich die Insel einer rührigen Bevölkerung, die es durch Arbeit und Intelligenz zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hat. Zudem war der Fiskus mit Staatsdomänen, Waldungen und Bodenschätzen so reichlich gesegnet, daß er, weit entfernt davon, die Einwohner zu bedrücken, diese vielmehr zur Teilnahme an seinem Überfluß einzuladen vermochte. Bürgerlich gesprochen: es wurden keine Steuern erhoben, sondern ausgeteilt; jedermann erhielt vom Staat eine jährliche Menge von Gütern in bar und in Naturwerten. Allein in den letzten Jahrzehnten gewannen Gedanken die Oberhand, die sich zu dem ursprünglichen Modus in starkem Widerspruch setzten.
Diese Gedanken, wie sie sich im Schoße der Regierung mehr und mehr herausbildeten, wurzelten in folgenden Erkenntnisgründen: Wenn es dem Menschen allzugut ergeht, so muß er degenerieren. Die allgütige Mutter Natur legt es ersichtlich darauf an, Wohltaten in unabsehbarer Zahl auf die Menschheit herabzuschütten, ihr jedes Übel zu ersparen und sie mit so vielen Beglückungen zu überhäufen, daß die Individuen sich in der Fülle des Segens kaum noch zurechtfinden. Dies ist eine unausweichliche Folge der (seit Leibniz) allbekannten Tatsache, daß die vorhandene Welt die beste unter allen möglichen Welten darstellt. Krankheit und Sorge, Not und Tod spielen eine so geringe Rolle in der besten Welt, daß man mit der Laterne umhersuchen muß, um überhaupt eine Spur von ihnen zu entdecken. Woraus unmittelbar zu schließen, daß es im Haushalt der Natur an dem nötigen Gleichgewicht fehlt. Ihre Einrichtungen sind so beschaffen, daß sie durchaus nur verweichlichen, aber nicht im mindesten abhärten. Hieraus muß sich früher oder später eine Katastrophe ergeben. Der Mensch wird einmal anfangen, unter der Überbürdung des nimmermüden Glückes zu stöhnen, ohne doch die Kraft zu besitzen, diese Last abzuschütteln. Soll also diese beste der Welten nicht etwa unversehens in ihr Gegenteil umschlagen, so muß der Mensch selbst korrigierend in die Speichen des Weltrades eingreifen. Und dies kann nur auf eine Weise geschehen: wir müssen gewisse Annehmlichkeiten hinaus- und ein entsprechendes Quantum von Unannehmlichkeiten in das Leben hineinschaffen.
Hierfür ist der Weg vorgezeichnet. Es werden Einrichtungen aufgestellt, die es den Menschen ermöglichen, sich wechselseitig das Dasein zu vergällen. Und zwar nach einem wohldurchdachten Prinzipe. Dessen Grundwesen ist die Ars complicatoria, die staatlich betriebene Kunst, alle Lebensforderungen so zu verwickeln, daß sie durch kein Genie wieder auseinandergewickelt werden können. In dem beständigen Kampfe gegen die Komplikation müssen die Kräfte der Menschen erstarken, und um so sicherer wird man dieses Erfolges sein dürfen, je aussichtsloser sich dieser Kampf gestaltet.
Das Eiland Atrocla ist sonach zutreffend als Insula complicatoria anzusprechen. Sie steht im Zeichen von Verordnungen, Erlassen, Vorschriften, Verfügungen und Satzungsparagraphen, die aus dem dicken behördlichen Gewölk in wahren Sturzbächen herabregnen. Es gibt in diesem Staate nicht einen einzigen Menschen, der auch nur zum tausendsten Teile eine Ahnung davon hätte, was alles in diesen Verordnungen und Paragraphen steht. Dagegen wird von jedem Einzelnen verlangt, daß er sie sämtlich befolgt, und daneben noch die Zeit übrig behält, um während der Befolgung einer Norm hundert andere auswendig zu lernen, die eine Stunde zuvor noch gar nicht existierten. Unkenntnis schützt nicht vor Strafe, denn in der verbesserten besten Welt wird die Ignoranz als ein Laster angesehen, das unbedingt ausgerottet werden muß. Mit jedem Atemzug schlürft man Strafandrohungen wie Luftbazillen. Es gibt nur noch wenig Nichtvorbestrafte auf der Insel, und man mißtraut ihnen mit Recht, denn da man normalerweise nicht am Gefängnis vorbei kann, so hält man die wenigen, die noch nicht darin waren, für ganz verschmitzte Verbrecher, die in die gute Gesellschaft keinen Zutritt finden dürfen.
Die Nationalbibliothek enthält in 350 000 Bänden alle bis zum Vorjahre erschienenen Gesetze und Verordnungen und wird beständig von zahllosen Bürgern bestürmt, die sich darin Rat holen wollen. Der bloße Katalog dieser Sammlung wiegt 27 Zentner; er wird dauernd unter Verschluß gehalten, weil sonst die Gefahr obwaltet, daß man etwas finden könnte. Die beamteten Bibliothekare zerfallen in zwei Kategorieen: solche die überhaupt keine, und solche, die prinzipiell falsche Auskunft erteilen.
Die Statistik, als eine komplizierte Wissenschaft, wird eifrig gepflegt. Das statistische Material wird dadurch erlangt, daß Jedermann unablässig angehalten wird, Formulare und Fragebogen auszufüllen. Man hat immer etwas zu ermitteln, in den Wohnungen, Beständen, Verrichtungen, nach Längeneinheiten, Quadratmetern, Kubikfußen, Stückzahl und sonstigen statistischen Elementen. Daraus ergeben sich die interessantesten Aufgaben als Tagewerk von früh bis abends. So zum Beispiel hat der Normalmensch, – nennen wir ihn Cajus – zu untersuchen, was herauskommt, wenn er die Zahl seiner Familienmitglieder in den Luftraum der Wohnung dividiert und hiervon die Summe seiner Preßkohlen vermehrt um das Doppelprodukt aus Fenster- und Türenflächen abzieht. Hat er tagsüber dieses Problem, und einige Dutzend ähnliche gelöst, so überträgt er das Resultat in die Formulare und bringt sie in neunmaliger Ausfertigung auf neun verschiedene Ämter, die zur Stählung der Geduldstugend sämtlich geschlossen sind. Hier darf nun Cajus weiter berechnen, binnen wieviel Stunden sich so ein Amt einmal öffnen, und unter welchen Ausdrücken bissiger Verdrossenheit man ihm seine Ausarbeitungen abnehmen wird.
Das komplikatorische Prinzip würde seinen Zweck nur unzureichend erfüllen, wenn es nicht eine besondere Technik der Sprachgestaltung zu Hilfe nähme. Es gibt Leute, die Runen, Keilschriften und Hieroglyphen entziffern. Hier, auf der Insel Atrocla, ist dafür gesorgt, daß auch diese Entzifferer die in den Verfügungen niedergelegten Sätze nicht aufzulösen vermögen. Schon im ersten Entwurfe erscheinen sie so verwirrt, verschnörkelt, konstruktivisch verfilzt, mit solchem Ballast von Umstandswörtern und Partikeln befrachtet, daß keines Menschen Ingenium durch all die »insoweit«, »wofern«, »beziehungsweise«, »fallsaber« hindurchzudringen vermag. Jeder Paragraph kommt zudem vor der Veröffentlichung noch in eine Verkonstruierungsmaschine, welche die einzelnen Satzteile abermals verbiegt, zerknittert, verwirbelt, auseinanderschüttelt, wieder verknotet, verleimt und in ein Aggregat verwandelt, das eher an die Expektorationen eines verkrampften Magens als an eine sprachliche Kundgebung erinnert. Ob nun Cajus in schlaflosen Nächten den Sinn herausbekommt, das ist Nebensache. Hauptsache ist vielmehr, daß er passend und ausreichend beschäftigt wird mit den Myriaden von Silbenrätseln, Logogriphen, Anagrammen und Rösselsprüngen, worin die Regierung ihre Verwaltungssprüche verkapselt.
Es bedurfte selbstverständlich eines kolossalen Aufgebots von Beamten, um all die Verwickelungen zu ersinnen, die den verweichlichenden Einflüssen des Lebens entgegenwirken. Und es stellte sich heraus, daß die zahllosen Beamten von der bloßen Ausübung der Schikane nicht satt wurden. Sie verlangten sonach ausreichende Löhne, und für die bloße Aufstellung der Gehaltsregulative mußte abermals eine Armee von Beamten zur Fahne des Bürokratius einberufen werden. Rechnet man hierzu, was die Drucklegung der paragraphierten Sphinxrätsel verschlang, vergegenwärtigt man sich ferner, daß die Spesen solcher Verwaltung im Kubus ihrer Belästigungskoeffizienten wachsen, so begreift man, daß die alte primitive Steuerordnung nicht aufrecht zu erhalten war. Zahlte vordem der Fiskus an das Volk, so erhob sich nunmehr das umgekehrte Prinzip in aller Kraft und Herrlichkeit.
Es wäre nunmehr das einfachste gewesen, zu dekretieren: Cajus zahlt soundsoviel vom Einkommen und Vermögen. Und wenn es auch hundert Prozent gewesen wären, so hätte er sich damit abgefunden; weil ja auch viele Kühe hundert Prozent ihrer Milch und viele Pelztiere hundert Prozent ihrer Felle abliefern. Aber damit war der Animus complicatorius nicht einverstanden. Das Prinzip der Insel wäre durchbrochen worden, wenn man irgendetwas einfach handhabte, das sich nach bewährtem Schema verwickeln ließ.
Man versah also einige Schock von Beamten mit Wörterbüchern und gab ihnen auf, dauernd mit Nadeln hineinzustechen. Jedes gestochene Wort wurde darauf untersucht, ob es steuerlich verwendbar wäre. Und da offenbarte es sich tatsächlich, daß die Sprache an sich an fiskalischen Einfällen gradezu unerschöpflich ist. Auf jeder Seite des Diktionärs öffneten sich Dutzende von Fundgruben.
Daß die konkreten Dinge alle heranmußten, in allen möglichen und unmöglichen Verknüpfungen, verstand sich von selbst. Allein auch die Abstrakta erwiesen sich als zwecktauglich. Man konnte das Laster besteuern und zugleich die Tugend, die Verschwendung und die Sparsamkeit, die Klugheit ebenso wie die Dummheit. Denn wenn einer spart, gelangt er, wenn man die dortigen Zeichen in unser Alphabet übersetzt, mit dem Buchstaben Z zu Zuwachs, also ergibt sich die Zuwachssteuer ebenso ungezwungen wie unter L die Luxussteuer. Und wenn einer dumm ist, so bildet er schon persönlich ein vorzügliches Steuerobjekt, da er kraft seiner Dummheit im Steuergewebe keine Masche zum Durchschlüpfen entdeckt. So wurde sub litera E die Ehrlichkeit einer besonders hohen Steuer unterworfen, da man von der Ansicht ausging, die Ehrlichen müßten nicht nur für sich zahlen, sondern auch das durch die Defraudanten verursachte Manko ersetzen.
Immer, wenn hundert neue Abgaben in Paragraphenform herauskamen, wurden sie miteinander verwoben, kumuliert und chemisch durcheinandergearbeitet. Man nannte das je nach der Materie Veredeln, Ausbauen, Staffeln. Als die Worte im Lexikon zu Ende gingen, fand man in dem so ergiebigen Buchstaben Z noch einen Ausdruck, der unabsehbare Leistungen versprach. Wo man ihn nur ansetzte, zauberte er Gold in beliebigen Mengen hervor. Er hieß »Zuschlag«.
Zu den Veredlungsmethoden gehörte das dauernde »Erfassen« und der einmalige »Zugriff«. Dieser wurde wiederum zu einem »dauernden Zugriff« veredelt. Als ein schätzbares Hilfsmittel erwies sich die Einführung der Röntgen-Physik. Alle Cajusse wurden mit X-Strahlen durchleuchtet, die in Verbindung mit einer eingeführten Schlundsonde das ganze Innere der Zensiten transparent machten. Und dennoch! Wenn man am Schluß aller Manipulationen und Erhebungen das Ergebnis überzählen wollte, fand man zum Zusammenrechnen nur Negativgrößen. Die unzähligen Zähne der ungeheuren Zahnradmaschinerie hatten das hindurchgegangene Gold ratzekahl aufgefressen. Hier hatte der Staat etwas geleistet, was über alle Naturmöglichkeit hinausging: ein Minimum des Effektes bei einem Maximum des Kraftaufwandes.
Nichtsdestoweniger verblieb es bei dem Prinzipe, dessen Vertreter sich immer wieder auf das spartanische Vorbild beriefen: Häufung der privaten Unannehmlichkeiten zum Zweck der Abhärtung und Ertüchtigung. So verstanden sie den Grundzug des Lykurgischen Staatswesens, das ihnen als Ideal vorschwebte, und das sie auch schon bis zu einem merklichen Grade erreicht hatten. Atrocla war wirklich ein neues Sparta geworden und hätte mit seiner Beschränkung der individuellen Freiheit und mit seiner Losung: dem Einzelnen Nichts – alles dem Staate – vor den gestrengen Augen Lykurgs ehrenvoll bestanden. Die komplikatorischen Behörden hatten sogar einen Teil der uralten Amtsbezeichnungen übernommen; das Hauptamt nannte sich Gerusia, die Beigeordneten hießen Ephoroi, und es war natürlich das Ziel jedes verständigen Menschen, ein Ephoros zu werden; weil man als Nicht-Ephoros gewöhnlich nicht aus dem Gefängnis herauskam.
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Wir hatten uns in der Stadt verteilt, um einzelne Betriebe genauer kennen zu lernen. Dabei waren zwei unserer Gefährten, der Doktor Wehner und Fräulein Eva, in ein Gebäude geraten, das sie für eines der vielen Erschwerungsämter hielten, dessen Einrichtungen sich indes bei näherer Betrachtung als die eines Irrenhauses zu erkennen gaben. Was ja leicht miteinander verwechselt werden kann. Der Unterschied lag wesentlich darin, daß das Personal hier um eine Nuance höflicher war. Zudem sprach mir Eva den dringenden Wunsch aus, einem bestimmten Insassen der Anstalt meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie hätte den Eindruck einer außergewöhnlichen Persönlichkeit empfangen. Zweifellos wäre dieser Eingesperrte – er hieß Pordoio – kein Irrsinniger in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes. Und wir würden uns einen Gotteslohn erwerben, wenn wir versuchten, den Zwangsaufenthalt dieses Mannes aufzuheben oder abzukürzen.
Ich erklärte mich hierzu bereit und erbot mich, sofort den Weg nach dem bewußten Hause anzutreten. Allein jetzt bat mich Eva seltsamerweise, damit noch bis zum nächsten Tage zu warten. Und wie ich später merken sollte, benutzte sie die Zwischenzeit, um sich allein nach unserem Schiffe zu begeben und dort auf der »Atalanta« einiges anzuordnen.
Am nächsten Vormittag befanden wir uns in der Wohnzelle des Irrenhäftlings. Der leitende Anstaltsarzt sträubte sich zwar anfänglich dagegen, uns mit ihm allein zu lassen, aber wir wußten eindringlich zu bitten, bis wir unser Vorhaben durchsetzten. Schließlich war ja Freund Wehner vom Fach, und wir andern sahen auch vertrauenswürdig aus, da konnte also nichts ordnungswidriges passieren.
Ganz so einfach, wie ich vermutete, lag der Fall denn doch nicht; denn Pordoio gab selbst zu, daß er mehrfache Tobsuchtsanfälle gehabt habe, die äußerlich gesehen seine Unterbringung in eine Heilanstalt bis zu gewissem Grade rechtfertigten. Transitorische Manie auf angeborener epileptischer Grundlage? Keineswegs. Pordoio war jetzt sechsunddreißig Jahr alt und hatte sich von Kindheit bis zum Mannesalter stets einer eisenfesten Gesundheit erfreut. Vielmehr mußten seelische Erschütterungen eingewirkt haben, über deren Entstehung er uns Aufschluß gab.
Er entstammte einem angesehenen Kaufmannshaus als der einzige Sohn eines auf Atrocla ansässigen, sehr vermögenden Fabrikanten. Der Aufenthalt in Fabrik und Bureau sagte ihm auf die Dauer nicht zu, und so entschloß er sich als Dreiundzwanzigjähriger zu einer Bildungsreise in die weite Welt. Freilich reichte diese nach seinen Insularbegriffen nicht über die Grenzen des Archipelagus hinaus. Aber er sah doch Land und Leute anderer Inseln, machte Bekanntschaft mit fremden Gestaltungsformen und verspürte in seinem Innern deutlich den geistigen Gewinn. In seinem Intellekt begannen sich Kräfte zu regen, Ansätze zu außergewöhnlichen Gedanken, die vorläufig noch in Gärung begriffen waren, aber für die Zukunft Ersprießliches versprachen, wenn die Umstände ihnen das Ausreifen ermöglichten.
Der Segler, dem sich Pordoio auf der letzten Strecke seiner Fahrt anvertraut hatte, geriet in einen Taifun, der ihn an einem nach Süden treibenden Eisberg zerschmetterte. Der junge Mann rettete aus der Katastrophe das nackte Leben, wurde, an eine schwimmende Planke festgeklammert, auf eine nie zuvor von Menschenfüßen betretene Insel ausgeworfen und absolvierte auf dieser eine vollkommene Robinsonade. Aus dem Nichts heraus mußte er sich seine Existenz schaffen, sich wehren gegen Nöte und Unbilden, die dem Kulturbürger als Feinde kaum bekannt sind, er mußte in rohen Gestaltungen Dinge erfinden, die wir anderen in letzter Verfeinerung als Selbstverständlichkeiten des Daseins vorfinden. Die ersten Jahre waren Kampf, Entbehrung und Angst, verschärft durch das trostlose Gefühl der Verschollenheit. In der Folgezeit, als ihm eine Art von Wildenkultur die unmittelbare Not minder fühlbar machte, begannen seine aufgestauten Intellektualfähigkeiten neue Auswege zu suchen. Die Hoffnung hatte ihn verlassen, allein auch das Verzweifeln hatte er verlernt, und während ein minder beanlagter Mensch in einen Zustand des Hindämmerns verfallen wäre, überwand er die Lethargie durch eine Methode, die sich ihm unbewußt aufdrängte. Wie aus einem schweren Traum stiegen ihm Gedanken auf, die von Tag zu Tag in klarere Beleuchtung rückten, um allmählich ein wirklich denkerisches, philosophisches Gepräge zu gewinnen. Er grübelte über Probleme, die mit seiner Lage gar nichts zu tun hatten, vielmehr gänzlich der Geistigkeit angehörten, und er glaubte gewisse Lösungen zu finden, deren beglückender Wert ihm als reine Erkenntnisse aufgingen. Sein ganzes Vorleben mit allem, was er einst studiert und auf den Inseln erfahren hatte, stieg aufs Neue in ihm auf, wie befreit von den Schlacken persönlicher Erlebnisse, vergeistigt zu unkörperlichen Wesenheiten, die sich zu ungeahnten Einsichten zusammenschlossen. Die Einsamkeit ist eine vorzügliche Gesellschafterin für einen, der die Triebkraft des Denkens in sich hat; und wie man von Voltaire als dem Einsiedler von Ferney spricht, so hätte man allenfalls unseren Pordoio den philosophierenden Einsiedler vom Erebos nennen dürfen, wenn diese Insel überhaupt schon unter diesem Namen bekannt gewesen wäre. Aber kein Mensch auf der Welt wußte etwas von ihr, mit Ausnahme des Verschollenen, der mit dem düsteren Recht des ersten Entdeckers seine Klippe also getauft hatte.
Abermals waren sieben Jahre verstrichen, als die verschüttete Heimatssehnsucht in ihm aufflackerte. Er hatte ein Segelfloß gezimmert, mit Proviant beladen, und auf ihm eine Fahrt ins Uferlose gewagt. Da fand die Robinsonade ihren Abschluß. Ein kleiner Kauffahrer, der von Kurawaddi nordwärts steuerte und vom Kurse abgeschlagen worden war, erspähte den gänzlich Erschöpften und brachte ihn nach Atrocla zurück.
Man behandelte ihn zuerst als eine Sensation, verglich ihn mit Odysseus, und die Neugierigen erdrückten ihn in Teilnahme, die ihn für elfjährige Mühsal entschädigen sollte. Er aber hatte nur den einen Wunsch: zu arbeiten, um sich von der Bürde des in ihm aufgesammelten Gedankenvorrats zu befreien. Dieser erschien ihm selbst jetzt recht diffus, ungeordnet, lückenhaft, und auf die Mitwirkung gründlicher Bücherstudien angewiesen. Er fühlte sich als der Träger ungeschriebener Werke, die nur in konzentrierter Arbeit Gestalt annehmen konnten.
Das Geschäft seines Vaters war in jenen elf Jahren beträchtlich zurückgegangen. Kein Wunder auch, da neun Zehntel des Personals dem eigentlichen Betriebe entzogen waren und ausschließlich mit der Bearbeitung der Steuerangelegenheiten beschäftigt werden mußten. Immerhin war der alte Pordoio noch vermögend genug, um dem Wunsch seines Sohnes zu willfahren, der sich zum Zweck ungestörten Schaffens in ein eigenes Häuschen an der Stadtgrenze zurückziehen wollte. Hier, der städtischen Unruhe entrückt, in Stille und Friedsamkeit, von der schweigenden Eloquenz seiner schönen Bücherei umgeben, begann der vormalige Robinson die Niederschrift seiner Entwürfe, deren systematische Vollendung er von den Folgejahren inbrünstig erhoffte.
Nach den Andeutungen, die wir von Pordoio empfingen, handelte es sich hierbei allerdings um mehr als bloß schöngeisternde Versuche. Er bewegte sich vielmehr in durchaus originalen Gedankenkreisen. In deren Zentren standen Gegenständliches, Erfahrungen, sachliche Beobachtungen, allein die ausstrahlenden Radien wiesen in ungeahnte Fernen. Es fanden sich darin Anflüge von Descartes und Pascal, dichterische Schwebungen Tolstojscher Herkunft, daneben aber auch kräftige Vorstöße in jenes Gebiet, wo die Erkenntnistheorie in die Kammern der letzten Physik greift, um deren Waffen zu neuen Denkmitteln umzuschleifen. Wieviel Ausblicke öffneten sich da, schriftstellerische Hoffnungen, Genugtuungen in einem unabsehbaren Lebenswerk!
Aber es stand in den Sternen geschrieben, daß es, kaum begonnen, jäh abgehackt werden sollte. Er hatte noch nicht einmal den ersten Schriftbogen ausgearbeitet, als er in den Malstrom der komplikatorischen Maschinerie geriet und sich in ihm heillos fortgewirbelt sah. Die Behörden überschütteten ihn mit Anfragen, Formularen und zahllosen wißbegierigen Zetteln auf weißem, rotem, gelbem, grünem, hellblauem, dunkelblauem Papier, verlangten von ihm Auskünfte in allen Regenbogenfarben. Also zuerst bezüglich des Häuschens, in dem er arbeitete. Von diesem Schlößchen Ohnesorg sollte ermittelt werden, der Einstandspreis, der allgemeine Wert, der Nutzungswert, der Affektionswert, der Bodenwert, der Bauwert, der Verkaufswert und noch viele andere Werte zum Zweck eines Systems weitschichtiger Veranlagungen. Die ermittelten und noch zu ermittelnden Beträge wurden auf besonderen mit buntem Liniennetzwerk durchwirkten Berechnungsbogen ineinander gestaffelt mit Hilfe eines logarithmischen Index und einer Tabelle schwieriger Formeln, die zur Berechnung exzentrischer Kometenbahnen ausgereicht hätten. Hieran schlossen sich weitere Fragen, die auf den Beruf gemünzt waren: arbeiten Sie selbständig? beschäftigen Sie Gehilfen beim Philosophieren? Wie viele? Mit welchen Verlegern und Druckereien stehen Sie in Verbindung? Auf Grund welcher Kontrakte? Welche Erträgnisse erwarten Sie im Durchschnitt der nächsten fünf Jahre? Auf Grund welcher Unterlagen? Wieviel Bücher besitzen Sie? in Luxusbänden? in gewöhnlichen Bänden? Wert der Bücher? (nach Einzelexemplaren, in achtfacher Aufstellung anzufertigen und einzureichen). Haben Sie Nebenbeschäftigungen? welche? in Tages- resp. Nachtstunden? falls nicht, Angabe der Arbeitgeber, die in Betracht kämen, falls später noch ein Nebenberuf hinzuträte. Ferner: Sind Sie verheiratet? falls ja, mit wem? warum mit dieser? Höhe der Mitgift? angelegt worin? Falls nein, warum nicht? Steht Heirat noch in Aussicht? wann? mit wem? (beizufügen curriculum vitae der event. Braut und der präsumtiven Schwiegereltern) etc. etc.
Pordoio antwortete zuerst kurz und sarkastisch, er beabsichtigte nicht, seiner Tätigkeit zu entsagen, um sich mit der Erledigung solcher Scherereien eine neue Hauptbeschäftigung aufzuladen. Allein er hatte die Pressionsmittel des vorgesetzten Herrn Komplikatorius unterschätzt. Dieser bewies ihm kurzerhand, daß er ersichtlich der Stärkere wäre und ferner, daß jetzt erst das vexatorische Hauptkapitel begänne.
Pordoio sollte nämlich nunmehr die genauesten schriftlichen Auskünfte erteilen über die Insel Erebos, auf der er elf Jahre verweilt, und die nach Auffassung des Fiskus ihm als Grundbesitz gehörte. Weil kein Grundbuchvermerk auf irgend einen anderen Eigentümer verwies. Sonach wurde angenommen, daß Pordoio als Inselinhaber für die Latifundien von Erebos mit ganz gewaltigen Beträgen herangezogen werden müßte. An der Härte der bürokratischen Definition prallten alle Einwände ab. Pordoio selbst habe ja von den Kokospalmen des Eilands herumerzählt, von den Pisangs mit seinen üppigen, traubenförmigen Früchten und von den reichen Erträgnissen des Fischfangs in unmittelbarer Nähe des Strandes. Daß die Erträgnisse für den Besitzer im Moment nicht greifbar wären, käme nicht in Betracht. Hier zur Erörterung stünde nur der Nutzungswert an sich, der unter allen Umständen für den Staat realisiert, »erfaßt« werden müßte, und zwar an der Quelle, das heißt, an der beim Eigentümer vorhandenen Substanz. Der wurde sonach angehalten nach Paragraph 71043 B der Katasterordnung die erforderlichen Unterlagen zu liefern mit genauer Angabe der Verhältnisse auf Erebos nach Quadratmetern der Bodenfläche, nach Stückzahl und Dicke der Waldungen und nach durchschnittlicher Dichtigkeit der Fischschwärme.
Mit der Arbeit war es vorbei, mit der geistigen Tätigkeit, in der für Pordoio der Sinn des Daseins beschlossen lag. All die Fragebogen, denen er sich nunmehr zu widmen hatte, waren unterhalb ihrer Wortfülle von geheimen Schikanen unterminiert, sie wimmelten derart von Schlingen, Fallstricken und Fußangeln, daß der Erfaßte sich nur mit gespanntester Aufmerksamkeit hindurchzuwinden vermochte. War ein Fragekonvolut durchgeackert, so drohten schon wieder neue, die rapider und vielfältiger nachwuchsen als die Köpfe der Hydra. Schon nach vier Wochen hatte er allen Zusammenhang mit seiner Schriftstellerei verloren. »Das ist um wahnsinnig zu werden!« rief er einmal über das andere, und je öfter er es rief, desto deutlicher spürte er, daß darin kaum noch eine Übertreibung steckte. Rettungslos von seinen Lebenszielen abgerissen, überließ er sich wirklichen Wutausbrüchen, die in die Straße hinausgellten. Bis er eines Tages fast besinnungslos in eine Amtskanzlei stürzte und den dort herumklexenden Zeiträubern eine fürchterliche Szene machte. Rachebrüllend wie der rasende Telamonier Ajax fuhr er auf Personen und Objekte los, verwüstete, zerbeulte, zerspritzte er alles, was ihm ins Gehege der Fäuste kam. Hier war der unzweideutige Fall der Tobsucht gegeben, Insania praecox, sagten die Amtsärzte, und bald darauf befand sich der tollgewordene Philosoph, dem noch der Schaum vor dem Munde stand, in den schützenden Mauern des bewußten, mit Gummizellen und ähnlichem Komfort ausgerüsteten Gebäudes.
Doktor Wehner fragte den Inhaftierten, ob er wohl seiner Ansicht nach etwas unternehmen könnte, um ihn aus der Zwangslage zu erlösen. Allein hier kettete sich eine Schwierigkeit an die andere. Pordoio selbst versprach sich nur wenig von irgendeinem Akt der List oder Gewalt. Denn selbst wenn er herauskäme, so ginge doch morgen die komplikatorische Quälerei wieder los. Ich wiederum mußte bedauernd erklären, daß wir als Gäste nicht die geringste Befugnis besäßen, in das Verwaltungsgeschlinge des Staates einzugreifen. Die Unterredung verlief also resultatlos, und wir mußten uns schließlich in tiefer Bekümmerung über das unabwendbare Schicksal eines offenbar talentvollen Menschen verabschieden.
* * *
Die »Atalanta« hatte sich am folgenden Tage wieder in Bewegung gesetzt, und wir waren eben dabei, uns im Salon zur Mahlzeit zu vereinigen, als an der Tür eine überzählige Figur auftauchte. Pordoio. Ein fait accompli, in Szene gesetzt von Fräulein Eva, die sich nicht ganz so gewissenhaft, aber wesentlich geschickter als wir mit den vorgefundenen Tatsachen auseinandergesetzt hatte.
Zwei Worte genügen zur Erläuterung. Als wir uns in jener Anstalt befanden, trug sie in den Falten ihres Handbeutels einige Objekte, die sie tags zuvor vorsorglich aus den Schiffsräumen entfernt hatte. Eine kleine, aber höchst wirksame Stahlfeile, dazu eine mit Chloroform gefüllte Flasche. Es war uns nicht weiter aufgefallen, daß sie sich, während wir schon die Treppe herabstiegen, bei dem Irrenhäftling verzögerte, anscheinend um ihm noch einige Trostworte zu sagen. In Wahrheit hatte sie ihm die Feile und Flasche zu leicht errätlichem Gebrauch zugesteckt, mit der Weisung, nach geglückter Flucht in tiefer Nacht die »Atalanta« zu erreichen, deren Personal verständigt war.
Gern boten wir ihm Asyl, und volles Einverständnis herrschte darüber, daß er nie wieder nach Atrocla zurückkehren dürfte. Aber sollte er überhaupt im Bereich des Polynes verbleiben? Er legte den Beschluß gänzlich in unsere Hände, und wir entschieden: er begleitet uns nach Europa! Es gehöre zu einer richtigen Argonautenfahrt, daß aus den Fremdvölkern wenigstens ein lebender Zeuge herausgenommen würde, und wir waren überzeugt, daß das Schicksal uns hier ein besonders wertvolles Exemplar in die Hand gespielt hatte.
Er schien sich rasch an uns zu gewöhnen und zeigte den Willen, unseren Freundlichkeiten entgegenzukommen. Bisweilen überhuschte es ihn aber wie ein Schatten eines Gefühls, das ihn von uns abdrängte. Dann vergrub er sich in seine Kabine, er las und schrieb, oder er stierte von der Reeling in den Horizont mit der Miene eines Menschen, an dem irgendein Fernweh nagt. Um die Abendstunden wurde er heiterer, mitteilsam, und unsere Unterhaltungen gewannen durch ihn eine besondere Färbung. Der Einsiedler von Erebos, der Verfolgte von Atrocla hatte ja vordem mancherlei Inseln gesehen, die nicht mehr in unser Expeditionsprogramm aufgenommen werden konnten. Aus seinen Darstellungen sei hier einiges festgehalten:
Die Insel Delix scheint nach seiner Beschreibung ein Land zu sein, dessen Eigenheiten den Ansprüchen verwöhnter Erdenbürger genügen könnten. In der Fülle mancher Naturgaben erinnert es leise an Vléha, der Grundzug seiner Bewohner indes ist ein ganz anderer, von den asketischen Neigungen der Vléha-Leute prinzipiell verschieden. Ihre Nerven sind auf Genuß gestimmt, sie haben mancherlei in sich aufgenommen, was nach üblicher Annahme auf das Register Epikurs zurückgeführt werden kann.
Was ihnen vorschwebt, ist die Verwirklichung der Phantasien, die wir in antiken Autoren vorgebildet finden; zumal im Athenäus, Teleklides und Lukian. Vergegenwärtigen wir uns eine derartige Beschreibung, eine unter zahllosen, die uns Kunde davon geben, daß die Altklassiker niemals aufgehört haben, Schlaraffenbilder zu entwerfen: Die ganze Inselflur, so etwa heißt es dort, prangt mit Blumen und zahmen Gewächsen aller Art und ist beschattet von fröhlichen Bäumen, die ihre eigene Lust in die Welt hinausjauchzen. Die Weinrebe trägt zwölf mal des Jahres, die Granatbäume noch öfter, da sie in manchem Monat zweimalige Fruchternte gewähren. Statt des Weizens schießen fertige Brote gleich Schwämmen in die Ähren. Zur Ergänzung des Wasserregens sprudeln hunderte von Quellen, die Honig und Salböl liefern. Sieben Ströme mit Milch und acht mit Wein durchfluten die Insel. Quadern von Gold dienen als Baumaterial der Stadt, die von einer smaragdnen Ringmauer umgürtet wird. Ihre sieben Tore sind sämtlich aus Zimtholz und das Pflaster aller Straßen und öffentlichen Plätze aus Elfenbein. Die Tempel sind aus Beryll erbaut, deren Altäre aus Amethyst geschnitten. Die Bäder sind prächtige Paläste aus Kristall, in den Badewannen rieselt eine aus Naturtau gewonnene mit Rosenholz angeheizte Flüssigkeit . . .
»Herr Pordoio,« unterbrach ich, »ähnelt denn die Wirklichkeit der Insel Delix in irgendeinem Punkt diesem ausschweifenden Bilde?«
– Die Delixianer reden es sich ein, denn sie sind Illusionisten und sie übertragen gern in die Außenwelt, was ihnen eine überschäumende Einbildungskraft vorgaukelt. Tatsächlich leben sie in recht angenehmen natürlichen und städtischen Verhältnissen, deren Reize sie selbstgefällig ins Unermeßliche übertreiben, um sich so recht als epikureische Lustempfänger zu fühlen. Wie ich die Leute kenne, sind sie dem, was sich ein echter Weltweiser unter Lust vorstellt, gar nicht gewachsen, und nach ihrer Veranlagung gemessen sind sie weit davon entfernt, Epikure zu sein oder zu werden. Sie unterliegen nämlich dem Wahne, daß man nur recht viele Lustelemente in sich hineinzupumpen brauche, um sie als vorhanden und beglückend zu empfinden, während das Lebensbeispiel Epikurs zu einem ganz anderen Prinzip hinführt.
»Man könnte beinahe sagen: zum entgegengesetzten.«
– Ja wahrhaftig. So viel, oder so wenig ich von der Welt kennen gelernt habe, Alles hat mich zu der Überzeugung gedrängt, daß von allen Großen der Erde keiner so gründlich mißverstanden wird als eben Epikur. Weil man sich bei ihm an das Wort gehalten hat und nicht an die Sache. Über seinem Garten in Athen stand die Aufschrift: »Fremdling, hier wird dir's wohl sein, hier ist das höchste Gut, die Lust!« Und dieses Lustwort wurde schon im Altertum zum Aushängeschild einer schwelgerischen Lebensart, die keinem fremder war als ihm; denn er lebte von einigen Trauben und Feigen, und sein tägliches Nahrungsquantum erreichte niemals das Gewicht eines Pfundes. Und damit vergleiche man die Aussage des Lüstlings Horaz, der sich selbst als »ein Schwein von der Herde Epikurs« bezeichnet!
»Ihre Delixianer also folgen dem saftigen Kommentar des Horaz?«
– Sie versuchten es wenigstens, so schweinisch als nur möglich. Und sie hätten die genießende Lust bis zur Grundsuppe ausgelöffelt, wenn ihnen nicht dabei speiübel geworden wäre. Die Insulaner organisierten ein Ministerium der Lustbarkeit, das ihnen unter anderem opulente Freßrezepte ausarbeitete; auf Grund der Überlieferungen von Lukullus, Apicius, Trimalchio und der Küchenkünstler von den italienischen Lusthöfen. Das ergab Tafelorgien, wogegen alles aus europäischen Chroniken vermeldete verblaßt; selbst das berühmte Gastmahl von 200 Gängen, das der Kardinal Cornaro zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts seinen römischen Gästen vorsetzte. Im Stadtarchiv von Delix las ich eine Hymne auf eine Monstrefresserei, die der Senat für die Bürgerschaft veranstaltete, als man das Denkmal Epikurs auf dem Freudenplatz einweihte. Freilich mit dem Beisatz, daß ein Teil der Notabeln mitten im Fest entzweigeplatzt wäre, und daß ein Teil der Überlebenden sich entschlossen hätte, ihr Epikureisches Prinzip fortan auf eine neue Grundlage zu stellen.
»Kann mir schon denken. Es wird wohl ein Gesetz gegen den Tafelluxus herausgekommen sein, wie in Rom zu Zeiten Vespasians.«
– Nein, davon ist mir nichts bekannt. Vielmehr drang die Ansicht durch, daß der von Epikur als Lebensmaxime ausgerufene Genuß nur auf Grund einer völlig garantierten Gesundheit zu erreichen wäre.
»Das läßt sich hören. Freiwillige Abkehr von der ruinösen Völlerei, um auf der entgegengesetzten Linie das Maximum der Freude auszukosten, – das klingt sogar echt Epikurisch.«
– Gewiß, nur dürfen Sie nicht aus den Augen verlieren, daß unsere Insulaner niemals vom Wege eines Prinzips abkommen. Kaum hatten die Delixianer begriffen, daß die Gesundheit ihnen Lust versprach, als sie sich mit aller Energie auf den Verfolg dieser Hoffnung warfen, um sich in Sanität auszuleben. Man betrieb die Sache also wiederum systematisch, man infiltrierte sich mit hygienischen Maßregeln und hielt jede Sekunde für verloren, die man diesem löblichen, weil lustverheißenden Prinzip entzöge.
»Wohl den Menschen, die materiell so gestellt sind, daß sie sich diesen Luxus erlauben dürfen!«
– Diese Insulaner durften es, und sie begannen damit, sämtliche Fachschriften zu studieren, um möglichst viele hygienische Tätigkeiten zu einheitlichem Tagewerk zu kombinieren. Aber je mehr Reglements sie erfüllten, desto zahlreichere schossen vor ihnen auf. Hatten sie zum Beispiel bisher nur mechanisch geatmet ohne im mindesten darauf zu achten, so betrieben sie nunmehr die Atemkunst und sie berauschten sich bei jeder Dehnung und Senkung der Lunge in dem Gefühl: wie gesund ist das! Ihre Nahrungsaufnahme nahm die Form von Eßexerzitien an, mit vorbestimmten zahlreichen Kaubewegungen und Einspeichelungen, und ein Glücksgefühl überkam sie bei der Vorstellung, daß ihr Mund sich in einen makrobiotischen Apparat verwandelte. Das Verzehren einer halben Taube dauerte nunmehr länger als sonst das Auffressen eines ganzen Fasans, das instinktive Essen erhöhte sich zum Verstandesessen, und eine intelligible Wollust wühlte in ihren Zähnen. Jetzt waren sie nicht mehr epikurische Schweine wie Horaz, sondern epikureische Ärzte, die sich das Leben verlängerten. Ein uraltes Vorurteil brach in ihnen zusammen. Gibt es wirklich tausend Krankheiten in der Welt auf nur eine Gesundheit? Nein, wir konstruieren uns tausend Gesundheiten, denn als Gegenbild jeder Krankheit, die wir bewußt ausschalten, erscheint ein besonderes Wohlsein. Wir verspüren die Nicht-Kolik als ein wahrnehmbares Lebensgut, ebenso den Nicht-Katarrh, den Nicht-Furunkel, die Nicht-Trichinose, die Nicht-Verkalkung. Freilich wird das ein bißchen umständlich, wenn man dauernd darauf sinnt, wie man sich gegen jede Möglichkeit eines Leidens absperrt, aber eben darin liegt ja das Vergnügen des Lebenskünstlers, des wahren Hedonikers. Die Gelehrten sagen uns, daß wir pro Tag 2600 Kalorien und 72 Gramm Eiweiß brauchen, – also messen wir scharf ab, hantieren wir als Chemiker mit der Präzisionswage, damit wir das Vorschriftsmaß genau innehalten. Beim Bade kommt es auf die Minutendauer an, auf Bruchteile des Temperaturgrades, auf die berechnete Frottierungsstärke, auf die exakte Analyse jeder Drogue, die wir im Wasser auflösen. Alle Bazillen und Spaltpilze in Luft und Nährsubstanz heischen besondere Abwehr; jeder Muskel will eigens geübt werden in allen Formen der Gymnastik, des Sports, der Massage, der Medicomechanik; Auge und Gehör, Zähne, Haare und Nägel verlangen dauernde Prüfung und Beobachtung. Man muß prophylaktisch gurgeln, inhalieren, betupfen, schwitzen, duschen, sich abhärten. Dazu kommen die Vorschriften der Bekleidungs-, der Beleuchtungs- und nicht zuletzt der Sexualhygiene. Die bloße Warnung »Achtung vor Kußbakterien!« umschreibt nur zum tausendsten Teil die Gefahren, die uns hier umlauern. Sie durchweg vermeiden bedeutet für den Hygienefanatiker eine Höhe des Genusses, mit dem sich die landläufigen, im Zeichen Cytheres stehenden Freuden nicht zu messen vermögen.
So weit waren die Neu-Epikuräer der Insel, – allerdings nur in der Theorie, denn es stellte sich heraus, daß selbst ein hundertstündiger Tag nicht zum zwanzigsten Teile ausgereicht hätte, diesem Lustprinzipe gerecht zu werden. Es ging damit, wie zuvor mit der brutalen Gier, das Prinzip erstickte an sich selbst. Somit mußte abermals für den gepreßten Vergnügungsdrang der Delixianer ein Ventil geöffnet werden . . .
»Die Leute sind Idioten!« rief Donath, »sie hatten doch nur nötig zuzugreifen, denn das Glück ist immer da!«
– Nein, Herr, bemerkte Pordoio, ganz so einfach, wie Ihr Goethe es ausruft, liegt die Sache doch nicht, und ich hege ein tiefes Mißtrauen gegen alle Merksprüche, die uns Glücksrezepte anpreisen. Wir sehen nur immer das Glück, und nie über dem eigenen Haus, sondern stets wie den Regenbogen, in der Ferne, und es hat keinen Sinn, danach zu greifen. Ein geistreicher Franzose hat gesagt: es ist sehr schwer, es in uns, und unmöglich, es anderswo zu finden; und das kommt der Wahrheit schon näher; denn die Schwierigkeit liegt nicht darin, daß es sich versteckt, sondern darin, daß es gar nicht vorhanden ist. Aber die Leute von Delix vermuteten es doch irgendwo, und da gerieten sie auf den kuriosen Einfall, ihr Grundprinzip einfach umzustülpen. War der Glückspunkt auf dem positiven Ast nicht erreichbar, so ging es vielleicht auf dem negativen. Und sie fanden in ihrer Mitte Magister, die sie darin bestärkten: Der Epikureismus ist vielleicht nur eine Verkleidung der stoischen oder sogar der zynischen Lehre; und wer sich anstrengt, einen richtigen Diogenes vorzustellen, der wird letzten Endes ein richtiger Epikur werden.
»Das läßt sich historisch wie sachlich ganz gut vertreten, ist übrigens schon von Montaigne ausgesprochen worden. Bei allem Kontrast sind Epikur und Diogenes nur allotrope Modifikationen einundderselben Persönlichkeit. Und da sich Zyniker von Kyon, Hund, herleitet, so hatten ja Ihre epikureischen Schweine die beste Gelegenheit, sich synthetisch zu Schweinehunden auszubilden.«
– Das gelang ihnen auch annähernd, und viele fühlten sich kannibalisch wohl, als sie aus ihren schönen Wohnungen fortzogen, um in Tonnen Unterschlupf zu finden. Sie vervollkommneten die Technik der Unanständigkeit, und einige benahmen sich auf offenem Markt tatsächlich so säuisch wie das Zynikerpaar Krates und Hipparchia. Aber auch diese Sensation wollte nicht vorhalten, und als ich die Leute zuletzt sah, bekannten sie mir, sie wären mit ihrer Lustbarkeitsweisheit zu Ende; die gesamte Hedonik wäre ihnen schließlich in einen stinkenden Brei von Ekel, Langeweile und Katzenjammer zerflossen.
»Schließen Sie nun daraus, daß der Genuß an sich ein Phantom ist?«
– Er existiert in Differentialen, welche die Eigentümlichkeit besitzen, sich niemals zu einer stetigen Linie zusammenzuschließen. Täte er das, so könnten sich die Genußmomente zu einem Glück summieren. Da dieses aber nirgends angetroffen wird, andererseits der Genuß in isolierten Punkten nicht fortzuleugnen ist, so folgt, daß kein wie immer geartetes Glücksprinzip die mindeste Probe aushält; weil jedes dauernd zwei Dinge vereinigen will, von denen das eine ganz real, und das andere gänzlich imaginär ist.
»Gut, so trennen Sie die Dinge; dann bleibt immer noch ein Lustprinzip übrig.«
– Ein negatives. Es lautet: du kannst nur dann Lust gewinnen, wenn du es prinzipiell vermeidest, sie prinzipiell vorzubereiten. Der Genuß hat keinen schlimmeren Feind, als die Veranstaltung zum Genuß. Der Vorsatz erwürgt das Resultat.
* * *
An einem der nächsten Tage ergingen wir uns, Pordoio und ich, kurz vor Sonnenuntergang auf Deck. Wiederum war vom Glück die Rede, das jener so energisch ins Reich der Phantome verwies, und dem er doch mit klammernden Seelenfasern anhing, wie irgendeiner von uns. Schon gegen Mittag war am Horizont ein sehr eigentümlicher Inselumriß zum Vorschein gekommen, der »schlafenden Jungfrau« ähnlich, deren Silhouette wir in die Insel Capri hineinträumen. Wir näherten uns der Insel, mit der Absicht, an ihr in mehrmeiligem Abstand vorbeizustreichen; und diese Absicht verschärfte sich noch in mir, als der andere mir eröffnete: »das dort ist Erebos, meine eigentliche Heimat!«
»Sind Sie dessen ganz sicher?«
– Vollkommen. Die Figur ist nicht zu verkennen. Außerdem hatte ich schon nach unserem Schiffskurse vermutet, daß sie heute vor uns auftauchen würde.
»Wir werden aber nicht landen; unsere Linie ist durch den Wunsch Mac Lintocks genau vorgeschrieben, und ich hoffe, daß Sie als unser Gast seinen Willen respektieren werden.«
– Es läge mir allerdings viel daran, mein altes Verließ wiederzusehen, wenn auch nur auf wenige Stunden.
»Nicht auf fünf Minuten. Gerade Ihr Verlangen bestärkt mich in dem Vorhaben, den Kurs fortzusetzen und Ihnen eine elegische Rückerinnerung zu ersparen. Blicken Sie lieber gar nicht hin, oder noch besser, steigen wir in den Gesellschaftsraum hinunter.«
– Bitte, bleiben wir auf Deck. Ich werde nicht weiter davon reden. Wir können uns ja von anderem unterhalten.
»Einverstanden. Erzählen Sie mir irgendein Abenteuer aus Ihren früheren Fahrten.«
– Meine eigenen Abenteuer haben einen engen Rahmen, und den soll ich doch gerade vermeiden. Aber von den Abenteuern eines ganzen Volkes will ich Ihnen erzählen. Eines Volkes, das auf unseren Inseln eine Rolle spielt. Haben Sie nie von den Pramiten reden gehört?
»Nur ganz gelegentlich in Helikonda und Sarragalla. Auf welcher Insel sind denn die Pramiten beheimatet?«
– Das ist schwer zu beantworten. Sie stammen aus weiter Ferne und leben auf unseren Eilanden in der Diaspora. Sie fehlen nirgends, sind aber auch nirgends wurzelhaft zu Hause. Man hat ihnen dauernd zu verstehen gegeben, sie wären fremdstämmig, und hat sich nachher außerordentlich gewundert, daß sie nicht vollkommen bodenständig wurden. Man hat sie gedrückt und es ihnen zugleich übel genommen, wenn sie nicht aufrecht standen. Schritten etwelche trotzdem aufrecht, so verwies man sie auf die allein ihnen zukommende Positur der Geducktheit. Man versagte ihnen Rechte und murrte, wenn sie ihr Recht auf Pflichterfüllung geltend machten. Man verschloß ihnen viele Kreise und warf ihnen dünkelhafte Absonderung vor. Man schlug sie und empörte sich über die Unschönheit der Striemen, die man ihnen geschlagen hatte.
»Verfuhren denn alle Insulaner also mit den Pramiten?«
– Bewahre; nur ein geringer Teil. Die Mehrheit war verständig genug, um den Vorteil anzuerkennen, den ihnen das Fremdvolk gewährte. Aber Sie wissen ja aus der Physik, daß die Hemmung immer die Förderung überwiegt. Das »Gegen« erscheint überall weit wirksamer als das »Für«. Die nämliche Kraft, die in fördernder Richtung eine Bewegung nur unwesentlich beschleunigt, kann in hemmender Richtung den Bewegungseffekt vollkommen vernichten. Sie bemerken dasselbe an allen Erscheinungen des Lebens. Im Theater sind zwanzig Zischer stärker als achthundert Applaudierende; die Erinnerung an eine Ohrfeige wirkt nachhaltiger als die an hundert Liebkosungen, und ein Mißduft übertäubt alle Wohlgerüche Arabiens. Also im vorliegenden Fall: die geringe Zahl der Antipramiten schuf eine Verbitterung, der gegenüber die Duldsamkeit der vielen anderen gar nicht merklich wurde. Und so blieb dem Fremdvolk schließlich nur noch das eine übrig: auf eine Gastfreundschaft zu verzichten, die den Pramiten nur noch in der Form der Gastfeindschaft fühlbar wurde. Sie gaben ihre zerstreuten Wohnsitze auf und organisierten eine große Siedelung auf einer Insel, die ihnen ganz allein gehören sollte. Dieses Eiland, Zyunal genannt, schien alle wünschenswerten Eigenschaften zu bieten. Sie war bis vor kurzem gänzlich unbewohnt, sozusagen herrenlos, besaß ertragfähige Weideflächen und gewährte genügenden Raum, wenn die Pramiten nur eng genug zusammenrückten. Hierzu waren die Pramiten auch fest entschlossen. Ihr Exodus glückte, vor etwa fünf Jahren, die neue Gemeinschaft der Zyunalisten blühte auf; sie hatten das beseligende Gefühl, daß keiner von ihnen in der Diaspora verblieben war, daß sie vielmehr sämtlich in nahem Kontakt und unbehelligt von feindlicher Rassenströmung sich nach ihrer Eigenart ausleben durften.
»Mehr kann man nicht verlangen.«
– Ja, wirklich, das Problem schien gelöst. Nur zeigte sich nach Verlauf weniger Jahre ein neues sozialpsychologisches Phänomen, auf das keine Vermutung der Vorzeit verfallen wäre. Man bemerkte nämlich auf der Insel Zyunal: Antipramiten.
»Dann muß sich in Ihrer Erzählung ein Fehler oder eine Lücke befinden. Die Antipramiten waren doch auf den früheren Wirtsinseln zurückgeblieben und konnten schwerlich das Gelüste verspüren, die ihnen so unsympathischen Fernsiedler zu besuchen.«
– Gewiß nicht. Das Phänomen hat einen ganz anderen Ursprung. Nämlich: ein Teil der Ausgewanderten gefiel sich in Äußerungen und Gesten, die von den Antipramitischen kaum zu unterscheiden waren. Sie trugen sogar die vierblättrige »Zackenblüte« zur Schau, als ein Abzeichen, das vordem auf den anderen Inseln symbolisch aufgekommen war.
»Und wie wollen Sie das erklären?«
– Wiederum rein physikalisch. Die Einzelkörper gehorchen dem Gesetz der Attraktion, sie ziehen einander an, das heißt, aus dem körperhaften ins Persönliche übersetzt: sie werden zur Geselligkeit gedrängt. Bei sehr großer Nähe indes treten genau wie bei den Molekülen und Atomen gewisse Abstoßungskräfte hervor. Die Individuen wollen wieder auseinander, und wenn ihnen die Enge des Raumes dies verbietet, so äußern sie Unwillen. Jeder schiebt seine Unbehaglichkeit auf den andern, mitten in der Geselligkeit erhebt sich ein Antiprinzip, und wir erhalten das Bild einer Herde von intimen Freunden, die einander nicht ausstehen können. So geschah es in dem Neustaate Zyunal. Nachdem die Repulsionen einige Monate gewährt hatten, bestand er aus lauter Pramiten mit antipramitischer Färbung. Und da jeder einzelne hier zugleich als Subjekt wie als Objekt der Gegnerschaft auftrat, so ergab sich die Unmöglichkeit, die Siedelung fortzuführen. Die nächste Generation hätte es einfach gar nicht mehr ausgehalten.
»Mit anderen Worten, die Ausgewanderten wollen wieder zurück auf die alten Inseln?«
– Ja, so stehen die Dinge augenblicklich. Die Verhandlungen sind bereits eingeleitet und werden sicherlich zu gutem Ende führen. Denn zu den Kennzeichen der Pramiten gehört die Konsequenz bis zur Hartnäckigkeit, und wenn sie erst die Losung ausgegeben haben: »Los von Zyunal!« so trotzen sie allen Widerständen. Und schließlich: es gibt auch ein Heimweh nach dem Schmerzlichen – – ich selbst weiß davon ein Lied zu singen!
»Pordoio, Sie kommen schon wieder auf Ihre alte Melodie. Die müssen Sie ein für allemal unterdrücken. Sie fahren jetzt mit uns nach Europa . . .«
– Sagen Sie doch, Herr, werde ich dort die Möglichkeit finden, mich meiner Neigung entsprechend einer nachdenklichen Einsamkeit zu überlassen?
»Wir wollen dafür schon sorgen. Später, wenn der erste Ansturm überwunden ist.«
– Was für ein Ansturm?
»Der auf Sie, natürlich. Ihr Erscheinen wird berechtigtes Aufsehen erregen. Ein lebender Bürger aus fernen, unbekannten, soeben erst entdeckten Welten! Man wird Sie feiern wie nur einen indischen Heiligen, der aus seinen Dschungeln auftaucht, um Europa mit okkulter Philosophie zu beglücken. Das ist doch sehr ehrenvoll, und Sie werden sich den Huldigungen gewiß nicht widersetzen.«
– Eine schauderhafte Aussicht. Ich werde eine linkische Figur spielen . . .
»Ausgeschlossen. Sie brauchen dort nur zu reden wie hier zu uns, und der Erfolg kann Ihnen nicht entgehen; sei es nun, daß man Sie einlädt, in den Aulen unserer Universitäten Vorträge zu halten, oder daß man zu Ihren Ehren Kongresse veranstaltet. Es wird Ihnen gewiß auch eine Genugtuung gewähren, wenn sich die Interviewer der großen Zeitungen an Sie drängen, um jedes Ihrer Worte millionenfach vervielfältigt in die Welt hinauszudepeschieren. Höchstens die ersten Tage oder Wochen könnten eine leise Unbequemlichkeit bringen . . .«
– Der Himmel behüte mich! Noch mehr Unbequemlichkeit?
»Kaum der Rede wert. Aber sehen Sie, Pordoio, gänzlich um alle Formalitäten kommen wir nicht herum. Kurz nach der Landung in Europa werden wir Sie anmelden müssen . . .«
– Anmelden?!
»Lassen Sie uns dafür sorgen. Die Sache liegt zwar insofern etwas verwickelt, als Ihre Heimat bei uns keine diplomatische Vertretung besitzt. Da kommen andere Instanzen in Frage, die wir zu ermitteln haben werden. Vielleicht genügt es, wenn wir Sie bei der Polizei, beim Paßamt und beim Magistrat persönlich vorstellen und dort die anderen Behörden erfragen, die für die weiteren Anmeldungen in Betracht kommen, damit Sie nachher . . .«
Der Schluß des Satzes blieb mir im Halse stecken. Pordoio rannte geradeaus über Deck; ehe ich ihn einzuholen vermochte, warf er die Oberkleidung ab und sauste mit einem gewaltigen Salto mortale über die Reeling.
Ein Schrei gellte mir durch Mark und Bein. Den hatte er hinausgebrüllt während des Sprunges: »Erebos!«
Nach zehn Sekunden war er außerhalb des Blickbereichs. Aber in dieser kurzen Zeitspanne wurde es meinen starrenden Augen klar, daß der Verwegene mit gewaltigen Schwimmbewegungen hinüberstrebte nach seiner Insel, nach seiner Einsamkeit, von der er niemals hätte abgetrennt werden dürfen.