Alexander Moszkowski
Die Inseln der Weisheit
Alexander Moszkowski

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Kradak

Die Insel der Perversionen.

Eigentlich ist es eine Gruppe dreier benachbarter Inseln, die man nach ihrer gegenseitigen Lage mit den Borromäischen im Lago maggiore in Vergleich bringen könnte. In ihren Wesenszügen treten Verwandtschaften hervor, die es mir nahelegen, sie gemeinsam zu behandeln, wie wir denn auch unseren Aufenthalt nach Zeit gemessen ziemlich gleichmäßig zwischen ihnen verteilten. Als Ausgangspunkt diente uns die mittlere Insel, Kradak, die mit den anderen einen unablässigen Bootsverkehr unterhält. Sie war, als wir landeten, der Schauplatz einer Verkaufsmesse, richtiger gesagt eines bunten Jahrmarkts und zeigte lebhaftes Treiben auf den Straßen, wie in der Karawanserei, in der wir Unterkunft fanden. Manche Auffälligkeiten traten uns im ersten Anlauf entgegen, sie waren indes nicht hervorstechend genug, um unsere Aufmerksamkeit erheblich zu fesseln; sie erschienen eher als launische Zufallsprodukte, denn als Zeugnisse für einen besonderen nationalen Geistestypus. Äußerlich betrachtet erinnerte die Ortschaft an Honolulu; freilich waren die Maße verkleinert, auf bescheidenere Verhältnisse reduziert, und das ganze hatte einen Stich ins Abenteuerliche, Verschrobene, Inkommensurable. Man könnte sagen: Honolulu ist die mittlere Proportionale zwischen einer europäischen Residenz und Kradak; jedenfalls blieben hier Einflüsse der uns vertrauten Kulturen, wenn auch in Verdünnung, deutlich erkennbar.

Nachdem wir uns eingerichtet, fanden wir uns im Speiseraum der Karawanserei zusammen, deren schwer aussprechbarer Name sich sinngetreu mit »Palace-Hotel« übersetzen läßt; und insofern auch sachgetreu, als tatsächlich ein gewisser Luxus vorhanden war, der die anheimelnde Bezeichnung rechtfertigte. Man aß an kleinen Tischen, und wir wurden deshalb getrennt; was uns nichts ausmachte, da wir gar keinen Wert darauf legten, dauernd zusammenzukleben. Wir verteilten uns also auf gut Glück und erwarteten die kulinarischen Genüsse, mit denen uns das »Palace-Hotel« segnen würde.

Ein Vorzeichen der Erfreulichkeit: Bedienung von zarter Hand. Ich persönlich hege die größte Hochachtung vor dem Kellnerstand, mit dem Vorbehalt, daß mir die einfältigste Hebe lieber ist als der tüchtigste Ganymed. Zwischen Tafelbedienung und Männerhand liegt für mich eine sexuelle Dissonanz. Diese Unstimmigkeit wurde hier vermieden. Die Dissonanzen und Querstände waren nichtsdestoweniger vorhanden, allein sie entluden sich, wie man bald sehen wird, nach ganz anderen Seiten.

Eine Bedienerin schwebte heran und pflanzte eine Schüssel mit angenehm duftendem und offenbar sorgsam präparierten Salat vor uns auf. Als wir, Donath und ich, uns anschickten, auf gut Homerisch gierig die Hände auszustrecken, erhob sich vom Nachbartisch ein Ortseingesessener, trat auf uns zu und sagte: »Ich warne Sie, meine Herren, und möchte Ihnen empfehlen, diese Warnung an Ihre Gesellschaft weiterzugeben. Dieser Salat nimmt unter unseren Volksgerichten die erste Stelle ein, er setzt indes eine Gewöhnung voraus, die man bei Landfremden nicht annehmen darf. Er ist nämlich aus den Blättern des Koka-Strauches zubereitet, der hier überall wild wächst und überdies in verfeinerten Kulturen massenhaft gezüchtet wird.«

»Wir sind Ihnen sehr verbunden,« sagte Donath, »obschon mich die Neugier lockt, wenigstens eine kleine Kostprobe zu nehmen; vorher will ich allerdings unsere Reisegenossen von Ihrer Mahnung verständigen.« – Als er nach einigen Sekunden zurückkehrte, hatte ich den autochthonen Herrn bereits gebeten, bei uns Platz zu nehmen. Der Mann gefiel mir, denn er zeigte weltmännischen Schliff und eine Ausdrucksweise, die auf weitreichende Erfahrung schließen ließ. Die besaß er in der Tat. Er war seit zehn Jahren höherer Beamter im Wohlfahrtsministerium der Inselgruppe mit dem Range etwa eines Staatssekretärs; vordem hatte Herr Trelloar (so hieß er) als Emissär im strengsten Incognito ausgedehnte Reisen unternommen, und wir merkten bald, daß ihm unsere Kulturzentren recht gut bekannt waren. »Ich reiste,« berichtete er, »unter der Maske eines finnischen Kaufmannes . . .«

»Also mit gefälschtem Paß?«

– Mit gar keinem Paß. Inkommodiert wird man in Ihren Ländern nur dann, wenn man sich überhaupt auf Ausweise einläßt. Verzichtet man darauf grundsätzlich und ersetzt man die Sprache der Schriftstücke durch das Esperanto klingender Münze, so verschwinden alle Verkehrsschwierigkeiten von selbst. Um nun auf unser Thema zurückzukommen . . .

Die Bedienerin hatte inzwischen auf sein Zeichen verschiedene andere Speisen aufgetragen, gegen deren Genuß Trelloar nichts einzuwenden hatte; Gerichte, die mit gewissen Abweichungen an die uns geläufigen erinnerten. Jedenfalls waren wir ganz gut versorgt und sonach disponiert, während des Mahles den Ausführungen unseres Partners zu folgen.

– Daß in den Koka-Blättern dieses Salates das wichtige Alkaloid Kokain steckt, ist Ihnen natürlich bekannt. Ebenso, daß diese Substanz nicht nur als schmerzstillendes und verhütendes Mittel gebraucht wird, sondern auch zur Betäubung in weiterem Sinne. Und indem es betäubt, weckt es gleichzeitig seltsame nervöse Zustände nach Art der Narkotika, qualitativ modifiziert, quantitativ stärker, besonders in solchen Mengen genossen wie hier. Unser Kokain – ich sagte Ihnen schon, daß wir die Pflanze nach besonderen Verfeinerungsmethoden pflegen – umhüllt den Genießer mit den angenehmsten Visionen und Phantasmagorien; nämlich dadurch, daß es den Schmerz aufhebt, der mit dem Dasein selbst verknüpft ist, sagen wir: den Existenzschmerz.

»Gut umschrieben,« bemerkte Donath Flohr, »aber ich als Europäer würde das direkter bezeichnen: der Kokaingenuß an sich ist eine Perversität und erzeugt Perversionen. Also glattweg ein Laster. Schon in winzigen Dosen, eingespritzt oder geschnupft, untergräbt er die sittliche Konstitution. Ich kann mir einstweilen noch gar nicht ausmalen, was aus einem Volk wird, daß sich dieses Zeug gewohnheitsmäßig aus vollen Schüsseln einverleibt.«

Trelloar entgegnete: – Lassen wir es einstweilen bei Ihrem Ausdruck Perversion. Sie werden vielleicht, und ich hoffe es, dahin gelangen, diesem Begriff eine neue Bedeutung abzugewinnen. Was unter gewissen Bedingungen pervers erscheint, kann unter anderen die Form einer harmlosen und durchaus naturgemäßen Gepflogenheit annehmen. Sind Sie Raucher?

»Heftig. Mit Leidenschaft. Ich qualme sogar im Bett.«

– Nun stellen Sie sich vor, Sie allein rauchten, Sie allein besäßen Tabak, kein Mensch außer Ihnen. Dann wären Sie zweifellos ein Perverser. Die Mediziner würden konstatieren, daß Sie dauernd ein starkes Gift schlucken, an dem Sie unabwendlich in wenigen Wochen zugrunde gehen müssen. Sie würden vielleicht auch an Moralprediger geraten, die nach historischem Vorbild beantragen, Ihnen die Nase abzuschneiden, weil Sie kraft höllischen Feuers mit dem Satan im Bunde stehen. Aber im modernen Kulturkreis sind Sie durchaus kein Perverser, sondern ein Raucher unter Millionen, der gedeiht, der als sittliche Persönlichkeit hundert Jahr alt werden kann . . .

. . . »und dem der Tabak,« schaltete ich ein, »die besten geistigen Inspirationen zuführt. Soweit bin ich ganz einverstanden mit Ihnen, Herr Trelloar. Man müßte nur erfahren, welchen besonderen Gepflogenheiten sich Ihre Genossen hingeben, und alsdann prüfen, ob es wirkliche Perversionen in jedem Betracht sind, oder bloß Abweichungen vom Normalgebrauch.«

– Beginnen wir mit Kleinigkeiten. Ich bemerke vorweg, daß ich selbst nur geringes Gewicht auf sie lege, weil sie nur die Äußerlichkeiten, nicht die Tiefe des Lebens betreffen. Dort drüben sitzt ein Bürger von Kradak, der sich eben einen eigenartigen Gang schmecken läßt; Sie können sämtliche Speisekarten zwischen Nordkap und Palermo durchgehen, ohne auf das Gericht zu stoßen: es ist Ziegenkäse mit Sardellen, am Spieß gebraten. Sein Nachbar ißt Krähenzungen in Vanille, nachdem er vorher Kaviar mit Schlagsahne konsumiert hat. Sein Nachbar trinkt getrüffelten Kaffee, und was er darin eintunkt, ist kein Kipfel oder Hörnchen, sondern Salzgurke. Träten diese Dinge vereinzelt auf, so könnte man sie als feuilletonistische Scherze und die Personen als perverse Sonderlinge betrachten. Es steckt aber ein Programm darin. Wir auf Kradak sagen uns, daß wir die Tafelmöglichkeiten vertausendfachen, wenn wir an keinem Menuzwange festkleben. Wir haben unsere Geschmacksnerven auf eine Vielfältigkeit eingestellt, die den Europäern fremd ist, da Ihr aus der Unerschöpflichkeit der Eßkombinationen nur ein Minimum herausholt. Genau genommen haben Sie alle, ob Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Schweizer, Skandinavier, alle zusammen nur eine Speisekarte, bestenfalls vier Seiten lang, und Sie unterliegen mit Ihren Tafelfreuden dem ewig Gestrigen, wie Ihr Dichter sagt, das morgen gilt, weil's heute hat gegolten. Wer darüber hinaus will, von Euch aus gesehen, hat einen perversen Geschmack. Salzgurke in süßem Kaffee oder Blindschleiche in Schokolade, das schmeckt abscheulich, so meint Ihr; aber das ist genau so, als wenn Ihr eine Klangmasse oder eine Tonfolge für gräßlich erklärtet, die früher einmal dissonierte; morgen wird sie konsonieren, und ein Ohr, das sich damit befreundet, ist nicht pervers, sondern nur in der Zeit voran.

»Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie auf Folgendes hinaus: Gewisse einzelne Perversionen, die vorläufig nur symptomatisch auftreten, sollen sich zu einem System zusammenschließen, und hierin soll zum Ausdruck kommen, daß man dem Leben erheblich mehr Reizungen abgewinnen kann, als man gemeiniglich annimmt.«

– Sie sind auf dem Wege zum Verständnis; allein Sie werden den ganzen Umfang der Reizvermehrung erst dann begreifen, wenn wir auf das geistige Gebiet gelangen. Ja! wir sind allerdings zu der Einsicht gelangt, daß der Mensch im allgemeinen von den Variationsmöglichkeiten, die ihm die Natur selber eröffnet, nur einen ganz kümmerlichen Gebrauch macht; und daß er der Erstarrung anheimfallen wird, wenn es ihm nicht gelingt, sich aus der Umklammerung des Formalismus zu befreien. Das Kennzeichen des Lebens, wie es sich da draußen und besonders bei Ihnen in Europa abgewickelt hat, ist die Monotonie. Unbeschadet der Wechselfälle in Krieg und Frieden, in Revolution und sonstiger historischer Gestaltung unterliegen Sie alle der Anpassung an eine Normale, die Ihnen als Internationalismus oder Kosmopolitismus vorschwebt, die aber im Grunde nichts anderes ist, als eine entsetzliche Gleichmacherei, in welcher die Besonderheiten untergehen, die gewesenen und noch viel mehr die zukünftigen. Das Grundgesetz der Natur, daß es so viele Empfindungen, Daseinsmöglichkeiten, ja Logiken gibt als Einzelmenschen, wird durch den Anpassungstrieb gewaltsam außer Kraft gesetzt. Die Dampfwalze der Nivellierung geht über alles hinweg. Ich stand in London und betrachtete jene endlosen Straßen, in denen jedes Haus dasselbe Bauschema verfolgt, jeder Bewohner dasselbe Leben absolviert, zur nämlichen Stunde das nämliche ißt, trinkt, hantiert, denkt, erledigt, abhaspelt. Und ich fragte mich: warum sind das Millionen, wenn sie in ihrer numerischen Überfülle nichts anderes aufzeigen als irgend ein Dutzend? Dann stand ich wiederum in Paris, Wien, Berlin, Stockholm, Florenz, New York, Kalkutta, und bemerkte zwar nationale Abtönungen, andere Baustile, aber das Grundprinzip blieb dasselbe: die Unterdrückung der Variation zugunsten der Uniformität. Und wenn ich mir die Leute ansah, so war der Eindruck vorherrschend: es gibt bei euch nur noch einen Typus, den langweiligen Kosmopoliten, der überall dieselbe Figur machen will und der sich in längstens einem Jahrhundert zum öden Allerweltsschema durchgesetzt haben wird.

»Erstens wäre das noch kein Unglück; und zweitens übertreiben Sie, indem Sie die gemeinsamen Merkmale allzusehr hervorheben. Gewiß waren in Vorzeit die Differenzen zwischen einem Karaiben und einem Athener hervorstechender als heutzutage die Unterschiede zwischen den Bürgern und Arbeitern der Hauptstädte. Aber eine Verähnlichung in Geschäften, Denkweisen und Lebensgestaltungen ist doch noch nicht eingetreten.«

– Sie übersehen das Wesentliche, die Empfindung, die allerdings in allen Zonen einen bedauerlichen Grad der Egalisierung erreicht hat. Jedermann, er wohne wo er mag, will aus der Unannehmlichkeit heraus in die Annehmlichkeit, er will dies unabänderlich auf Grund seiner ärmlichen fünf Sinne, deren Spiel anscheinend nur geringer Modulation fähig ist. Was dem Londoner angenehm ist, als Sinneseindruck, das berührt alle angenehm, was auf ihn peinvoll wirkt, das wird in der ganzen Welt als peinvoll empfunden. Ihr alle sprecht und empfindet wie der Jude Shylock in eurem Shakespeare: mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von demselben Winter und Sommer, – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Religion und Philosophie ändern nichts an diesem Grundbestand. Aber da kommt eine neue Erkenntnisfrage: Wie wenn wir aus dem Mißgefühl ein Wohlgefühl herausentwickeln könnten, aus dem blutigen Stechen einen angenehmen Kitzel? Wenn wir in unseren Empfindungsapparat eine neue Mechanik einzusetzen vermöchten, die uns den Schmerz ganz direkt zur Lust transformiert?

»Herr Trelloar, das wird masochistisch.«

– Allerdings, und ich füge hinzu, daß wir uns auf diesen Inseln in beträchtlicher Zahl dem Masochismus überliefert haben. Und um die Sache fürs Gespräch zu erleichtern, bleibe ich bei dem Ihnen geläufigen Ausdruck. Also wir huldigen der Perversion des Masochismus in allen Formen, sind uns aber dessen bewußt, daß wir damit den Lebenskreis erweitern und klar zum Ausdruck bringen, was auch im Unterbewußtsein des kosmopolitischen Philisters schlummert. Dem Philister fehlt die Fähigkeit und der Mut, eine angedeutete Gefühlsmöglichkeit zu verfolgen und auszugestalten. Nur beileibe nicht aus dem gradlinigen Normalen heraus! Wir verfahren also zunächst jedenfalls ehrlicher als er, indem wir uns nicht hinter angeblichen ethischen Hemmungen verkriechen, sondern offen zu dem bekennen, was wir sind.

»Verzeihung, das tun wir ja auch; wir sind eben Nicht-Masochisten und betonen dies nachdrücklich.«

– Das heißt, ihr betont eine Unwahrheit, gelinde gesagt eine Unwahrhaftigkeit, denn euer ganzes Verhalten dem Weibe gegenüber ist auf Masochismus eingerichtet, auf eine verhaltene, uneingestandene, mit tausend Kunstmitteln verfälschte Perversität. Erlauben Sie mir, daß ich zum Beweise etwas aushole, um Ihnen die Beziehung der Geschlechter im Gedankengang einer Person zu definieren, die Sie wohl auch als Autorität gelten lassen; weil sie die einzige war, welche die Philosophie der Liebe theoretisch wie praktisch vollkommen beherrschte. Diese Person also, in deren Umarmungen Liebe und Erkenntnis zusammenflossen, – erraten Sie, von wem ich spreche?

»Es könnte Aspasia sein.«

– Getroffen. Wiederholen wir uns ihre Weisheit; die Männer, als die Inhaber aller Machtvollkommenheit, haben alles aufgeboten, um uns, die Frauen – sagt die Griechin – des bloßen Gedankens einer Empörung gegen ihre unrechtmäßige Herrschaft unfähig zu machen: sie fordern zum Preis aller Vergewaltigung, die wir von ihnen erleiden, unsere Liebe: wenden alle erdenklichen Verführungen an, uns zu überreden, daß sie ohne uns nicht glücklich sein können, und bestrafen uns gleichwohl dafür, wenn wir sie glücklich machen. Und wir, die Frauen, verdienen bestraft zu werden, wenn wir blöde genug sind, die Feinde unserer Ruhe, die Tyrannen unseres Lebens unsere Überlegenheit nicht spüren zu lassen. Warum bedienen wir uns nicht der Vorteile, die uns die Natur über sie gegeben hat? Wir sollten das schwächere Geschlecht sein, sie das stärkere? Die lächerlichen Geschöpfe! Wie fein steht es ihnen an, mit ihrer Stärke gegen uns zu prahlen, da die schwächste aus dem Kreise der Weiber es in ihrer Gewalt hat, jeden Helden, ja jeden Halbgott, mit einem lächelnden oder säuerlichen Blick zu ihren Füßen zu legen?! Auf die rhetorischen Fragen der Aspasia gibt das Verhalten der Männer die Antwort; sie unterwerfen sich tatsächlich, sie erhöhen instinktiv die Weibertyrannis über ihre eigene Tyrannei. In aller Lyrik, in allem Troubadourwesen, in aller Galanterie steckt das Bekenntnis und der Wunsch, Gewalt zu spüren vom andern Geschlecht. Das ist der erste Auftakt des Masochismus, der sich mit ideellen Fußtritten und transzendenten Geißelungen begnügt. Wenn wir in der Praxis weiter gehen, und die Wollust nicht gerade da kupieren, wo sie eben anfängt merkbar zu werden, so üben wir nur jene Konsequenz, die ihr ja sonst als männliche Tugend feiert. Ihr verfahrt mit eurem verdünnten Masochismus wie einer, der in die Küche hineinriecht und sich das Essen versagt. Ihr laßt nicht gegenständlich werden, was seiner ganzen Natur nach wie alles Sexuelle auf die Realität hindrängt, und in dieser Resignation – so könnte man sagen – seid ihr die Perversen, da ihr den natürlichen materiellen Verlauf nach der entgegengesetzten Richtung umbiegt, also ganz wörtlich genommen, pervertiert.

»Wir sind da sehr weit auseinander. Zugeben will ich Ihnen, daß ein Drang nach Selbstunterwerfung existiert, der dem natürlichen Willen zur Macht in gewisser Weise widerspricht. Zugeben will ich ferner, daß die ganz unerläßliche Lebensfeinheit der Galanterie ihren Sinn verliert, wenn wir im Zuge zeitlicher Anforderung die politische und soziale Gewalt mit den Frauen teilen, das heißt, die Macht preisgeben. Aber die von uns gepflegte Galanterie, mag auch ein Rest von freiwilligem Sklaventum in ihr stecken, ist doch himmelweit verschieden von der potenzierten Sklaverei des richtigen Masochismus. Ganz banal ausgedrückt: wirkliche Fußtritte und Geißelschläge tun doch weh, wie können Sie so pervers sein, ein Vergnügen dabei zu empfinden?«

– Die Tatsache spricht für sich, und sie steht nicht vereinzelt. Es läßt sich sozusagen geschichtlich erweisen, daß Orgiasmus und Schmerz Erscheinungsformen ein und desselben Vorgangs sind, und daß es in gewissem Grade nur von uns abhängt, sie so oder so zu empfinden. Die alten Hexen- und Folterberichte wimmeln von Bestätigungen. Ich besitze eine ganze Sammlung davon und habe mir erst heute eine bezeichnende Stelle dieser Art ausgeschrieben.« – Er zog ein Blättchen hervor und las: »Ein beglaubigter GewährsmannCarré de Montgeron; zitiert in Placzeks Werk »Das Geschlechtsleben der Hysterischen«. von 1730 beschreibt wie ein der Hexerei angeklagtes Mädchen mit einem 30 Pfund schweren Feuerblock in der Magengegend so bearbeitet wurde, daß der Block bis zum Rücken vorzudringen schien, und daß man hätte meinen sollen, sämtliche Eingeweide wären unter der Wucht der Schläge zerschmettert. Das Opfer aber rief nur dem Peiniger zu: Das tut gut! Mut, mein Bruder, schlage noch mehr, wenn du kannst!«

»Das ist Hysterie.«

– Sie setzen nach alter Gewohnheit ein Wort für die Sache und sind dann fertig mit dem Problem. Wir fassen es tiefer. Wenn auch nur in einigen Fällen der Schmerz als Lust wahrgenommen wird – die Fälle sind zu Hunderten erwiesen – dann sind die Kategorien Schmerz und Lust überhaupt nicht in Trennung aufrecht zu erhalten. Mit der neuen Kategorie aber, mit dem Lustschmerz oder der Schmerzlust gewinnt der Mensch eine Unzahl von Emotionen, die im alten Register vollständig fehlen. Und wenn wir unsere sensiblen Nerven hierzu trainieren, so erreichen wir damit Variationen, in denen sich ein gesteigertes Lebensprinzip ausspricht.

* * *

Wir traten auf die Straße, da Trelloar uns ein wichtiges Staatsgebäude zeigen wollte. Wir beide hatten uns Zigaretten angesteckt, und Donath hielt auch ihm sein Etui anbietend entgegen. Allein der Kradaker bevorzugte seine eigene Sorte und entzündete sich einen Stengel, dessen Aroma wir im geschlossenen Speiseraum schwerlich ausgehalten hätten. – Sehen Sie, sagte er, auch im Rauchen sind Sie beim ersten, leisen Perversitätsansatz stecken geblieben, da Sie an dem unvariablen Dogma festhalten: »Nur Tabak!« was ungefähr dem primitiven Standpunkt des Säuglings entspricht, dessen Dogma lautet: »nur Milch!« Ich habe hier in meiner Dose zwölf verschiedene Sorten, und unsere Industrie erzeugt hunderte, unter denen der Tabakstyp höchstens zu fünf Prozent vorkommt. Die Zigarette, an der ich mich eben delektiere, ist aus den Blättern des Bilsenkrauts gewickelt, in den andern befindet sich Löwenzahn, Euphorbium, Schierling, Fingerhut, Meerzwiebel, Taumellolch, und so weiter, lauter Giftpflanzen, deren Alkaloide es mit Ihrem Nikotin getrost aufnehmen können.

»Pfui Teufel!« rief Donath; »wenn Ihre Giftnudeln so schmecken wie sie duften, dann möchte ich diese Perversion allerdings nicht mitmachen.«

»Ich zwar auch nicht,« sagte ich, »aber trotzdem bist du hier offenbar gegen unseren Mentor im Unrecht. Wir dürfen – so viel habe ich von seiner Lehre schon begriffen – den Stand unserer Gaumen- und Nasennerven nicht als den alleingiltigen ansprechen, da wir sonst in denselben Urteilsfehler verfallen würden, wie der absolute Rauchfeind gegen den Raucher. Ich halte es für durchaus möglich, daß uns die Kradaker auf diesem Gebiet, wenn auch nicht überlegen, so doch in der Zeit mächtig voraus sind.«

– Ich freue mich, daß Sie sich bemühen, das Prinzip als solches zu würdigen, bemerkte Trelloar. Und ich verkenne Ihre Anstrengung um so weniger, als wir ja selber mit allen Einzelheiten des Prinzips noch nicht im Reinen sind. Wir befinden uns in vieler Hinsicht noch im Versuchsstadium, da wir erst seit wenigen Generationen die Wohltat der Variation und die Unwürdigkeit der Monotonie erkannt haben. So sind wir zum Beispiel mit dem Trachtenwesen immer noch in gewisser Abhängigkeit von den alten Stilen . . .

»Das sieht man auf den ersten Blick,« äußerte Donath wegwerfend, indem er die Jahrmarktsmenge musterte. »Es ist ein Durcheinander aller erdenklichen Bekleidungen, die auf unsereinen chaotisch, barbarisch und grotesk wirkt. Die Gruppe dort sieht aus wie aus einem Apachenball hierher verschlagen; Mädchen in Zwittertracht zwischen einer friesischen Magd und Indianerin, zwischen Bonne und Kokotte. Der junge Mann dabei trägt ein Schurzfell, ein Spitzenjabot und einen blanken Zylinder mit Gemsbart und Spielhahnfeder. Das alles ist Potpourri, Olla potrida, aber keine Nationaltracht.«

– Wir wünschen auch gar keine, denn damit würden wir uns schon wieder der Schablone überliefern. Vergegenwärtigen wir uns, daß in aller Mode, aller Trachtenbildung zwei Elemente stecken, ein revolutionäres, das uns aus der Kralle der vorigen Mode befreien will, und ein konservatives, das die neue Mode wie eine sakrosankte Herrscherin ausruft. Man befreit sich nur aus einer Kralle, um in eine neue zu fallen, man vertauscht Fesseln mit Ketten. Ein dunkler Trieb sagt uns: befreit euch endlich vom Diktat der Schneider und Konfektionäre, und jedesmal, wenn wir eben daran sind, den Zwang abzuschütteln, akzeptieren wir schon ein neues Ultimatum . . .

»Nicht übel! Man kann allerdings den Modezwang als ein System von Sanktionen auffassen, worin unsere wehrlose Körperfläche die Rolle des besetzten Gebietes spielt. Man kann machen was man will, es werden immer neue Fahnen und Fähnchen aufgepflanzt, wir bebürden uns mit den Besatzungskosten, werden nie Herren unserer selbst und tragen, was andere uns auferlegen.«

– Das ist die eine Seite. Andrerseits aber wickelt sich alle Modeflucht in einem traurigen Turnus ab, der heute modern macht, was schon anno Olim modern, inzwischen aber verpönt war. Warum verpönt? weil das Schreckenswort »geschmacklos« sich aufbäumte. Da drüben gehen einige Insulanerinnen mit Krinolinen . . .

»Gräßlich.«

– Jawohl, finde ich auch. Aber die nämlichen Tonnenröcke hatten in Europa vier Mal lange Blütenperioden und können noch heute, ballettartig stilisiert, entzückend wirken.

»Ich wiederhole trotzdem: gräßlich, weil sie die schöne weibliche Linie vollkommen unterdrücken und zu einer komischen Bauschkurve karikieren.«

– Es fragt sich nur, ob die weibliche Naturlinie wirklich schön ist. Ich brauche mich gar nicht anzustrengen, um die Linie einer Medusenglocke schöner zu finden. Wie ja auch andere Trachten, die Ihnen sympathisch sind, auf die weibliche Linie nicht die mindeste Rücksicht nehmen. Der weite Ärmel bauscht den Arm zum Flügel, die Schleppe nimmt ihr Modell vom Pfauenschweif oder vom Fisch. Desinit in piscem mulier formosa superne. Aber die umfangreiche Afterflosse stört uns durchaus nicht, wir finden sie formos, obschon sie die Naturlinie der Extremitäten vergewaltigt. Die Hauptsache ist und bleibt, daß eure europäische Mode immer auf eine tyrannische Einheit hindrängt, während wir auf eine freiheitliche Vielheit hinsteuern. Was ihr nur vereinzelt, etwa auf einem Kostümfest erlebt, das erheben wir zur Regel. Wir versteifen uns nicht auf eine Nationaltracht, wir mischen die Stile, machen uns unabhängig von Jahr und Datum.

»Und ich glaube, man muß sehr viel Kokain im Leibe haben, um das erträglich zu finden . . .«

– Oder einen sehr trägen Puls, um sich nicht aus dem Trachtenzwang hinauszuwünschen.

Wir waren bei einem weitgestreckten Gebäude angelangt, und Trelloar erklärte: Dies ist unser Institut für verdiente Gelehrte und überhaupt für Männer, denen wir eine Erweiterung der Anschauungen zutrauen. Ihre Aufgabe ist es, die Schablone zu überwinden, neue Denkwege zu erschließen.

»Perverse Denkwege natürlich.«

– Bleiben Sie meinetwegen bei dem Ausdruck; aber erkennen Sie es an, daß diese Leute hier auf Staatskosten verpflegt und unterhalten werden. Es ist, sozial betrachtet, wie ein Prytaneion und hat zugleich einen klösterlichen Anstrich wie der Port Royal, worin forschende Einsiedler vom Format eines Pascal gänzlich frei von materieller Sorge Ihren Studien leben. Gestehen Sie nur, daß Sie dergleichen in Deutschland nicht besitzen.

»Unsere Geistesarbeiter erheben auch gar nicht solche Ansprüche; sie sind schon zufrieden, wenn der Staat sie im Genuß ihrer Schmachtriemen ruhig vegetieren läßt. – Aber ich hätte Lust, und mein Gefährte gewiß ebenso, mich mit einigen ihrer Gelehrten zu unterhalten.

Dies lag auch im Programm unseres Führers. Nach wenigen Minuten standen wir im Privatgemach eines philosophischen und theosophischen Forschers, der uns als der Magister Fordax vorgestellt wurde.

»Dürften wir uns erkundigen,« fragte ich, »was Sie augenblicklich bearbeiten?«

– Einige okkulte und abwegige Fragen, deren Erhellung im Interesse der Menschheit liegt. Mit geradem Verstande sind sie nicht zu lösen, folglich müssen sie mit taumelnder Vernunft angefaßt werden, im Zickzack, exzentrisch.

»Zum Beispiel?«

– Jetzt eben behandle ich folgendes Problem: Ist Gott imstande . . .

»Halt! der Anfang klingt blasphemisch. Selbstverständlich ist Gott zu allem imstande. Und es wäre Widersinn und Lästerung, an seiner Allmacht zu zweifeln.«

– Dann ist er also auch imstande, etwas Geschehenes ungeschehen zu machen?

»Ein zweiter Widersinn. Sie konstruieren absichtlich eine Unmöglichkeit, um sie gleichzeitig in eine Möglichkeit umzufälschen. Das geht nicht. Übrigens hat schon die alte Scholastik diese Frage aufgestellt, und wir wollen doch nicht in den Unsinn von vor siebenhundert Jahren zurückfallen. Die Scholastiker operierten mit einer entarteten Dialektik . . .«

– Mit dem Geiste des Aristoteles, den Sie sonst in allen Tonarten preisen. Habt ihr Europäer nicht auch die Alchymie durch Jahrhunderte für Unsinn erklärt? Und was ist eure moderne Chemie anderes als Alchymie? Ihr verwandelt das Element Radium in das Element Blei, ihr seht die weitere Verwandlung in das Element Gold voraus, ihr seid wieder Alchymisten geworden und werdet wieder Scholastiker werden. Ich bin es schon heute und erkläre sonach: Gott ist imstande etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Vermag er dies aber, dann ist es nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit so gut wie sicher, daß er diese Allmacht schon in unzähligen Fällen ausgeübt hat, an unzähligen Geschehnissen, die wir als historisch betrachten. Cäsar ist ermordet worden, und der erste Kreuzzug hat stattgefunden, so lernen wir aus den Büchern. Wenn Gottes Allmacht inzwischen anders beschlossen hat, so ist Cäsar nicht ermordet worden, und der erste Kreuzzug hat nicht stattgefunden. Somit ist die ganze Wissenschaft der Weltgeschichte eine hohle Seifenblase, die in Nichts zerstiebt, wenn wir sie nur mit der Spitze meiner Frage berühren.

»Perversität des Denkens! Wir können doch unser Wissen nachprüfen und jede Tatsache durch andere Tatsachen kontrollieren.«

– Nein, das können Sie nicht. Sie kontrollieren immer nur Berichte an Berichten. Sie sind überzeugt, daß der Kongo in Afrika fließt. Weil es Ihnen in vielen Worten und Schriften versichert worden ist. Und weil Sie in diesem Moment Ihrem Gedächtnis vertrauen, das Ihnen versichert, Sie hätten das wirklich gehört und gelesen. Sie stehen auf dem Boden der Glaubwürdigkeit, das heißt, Sie glauben an den Kongo, wie an die Richtigkeit eines Dokumentes, das hundert Historiker für echt erklären, und das sich nachher dennoch – wie die berühmte Königinhofer Handschrift – als gefälscht erweist. Außerdem glauben Sie aber an die Allmacht Gottes, der, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen, vor einer Stunde den Kongo und ganz Afrika aus der Liste aller heutigen und obendrein aller jemaligen Existenzen gestrichen haben kann.

»Sie leugnen also jedes Wissen überhaupt?«

– Bis auf eines: Ich etabliere die Wissenschaft des theurgischen Widerspruchs, die unendlich reicher ist, als die von Ihnen gepflegten monotonen und in sich zusammenfallenden Wissenschaften.

»Ein wahres Glück, daß Sie bei aller Exzentrizität wenigstens das höchste Wesen gelten lassen.«

– Tat ich das? dann muß ich natürlich in der Linie des Widerspruchs mystagogisch weiterfolgern: Ist Gott allmächtig, so könnte er, wenn er wollte, sich selbst abschaffen. Und da wir von seinem Willen nichts wissen, so ist eine Welt ohne Gott möglich. Nun sind im Universum alle Möglichkeiten verwirklicht, somit führt die strengste Orthodoxie zum Atheismus . . .

Ich kann mich für die Wörtlichkeit seiner Schlußäußerung nicht verbürgen, denn wir hatten uns schon vor seinen letzten Silben mit einem raschen Sprung durch die aufgeklinkte Tür seinen weiteren Denkwagnissen entzogen. Auf dem Korridor begegneten wir unseren Expeditionsgefährten, die von einem anderen Führer geleitet ebenfalls den Weg in dieses Prytaneion gefunden hatten. Mac Lintock sah sehr aufgeräumt aus, ich vermutete, daß ihn der Kostümwirbel auf der Straße belustigt hätte. Erstlich das, gab er mir zu verstehen, dann aber habe ich für alle Fälle auf dem Markt bei einem Grossisten so und so viel Doppelzentner Kokablätter franko Schiff gekauft. Direkt geschenkt. Das ergab, zu Newyorker Kokainpreis umgesetzt einen Nutzen von schwindelerregenden Ziffern. Doktor Wehner war mit seiner Taxe betreffs des Geisteszustandes der Insulaner nahezu fertig: »eine verkehrte Welt; Paranoia!« – während Eva beschäftigt schien, der methodischen Linie dieses Wahnsinns nachzuspüren: Wir möchten nicht unterlassen, einen bestimmten Gelehrten des Institutes, den sie soeben interviewt habe, zu besuchen. Ihr sei freilich mancherlei unklar geblieben, allein sie glaube doch, daß man die scheinbaren Fäulnisse dieser Denkart nicht mit dem billigen Urteil »pervers« einfach abtun dürfe.

Ich hatte mich inzwischen von dem Theosophen soweit erholt, daß ich mich in der Verfassung fühlte, ein weiteres Kolleg über mich ergehen zu lassen. Ich folgte daher dem Wink der Amerikanerin, und wir begaben uns zu dreien in die Räume des Magisters Curaxo.

Alles wies darauf hin, daß wir einem Vertreter der exakten Wissenschaft gegenüber standen. Man erblickte Laboratoriumsgegenstände, und im Hintergrund am Fenster schien ein junger Assistent mit Experimenten und teleskopischen Beobachtungen beschäftigt.

Schon nach kurzer Einleitung waren wir beim Hauptthema, beim Wesen aller Dinge, bei der Zahl. Und ich erfuhr, daß die bekannte Methode, mit Zahlen zu operieren, in diesem akademischen Gehege keine Geltung hatte.

– Die Physik, sagte Curaxo, beruht auf quantitativ messenden Ergründungen, mithin auf dem Rechnen. Wer falsch rechnet, kann zu keiner richtigen Naturkunde gelangen.

»Das ist unbestreitbar, Herr Magister. Unsere Arithmetik wie wir sie in den europäischen Schulen betreiben . . .«

– . . . ist in den alten Euklidischen Formeln stecken geblieben, also gelinde gesagt, antediluvianisch. Schon die Starrheit eures Zahlengerüstes wirkt auf einen Vorgeschrittenen empörend.

»Also Sie haben ein biegsames Zahlensystem?«

– Ein vollkommen elastisches, in der jede Zahl mit jeder vetauscht werden kann, getreu unserem Grundsatz, daß der Schematismus überwunden werden muß, um der freien Variation Platz zu machen. Ich gehe davon aus, daß 2 mal 2 gleich 5 ist.

»Der Scherzbeweis ist mir bekannt; er beruht auf einem Trugschluß.«

    7 = 3 + 4        }  identische Gleichungen
4 x 3 + 4 x 4 - 5 x 7 = 4 x 3 + 4 x 4 - 5 x 7  } 

durch Addition ergibt sich wiederum identisch:

4 x 3 + 4 x 4 - 4 x 7 = 5 x 3 + 5 x 4 - 5 x 7
oder anders geschrieben:            
4 (3 + 4 - 7) = 5 (3 + 4 -7 )

links und rechts befindet sich multiplikativ derselbe Klammerausdruck; dividiert man ihn beiderseitig fort, so erhält man

     4  =  5
 2  x  2  =  5

– Ich werde Ihnen zeigen, daß es ein Ernst-Beweis ist, und daß Sie sich selbst betrügen, wenn Sie dem Schluß und seinen unabsehbaren Folgen ausweichen.

»Sachte, Herr Magister! Jener Beweis fußt auf richtigen, identischen Gleichungen, worin der geschlossene Ausdruck auftritt: 3 + 4 - 7. Diesen Ausdruck heben Sie beiderseitig durch Division fort, und das dürfen Sie nicht; denn 3 + 4 - 7 ist Null, und es ist in der Mathematik streng verboten, durch Null zu dividieren.«

– Der richtige Europäer! Wir verhandeln Mathematik, und er kommt mit der Polizei, – man darf nicht! er verbietet eine Rechnungsart, so wie er die Päderastie verbietet, während er die ganze äquivalente Tribadie erlaubt! Aber man hat auch durch Jahrhunderte die Rechnung mit imaginären, mit irrationalen Größen, ja sogar mit Negativzahlen verboten und sich schließlich doch dazu aufgerafft. Ja, Sie hätten überhaupt keine Algebra ohne die so lange verpönten Imaginärgrößen.

»Das ist nicht dasselbe, Herr Magister; denn mit Ihrer Null-Division gelangen Sie zu einem evident falschen Resultat.«

– Eine schöne Logik! Sie erklären das Resultat für falsch, weil es Ihnen nicht einleuchtet. Aber dem großen Newton hat sie eingeleuchtet, denn er glaubte an die Trinität, an die Dreieinigkeit, also an 3 gleich 1. Und aus 3 gleich 1 läßt sich durch die einfachsten, auch von Ihnen gebilligten Operationen direkt ableiten 4 = 5, obendrein 4 = 2, und wenn ich diese Zahlen wiederum geometrisch verwende, so gewinne ich etwas ganz Neues, nämlich den elastischen Pythagoreischen Lehrsatz. Nehmen Sie etwa das Dreieck mit den Seitenlängen von 3, 4 und 5 Zoll: ist das rechtwinklig?

»Zweifellos: denn 3 im Quadrat plus 4 im Quadrat ist gleich 5 im Quadrat.«

– Da ich nun, wie eben gezeigt, die 3 durch 1 und die 4 durch 2 ersetzen kann, so bleibt auch das Dreieck 1–2–5 rechtwinklig: und hier ergibt die Quadratur offensichtlich: das Quadrat über der Hypotenuse ist 5 mal so groß, als die Summe der Kathetenquadrate. Ändert sich aber der Pythagoras nach meinem Belieben, so ändert sich das gesamte Weltbild, das heißt; ich bin in jedem Moment befähigt, alle Geometrie, alle Physik, alle Anschauung überhaupt in größter Freiheit umzuformen. Begreifen Sie nun die geistige Engnis, zu der Sie sich selbst verurteilen, weil Sie an dem verrotteten Strafparagraphen mit dem Nullverbot festkleben?

»Ihre Variationslust, Herr Magister, imponiert mir durch die rücksichtslose Konsequenz, mit der Sie sozusagen bolschewistisch an den Denksäulen rütteln. Ich bin nunmehr auf Ihre neue Physik gespannt.«

– Sie haben einen guten Moment abgepaßt, sagte er, während ein unheimliches Freudenfeuer in seinen Augen glomm: denn wir sind eben dabei, eine epochale Versuchsreihe abzuschließen. Und zu dem jungen Assistenten gewandt, der im Hintergrund hantierte, fragte er: Sind Sie fertig, Paraspo?

»Sogleich!« rief dieser. »Ich bin eben dabei, die Ergebnisse tabellarisch zu ordnen. Es stimmt alles aufs Haar nach Ihren Voraussagungen, Magister!«

– Es geht hier um keine Kleinigkeit, ergänzte der Forscher. Ich habe nämlich den Raum und die Zeit definitiv ergründet, weit über alle Relativitäts-Theorie hinaus. Ist es Ihnen bekannt, daß jedes Atom genau so gebaut ist wie das ganze Sonnensystem?

»Freilich, das ist ja nach den Untersuchungen der modernsten Forscher ganz exakt festgestellt.«

– In dieser Linie bin ich vorgeschritten und habe per analogiam ermittelt, daß unser Sonnensystem nichts anderes darstellt als das kleinste Atom; was sich auch in bester Übereinstimmung mit meiner Zahlentheorie befindet. Ursprünglich galt das Universum als unendlich groß, nach der Relativitätstheorie wurde es endlich begrenzt, und nun vollziehe ich den letzten Schritt mit der Ansage: das Universum ist unendlich klein, ist Null; das will sagen: der Raum existiert überhaupt nicht. Das ist aber erst der Anfang. Ich habe durch einen von mir konstruierten Fernseher festgestellt: alle Sterne spiegeln. Blicke ich nach dem Polarstern, so sehe ich auf ihm ein Spiegelbild der Erde.

»Das wäre theoretisch denkbar.«

– Und ist praktisch beweisbar. Da nun der Polarstern, wie die Astronomen sagen, 40 Lichtjahre von uns entfernt ist, und da der Lichtstrahl für Hin und Her die nämliche Zeit braucht, so sehe ich heute in diesem Spiegel die reflektierte Erde, nicht wie sie jetzt ist, sondern wie sie vor achtzig Jahren war: ich werde Zuschauer und Teilnehmer der geschichtlichen Vorgänge von 1841. In derselben Minute kann ich aber auch von entfernteren Sternen das irdische Spiegelbild auffangen, das mir die Völkerwanderung zeigt, die Gründung Roms, den Trojanischen Krieg, den Bau der Cheopspyramide, die Steinzeit, die Entwicklung des Erdplaneten aus seiner feuerflüssigen Urgestalt. Mithin schrumpfen in diesem Erlebnis alle Epochen zusammen, die Zeit verschwindet, und es gibt hierfür nur die eine erkenntnistheoretische Erklärung: die Zeit existiert überhaupt nicht. Nun beruht aber alle Physik auf der mechanischen Ergründung der Bewegungen, die sich in Raum und Zeit vollziehen, und wenn diese Elemente fortfallen, so ergibt sich unweigerlich; es gibt keine Bewegung, keine Mechanik, keine Physik!

»Das wäre der vollendete Nihilismus. Sie wollten mir doch aber gerade das entgegengesetzte Prinzip beweisen, nämlich die Variationsfreiheit, die Vielfältigkeit Ihres Denkens gegenüber unserem, in der Schablone erstarrten?«

– Das habe ich auch restlos getan. Wenn in der Welt, wie ich bewies, keine Physik regiert, so ist sie kein Kosmos, sondern ein Chaos, anarchistisch, gesetzlos. Und was Ihnen an uns Kradakern als pervers erscheint, ist nur der Ausdruck dafür, daß wir diese Gesetzlosigkeit der anarchischen Natur auf uns Menschen ausgiebig übertragen.

In diesem Augenblick kam der Assistent herangesprungen, um seine Ausarbeitung dem Magister zu überreichen. Curaxo überflog das Manuskript, lächelte befriedigt und erklärte: »Ganz vorzüglich, das verdient eine Belohnung!« Und zur Bekräftigung seiner Freude zog er aus dem Wams eine Karbatsche, mit der er dem Gehilfen einige krachende Hiebe verabfolgte. Der jauchzte auf und verzog sich mit seinen Verzückungen wieder in den Hintergrund.

Nur eine Sekunde lang war ich perplex, dann begann ich zu kombinieren: sollte hier die Synthese zweier Fehltriebe vorliegen? der Lehrer Sadist – der Schüler Masochist? – Trelloar fing meinen fragenden Blick auf und nickte bestätigend. Der Magister wollte uns zum Abschied die Hand reichen, allein Donath und ich verzichteten nach dem erlebten perversen Idyll auf die Berührung.

* * *

Wir verließen das Staatsinstitut und verfügten uns in den Gasthof zurück, wo wir die Genossen antrafen, die sich inzwischen auf eigenen Beobachtungswegen getummelt hatten. Herr Trelloar äußerte den Wunsch, bei uns zu verbleiben, und wir hatten nichts dagegen, knüpften indes eine Bedingung daran; er sollte uns im Hotel einen hübschen Extrasalon verschaffen und darin einen richtigen Tee servieren lassen: einen Tee ohne Wenn und Aber, ohne Narcotica, Aphrodisiaca und sonstige Ungehörigkeiten. Dies wurde ebenso prompt zugesagt wie erfüllt, und nach einer Viertelstunde erhob sich bei regulär duftenden Tassen ein angeregter Disput.

Trelloar: Vor allem, sehen Sie jetzt schon etwas klarer in das Getriebe unseres Organismus?

Donath: Ich denke ja, und ich denke auch, es war die höchste Zeit, das wir ihn kennen lernten; denn wenn Sie bei Ihrem ruinösen Prinzip bleiben, wird diese ganze kleine Inselwelt durch nervöse Überreizung aussterben.

Trelloar: Sie sind im Irrtum. Wir besitzen schon heute eine günstigere Mortalitätsziffer als die meisten Länder Europas, und sie wird sich noch weiter verbessern. Ihre Verurteilung beweist nur, daß Sie das Prinzip unseres Gemeinwesens noch gar nicht begriffen haben: Was Ihnen als die Insel der Perversionen erscheint, ist in Wahrheit

Die Insel der Hinaufpflanzung!

Dr. Wehner: Machen Sie sich nicht lächerlich! Das wird ein schöner Menschentyp werden, der sich aus einem Prinzip der gepflegten Abnormität entwickelt!

Eva: Wir müssen versuchen, die Sache zu klären. Vielleicht gelingt es, zwischen unseren widerstreitenden Anschauungen eine neutrale Linie aufzufinden. Daß ich Ihre ethischen Hemmungslosigkeiten auf's äußerste mißbillige, versteht sich ja von selbst, und ich bitte mir aus, daß diese Verirrungen aus der Debatte ausscheiden. Allein ich halte es trotzdem nicht für unmöglich, daß in Ihrem Prinzip irgendwo ein berechtigter Kern steckt. Die Abnormität an sich befremdet mich zwar, aber sie erschreckt mich nicht mehr als sonst ein Kuriosum, und ich meine sogar, wenn es überhaupt eine Hinaufpflanzung gibt – was freilich zu bezweifeln – so kann sie nur mit Hilfe der Abnormität zustande kommen.

Mac Lintock: Aber Eva! was für eine Sprache! Du hast empört zu sein, wie wir alle!

Ich: Gestatten Sie mir, Ihre Nichte in Schutz zu nehmen. Mit der blanken Empörung kommen wir nicht durch. Und ihre Bemerkung, daß die Hinaufpflanzung irgendwie mit der Abnormität zusammenhängt, ist doch wohl nicht ganz absurd. Wir müssen jedenfalls hören, was sich ein Kenner der hiesigen Verhältnisse denkt, wenn er für seine Insel einen solchen Ehrentitel in Anspruch nimmt.

Trelloar: Ja, das will ich Ihnen jetzt erklären, in einzelnen Etappen. Zunächst werden Sie mir zugeben, daß jede Emporzüchtung eine Auslese voraussetzt, und zwar die Auslese gewisser Individuen, die vom Normaltypus abweichen. Erst durch dieses »Nicht ganz normal« erhält jede Züchtung überhaupt einen Sinn. Und alles Organische stünde heut noch auf der Stufe des ersten Protoplasmaklümpchens, wenn sich nie etwas anderes durchgesetzt hätte, als das Normale. Es wird gezüchtet, natürlich und künstlich, um die Abnormität zu vervielfältigen und zugleich, um immer neue unvorhergesehene Abnormitäten hervorzubringen. Hierauf beruht alle Entwicklung, aller Fortschritt. Und wer das nicht einsieht, der beweist nur, daß er nicht nit den Augen der Zukunft zu sehen vermag.

Dr. Wehner: Das ist nur bedingungsweise richtig. Die Abnormität bedroht uns mit zwei immensen Gefahren. Erstlich kann sie einen Rückfall in Vergangenes darstellen, zweitens eine krankhafte Art, die den ganzen Gattungstypus gefährdet.

Trelloar: Beide Gefahren werden durch eure europäischen Methoden und Wünsche heraufbeschworen, da ihr gleichzeitig das Optimum der Masse und das Ideal des »Übermenschen« ersehnt. Das eine ist ein Hinunterdrücken in etwas Vorzeitliches, Untermenschliches, Insektenhaftes, das andere ein Hinaufwollen in ein Vakuum, worin jede körperliche Existenz unmöglich wird. Zum Glück ist euer Übermensch eine Utopie. Ihr habt ein ganz gutes Wort: Nullum ingenium sine dementia. Nun hat es sich eklatant gezeigt, daß in der Fortpflanzung der Genialen das Ingenium verschwindet, und wesentlich nur der Schwachsinn übrig bleibt; falls nicht die blanke Unfruchtbarkeit jede Zukunftslinie abschneidet. Der Übermensch, wie ihr ihn denkt, wird nicht existieren, weil sein vorgestellter Urahn entweder gar nicht zeugungsfähig war oder nur seine Minderwertigkeiten vererbte. Euch schweben Grundtypen vor: Alexander der Große, Cesare Borgia, Napoleon, Goethe, Bismarck – verlängert die Liste wie ihr wollt, ihr findet in der Deszendenz entweder Nichts, oder weniger als Nichts, nämlich die platte Gewöhnlichkeit. Nein, so geht es nicht; auf diesem Wege wird keine Hinaufpflanzung.

Der Arzt: Also wie sonst? Etwa durch Ihre gewaltsamen Exzentrizitäten?

Trelloar: Ja, das klingt sehr sonderbar; wird aber trotzdem als unabweislich herauskommen. Sind Sie aufgelegt zu einer philosophischen Betrachtung der letzten Dinge?

Eva: Oh, freilich! Aber ich ahne schon: Sie wollen die Grundnatur des Menschen verändern.

Trelloar: Ihre Ahnung kommt mir entgegen. Ja, darum handelt es sich. Der Mensch ist nämlich zweiseitig gestaltet, wie fast alle Tiere, bilateral, und auf diese anscheinend unüberwindliche Organisation ist es zurückzuführen, daß er aus seiner Erbärmlichkeit nicht herauskann, wenigstens bis jetzt noch nicht herauskonnte.

Ich: Die Zweiseitigkeit steht fest – die hat ja übrigens unser Forscher Haeckel schön und ausführlich behandelt – die Erbärmlichkeit will ich Ihnen auch konzedieren, aber über den Zusammenhang dieser beiden Dinge müssen wir uns noch auseinandersetzen.

Trelloar: Sie sind tatsächlich untrennbar. Unsere Zweiseitigkeit nach Rechts – Links, Vorn – Hinten, Oben – Unten, die ursprünglich eine rein körperliche Angelegenheit ist, hat auch unserem gesamten Denken und Fühlen jenes unheilvolle Zweierlei aufgedrängt, worin alles Elend der Menschheit wurzelt. Wir kennen immer nur das Entweder – Oder, das So oder So, das polar Entgegengesetzte. Durch unsere Seele läuft eine feste, unveränderliche Achse, nach dieser orientiert sie sich mit ihrem Gut und Böse, Schön und Häßlich, Wahr und Falsch, Gott und Teufel, Liebe und Haß, Ehre und Schande, Recht und Unrecht, Tugend und Laster, kurzum mit der Zweiseitigkeit, die all und jedes wie mit scharfem Messer entzweispaltet. In dieser Polarität vegetieren wir, denkerisch, sittlich, politisch – leben wir, wie in zwei reibende Mühlsteine eingeklemmt. Erbarmungslos zerquetschen uns von rechts und links die Begriffe, Freund und Feind, Partei und Gegenpartei, vor allem das gräßliche Begriffspaar Ich und Nicht-Ich, worauf der schaurige Kampf ums Dasein, der Kampf aller gegen Alle sich gründet. Milliarden von Möglichkeiten, in denen vielleicht Tausende von Wonnen, von wahren Übermenschlichkeiten verschlossen liegen, dringen uns niemals ins Bewußtsein: das könnten sie aber, wenn wir vielachsig und vielseitig konstruiert wären.

Eva: Wenn! Wo in der Welt zeigt sich auch nur ein Ansatz zu diesem Wenn?

Trelloar: In der sogenannten niederen Tierwelt, die uns in diesem Betracht weit voraus ist. Bei einem kugelförmigen Infusor ist nicht mehr zwischen Rechts und Links zu unterscheiden, und in dessen Bewußtsein wäre deshalb kein Platz für die fatalen Entwederoder, die unser ganzes Dasein verschlammen und verseuchen.

Dr. Wehner: Allgütiger! So weit hinunter wollen Sie also mit uns, bis zu den mikroskopischen Aufgußtierchen, die Sie doch selbst als die niedrigsten Lebewesen bezeichnen!

Trelloar: Finde ich denn einen anderen Ausdruck in unserer Sprache und Anschauung? »Höher und Nieder« – da haben Sie wieder so eine blöde Polarität, die unser gesamtes Denken anthropomorph versimpelt. Was verschlägt es uns, daß solch Infusor, eine Monere, die sich vor unseren Augen unabsehbar teilt und vervielfältigt, das lebendige Sinnbild der Unsterblichkeit bietet? Wir, die Sterblichen, die mit Verwesungsfluch belasteten, retten unsere Ansprüche in den Anthropomorphismus und klassifizieren nach dem einfältigen Schema Oben – Unten, das nicht der Ausdruck der Wahrheit, sondern nur des menschlichen Dünkels ist.

Eva: Aber diese Zweiseitigkeiten sind doch nicht nur naturgewollte Erscheinungen, sondern es läßt sich doch nach den Meistern der Entwicklungstheorie direkt beweisen, daß sie so entstehen mußten! Die zweiseitige Grundform, mit Gleichgewicht der rechten und linken Körperhälfte, erklärt sich doch auf die einfachste Weise durch die Selektion: denn sie ist unter allen denkbaren Grundformen die tauglichste für regelmäßige Fortbewegung in einer beständigen Haltung und Richtung des Körpers. Daher sind ja auch alle unseren künstlichen Bewegungsmittel, Schiffe, Wagen, Flugzeuge, nach derselben Grundform gebaut, damit die Last möglichst gleichmäßig auf die beiden symmetrischen Hälften verteilt ist.

Trelloar: Ausgezeichnet, mein Fräulein! Man hört aus Ihnen förmlich die Meister sprechen, die sich auf menschliche Instrumente berufen, um menschliche Dürftigkeiten zu beschönigen. Sie vergessen dabei bloß die kosmischen Bewegungsmaschinen, die Planeten, Sonnen, kugelförmigen Sternhaufen, die doch im Universum etwas mehr bedeuten als unsere Karren und Droschken. Alle diese überlegenen Fahrzeuge kennen kein Rechts und Links, keine Zweiseitigkeit, und deshalb kommen ihnen diejenigen Organismen am nächsten, die sich wie sie der Kugelform nähern. Das Ideal wäre sonach, den Menschen in derselben Richtung zu entwickeln, um ihn von seiner Bilateralität zu befreien. Dieses Ideal ist durch körperliche Züchtung nicht zu erfüllen, aber vielleicht bis zu merklichem Grade durch geistige; durch Überwindung der feststehenden Achsen im Intellekt, durch Häufung der Variationen im Denken und Fühlen, kurzum durch das, was wir auf Kradak betreiben, um möglichste Abweichungen und Vielfältigkeiten zu erzielen, auf die Gefahr hin, daß unsere Gepflogenheiten Ihnen als Perversitäten erscheinen.

Ich: Von dieser Taxe loszukommen ist auch äußerst schwierig und bedenklich. Aber ich will mir einmal Gewalt antun und mich wie eine Ordensnovize auf den Standpunkt stellen »credo quia absurdum«. Also ich glaube – interimistisch und auf Widerruf – daß zwischen Wahr und Falsch tausende von Zwischengliedern liegen, die wir mit unserer ererbten Zweiseitigkeit nicht bemerken, und die Sie und Ihre gelehrten Genossen vom Institut durch abnormes Denken bemerkbar machen. Aber wie kommen Sie nun weiter? Sie sprechen doch von Hinaufpflanzung?

Trelloar: Tatsächlich versuchen wir, die erworbenen Eigenschaften in Steigerung zu vererben. Auf unserer Nebeninsel Gulliu wird gezüchtet. Dorthin kommen unsere abnormsten Exemplare, Männer und Weiber, um sich zu paaren. Nach unserer Verfassung hat das oberste Staatsamt, das Auslese-Ministerium, gar keine andere Aufgabe, als die hervorstechendsten Typen zu ermitteln und sie auf Gulliu zum Zweck der Fortpflanzung anzusiedeln. Ergeben sich Sprößlinge, so werden diese abermals nach dem Prinzip der Exzentrizität durchgesiebt, und die vorzüglichsten gelangen zu weiterer Pflanzung nach einer dritten Insel unserer Sondergruppe. Durch diese Methode begünstigen wir eine progressive Steigerung der Anomalien, und in einer Reihe von Generationen werden wir, das steht zu hoffen, einen neuen Menschenschlag erzielen: die Zukunftsmenschen mit beweglichem Koordinatensystem im Denken und Fühlen, Universalmenschen, losgelöst von der starren Axialität, die uns so unleidlich versklavt.

Ich: Solche Menschen würden außerhalb der Kausalität stehen, und bei weiterem Verfolg Ihrer Ausführungen müßte man dahin gelangen, die Natur selbst als unkausal aufzufassen.

Trelloar: Das ist sie auch. Nur wir, auf unserer heutigen Denkstufe tragen die Ursächlichkeit, die Gesetzmäßigkeit in sie hinein. Die Natur selbst weiß gar nichts davon. Sie ergeht sich in Myriaden von Gesetzlosigkeiten, die dem Verstande entschlüpfen, und macht uns nur ganz vereinzelte Zusammenhänge wahrnehmbar, die wir dann zu einem Naturgesetz umstempeln. Dem chaotisch denkenden Zukunftsmenschen, den wir Kradaker aufzüchten wollen, wird die Anarchie der Natur direkt einleuchten und das wird ein Fortschritt sein.

Eva: Wenn dies eine Möglichkeit ist, so müßte sie sich doch nach Darwin durch natürliche Auslese von selbst verwirklichen?

Trelloar: Absolut nicht. Darwins Prinzip ist das unbeholfenste und unfähigste von der Welt und bewirkt an sich nur die Verschlechterung der Arten und Rassen. Nirgends in freier Natur findet eine Auslese der Besten statt, vielmehr werden die Besten durchweg von den Mittelmäßigen und den Minderwertigen überwuchert. Nur wenn der Mensch praktisch nachhilft, kann das Darwinsche Prinzip etwas leisten. Aber wie wird in Ihren Kulturländern nachgeholfen? Direkt kontraselektorisch, da Ihre Moral und christliche Humanität gerade den Schwächlichen und Unfähigsten das Leben verlängert und die Fortzeugung ermöglicht. Was hilft es, daß eure Naturforscher das Kunststück zuwege bekommen, einem blinden Olm künstliche Augen anzuzüchten? Das sind zwecklose Tricks. Experimentiert doch lieber am Menschen und versucht seinen Sinneshorizont zu erweitern! Die Grottenlurche sind sehend geworden, aber eure Hirne und Nerven bleiben blind.

Eva: Ich muß hier widersprechen: Die Experimente am Menschen werden auch bei uns betrieben, und der Begriff des Züchtungsstaates ist uns nicht fremd. In einer deutschen Gelehrtenstadt, in Jena, ist eine Menschenzucht-Anstalt unter dem Namen »Mittgart« begründet worden, in der 1000 gutgewachsene Frauen und 100 kräftige Männer zur Züchtung künftiger Edelmenschen angesiedelt und gepaart werden. Also im Prinzip beinahe wie bei Ihnen, ein Menschengestüt. Nur mit dem Unterschied, daß unsere Methode – wir nennen sie Eugenik – die Kraft und die Schönheit betont, während in Ihrer Hinaufpflanzung von diesen Qualitäten gar nicht die Rede ist.

Trelloar: Weil wir längst erkannt haben, daß die Muskelkraft eine rein animalische Angelegenheit und die Schönheit ein ganz einfältiger Selbstbetrug ist. Nehmen wir den Einzelfall: für Ihren Menschengarten Mittgart werden ganz bestimmte Frauen und Männer mit geraden Beinen ausgesucht . . .

Eva: Zweifellos; wir wollen doch nicht O- oder X-Beine züchten.

Trelloar: Wir denken weiter. Für uns ist das gerade Bein nur eine Interimserscheinung, und auch das kaum. Das Grundgesetz der Ästhetik müßte lauten: Zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie die langweiligste. Die Natur kennt sie überhaupt nicht, da sogar, wie Sie wohl wissen, der Lichtstrahl gekrümmt ist. Und in der Körperwelt der Organismen kommt sie gar nicht vor. Legen Sie nur einmal das Lineal an das beste Skelett. Sie werden weder im Oberschenkelknochen noch in dessen Fortsetzung zum Schienbein die gerade Linie antreffen. Es ist mir bekannt, daß ein holländischer Professor darüber eine Statistik aufgenommen hat. Er fand unter 200 Frauen und Mädchen der Großstadt nur 40 mit geraden Beinachsen, auf 75 mit X-Beinen und 85 mit O-Beinen; weil er nämlich unter »gerade« galanterweise nichts anderes verstand, als »schwach gekrümmt«. Eine strenge Statistik findet nicht 80, sondern 100 Prozent geschweifte Extremitäten.

Auch der Apollo von Belvedere und die mediceische Venus sind krummbeinig. Seit ein paar Jahrtausenden schwebt den Menschen die niemals verwirklichte Gradbeinigkeit als ein Schönheitsideal vor: der Edelmensch der Zukunft wird vielleicht elliptische oder zykloidische Beine besitzen, und unser Ideal wird ihm ein Abscheu sein, wie uns ein ungeschweifter Mund oder ein ungebogener Busen. In noch fernerer Zeit wird unser gesamter Schönheitstyp revidiert und als veraltet erkannt werden. Warum unabänderlich zwei Ohren, zwei Augen, ein Mund? Warum immer nur die geringe Verschiebung der nämlichen Elemente mit den nämlichen zwei Nasenlöchern? Ein Mädchen ist hübscher als das andere, es repetiert aber immer dasselbe. Eure Franzosen haben eine leise Vorahnung; plus ça change, plus ça reste la même chose. Sie sagen auch; c'est sa laideur qui fait sa beauté. Man wird einmal anfangen, die Häßlichkeiten selektiv zu permutieren, um aus der Langeweile der ewigen Wiederkehr des Gleichen herauszukommen. Vorläufig begnügen wir uns mit dem uns Erreichbaren. Wir schalten die Rücksicht auf die körperliche Schönheit aus, da sie als Gegenstand heutiger Erkenntnis gar nicht existiert. Desto intensiver betreiben wir die geistige Auswahl und Züchtung, nach dem Prinzip der Anomalie, die dem auf die Galeerenbank des normalen Denkens angeschmiedeten Menschen die Befreiung bringen wird.

Eva: Ihre Auslese der Begabten hat mit dem, was wir darunter verstehen, recht geringen Zusammenhang.

Trelloar: Sie ist diametral entgegengesetzt. Die Begabten, die Sie auf der Schule durch Prüfung ermitteln und im Fortkommen begünstigen, das sind die Höchstnormalen, die auf der Zwangsbank der Galeere exakter und ausdauernder rudern, als die anderen. Und Sie übersehen dabei völlig, daß von den wenigen, denen Sie wirkliche Fortschritte verdanken, kaum einer die Begabtenprüfung bestanden hätte. Fünfundneunzig Prozent Ihrer Größen waren schlechte Schüler und haben die Schule als ihren Feind bezeichnet. Wie ganz natürlich, da die Schule jede Perversität unterdrückt, während jeder Große pervers auftritt. Waren die Taten des Kopernikus, des Gauß, des Riemann nicht pervers? Galten nicht Newtons Fernkräfte sogar noch in den Augen von Huyghens und Leibniz als Perversitäten?

Ich: Und Sie übersehen wiederum, daß wir in allen Irrungen uns schließlich doch zurechtfinden und dem Genie auch in seine Abwegigkeiten folgen. Nur hüten wir uns vor dem Trugschluß, der durch alle Ihre Ausführungen hindurchbricht: das Genie ist absonderlich, mithin ist das Absonderliche genial. Nein, das Absonderliche bleibt verdächtig und hat sich erst durch tausend Proben zu rechtfertigen, bevor es in die Klasse der Gültigkeit eintreten darf. Mit diesem Mißtrauen bewehrt halten wir Umschau unter den Exzentrizitäten, die uns oft genug Vergnügen gewähren. Denn der Trieb zum Abnormen ist auch bei uns vorhanden, zwar nicht wie bei Ihnen als die herrschende Macht, aber als ein Faktor des Reizes und der Farbigkeit im Leben.

Trelloar: Ich drücke dies etwas anders aus: Ihr Trieb zum Abnormen ist die Karrikatur des unsrigen, er äußert sich fast durchweg in geistlosem Getue und in Snobismus. Er bleibt verkleidetes Philistertum, schwingt sich nie zum Schauspiel auf, verkümmert beständig im Varieté und in der Clownerie. Weil ihm die Einsicht und der Mut fehlt, sich im Entscheidenden zur Anerkennung des Abnormen zu verstehen, gibt er sich in kleinlichen Lächerlichkeiten aus. Euer ganzes Leben ist davon durchsetzt. Auf allen Gebieten stellt Ihr Rekords auf, vom Luftschiffer und Radfahrer bis herab zum Wettraucher und Wettklavierspieler: die schnellste Leistung, die größte Ausdauer, die kürzeste Zeit; die Abnormität wird bestaunt. Aber es ist gar keine Abnormität, sondern nur die stumpfsinnige Verlängerung einer alten Linie. Oder das Abnorme wird aus dem Widerspruch konstruiert: im Januar werden Kirschen gegessen. Schmecken sie besser, auch nur anders als im Juli? Nein; aber die Absonderlichkeit kitzelt den Snob, der weiter nichts erlebt, als eine kalendarische Verschiebung. Er könnte mit dem gleichen Genuß seine Julikupons zum Januar abschneiden. Ein neues Buch wird herausgebracht, sehr unterhaltsam, weil abnorm in der Ausstattung. Sein Einband ist mit Metallspangen verriegelt, man kann es nur mit größter Anstrengung öffnen, und wenn es gelingt, so erblickt man den Druck in abnormen Buchstaben, die kein Mensch lesen kann, am allerwenigsten der Snob, der das Buch gekauft hat. Es wird ermittelt: welcher Ort am Menschenkörper ist der ungeeignetste zum Anheften einer Uhr: man stellt fest: die Kniegegend; sogleich meldet sich die Abnormität mit der Schrulle: die Uhr wird am Strumpfband getragen. Die nämliche Dame begehrt einen Fächer; dessen Zweck ist: Windzufuhr. Aber er soll ja abnorm sein; folglich ist er so porös und luftdurchlässig, daß er bei keiner Bewegung Wind erzeugt. Sobald seine Unbrauchbarkeit erwiesen, ist die Dame befriedigt, denn sie hat sich aus der Gewöhnlichkeit herausgehoben. Man will sich amüsieren und erinnert sich der Tatsache, daß es nichts Unangenehmeres gibt als Magenbeschwerden, Übelkeit, Gehirntaumel und Seekrankheit. Lösung des Problems: ein Vergnügungspark, der mit seinen Rutschbahnen und Rotierscheiben den einzigen Zweck verfolgt, jene Greuel für schweres Geld zu verkaufen. Also zugestanden, der Trieb zur Perversität ist auch bei Euch vorhanden, andeutungsweise und in engem Horizont. Noch keine Spur im Bewußtsein, daß die Perversion, zum System erhoben, auf einen neuen Menschenweg hinweist. Wollt ihr euch darüber beklagen, daß euch auf diesem Eiland eine Ahnung zugeflogen ist?

Eva: Wir werden darüber nicht weiter debattieren, denn es gibt Dinge, die mit Gründen und Gegengründen eben nur bis zur Grenze der Ahnung verfolgbar sind. Nur noch eine letzte sachliche Frage: Wenn Sie zum Zweck der Hinaufzüchtung Ihre extremsten Individuen zusammenpaaren, lassen Sie denn da die Neigung irgendwie mitsprechen?

Trelloar: Die Neigung? erotisch genommen? in unserem Statut steht nichts davon. Sie würde, wenn sie zufällig aufträte, kein Hindernis bilden. Sie ist aber in unserem Prinzip ganz entbehrlich, wie übrigens auch in Ihren Kulturländern, sofern wir die Aussage Ihrer größten Persönlichkeiten gelten lassen. Ich kann es mir nicht versagen, Ihnen einige Worte vorzutragen, die sich mir eingeprägt haben: »Ich halte die Liebe für einen Schädling der Gesellschaft und des persönlichen Glückes der Menschheit; es würde eine einer gütigen Göttin würdige Wohltat sein, die Welt von diesem Übel zu befreien . . .

Ich: Das könnte ein Enzyklopädist gesagt haben.

Trelloar: Höher hinauf! Es ist von dem anerkanntesten Übermenschen, von Napoleon. Und ich bin unbeschadet meiner sonstigen Eigenheiten höflich genug, um in Gegenwart europäischer Gäste das Urteil einer solchen europäischen Autorität nicht in Zweifel zu ziehen.

Damit entfernte sich unser Mentor, während wir nachdenklich zurückblieben. In uns wogten die Leitmotive: Jenseits von Wahr und Falsch – jenseits von Weisheit und Absurdität – Jenseits von Norm und Entartung, bis sich diese Polaritäten in den übereinstimmenden Wunsch auflösten: in einer Stunde wird die Expedition fortgesetzt, jenseits der perversen Inseln!

 


 


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