Alexander Moszkowski
Die Inseln der Weisheit
Alexander Moszkowski

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Vléha.

Die Insel der glücklichen Bedingungen.

Ich habe stets die poetisierenden Schriftsteller beneidet, die es auf gut Glück unternehmen, eine Landschaft in Worten abzubilden. Nicht nur wegen des standhaften Glaubens, den sie in ihre Kunst setzen, sondern auch wegen der Virtuosität, mit der sie ihre beziehungsreichen Bilder aufs Papier zaubern. Aber bis zu der Anerkennung, daß es auch nur einem einzigen geglückt wäre, eine Kongruenz, oder auch nur Ähnlichkeit zwischen Landschaft und Wortbild herzustellen, kann ich mich nicht versteigen. Ich muß dies vorausschicken, da ich selbst sehr bald in die fatale Lage geraten werde, einen landschaftsbildnerischen Versuch zu unternehmen. Denn mit der bloßen Versicherung, daß das zweite der von uns entdeckten Gelände, die Insel Vléha, ein landschaftliches Wunder sei, ist nicht auszukommen. Ich verspüre vielmehr die Pflicht und Notwendigkeit, die Besonderheit dieses Landschaftswunders herauszuheben, da mir dies für die Darstellung der dort angetroffenen Menschencharaktere unerläßlich erscheint. Was uns als Verfassung, als Geistesrichtung der Menschen entgegentrat, ist so innig mit der Natur verflochten, daß ich im ersten Anlauf nicht umhin kann, es auszusprechen: für diese Insel hat die Natur selbst die Verfassung aufgestellt! Alles Menschenwesen auf ihr besteht nur in der verschiedenen Einstellung der Individuen auf sie, auf die Art, in der sie demiurgisch, architektonisch, gärtnerisch, physikalisch über den Raum disponiert hat.

Aber wie gelange ich zur Schilderung? Ich sehe mich unter den besten Mustern des Schrifttums um, fest entschlossen, zu benutzen, was nur brauchbar wäre, und ich finde keinen Anhalt. Alle Beschreibungen lösen sich bei näherem Zusehen in Umschreibungen auf. Nichts als Gleichnisse, Metaphern, Figuren, die projektivisch sein wollen, ohne die Möglichkeit projektivischer Gestaltung. Weil Dinge auf einander bezogen werden, die in ganz verschiedenen Welten liegen. Der Dichter will mir einen Höhenzug, eine Berglinie schildern, und er tut dies mit Metaphern, die aus der Musik stammen; er führt mich in ein Labyrinth von Felsen und erläutert sie mit Bildern aus der Zoologie; optische Wirkungen, die von bestrahlten oder vernebelten Wiesen und Wäldern ausgehen, werden mythologisch auf irgend einen unvergleichbaren Vergleichsboden überpflanzt. Diese Metaphorik führt, rein literarisch genommen, zu prachtvollen Ergebnissen, und der Leser verwechselt dann regelmäßig den literarischen Genuß mit der Anschaulichkeit, die ihm niemals geboten wird, noch geboten werden kann. Äußerstenfalls tauchen in ihm Erinnerungsbilder an Bekanntes auf, nicht an das Einzigartige, Unbekannte, aus dem Schema herausfallende. Nicht dieses wird durch die Darstellung enthüllt, sondern das Unvermögen und die Verlegenheit des Autors, der sich vor dem Objekt der Landschaft in derselben Lage befindet, wie der Schriftsteller vor den Objekten der Tonkunst. Der kann meine Erinnerung wecken, wenn er das bekannte Werk analysiert, aber Berge von Metaphern helfen ihm und mir nichts, wenn er eine Symphonie beschreibt, die nur er kennt, nicht aber ich, der Leser.

Auch die wirkliche Illustration, das mit akademischen oder sezessionistischen Mitteln ausgeführte Farbenbild bleibt kümmerlicher Behelf und tastende Andeutung. Wiederum müssen wir unterscheiden zwischen dem artistischen Wert und dem Erwecken einer sinnlichen Vorstellung, die auch nur in losestem Anklang das landschaftliche Original wiedergibt. Ich leugne es rundweg, daß irgend ein Landschafter über das rein metaphorische hinauskommt. Er ergreift ein Stimmungsmoment, übersetzt es in ein farbiges Gleichnis und vernachlässigt tausend andere, von denen kein einziges fortgelassen werden dürfte. Er arbeitet mit dem Auge fürs Auge, das heißt für einen Sinn unter den vielen, die der Landschaft gegenüber in Tätigkeit treten. In vielen Fällen kann schon das Ohr, als das empfangsfähige Raumorgan, und der Geruch wichtiger werden. Und zudem: der Mensch besitzt unzählige Sinne, von denen die Physiologie nichts weiß, weil sie sich in ihrer Feinheit jeder materiellen Erprobung entziehen. Es gibt keine Wissenschaft von ihnen, nur eine unter der Schwelle des Bewußtseins dämmernde Ahnung, daß sie vorhanden sind. Und erst aus dem Zusammenklingen ihrer aller entsteht das, was wir unter dem lebendigen Eindruck einer wirklichen Landschaft begreifen.

Mit dem Beschreiben ist es also nichts. Man kann nur versuchen, an vereinzelte Erinnerungen zu appellieren und die Phantasie anzurufen, die ein Schattenbild dessen gestalten möge, was zu formen dem Griffel versagt bleibt. Zumal hier, auf der Insel Vléha, die »wirkliche Landschaft« gleichsam unwirklich erschien, wie eine Unmöglichkeit, der gegenüber aus Träumen und Wachen schwer herauszukommen war. Denn sie enthielt in engem Umkreis Schönheiten und Gewalten, wie sie sich sonst in dieser Weise benachbart nirgends vorfinden.

Auf einer Grundfläche, die etwa das doppelte der Größe von Bornholm betragen mag, vereinigen sich tropische und hochnördliche Gestalten, diese bedingt durch gigantische, bis in die Eisregion starrende, von Hochplateaus durchsetzte Erhebungen, jene durch Gebirgsmauern, die ost-westlich verlaufend die Nordwinde absperren und wie Sonnenreflektoren das Tiefland mit allen Stufen von Wärme bis Glut versorgen. Eine Tour von wenigen Meilen erschließt Prospekte wie auf Eiger und Jungfrau, man glaubt sich in Wengernalp zu befinden. Doch nein; denn nahebei zacken sich Profillinien, die nur der Dolomitenwelt angehören; Cimone und Saas Maor grüßen herüber, und bei einer weiteren Wendung gewahrst du ein glühendes Vulkanhaupt, das mit seinem Feuerschein in eine azurene Bucht hinausstrahlt. Beschriebe mir's einer, ohne daß ich es gesehen, so würde ich vermutlich sagen: stilloses Gemenge; der Eiger muß den Cimone, und der Vesuv muß die Jungfrau stören! ich verlange Einheitlichkeit der Landschaft! warum hätte ich das gefordert? weil eine aus körperlichen Erlebnissen abgeleitete Ästhetik regiert; weil die Allerweltsnatur knausert und wir aus ihrer Not eine ästhetische Tugend machen. Wären wir nie weiter gedrungen als bis zu den sanften Wellenlinien Thüringer Berge, so würde uns schon eine Matte auf dem Rigi mit ihren unendlichen Differenzierungen in Nah- und Fernsicht als verwirrend uneinheitlich vorkommen. Es hängt alles davon ab, wie die Dinge gegeneinander gestellt, miteinander instrumentiert sind. Und da bin ich im ersten Anlauf schon wieder bei dem nicht mehr Beschreibbaren. Man muß es erlebt haben, um zu beurteilen, was die Natur vermag, wenn sie es darauf anlegt, sich zu übertreffen. Dann schlägt sie unsere bequeme Einheitsästhetik glatt zu Boden und errichtet an deren Stelle etwas Neues, Übergeordnetes, Außerweltliches. Erst ist man betäubt, dann erwacht man zu der Idee, daß Ästhetisieren ein kleinliches Geschäft ist solchen Wundern gegenüber.

Aber da wir selbst Organismen sind, so beginnt für uns der Vollklang der Natursymphonie erst so recht eigentlich mit dem Organischen, mit der Vegetation. Wir steigen hinab von den Bergwänden und haben die Wahl zwischen Wiesen, Gärten und Dschungeln. Hat die Natur hier ganz selbständig gewaltet? haben Menschenhände mitgeholfen, um die Üppigkeit noch zu überraffinieren? Ansätze von Gartentechnik scheinen vorhanden, hier und da schimmert ein Promenadenweg, ein Pavillon, ein Springbrunnen durch das Gewirr. Aber diese Nachhilfen haben ersichtlich nur den Zweck, zu verhüten, daß eine Schönheit die andere erdrücke; sie sollen dämpfen, nicht erhöhen; sie treten nicht mit der Selbstbewußtheit auf, wie in den Landsitzen mit feenhafter Ausstattung, die Tasso und Ariost in ihren Gedichten feiern. Man hat sich nicht angestrengt, und man brauchte auch keinen besonderen Fleiß aufzubieten, denn hier waren schon tausend natürliche Feen am Werke, um den Zauber der Kunst über die elementaren Schöpfungen auszugießen. Alle Erinnerungen an jemals erlebte Üppigkeiten verblaßten vor dieser Verschwendung. Ich versuchte zurückzudenken an die Palmen von Bordighera, an die florentinischen Gärten, an die Gärten von Pallavicini und von Mortola, allein ich gab es bald auf, Vergleichspunkte herbeizuholen. Wo blieben die flammenden Rhododendren, die ungeheuren Magnolien der Villa Carlotta bei Bellaggio? Das waren stammelnde Andeutungen einer Natur, die erst hier vegetative Sprache gewonnen hatte. Und welch ein Leben zwischen den Fiederblättern der Palmen, über den Dolden und Kelchen! Die Luft jonglierte mit unwahrscheinlichen Schmetterlingen, mit Vögeln, die vom Kolibri die Zierlichkeit, vom Paradiesvogel die Pracht, von der Nachtigall den Gesang entliehen zu haben schienen, mit Geschöpfen, die sich in Zephyr badeten, aber nach Gestalt und Eigenart in der uns bekannten Klassifikation nicht unterzubringen waren. Wie denn hier nichts in die gewohnte Ordnung der Dinge paßte; weder die eingeschnittenen Buchten mit nordischem Fjordcharakter, die trotzdem Ausblicke auf vorgelagerte Inselchen wie Isola Bella gewährten, noch die Einzelheiten, welche die Szenerie belebten. Gewiß, es währte einige Zeit, bis wir uns von der Verwirrung erholten und unsere Empfänglichkeit auf die neuen Eindrücke umzustellen vermochten. Dann aber überkam es uns wie eine zum ersten Male erlauschte Sphärenharmonie, wie ein jenseitiges Glück, das ins Diesseits übergriff, mit einer Größe und Schönheit des Stils, die in uns die Mittätigkeit der unbekannten Sinne erweckte.

Erst allmählich gelangten wir zu der Erwägung, wie fruchtbar wohl die Insel sein müsse, im Sinne des praktischen Nutzens. Wenn irgendwo, so war hier das Gelände, auf dem man ernten konnte ohne zu säen, und wo das Bibelwort vom Schweiße des Angesichts seine Geltung verlor. Ich entsann mich der dürftigen Analogien aus dem Boden der alten Welt: in Ceylon wächst eine Banane, die 130 mal mehr Nahrungsstoff erzeugt als Weizen auf gleichem Boden; aber dieser Multiplikator war sicherlich verschwindend gegen die Ergiebigkeit der Gewächse auf Vléha. Sonach war anzunehmen, daß die Bewohner, unberührt von jeder materiellen Sorge, dem Genuß leben durften, höchstens auf Maßregeln bedacht, wie sie sich des wuchernden Überflusses zu erwehren hätten.

Freilich bemerkten wir zuerst nicht allzuviel von der paradiesischen Frohlaunigkeit, die bei der Bevölkerung als selbstverständlich vorauszusetzen war. Allein wir hatten ja anfänglich mit der Betrachtung der Naturwunder so viel zu tun, daß wir kaum irgendwelche Aufmerksamkeit für die Menschen zu erübrigen imstande waren. Es war ja auch nicht nötig, daß diese die Symbole ihres Glückes wie eine Kokarde heraussteckten, wenn sie nur innerlich so zufrieden waren, wie sie bei solcher Freigebigkeit des Himmels Ursache hatten, es zu sein.

Es gibt in der Stadt Vléha leidlich eingerichtete Gasthöfe, in der Umgebung Rasthäuser und primitivere Bungalows mit und ohne Verpflegung, nach Art der ostindischen, und diese Unterkünfte sind den Bedürfnissen einer Reisebevölkerung angepaßt, die auf der Insel keine unbeträchtliche Rolle spielt. Denn Vléha genießt im ganzen Archipelagus verdiente Berühmtheit und lockt aus minder gesegneten Eilanden Touristen, die in ihrer Heimat jahrüber hart arbeiten, um hier einige freudige Ferienwochen zu genießen. Hieraus erklärt sich auch, daß das Gebiet von Verbindungsmitteln durchzogen ist, bis hinauf zu Steil- und Drahtseilbahnen, welche die alpinen Herrlichkeiten für rasche und bequeme Besichtigung erschließen. Aus eigenem Antrieb hätten die Vléhanesen desgleichen wohl kaum angelegt, ja nicht einmal an ihnen werktätig mitgewirkt; aber sie hatten auch nichts dagegen, daß die »Fremden«, will sagen die Insulaner aus der Ferne, mit ihren Kapitalien, Maschinen- und Menschenkräften hier eingriffen. Sie selbst benutzten die Kommunikationsmittel nur in sehr spärlichem Grade, da sie für Ausflüge, und nun gar für Hochgebirgstouren ursprünglich nur geringes Interesse besaßen.

Was uns selbst anlangt, die wirklich Fremden, die Entdecker, so fühlten wir uns hier, wie fast durchweg auf unserer Expeditionsfahrt, kaum als Objekt der Neugier; wie wir auch reziprok keinen erheblichen Anlaß zum Erstaunen hatten, da diese Insulaner in Aussehen und Tracht von den uns bereits bekannt gewordenen Typen nicht sonderlich abwichen. Sie waren um eine Schattierung dunkler als die Balëutenser, in den Bewegungen lässiger, im Gesichtsausdruck kühler. Ihre Bekleidung war dem Klima angepaßt, zumal die der Frauen und Mädchen, auf deren Stoffe die Bezeichnung des Petronius paßte: »gewebter Wind«. Sie trugen ihre gewirkten Nebel mit unstudierter Anmut, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß von ihnen ein sinnlicher Reiz ausstrahlte. Unklar blieb die Optik ihrer Augen, die hin und wieder seelischen Ausdrucks fähig, bisweilen gläsern erschienen. Tritt der Mensch dem Menschen als eine Ladung von Energien gegenüber, so hatte ich den Eindruck, als ob diesen Leuten in ihren Energien eine Dimension fehlte.

* * *

Wir installierten uns flüchtig in einem Gasthof, der zufällig viel freie Räume darbot, und Herr Mac Lintock hielt es für angebracht zwei ganze Stockwerke zu belegen, mehr der Repräsentation als der Notwendigkeit wegen. Denn wir wollten uns wesentlich nomadisch einrichten, unter Mitwirkung von Zelten, für deren Transport wir Träger zu finden hofften. Aber der Amerikaner wollte auch eine Residenz in der Stadt haben und hier den Leuten etwas zu verdienen geben. Er fragte deshalb nach den Preisen und stieß auf Taxen von märchenhafter Billigkeit. Da herrschten patriarchalische Zustände, im Haus für Wohnung und Verpflegung, entsprechend den Marktpreisen, die ich eigentlich in einer Tabelle hierhersetzen müßte, um bei den Lesern ein Gefühl wollüstigen Neides zu erwecken. Es war wie eine Reise in längstvergangene Jahrhunderte, wo man nach den ausführlichen Rechnungsbelegen des Albrecht Dürer für etliche Weißpfennige in den Herbergen sich mit Schmaus und Gezech fröhliche Tage machen konnte. Mac Lintock erklärte durch Dolmetsch, er behielte sich vor, die ihm genannte Taxe merklich zu erhöhen und bei befriedigender Leistung eventuell zu verzehnfachen. Aber der erwartete Effekt blieb aus, unsere Wirtsleute, ein Ehepaar in mittleren Jahren, trafen nicht die geringsten Anstalten zu freudiger Dankesäußerung. Im Gegenteil entgegnete der Wirt ganz ruhig: »wenn der fremden Gesellschaft die Preise nicht gefielen, so stünde es ihr ja frei, anderswo Einkehr zu suchen.«

Donath brachte die Sache rasch und taktvoll in Ordnung und erkundigte sich noch nebenbei nach einer Einzelheit, die ihm am Herzen lag. Auf einer Insel, die schon von weitem gesehen einen so durchaus tropischen Eindruck machte, müßte man doch auch gewisse zoologische Zugaben befürchten, etwa Schlangen und Skorpione, und er wünsche zu wissen, wie man sich gegen derartige Besuche in den Zimmern am besten schützte.

Der Wirt begriff die Frage nicht recht, und er konnte sie auch nach Maßgabe seiner zoologischen Kenntnisse nicht ausreichend verstehen. Denn die angedeuteten Tiersippen, die sonst als so wesentliche Begleiter extravaganter Natur erscheinen, fehlen fast gänzlich im Register dieser Insel. Ihre Gebelaune findet hier eine Begrenzung, und ihre Fauna reicht eben nur so weit, als die Species für den Menschen mit Nutzen und Erfreulichkeit in Betracht kommen. Von Schlangen insbesondere erzeugt Vléha nur eine einzige Art, eine Klapperschlange, die – wie wir später erfuhren – in den mit jungem Nachwuchs gesegneten Haushaltungen als lebendige Kinderklapper beliebt ist. Giftzähne? ein unbekannter Begriff. Allerdings besäßen diese Tiere Zahndrüsen, die eine eigentümliche Substanz absondern, nämlich ein Opiat, das sich herausziehen läßt und bei Schlaflosigkeit gute Dienste leistet.

Wir machten uns auf die Wanderschaft, um uns zuerst einmal mit den großen Eindrücken zu sättigen, die mit Sicherheit zu erwarten waren. Die Bekanntschaft mit den Menschen, ihren Denkarten und Einrichtungen, das hatte Zeit und trat für uns zurück, besonders für mich, der ich von tiefem Mißtrauen durchdrungen bin gegen den Chorsatz des Sophokles »Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch!« Hier vollends hätte es heißen müssen »nichts ist nebensächlicher als der Mensch«; seine Kleinheit, seine Schwäche und Unwichtigkeit konnte nirgends so evident sein, als in einer Natur, die sich selbst außermenschlich so gewaltig in Szene setzte.

Auf dem Marktplatze bemerkten wir einen Trauerzug mit einem Wagen in der Mitte, der zwei mit Blumen umwundene Särge trug. Sollten wir das etwa für ein unangenehmes Omen halten? Ich war zu solch trübseliger Erwägung nicht recht aufgelegt, zumal ich in dem spärlichen Gefolge die menschenübliche Andacht vermißte. Die Leute schlenderten, und der Kondukt verlor sich in eine Seitenstraße, um dort vor einem tempelartigen Bau haltzumachen. Wahrscheinlich sollten hier die beiden Leichen mit irgendwelchen Formalitäten eingesegnet werden, und es wäre interessant gewesen, diesen Ritus kennen zu lernen. Allein unser Programm wies uns gebieterisch aus der Stadt hinaus und verstattete keine Abzweigung in Raum und Zeit. Da waren wir schon bei den letzten Ausläufern des Ortes, die sich malerisch am Hügel hinauflehnten. Und hier gab es auch wirklich, von uns als unverhoffte Bequemlichkeit begrüßt, einen Triebwagen, der uns rasch weiter beförderte; erst in sanfter Hebung, dann steiler anstrebend zu jenen alpinen Höhen, deren Magie jeden Kulturmenschen so unwiderstehlich beeinflußt. An einer Haltestelle stiegen wir aus und teilten unseren Trupp. Die Mehrzahl der Herren vermutete ganz mit Recht in der Nähe noch besondere Aussichtspunkte und begab sich zur Rekognoszierung über eine Halde, die mit edelweißartigen Sternchen bestickt erschien. Ihr Ziel war ein isolierter Gipfel, den der Kapitän, nach Augenmaß zu urteilen, als in einer Stunde ersteigbar erachtete. Eva und ich blieben zurück, da sie einen Horizontalweg bevorzugte, dessen Eigenart sie noch sympathischer ansprach. Die Wiedervereinigung wurde nicht chronometrisch vereinbart; Zufall und Laune sollten ein wenig mitspielen, man würde sich schon wieder treffen.

Wir beide überschritten eine Alm und gelangten nach einer Pfadbiegung an einen Vorsprung, der einen ganz neuen Prospekt entschleierte. Eva meinte, er erinnere weitläufig an einen bestimmten, sehr berühmten Punkt in den Rocky Mountains. Was mich betrifft, so meinte ich gar nichts. Mir hatte die Gewalt des Eindrucks die Sprache verschlagen. Eine Steinbank lud uns zum Sitzen, und die Amerikanerin, die kleines Malgerät mitgenommen hatte, schickte sich an, eine Skizze zu entwerfen, was mir im Moment ganz erwünscht war, da ich dadurch der Verlegenheit überhoben wurde, Unaussprechbares konventionell in Worte zu fassen.

Nach einiger Zeit kam ein älterer graubärtiger Mann einher, auf Sandalen schreitend, in der Tracht der Insulaner; er ging barhäuptig, besaß indes eine auf den Rücken zurückgeklappte, an einer Halsschnur befestigte Mitra, die auf besondere Standeswürde schließen ließ. Beim langsamen Dahinwandern las er aufmerksam in einem Buche und er schritt vorüber, ohne von uns Notiz zu nehmen, obschon ein flüchtiger Seitenblick verriet, daß er uns bemerkt hatte. Nach etwa zwanzig Sekunden zögerte er, überlegte, senkte das Buch, kehrte um, blieb vor uns stehen und sagte:

– Beg Your pardon, I was inattentive. I was obliged to willcom You. I do it now.

Mit stummer Bewegung erwiderten wir diesen auffälligen Gruß. Er ließ sogleich die Erklärung folgen, indem er in leidlichem Englisch ergänzte:

– Ich weiß, wer Sie sind, und darf nicht annehmen, daß Sie unsere Landessprache ausreichend verstehen. Aber ich selbst war einstmals draußen in der weiten Welt und habe viel studiert.

Ich entgegnete, daß seine überlegene Sprachkenntnis uns allerdings sehr willkommen wäre, und daß wir es dankbar begrüßen würden, wenn er einige Minuten bei uns verweilen wollte.

– An Zeit fehlt es mir nicht, sagte der Eingeborene. Meine Geschäfte lassen mir sehr viel Muße, obschon sie mich nach europäischer Auffassung stark beanspruchen müßten. Wofür halten Sie mich?

»Nach Ihrer Mitra zu urteilen, dürften Sie Priester sein; andere Anzeichen lassen auf einen weltlichen Gelehrten schließen.«

– Beides ist richtig und wir können es dabei bewenden lassen. Aber da Sie uns von weither aufsuchten, um Land und Leute kennen zu lernen, füge ich hinzu: ich bin der höchste Beamte dieses Landes.

»Oh, der Präsident von Vléha! – Vorausgesetzt, daß wir uns hier in einer Republik befinden.«

– Auf das Wort kommt es nicht an, nicht einmal auf den Begriff. Wir besitzen keine urkundlich niedergelegte Verfassung; nur ein gewisses Gewohnheitsrecht, worin der Titel gar keine und die Funktion eine variable Rolle spielt. Wollen Sie mich Präsident nennen? Nichts dagegen einzuwenden. Ebensogut wäre zu sagen: ich bin hier König.

»Beides geht doch nicht zusammen. Entweder Republik oder Monarchie.«

– Oder ein drittes, das keinen Namen hat und keinen zu haben braucht. Es ist Vléha, das genügt. Die Gesetze schweben in der Luft, und es steht keine erzwingende Gewalt hinter ihnen; aus dem einfachen Grunde, weil hier – von unwesentlichen Ausnahmen abgesehen – keine Willensträger existieren, die irgend etwas erzwingen wollen. Die Meinungen und Wünsche finden sich wie von selbst zusammen, ohne Reibung, ohne Aufregung. Einer dieser Wünsche geht dahin, daß einer bestimmten Person Verehrung erwiesen wird. Seit etwa dreißig Jahren bin ich diese Persönlichkeit. Besäße ich einen Sohn, so würde dieser vermutlich nach meinem Tode als Objekt der nämlichen Verehrung in Betracht kommen.

»Und damit wäre der Tatbestand der erblichen Monarchie erfüllt.«

– Doch nicht. Zu irgend einer Zeit könnte sich jener Verehrungswunsch ändern oder gänzlich erlöschen. Sie denken gewiß dabei an Verfassungsumsturz oder Staatsstreich. Aber wie soll eine Verfassung stürzen, die als solche gar nicht vorhanden ist? Ebensowenig wie bei den Singvögeln, die unsere Wälder bevölkern und die ganz erträglich dahinleben, ohne eine Magna Charta zu besitzen.

»Das ist doch nicht dasselbe. Sie selbst sagten, Sie seien hier König. Sie müssen also königliche Funktionen ausüben und beträchtliche Machtvollkommenheiten innehaben.«

– Nein. Ich bin nur darum König – um bei Ihren Vokabeln zu bleiben –, weil auf der Insel kein Mensch lebt, der mehr König wäre als ich. Und die königlichen Funktionen beschränken sich darauf, daß ich gewisse Dinge anordne, die sich auch ohne mich als allgemein einleuchtend und selbstverständlich ergeben würden. Man traut mir die Weisheit zu, die priesterliche Begabung, heute als zweckdienlich zu erkennen, was morgen von allen anderen als zweckdienlich erkannt wird. Es ist also wesentlich eine zeitökonomische Betrachtung, welche die Leute veranlaßt, mir diese Funktion zuzuweisen. Sie glauben, daß ich etwas rascher denke, als sie.

»Und wenn dieser Glaube eines Tages schwindet?«

– Dann erlischt die Funktion; wie eine Flamme, deren Brennstoff aufgezehrt ist. Ob zugunsten eines anderen, das läßt sich nicht vorhersagen und macht uns auch nicht die geringste Sorge. Es wird schon irgendwie weiter gehen. Vorläufig ist es, wie es ist. Was vielleicht nach Jahren wird, kann uns gleichgültig erscheinen. Lebt doch der Mensch in die Zeit hinein, ohne auch nur die Ereignisse der nächsten Sekunde zu erfassen. Unser Inselboden wird unterirdisch geheizt, und diese Heizung kommt in dem großen Vulkan Atrato sichtbar zum Vorschein. Während wir hier reden, kann uns eine vulkanische Katastrophe überfallen und ganz Vléha vernichten. Sollen wir dagegen Vorkehrungen treffen?

»Das ist doch ein Unterschied,« sagte Eva; »im Ablauf der Menschenexistenzen ist doch sehr viel voraussehbar, und man kann rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um Übles zu verhüten.«

– Unbestreitbar, meine Dame, und wir nehmen auch auf solche Maßnahmen Bedacht. Nur daß wir sie nicht in eine Verfassung verlegen, in ein Schema von paragraphierten Einrichtungen, sondern in die Menschenseele. Wir verhüten das Übel, indem wir die Möglichkeit des Übels überhaupt beseitigen. Und dazu gibt es Methoden, die sich bei uns seit vielen Jahrhunderten vollkommen bewährt haben. – Er hielt inne und bog scheinbar ab: – eine Frage, Fräulein, mit was waren Sie eben beschäftigt, als mein Vorüberkommen Ihre Hantierung unterbrach?

»Ich entwarf eine Skizze, oder vielmehr, ich versuchte zu skizzieren; denn was man von solcher Landschaft in Strichen und Farben festhält, müßte ja selbst dem größten Meister ganz ärmlich geraten.«

– Und weshalb versuchten Sie?

»Um ein Andenken zu behalten. Wer ein bißchen künstlerisch veranlagt ist, der wünscht doch ein Abbild zu gewinnen.«

– Das Abbild hätte Ihnen auch ein Spiegel geliefert; und ein weit getreueres.

»Aber ein Spiegelbild kann man doch nicht mitnehmen!«

– Gerade darin liegt sein Wert. Es zeigt sich dem Künstlerbild übergeordnet dadurch, daß es sofort verschwindet. Wenn der Spiegel denken könnte, so würde er urteilen: es verlohnte sich nicht, das festzuhalten; ich verliere es auf immer, und darin ruht die Garantie, daß es mich nie wieder behelligen wird. In der Seele des Spiegels besteht die Maßnahme, sich von allen Eindrücken, denen sie unterliegt, in der raschesten Weise zu befreien . . .

»Sie wollen vielleicht darauf hinaus, daß auch die Menschenseele eine ähnliche Maßnahme treffen könnte. Erstens bestreite ich das, und zweitens, wenn es gelänge, wäre es doch ein unermeßliches Unglück. Der Mensch würde einfach aufhören, Mensch zu sein.«

– Er würde anfangen, einer zu werden. Um dies einzusehen, bedarf es freilich einiger Umwege. Bleiben wir einstweilen bei der Landschaft. Sie schwärmen dafür und saugen aus ihr ein Glücksgefühl. Weil Sie sich triebhaft den Eindrücken überlassen, und die Intelligenz ausschalten. Spräche nämlich der Intellekt mit, so müßte er Ihnen sagen, daß diese Eindrücke sich aus Elementen zusammensetzen, von denen nicht ein einziges die geringste Wesensprobe aushält. Sie sehen zunächst Linien und Bergkonturen . . .

»Und was für welche!«

– Entzückende, so meinen Sie; absolut gleichgültige, so sage ich. Prüfen wir: Zugrunde liegen geometrische Dinge, die sich optisch auf Ihrer Netzhaut in Miniaturen abmalen. Diese winzigen Linien und farbigen Flächen sind in Zahlen auflösbar, nach Verlauf und Lichtschwingung, ja sie sind überhaupt gar nichts anderes als die Verhältnisse der Zahlen, die sich in ihnen objektivieren. Hier nähern wir uns der Wahrheit, die ja auch ihr Europäer und Amerikaner, wenn es euch gerade so paßt, über den leeren Schein stellt. Denn so wie es in Wahrheit unter den Zahlen außer dem Größer und Kleiner keine Rangordnung gibt, wie die Million nicht wichtiger, nicht edler, nicht schöner ist, als die sieben, so beansprucht auch kein Zahlenbild, keine Figur einen Vorrang vor einer anderen.

»Nur dann nicht, wenn im empfangenden Organ die Romantik fehlt und die Ästhetik.«

– Also Zustände, die gewisse Kulturmenschen erfunden haben, und von denen andere Kulturmenschen nichts wissen. Dem Aristoteles galt der Kreis als vollendete Figur, das war die Ästhetik des Aristoteles. Ein für Tonschwingung empfänglicher Denker preist die Sinuslinie, die Wellenlinie als die edelste aller Figuren, das ist die Romantik eines Pythagoräers. Eines so sinnlos wie das andere. Unzählige der verständigsten, und auch vergleichsweise glücklichsten Menschen, haben gelebt in den sogenannten wundervollsten Gegenden, welche die Eigenart der Berglinien nicht einmal bemerkten, geschweige denn würdigten.

»Das lag eben an dem Mangel einer noch nicht voll entwickelten Kultur.«

– Die Sie natürlich inne zu haben glauben, weil Sie zufällig zweihundert Jahr nach Rousseau leben, der diese Kulturform aufgebracht hat, wie eine geistige Mode, wie eine Tracht für die Seele. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß diese Tracht in weiteren zweihundert Jahren ins Museum abwandern wird, wenn nicht in die Rumpelkammer der Kuriositäten. Denn der Ruf »zurück zur Natur!«, wenn wir ihm Folge geben, bedeutet ja gerade: los von der ästhetisierenden Schwarmgeisterei, zurück zum Urzustand der Menschen, also zu einem Zustand, der mit Ihrer Verzückung vollkommen unvereinbar ist.

»Ihre Ansicht scheint aber nicht einmal hier durchzugreifen. Wir sind mit einer Steilbahn hier heraufgekommen, also mit einer Maschinerie, die ein touristisches Interesse voraussetzt . . .«

– und an der wir Vléhanesen vollkommen unschuldig sind. Sie ist das Werk anderer Insulaner, bei denen nach europäischem Vorbild die Landschaftsschwärmerei Eingang gefunden hat; wie die Seuche des Alkoholismus und Morphinismus, die auf Momente das Lebensgefühl steigert, aber auf die Dauer Gesundheit und Sittenbestand untergräbt. Unsere Glückseligkeit hat mit solchen Erregungen nichts zu schaffen.

»Erklären Sie uns nur, Herr Priester, wie Sie zu irgend einer Glückseligkeit gelangen wollen, wenn Sie die Seele gegen die angenehmen Eindrücke absperren.«

– Eben dadurch. Wir erstreben den Sieg des Verstandes über das Gefühl, um die wahre Bestimmung des Menschen zu vollenden. In dem Bewußtsein dieser Vollendung ruht das, was wir einstweilen mit dem ungenauen Namen »Glückseligkeit« bezeichnen; im Grunde ist es noch etwas anderes, Höheres, was sich über die Glückseligkeit erhebt, wie die Notwendigkeit über den Zufall.

»Das klingt sehr nihilistisch und scheint auf einen Nullpunkt des Daseins hinzusteuern. Aber der ist unter lebendigen Menschen niemals zu erreichen. Das Gefühl meldet sich schon, und wenn Sie es noch so sehr überwunden zu haben glauben; es meldet sich mit dem Verlangen nach Lust und noch weit stärker mit dem Verlangen, die Unlust, den Schmerz von sich abzuwehren.«

– Beides ist identisch und untrennbar wie positiv und negativ elektrische Pole. Der seelische Schmerzpol bleibt dauernd wirksam, so lange dem Lustpol neue Nahrung zugeführt wird. Und daraus folgt, daß es nur eine Methode gibt, um den Schmerz zu überwinden: Abschneidung der Lustzufuhr, Herabsetzung der Lustempfindung bis auf Null. Wird die Seele mit Erfolg hierzu erzogen, so verliert sie automatisch auch die Fähigkeit, auf Schmerz zu reagieren. Sie wird außerhalb des Leidens gestellt, und damit ist die Aufgabe des Verstandes erfüllt, der aus dem unleidlichen Frondienst bei dem Tyrannen »Gefühl« erlöst werden will.

»Halten Sie denn im Ernst eine Unempfindlichkeit gegen den Schmerz für möglich?«

– Ich wäre nicht der Erste, der diese Ansicht vertritt; wie ich ja überhaupt nicht der Erfinder dieser Theorie bin, vielmehr deren Träger. Kennen Sie das Problem des Phalaris?

»Meines Wissens war das nicht ein Problem, sondern ein Marterinstrument; ein Moloch in Gestalt eines ehernen Stieres, der angeheizt wurde und in dessen glühenden Bauch man lebendige Menschen stieß. Es wird wohl aber niemand auf das Problem verfallen sein, ob man sich gegen so etwas unempfindlich machen kann?«

– Es genügt, daß die Frage aufgeworfen wurde, und sie ist auch tatsächlich von einigen Weisen in meinem Sinne beantwortet worden. Da trat einer auf, der erklärte: »Wenn ein Weiser im Stiere des Phalaris gebraten würde, so würde er ausrufen: wie wohl ist mir!«

»Verzeihung, das kann nur ein Asket schlimmster Sorte erklärt haben! Ein zwischen Wahnsinn und Renommisterei taumelnder Säulenheiliger!«

– Sie sind im Irrtum: das hat Epikur gesagt, also ein Mann, der nach Ihrer Meinung gewiß den Lebensgenuß begriffen hat. Und ein anderer Weiser, der Stoiker Seneca, pflichtete ihm bei.

»Ich entsinne mich der Tatsache,« schaltete ich ein; »ich möchte mir indes erlauben, Ihr Zitat zu vervollständigen. Seneca ergänzte nämlich, daß ein weiser Mann, wenn die Wahl bei ihm stände, lieber nicht gebraten werden wolle, nicht wegen der Unbehaglichkeit der Sache, sondern weil es der Natur widerspricht, daß ein weiser Mann sich ohne Not braten lasse. Gleichviel, aus Ihrer Betrachtung geht doch hervor, daß Sie dem Epikur eine Autorität zugestehen; und hierin erblicke ich die Möglichkeit, mich mit Ihnen zu verständigen. Sollte am Ende in Ihrer Überzeugung ein Rest von Epikurischem Bewußtsein versteckt sein?«

– Wie Sie es verstehen, nicht im Mindesten. Unser Grundbekenntnis konzentriert sich vielmehr auf eine ganz andere Größe. Es wird Zeit, daß Sie hierüber Aufklärung empfangen: Wir sind Buddhisten!

»Ein neuer Widerspruch! Ihre Insel mit ihren auf höchste Lebensfreude eingestellten Naturbedingungen hätte doch ein Geschlecht von Genießern hervorbringen müssen, also von Nicht-Buddhisten, von Contra-Buddhisten. Wie sind Sie also darauf verfallen, sich in einem Schlaraffenlande gerade zur Lehre eines Genußbekämpfers zu bekennen? Und auf welchem Wege ist diese Entsagungslehre aus Indien zu Ihnen gelangt?«

– Diese Frage muß umgekehrt werden: Nicht zu uns ist die Lehre gedrungen, sondern von uns nach Indien. Erfahren Sie also: Vor dreitausend Jahren lebte auf unserer Insel ein Mann namens Vlaho, der viel später auf dem Wege der Seelenwanderung im indischen Morgenland wiederkehrte und dort die Figur und den Namen Buddhas annahm. Hier bei uns hat er zuerst seine Lehre geschaffen, wir sind die Träger der Urtradition, ich selbst bin in gerader Linie sein Abkömmling und heiße Vlaho wie er.

Diese Mitteilung war nicht geeignet, unsere Stellung in der Debatte zu erleichtern. Mit einem Priester oder König konnte man sich auseinandersetzen, aber auf einen Weltpropheten waren wir nicht eingerichtet. Welche Distanz sollten wir einhalten zu einer Person, die sich offenbar im tiefsten Ernst eine göttliche Sendung zuwies? Die völlig davon durchdrungen war, daß eine Weltreligion von ihr ausging?

Der Mann erriet unsere Verlegenheit und kam uns zu Hilfe: – Sprechen Sie zu mir, wie zu Ihresgleichen. Ich erwarte Widerspruch in jeder Form, und je schärfer Sie ihn fassen, desto sicherer werden wir zur Klärung gelangen.

»Von dieser Erlaubnis werde ich ausgiebigen Gebrauch machen, Herr Vlaho,« sagte ich, »und zwar um Ihnen zu eröffnen, daß ich Ihre Behauptung für unsinnig halte. Es hat nur einen Buddha gegeben, und der war in Indien zu Hause. Sie haben aus seiner Lehre etliche Elemente herausgegriffen, vermischen sie mit Brocken der Zyniker und Stoiker, und geben das Gemengsel für Originaltradition aus. Ja, noch mehr: Sie wollen uns eigentlich vorreden, daß Buddha noch immer existiert, und daß wir ihn hier vor uns haben. Das geht zu weit!«

– Wie nun aber, wenn sich das, was Ihnen als Gemengsel erscheint, als eine restlose Einheit darstellt? Buddhas Lehre wurzelt doch im Kreislauf der Wiedergeburten, im »Sansara«, das nichts anderes ist als die ewige Wiederholung des Weltleidens! Und so gewiß, als in Ihnen beiden der alte Adam und die alte Eva noch lebendig sind, so gewiß hat Buddha verschiedene Formen angenommen, in Seelenwandel und Körperspaltung, um sich der Welt zu offenbaren. Die Zyniker Diogenes, Antisthenes, Krates, – sie waren Buddha in Wiedergeburt; die Stoiker von Zenon bis Seneca, Epiktet, Marc Aurel – verwandelter Buddha; in Athen hat er gelebt, in Rom, und als er in Frankfurt wohnte, nannte er sich Schopenhauer. Ebenso war auch sein Auftreten in Hindostan nur eine Wiedergeburt, nachdem er sich hier, auf Vléha, ursprünglich verkündete. Warum hier zuerst? Das ist leicht einzusehen; weil er ein solches Eiland brauchte, damit seine Entsagung den tiefsten Sinn und die höchste Bedeutung erreichte. Nur im Paradiese kann der Baum der Erkenntnis wachsen, und nur dort, wo alle Sinne mit Lust umgaukelt werden, wird die Erkenntnis zum erlösenden Lustverzicht. Dann schließt sich der Ring. Sansara wird überwunden, Nirwana nimmt uns auf, als das selige Nichts, worin das Gelüst und zugleich sein entsetzliches Widerspiel, das Leiden der Welt, verschwindet.

»Und wie kommt es denn, Herr Vlaho, daß Sie selbst als Buddha von heute leibhaftig vor uns stehen? Warum haben denn Ihre zahllosen Vorgänger das Programm des Nirwana nicht längst vollstreckt? Ihre Existenz wie die aller Ihrer Mitbürger beweist doch, daß das Sansara, die Wiedergeburt, ganz munter weitergeht, daß Sie atmen, Nahrung aufnehmen, sich fortpflanzen, hoffen und begehren. Sie zum Beispiel hoffen in diesem Augenblick offensichtlich, uns zu überzeugen; Ihre Begierde ist darauf gerichtet, uns der Torheit zu überführen, weil wir naiv genug sind, eine himmlische Landschaft als schön zu empfinden, und ein genießendes Volk voraussetzen, wo die Natur selbst den Tisch so üppig gedeckt hält.«

– Ihr Einwurf bezeugt, daß Sie nicht aufgemerkt haben, als ich Ihnen sagte, seit dem ersten Auftreten unseres Buddha wären dreitausend Jahre verstrichen. Eine kurze Zeit im Ablauf menschlicher Begierden. Gewiß, das Ziel ist noch nicht erreicht, aber es kann nicht mehr verfehlt werden. Und wenn ich, als der letzte Buddha, Sie zu überzeugen wünsche, so geschieht dies in der Erwartung, daß Sie von Ihrer Gastreise einiges hinaustragen in Ihre Heimat; einen Ansatz von Weisheit für die Völker, denen Sie angehören; damit auch diese anfangen, sich dem Nirwana zu nähern.

Eva lächelte: »Darauf kann ich Ihnen nicht die geringste Hoffnung eröffnen. Es hat sich nämlich bei uns in Amerika und Europa gezeigt, daß die Genußsucht um so höher schwillt, je mehr Abstinenz gepredigt wird. Jedes Argument zur Bescheidung, inneren Einkehr und Entsagung wird vom Volk genau entgegengesetzt beantwortet, und als Betäubungsmittel im Weltelend sucht es nicht eine buddhistische Weisheit, sondern das Amüsement um jeden Preis. Ich gehe noch weiter: Unsere Volksgenossen studieren neuerdings Seneca, Schopenhauer und indische Schriften wesentlich aus Amüsiertrieb. Sie verschlingen diese Bücher, um sich recht lebhaft die Nachtseiten des Denkens vorzustellen, mit denen dann die Lichtseite ihrer Vergnügungen um so freudiger kontrastieren soll. Und ich werde den Verdacht nicht los, daß Sie auf Ihrer Insel etwas ähnliches erleben werden. Wenn Sie, Vlaho, die Lustventile verstopfen, können Sie eine Explosion hervorrufen.«

Da wir einmal im Zuge waren, fuhr ich fort: »Der ganze Buddhismus, der nach Ihrer Versicherung hier regiert, ist ein System, das seine Unmöglichkeit bei Überführung in die Wirklichkeit früher oder später erweisen muß. Auf einem kargen Lande wäre er schon an sich unmöglich, da man nicht entsagen kann, wo nichts vorhanden ist. Auf einem reichen heuchelt er eine Anfangsmöglichkeit hinter einer theoretischen Larve, die nichts anderes verbirgt, als ein in Narrheit grinsendes Gesicht. Es ist hart, es einem Buddha ins Gesicht zu sagen – aber es muß gesagt werden –: der Buddhismus ist eine selbstbetrügerische, papierene Floskel. Das Hohelied der Armut und des Bettlertums! Man erzählt uns, Buddha, der indische, der einem reichen Adelsgeschlechte entstammte, eine Art Prinz, habe sein Wohlleben hinter sich geworfen, um als Bettler in die weite Welt zu ziehen . . .«

– Und Sie wollen leugnen, daß hierin Geistesgröße liegt und sittliche Erhabenheit?

»Für mich ist es eine Geste, die für eine dramatische Szene ausreicht, für ein Oratorium, aber nicht für eine Religionsstiftung. Im Theater und Konzert vertrage ich jeden mythologischen Unsinn, aber hier frage ich nach dem Sinn der Geste: bei wem hat er denn gebettelt?«

– Selbstverständlich bei den Reichen.

»Die Existenz der Reichen war sonach die Voraussetzung für seine Erleuchtung. Hätte es keine Begüterten gegeben, so wäre Buddha verhungert und niemals in die Lage gekommen, seine Lehre zu entwickeln. Er wollte also durch Gleichgültigkeit und Verleugnung, genau wie Sie selbst, Herr Vlaho, die Wurzel seiner eigenen Existenz aus der Welt schaffen. Ein vollendeter logischer Zirkel, ein Kreisfehler, aus dem es kein Entrinnen gibt!«

– Sie selbst verstricken sich in einen circulus vitiosus, indem Sie die indischen Anfänge Buddhas mit der Fortsetzung verwechseln. Er begann mit der Entbehrung, um bei der Beschaulichkeit in geweihten Wäldern zu landen.

»Machen Sie ihm das nach, Vlaho! Werden Sie beschaulich wie er, indem Sie die Natur anschauen wie er. Soweit wäre das Vorbild ganz geeignet. Aber sofort meldet sich ein neuer Unsinn. Der gereifte Buddha hat sich nämlich die Haine, in denen er meditierte, schenken lassen, wiederum von den Reichen, er hatte also seine ursprüngliche Habe fortgeworfen, um neuen Reichtum zu erwerben, um sich den verdammten Besitz hintenherum wieder zuzuschmuggeln. Der Hohepriester der Entsagung muß also doch am Besitz Freude empfunden haben.«

– Sie deuten das ganz falsch. Im Brevier des Buddhismus ist für die Freude kein Platz.

»Was Sie mir da erzählen! Meines Wissens wird die Freude schon auf der ersten Seite dieses Breviers nachdrücklich betont und empfohlen. Als Buddha aus seinem ersten Jüngerkreise die Heilsbotschaft in die Welt sandte, geschah es unter der Formel: »Zum Erbarmen, zum Heile, zum Segen, zur Freude für Götter und Menschen!« Er war also nach seinen eigenen Worten ein Freuden-Priester. Aber nein! das stimmt auch nicht. Denn er wird doch als prinzipieller Pessimist ausgerufen, als ein ausgebrannter Asket, der die Kasteiung bis zum Übermaß trieb, durch freiwilligen Hunger, durch Anhalten des Atems, bis zur asketisch erzeugten Besinnungslosigkeit!«

– Das ist allerdings die historische Wahrheit. Sie vergessen indes eine Hauptsache: Als Buddha in Selbstmartern besinnungslos wurde, kam ihm in diesem Zustand die Erleuchtung, daß die Askese nicht zum Heile führe; er hat sie deshalb seitdem wieder verworfen . . .

»Um die Entsagung desto dringender zu empfehlen. Krasser kann die Vernunft nicht auf den Kopf gestellt werden. Überlegen wir einmal: ist ein Mensch von Haus aus so stumpf organisiert, daß das Fortwerfen des Genusses ihm nichts bedeutet, so bedarf er doch keiner buddhistischen Philosophie; denn sein Stumpfsinn ist ja bereits seine Erlösung. Ist er aber so feinsinnig und empfindlich, daß ihm die Verdunkelung des Daseins zur Pein ausschlägt, dann tritt ihm die nämliche Philosophie mit dem Befehl entgegen: du darfst dich nicht peinigen! Denkfehler ohne Ende, was ja nicht zu verwundern, da sie aus jener in Besinnungslosigkeit entzündeten Erleuchtung herauswuchsen. Sagen Sie mir nun, Vlaho, als Oberhaupt dieses buddhistischen Staatswesens: wie halten Sie es im einzelnen mit der Durchführung des Prinzipes? Eine Verfassung brauchen Sie nicht, behaupten Sie, also auch keinen Gesetzeszwang, kein Strafrecht. Ich frage nunmehr bestimmter: Wie schützen Sie das Eigentum? da unten befinden sich doch Häuser und Gärten, und diese Anwesen gehören, wie wir schon im Gasthof merkten, bestimmten Personen. Was geschieht, wenn der Einzelne seinem Nachbar den Besitz fortnehmen will?«

– Das kommt eben nicht vor. Meine Landeskinder sind seit so vielen Jahrhunderten zur Leidenschaftslosigkeit erzogen, und keiner trägt ein Gelüst nach dem Eigentum des Nächsten. Bei uns ist ein Urzustand der Natur verwirklicht, den Sie auch im Verhalten der Vögel beobachten können. Fragen Sie Ihre deutschen Zoologen: Wenn in einem Garten Rotschwänzchen und Meisen wohnen, so teilen sie die Gartenfläche in zwei Bezirke, ohne daß sie hierzu eines Grundbuches bedürfen; der eine Teil gehört den Rotschwänzchen, der andere den Meisen, die unsichtbare Grenzlinie wird respektiert, und niemals kommt es zu Übergriffen. Solchen stillschweigenden Vertrag, den keine Polizei zu überwachen braucht, haben wir in die menschliche Gesellschaft übernommen.«

»Sehr gut. Ihre Volksgenossen sind Musterkinder in dieser Hinsicht. Nur folgt aus Ihrer Darstellung das Gegenteil dessen, was Sie als Staats- und Sittenprinzip ausrufen. Was bestimmt die Vögel zu ihrer Gepflogenheit? das Gefühl des Eigentums und zwar das Gefühl in solcher Steigerung, daß seine Stärke ausreicht, um alle Rechte zu gewährleisten. Das Eigentum im Grundbesitz ist ihnen so angewachsen wie das Federkleid, es ist ein integrierender Teil ihrer selbst. Steckt hierin eine Entsagung, eine Verleugnung des Glücks? nein, es ist die Höhe der egoistischen Freude, die über die Besitzeslust des Menschen hinausgeht, kraft ihrer selbstverständlichen, absoluten, jeder Sorge enthobenen Sicherheit. Dieser Urzustand ist eigentlich weit raffinierter als der unsrige, und wenn er über Ihre Insel hinausgreifen sollte in die Welt, so führt er zu einem Triumph des Besitzes, von dem sich der Kapitalismus noch gar nichts träumen läßt. Er wird dann wirklich ›in Souveränität stabilisiert wie ein rocher de bronce‹, denn die Selbstverständlichkeit stützt ihn besser als jedes paragraphierte Gesetz, das heute so lautet und morgen ganz anders. Was Sie als Neidlosigkeit bezeichnen, als Ungelüst, ist eine graue, lethargische Asche, unter der die Besitzeslust schwelt und sich mit vielen begleitenden Lüsten zur Eruption bereit hält.«

– Sie versuchen mit sophistischen Spitzfindigkeiten in ein Gebiet zu dringen, wo nur der einfache Gedanke waltet: Überwindung der Materie durch den Geist!

»Durch den Geist der Apathie, der die Züge eines Gespenstes trägt. Die Gleichgültigkeit, die Sie den Wesen einimpfen, ist die Frucht einer im Grunde fanatischen Religion, die das Menschliche im Menschen ausrotten und die Körper in Schatten verwandeln will. Gelänge ihr das, so müßte Ihre Insel zweierlei Gesichter zeigen: ein Volk, dessen Männer in Blödheit erstarren, dessen Kinder nicht spielen, dessen Mädchen nicht lächeln, in einer Natur, die in brausenden Akkorden hinauslacht, und unermeßliche Triebe mit Myriaden von Blütenkelchen hinausläutet. Es ist der Geist des Widerspruchs, zu dem Sie sich als Priester bekennen. Oder haben Sie vielleicht noch eine andere Gottheit zur Anbetung, einen Götzen, einen Moloch wie den von Phalaris?«

– Weder Gott noch Götzen. Beides wäre mit dem strengen Buddhismus unvereinbar. Wir vereinigen uns nur hin und wieder zu besonderen symbolischen Handlungen, in denen wir unser Grundbekenntnis von der Nichtigkeit der irdischen Güter zum Ausdruck bringen. Ohne eigentliche Liturgie und gottesdienstlichen Kultus.

»Aber doch wohl mit irgendwelchen Feierlichkeiten, die auf das Gemüt wirken sollen,« sagte Eva. »Wir bemerkten heute einen Trauerzug, der sich nach einem tempelartigen Gebäude hinbewegte. Da müssen doch also die Leichen eingesegnet worden sein, und ich vermute, daß Sie selbst dabei priesterliche Riten ausgeübt haben.«

– Sie irren sich, meine Dame. Ein Leichenkondukt hat heute nicht stattgefunden.

»Aber wenn ich Ihnen doch versichere – zwei Särge auf einem Wagen!«

– Ganz recht. Allein Sie mißdeuten den Vorgang: das war ein Hochzeitszug! Es ist bei uns Sitte, daß Bräutigam und Braut in luftdurchlässigen Särgen zur Trauung befördert werden. Ein sinniges Symbol dafür, daß sie in Vereinigung und Zeugung ihre Lebenssubstanz einer neuen Generation dahingeben und eigener Existenz entsagen. Der Priester oder der Adjunkt erläutert dies mit einem Hinweis auf das Verhängnis des Sansara, hilft dem Paar aus den Särgen, und die Neuvermählten begeben sich nach Hause, um der Natur das Opfer darzubringen, das sie uns unerbittlich abverlangt.

»Und von den Überwallungen des Herzens, von den Entzückungen der Liebe kein Wort?!« rief Eva; »es fehlt nur noch, daß Sie zum Gegensatz eine wirkliche Trauerfeier mit den Attributen der Freude umgeben und ein Begräbnis ausgestalten wie eine Hochzeit!«

– Diese Barbarei, sagte der Priester, überlassen wir Ihren Nationen, welche die Leichenschmäuse erfunden haben mit üppig gedeckten Tafeln, an denen sich lachende Erben vergnügen und betrinken. Was uns betrifft, so verbleiben wir im Leben wie im Sterben bei der schlichten Disziplin Buddhas, der ein Weib nahm, um es zu verlassen, und der die Erde verließ in dem Bewußtsein, daß der Tod nichts bedeutet, wenn man weise genug war, der Verlockung des Lebens zu widerstehen.

Der letzte Trumpf der Debatte verblieb sonach einstweilen in der Hand Vlahos, der wohl spürte, daß er mit weiteren Argumenten nichts zu gewinnen hatte. Er wies mit der Hand nach der Berglehne, auf der soeben unsere Freunde niederstiegen, um zu bedeuten, daß er beim Erscheinen der Genossen dieses Gespräch nicht zu verlängern wünschte. Wiederum verschloß er den Blick mit dem aufgeschlagenen Buche und würdevoll schritt der König von Vléha zu Tale.

* * *

Die Gesellschaft überbot sich in Exaltationen und selbst der Amerikaner erklärte, daß die Extratour sich über alle Maßen gelohnt habe. Nie hätte er es als älterer Herr für möglich gehalten, daß die Empfindung der Strapaze bei einem doch immerhin beträchtlichen Marsch so vollständig verschwinden könnte. Da läge noch ein ganz besonderes Wunder in der Luft. Bruchstückweise kam es heraus, wieviel beglückende Sensationen sich hier in gedrängter Folge erleben ließen. Der Vulkan in der Ferne habe eine Rauchfahne aufgesteckt wie eine wehende Palme, so hoch wie der Rigi. Ein Plateau hätten sie durchquert mit einem Kranz springender Geiser. Und dicht dabei versänke der Blick in einen Canon, gegen den – so meinte Ralph Kreyher – die Schluchten von Colorado zum Range ärmlicher Theaterkulissen herabsänken. Und nun wieder der Prospekt in das lachende Tal mit seiner himmlischen Vegetation! Eigentlich sollte man den weiteren Entdeckungsplan gänzlich aufgeben und sich hier auf Monate einrichten. Dann würde man für's übrige Leben genug haben an der neidvollen Erinnerung. Wahrhaftig! zu denken, daß es einige bevorzugte tausend Menschen gibt, denen hier ein Fest auf Lebenszeit bereitet wird. Wie glücklich müssen diese Insulaner sein!

Wie sehr dieser Ausruf daneben traf, erfuhren die Herren aus unserem Bericht. Eva und ich wiederholten ihnen das Wesentliche aus unserer Begegnung mit dem Priester. Und wenn auch die Wiedergabe nicht die überzeugende Kraft des Originals besaß, so wurde ihnen doch klar, daß hier die Schöpfung eine grausame Anomalie zuwege gebracht hatte: eine Insel der glücklichen Bedingungen, bevölkert von einem freudlosen Geschlechte.

Ein kleiner Verdruß ging nebenher: wir vermißten Geo Rottek, unseren Schiffsoffizier. Er hatte sich irgendwo auf der Tour abgezweigt und war nicht wieder zum Vorschein gekommen. Sollte er sich verirrt haben? oder in eine Schlucht gestürzt sein? Ich äußerte Besorgnis, allein der Kapitän verschwor sich mit allen Eiden, es wäre nichts dergleichen zu befürchten; Rottek sei die Umsicht und Gewandtheit in Person, und wenn er sich unsichtbar mache, so geschähe es sicher nur, um uns später mit eigenen Expeditionsergebnissen zu überraschen. Wir verwarfen deshalb den aussichtslosen Plan einer suchenden Streife auf unbekanntem Terrain und warteten das Weitere ab, das übrigens – wie vorweg gesagt werden soll – die Auffassung des Kapitäns als vollkommen zutreffend erwies.

* * *

Als wir in die Stadt zurückkehrten, erlebten wir ein Getümmel. Wir erblickten aufgeregte Gesichter, wie sie in das vorgezeichnete Gesamtbild des Phlegmas durchaus nicht hineinpaßten. Jünglinge und halbwüchsige Burschen drängten sich heran, und einige steckten uns beschriebene Zettel in die Hand. Wir wurden zuerst nicht klug daraus, bis Donath, der ausführlicher herumgehorcht hatte, die Erklärung brachte. Eine Volksversammlung war im Stadthaus angesagt, und die Veranstalter legten Wert darauf, daß wir, die fremden Gäste, uns daran beteiligten; nicht nur als stumme Zuhörer, sondern, wenn es der Gang der Dinge erfordern sollte, mit Abgabe unserer eigenen Meinung. Es ginge um Wohl und Wehe der ganzen Insel.

Es war also ersichtlich, daß in der buddhistischen Aufmachung unseres Gewährsmannes eine Unstimmigkeit heraustrat. Und wir erkannten auch bald, wo das Loch in der Rechnung saß: in dem Widerstreit zwischen Alt und Jung, der durch Jahrhunderte unter Druck niedergehalten, jetzt plötzlich durchstieß. Agitatoren aus den Nordinseln waren eingedrungen und hatten den Samen des Mißvergnügens ausgestreut. Pochte das Glück an die Pforte? Nein, das stand noch weit draußen und wagte sich nicht heran. Aber in jungen, eingeschläferten Herzen war ein Drang erwacht nach einem unbestimmten Ziele. Was dieses Ziel versprach, verkroch sich noch hinter Schleiern; nur das eine wußten sie, ahnten sie wenigstens: es sollte anderswo liegen als dort, wohin der knöcherne Finger des Buddhismus wies.

Auf der Tribüne stand der Hauptagitator Sterridogg von der weitentlegenen Insel Unalaschka, auf der sich schon die klimatischen Einflüsse der antarktischen Region bemerkbar machen. Wir konnten seiner Rede gut folgen, da man uns vornan Plätze angewiesen hatte. Trotzig genug sah der Geselle aus, wie er aus tiefliegenden, verkniffenen Augen die Versammlung musterte, und der Eindruck des Trotzes verschärfte sich noch durch ein bellendes Organ und durch ruckende Kopfwürfe, die seinen schütteren Jungbart in Schwingung versetzten.

Die Senioren der Stadt waren nur spärlich vertreten. Sie mochten wohl der ganzen Angelegenheit keine wesentliche Bedeutung beimessen und sich darauf verlassen, daß die ruhige Beredtsamkeit und die Autorität des einen Vlaho ausreichen würde, die gefährdete Jugend bei Raison zu halten. Der saß abseits, versteinert, ganz Buddha. Und es schien ein Fluidum von ihm auszugehen, wie von einem Gesalbten, in dessen Gegenwart sich keine Stürme erheben dürfen.

Aber die Bewegung war vorhanden. Eine verhaltene Gärung, deren Ursprünge weiter zurücklagen in geheimer Wühlarbeit der fremden Aufwiegler. Deren Sprecher begann:

Vléhanesen! Jungmannen und Jungfrauen! Wir sind hierhergekommen, um euch aufzurütteln zur Ergreifung der Menschenrechte, zu einem Menschentum, von dem ihr nichts wißt, nichts ahnen könnt, da eure Seelen in Gefangenschaft schmachten. Vertiert seid ihr unter der Lehre eurer Väter, die euch Ruhe, Entbehrung, Gleichgültigkeit, Entkräftung auferlegt, in einer von Kräften strotzenden Welt.

Auf den anderen Inseln und auf den fernen Kontinenten leben Menschen, welche arbeiten und kämpfen, in Kampf und Arbeit das Gefühl des Lebens zu erstreiten. Ihr kriecht schleimig dahin als schneckenhafte Wesen, ihr habt Blut in den Adern, aber es pulsiert nicht. Raffet euch auf zur Blutwallung, werdet Kämpfer! Schüttelt ab den Bann, der euch zur Seelenlosigkeit verdammt – unterjocht die Unterjocher!

Wogegen ihr zuerst kämpfen sollt?

Das will ich euch sagen: Gegen die reiche Natur, die euch umgibt, die sich ihre schwelgerische Üppigkeit auf eure Kosten angemästet hat. Heuchlerisch scheint sie den Bewohnern alles zu gewähren, was des Lebens Notdurft verlangt, sie überschüttet sie mit Blüten und Früchten, sie bettet sie in landschaftliche Wonne, aber hinter dieser Freigebigkeit lauert der Verrat: Indem sie euch die Arbeit ersparte und in reglose Beschaulichkeit einlullte, dämpfte sie die Lebensgeister, sog das Mark aus den Hirnen und Nerven. Und nur in also entseelten Seelen konnte sich jene Verderblichkeit entwickeln, die man euch als Philosophie und Religion aufschwatzt: die entbehrende Buddhalehre. Dort hockt er, euer neuer Buddha, dessen eingefrorenes Gesicht nicht euer Erbe werden soll.

Ja, kämpfen wir gegen den Urgrund seiner Lehre, gegen die verweichlichende, geistdämpfende Natur, in der wir die Wurzel des Seelenelends erkennen. Nicht mehr mit Gleichgültigkeit wollen wir ihr begegnen, sondern mit Haß und Zorn. Ausrotten wollen wir ihre Fülle und Schönheit, hinter der sich der Satan verbirgt; ein Dämon, der auf Vléha die schlimmste Form des Lasters verbreitet hat, die Verblödung.

Zornbewehrt werden wir die Natur umgestalten, dieses verruchte Klima, das den Boden schwängert, um den Menschengeist mit Unfruchtbarkeit zu schlagen. Eine schwere Aufgabe? Wohlan, laßt erst euren Haß emporschwellen, daß er gewaltiger werde, als die Schwierigkeit. Laßt uns Bresche schlagen in jenen Gebirgswall, ein Tor öffnen den rauhen Nordwinden, daß sie mit eisigem Hauch das Gelände überfluten! Erprobung tausender, kräftiger, arbeitsbegieriger Männerarme! Seid ihr bereit?

Das Echo geriet nicht so volltönig, als der Agitator erwartet hatte. Nur ein leises Murmeln des Einverständnisses wurde vernehmbar, dann meldete sich ein junger Mann:

»Ich heiße Sergasch, bin Schwesternsohn unseres Königs und sitze auf einem Gütchen, das mich mühelos ernährt. In der überreichen Muße, die auf mir wie ein Alp lastet, habe ich mich dem Bücherstudium überliefert; und es geschah mir beim Lesen, als würde ich aus einem fürchterlichen Traum aufgeschreckt. Mit allem Respekt vor meinem Oheim sei es gesagt, daß mir seine Lehre schon lange verdächtig war. Sehr verständig hat der Sendbote Sterridogg gesprochen, den das Mitleid von seiner steinigen Insel Unalaschka hierher treibt, um uns die Augen zu öffnen. Heraus aus dem Dämmer der Apathie, hinein in die Leidenschaft! Wollen wir nicht verdorren, so müssen wir uns den Zwang zur Tat schaffen. Aber der vorgeschlagene Weg ist ungangbar. Wohl haben die Europäer natürliche Fesseln zerbrochen, in Suez und Panama, wo sie Kontinente zersprengten, um Meere zu vereinigen, allein derartige Menschengewalten vermögen wir Insularier nicht aufzubringen. Wir können unser Gebirge nicht öffnen, um das Klima hart zu machen. Sinnen wir daher auf andere Mittel. Wir brauchen den Notzwang, und wir werden ihn haben. Not! Befruchterin der Intelligenz, Mutter aller Erfindungen, Nähramme aller Tugenden, komme zu uns! Stehen dir die in Geilheit strotzenden Felder und Fruchtbäume im Wege, so werden wir sie beseitigen. Vernichtung den Hindernissen! Feuer herbei!«

»Feuer an die Plantagen!« – so erschollen Zurufe aus jugendlichen Kehlen.

Jetzt erhob sich Vlaho, dem es allmählich klar wurde, daß er mit einer priesterlichen Geste den Sturm nicht mehr zu beschwichtigen vermochte:

»Meine Kinder! Zum erstenmal in einem langen, von Heilswahrheit gesegneten Leben fühle ich die Notwendigkeit, aus der Gelassenheit herauszutreten. Welch ein Geist ist in euch gefahren! Ihr hört auf die Verführung neidischer Fremdlinge, die eure Seelen verwirren und ihnen die eingepflanzte Köstlichkeit entreißen wollen: die Unnahbarkeit, das Gleichmaß, die Unerschütterlichkeit. Leidenschaft, Haß und Wut wollen sie euch einimpfen, jene Erbübel, die da draußen ihr giftiges Wesen treiben und die ganze Weltgeschichte zu einem Register schreienden Jammers gemacht haben! Wollt ihr werden wie die Europäer von heute mit ihrem verzweifelten Kampf aller gegen alle, wollt ihr euch überschwemmen lassen von Schweiß und Blut, dann rufet die Not, beschwört ein Geschick herauf, gegen das wir Alten euch mit eiserner Brustwehr zu schützen beflissen waren. Denn das war der Sinn unserer Lehre, die man buddhistisch, zynisch, stoisch nennen mag, euch außerhalb des Schicksals zu stellen, durch weise gepflegten Gleichmut. Wir hielten die Eitelkeit der Freuden von euch fern, um euch mit Unempfindlichkeit gegen den Schmerz zu waffnen; euch das zu gewähren, was die weisesten der Griechen als ›Ataraxia‹ gepriesen haben; die Unangreifbarkeit des Geistes, der in der Einsicht von der Leerheit der Genüsse sich zum Herrn über den Körper aufschwingt. Jetzt aber werft ihr die Ataraxie von euch, stürzt in die Arme des Schmerzes und hofft in dieser Umarmung eine Wollust zu erleben . . .«

. . . »Weil es keinen anderen Weg zu ihr gibt« – rief Sterridogg dazwischen – »als den Umweg über Not, Schmerz und saure Arbeit. Dieser Priester dort, der uns mit griechischen Brocken kommt, der in aller Literatur so genau Bescheid weiß, warum unterschlägt er uns die Weisheit des alten Zoroaster und des neuen Zarathustra? der die Not gepriesen hat mit den Worten: Im Schmerz ist so viel Weisheit wie in der Lust, er gehört gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges! daß er weh tut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen! Menschen gibt es, die beim Herannahen des großen Schmerzes wachsen, die nie stolzer, nie glücklicher dreinschauen, als wenn der Sturm heraufzieht; ja! der Schmerz selber gibt ihnen die größten Augenblicke! Das sind die heroischen Menschen, die großen Schmerzbringer der Menschheit; jene Seltenen, welche dieselbe Apologie nötig haben, wie der Schmerz überhaupt; es sind arterhaltende, artfördernde Kräfte ersten Ranges! Begreift ihr's, unglückselige, verkümmerte Genossen, daß ihr diesen Großen nachzueifern habt? Begreift ihr's, daß die Prediger der anderen Lehre nichts anderes sind als Quacksalber, die euch mit Haschisch betäuben?«

»Feuer an die Plantagen!« antwortete es in verstärktem Chore. Vlaho war zurückgesunken, Eva meldete sich mit einem Zeichen, daß sie zu sprechen wünsche, und aller Blicke hefteten sich auf sie:

»Vléhanesen! Nicht um zu entscheiden, richte ich das Wort an euch, denn wir sind Gäste ohne Richterbefugnis; sondern um dem maßlosen Erstaunen Ausdruck zu geben, das uns befällt angesichts dieser Vorgänge. Es ist wahr, wir kommen aus Ländern, in denen die Menschen durch Leid, Kampf und Arbeit von der Freude abgedrängt werden. Hier zum erstenmal fanden wir einen Erdflecken, den die Natur in rosiger Laune erschuf, um sich in einem Ausnahmefalle ihrer natürlichen Grausamkeit zu entäußern. Hier wäre der Boden für ein paradiesisches Geschlecht, das nur nötig hätte, seine Sinne offen zu halten, um glücklich zu sein. Und was haben wir angetroffen? Zwei Parteien zwischen Entsagung und Schmerzenssehnsucht, zwischen Gleichgültigkeit und Haß. Wir allein, wir Fremden, konnten hier des Weltelends vergessen, konnten uns auf einige Stunden im Glücke sonnen, das ihr nach zwei Methoden von euch abwehrt. Darf ich euch einen Rat geben? fahret hinaus zur Betrachtung der euch unbekannten Welt, wie wir hinausfuhren zur unbekannten Insel, erlebet den Kontrast, und bei der Heimkehr werden eure beiden Parteien verschmelzen zu einer einzigen, der selbstverständlichen Glückseligkeit. Ihr werdet nicht mehr Buddhisten sein und Antibuddhisten, sondern frohe Menschen auf der Insel der glücklichen Bedingungen.«

»Nach Auswandern ist uns schon lange zu Mute,« rief Sergasch dazwischen; »so wie sich Odysseus von der Zauberinsel der Kalypso fortsehnte nach dem steinigen Ithaka. Aber vorher wollen wir Rache üben an der Natur, hinter deren Engelsmaske wir den Belial erkannt haben!«

Ein greller Feuerschein züngelte durch die Fenster in den Versammlungsraum. Einige Verwegene hatten sich schon vorher beim ersten Aufruf des Priesterneffen entfernt und ihr Werk begonnen. Als wir hinauseilten, war es bereits in vollem Gange. Die Pflanzungen brannten und Flammen leckten nach den Ausläufern der Ortschaft. Alte Einwohner standen umher, starrten auf Vlaho, wie in Erwartung eines Signals, ob sie sich auch dieser Katastrophe gegenüber als gleichmütige Stoiker zu betragen hätten. Eine Stunde später befanden wir uns auf der »Atalanta«, vollzählig, denn auch der vermißte Geo Rottek hatte sich inzwischen wieder angefunden; nach einem nicht unfreundlichen Erlebnisse, das er uns erzählte, während sich das Schiff von der illuminierten Insel entfernte.

Die Episode des Offiziers lieferte zu unseren Erfahrungen eine sozusagen lyrische Ergänzung. Er war bei dem erwähnten Aufstieg tatsächlich vom Wege abgekommen, verlockt durch das Erscheinen einer seltsamen Springgazelle, die am Waldesrand sichtbar wurde, im Buschwerk untertauchte, wieder aufschnellte, sich umblickte, so daß Geo der Versuchung nicht widerstehen konnte, der Spur zu folgen. So verlor er den Kontakt mit den anderen und sah sich beim Fortwandern plötzlich auf einer mit Pinien umstandenen Matte, die einen Blick auf Tiefland und Meeresbucht freigab. Auf einer Moosbank saß ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, dem er unter den Sehenswürdigkeiten der Insel sogleich eine besondere Stellung anwies. Ja, ihm erschien in diesem Moment der ganze Zauber der elyseischen Umwelt nur als die Fassung zu diesem einen versprengten Edelstein. Er blieb stehen, fragte nach dem Wege zur Stadt, erhielt Auskunft, schlug aber den Weg nicht ein, setzte sich vielmehr auf die Bank neben die junge Person und hatte die Genugtuung, daß diese Kühnheit sie nicht aufscheuchte. Jetzt betrachtete er sie eindringender, mit einer unbewußten, aber ergebnisreichen Analyse der Einzelheiten, die sich hier zur Gestaltung einer exotischen Hebe zusammenfanden. Und mitten in die stumme Entzücktheit hinein fiel eine Enttäuschung: die Augen, so schön sie geformt waren, so reizend sich Iris und Pupille vom zartgeäderten Weiß abhoben, zeigten keine optische Resonanz. Es ging keine Schwingung von ihnen aus, nichts, was auf ein Spiel der Nerven deutete, und es kam ihm in Erinnerung, was der Doktor in den ersten Minuten des Aufenthalts zu ihm gesagt hatte: »diese Menschen haben keine Seele.«

Er versuchte eine Unterhaltung anzubahnen. »Wie heißen Sie?« – »Wrogella«. – »Ein melodiöser Name; freuen Sie sich der Herrlichkeiten um uns?« – Sie verstand nicht. – »Empfinden Sie nichts beim Anschauen dieser Landschaft?« – »Die Landschaft ist überall dieselbe.« – »O nein, sie ist überall verschieden, sie bietet alle Arten von Schönheit; so wie auch Sie verschieden sind von Ihren Schwestern auf der Insel. Wissen Sie, Wrogella, daß Sie schön sind?« – Ein leises Vibrieren in ihren Zügen gab Antwort; schnell genug verschwand es, und sie sagte mit klangloser Stimme: »es ist verboten, das zu wissen.«

Eine großartige Erscheinung zeigte sich am Himmel. Hinter zarten Dunstwölkchen offenbarte sich das Halo-Phänomen, das sonst nur in der Polarregion sichtbar wird. Weitgeschwungene Kreise um die Sonne mit Neben- und Gegensonnen, mit hellfarbigen Berührungsbogen an den äußeren und inneren Bogen. »Wrogella,« rief er, »blicken Sie dorthin! Tausend Jahre könnte ein Mensch alt werden, ohne daß es ihm vergönnt wäre, solches Wunder zu erleben!« Und in der Ekstase ergriff er ihre rechte Hand, die sie nicht zurückzog.

Aber sie blickte auch nicht zum Himmel, an dem das Phänomen nach wenigen Sekunden verschwand.

Kein Zweifel, er saß neben einer Undine, und erriet intuitiv, daß diese undinenhafte Verfassung das wesentliche Merkmal der Rasse von Vléha bilden müsse. Aber er hielt doch ihre Hand, aus deren Fingerpolen ihm etwas entgegenströmte, wie eine Emanation.

Das ist wenigstens ein Vorteil ihrer Empfindungslosigkeit, dachte Geo; sie wehrt sich nicht, wenn ich ihre Hand liebkose. Und während er sie abwechselnd streichelte und an die Lippen führte, fragte er: »Wrogella, sind Sie verlobt? haben Sie einen Freund, einen Geliebten? Wissen Sie überhaupt, was Liebe ist?«

Sie antwortete nicht. Aber in ihren Augen ging etwas vor, mit kristallischen Reflexen, verschleiert im Dunsthauch von Tränen. Und auf einmal öffnete sie ihre Arme und flog ihm an die Brust. Wie ein junges Vogelherz pochte es ihm entgegen. Diese eine Buddhistin war entzaubert zu einem Nirwana, das ihr besseres versprach, als die überlieferte Mystik.

– Das ist der Anfang eines Romans, lieber Rottek, sagte Mac Lintock; wie denken Sie sich die Fortsetzung?

»Fortsetzung?« entgegnete jener, »ich dächte, wir wären schon seit ein paar Stunden über den Schluß hinaus. Ich auf dem Schiff, das Mädchen auf der brennenden Insel! Der Vorhang ist gefallen und wird nach menschlichem Ermessen nie wieder gehoben.«

– Das soll man nicht verschwören. Sie machen mir nicht den Eindruck, als wenn der rasche Triumph des Abenteuers Ihnen genügte. Bei einem Helden, der Brünnhilde erweckte, kann auf den Siegfried-Schluß der Anfang der Götterdämmerung folgen: Zu neuen Taten!

»Sie sind ein Menschenkenner, Herr Mac Lintock. Tatsächlich, ich verspüre heftige Reue. Ich hätte auf Vléha bleiben oder Wrogella mitnehmen sollen.«

– Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit. Sie können eines Tages zurückkehren und mit ihr den unterbrochenen Kursus wieder aufnehmen. Ich denke mir das um so vorteilhafter, als ich selbst beabsichtige, in späteren Jahren hier eine Ferienkolonie für uns alle zu begründen.

»Glänzende Idee!« rief Donath, »aber die Pflanzungen sind doch vernichtet?«

– Ich halte diesen Brand für ein Theaterspektakel. In einem Jahre blüht und fruchtet hier alles wie zuvor. Das einzige wirklich Eingeäscherte wird der Buddhismus sein, und der verdiente nichts anderes, denn er ist eine Donquichoterie. Ich taxiere: wenn wir einmal wiederkehren, dann herrschen hier die sogenannten geordneten Zustände, mit Katasterämtern, Steuerbüros und sonstigen Behörden, die den Leuten das Leben genau so sauer machen, wie bei uns. Aber man wird wenigstens wissen, an wen man sich als Businessman zu halten hat. Und wenn inzwischen die Preise nicht gar zu arg hochgeschnellt sind, dann kaufe ich die ganze Insel und gebe sie der hübschen Wrogella zur Mitgift.

Was aber würde unser deutscher Buddha gesagt haben, wenn er mit uns von der Partie gewesen wäre?

Vermutlich folgendes:

Hier auf der Insel der glücklichen Bedingungen war der beste Ansatz vorhanden für das Verwirklichen der Verneinung des Willens zum Dasein. Die Sehnsucht nach Sansara, die Ataraxie, Senecas Doktrin und mein Pessimismus hätten hier auf engem Boden das Zweckdienliche geschafft, die Überwindung der Gattungsexistenz. Dann hätte ein goldenes Zeitalter beginnen können, worin sich die Natur allein auslebt, ohne die störende Mitwirkung der Menschen, welche in keinem Betracht in den Kosmos hineinpassen. Fast waren sie so weit, dieser schnöden Mitwirkung in freiwilligem Verdorren zu entsagen. Da erhob sich ein neues Gewühl zu dem blöden Zwecke, sich das nämliche Joch, das sie eben abwerfen wollten, frisch aufzubinden, mit aller Festigkeit, daß es ihnen den Nacken recht gründlich wundscheuere. Und mitten in dem Getümmel sehen wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig begegnen, – und warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? Weil diese Liebenden die Verräter sind, welche heimlich danach trachten, die ganze Not und Plackerei zu perpetuieren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde.

Die letzten Zeilen stehen so wörtlich in Schopenhauers Hauptwerk. Noch viele gleichwertige wären daraus zu zitieren, lapidare Gedanken, die Satz für Satz wahr, sich insgesamt zu einem grandiosen Fehlerkreis zusammenschließen, zu einem Zirkel, von dem uns soeben die am Horizont verglühende Insel ein lebendiges Abbild geliefert hatte.

 


 


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