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In dem ungeheuren Raum der Westminster-Hall sah ich sie zum ersten Mal – ihr spitzes Gesicht, ihr rotes Haar, ihre glänzenden Zähne. Das nächste Mal in ihrem eignen Heim – einem Landhaus, das nach seinem Umbau eine halbe Villa war. Dahinter standen Heuschober, eine geräuschvolle Dreschmaschine, ein Taubenschlag und die Ställe, zwischen denen und der Küste die schweren Ackerpferde, mit dem Geschirr rasselnd und von den Zurufen der Fuhrleute angetrieben, beständig unterwegs schienen. In dem mit bunten Föhren bepflanzten Garten pflegte sie den ganzen Tag ihre Blumen. Wenn wir uns abends im Empfangzimmer versammelten, rauchte ihr Mann schweigend seine Pfeife; die jungen Damen, denen das blonde Haar bis in den Rücken hing, spielten Walzer. Sie war die einzige, die plauderte; ihre Unterhaltung war überschwenglich, ihr Lachen reich und herzlich. Ich war gerade erst achtzehn Jahre geworden und beschäftigte mich ernstlich mit religiösen Fragen. Eines Tages verriet ich ihr, das Buch, das ich in der Tasche hätte und manchmal zu studieren vorgäbe, sei Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Meine Auseinandersetzung über den Wert des Werkes machte scheinbar keinen Eindruck auf sie; es überraschte mich, daß sie für die Erörterung religiöser Probleme offenbar gar kein Interesse hatte, denn sie galt als gottesfürchtige Frau, und ich vermochte durchaus nicht zu begreifen, wie sich jemand mit dem bloßen Glauben zufrieden geben könne. Eines Tages im Gewächshaus, wohin ich ihr nachgeschlendert war, platzte sie bei einer Anspielung auf das Kapitel von der ›Deduktion der Kategorien‹ heraus und erklärte, mich fortan ›Kant‹ nennen zu wollen. Die übrigen Familienmitglieder machten von dem Spitznamen keinen Gebrauch – sie erfanden einen andern, der ihrer Phantasie besser zusagte –, aber sie blieb bei dem Namen, den sie mir gegeben, und hat mich im Verlauf unsrer langen Freundschaft nie anders angeredet.
Eigentlich hatte ich keinen Grund, mit diesen Leuten befreundet zu werden. Wir waren von entgegengesetztem Charakter und Temperament, schienen aber irgendwie zueinander zu passen. Beide Teile dachten wenig darüber nach – ich gewiß nicht; damals war ich nicht dazu fähig: meine Jugend war ein unbestimmter Traum, und meine Freunde gingen wie Schatten hindurch. Ich sah und verstand sie nur, wie die Wolken im Sommer, wenn man sich der Länge nach ins hohe Gras streckt und den Zug der Federwölkchen beobachtet. In solcher Stimmung folgte Besuch auf Besuch, und eh ich es recht gewahr wurde, starb der alte Gutsherr, der im Zylinder an den Dünen zu spazieren pflegte, und meine Freunde bezogen den etwa einen Kilometer entfernten Familiensitz – ein Haus im italienischen Stil, hinter Ulmen versteckt, die längs der Küste wuchsen. Und in ihrem neuen Heim wurden sie mir wesenhafter als Schatten: dort glichen sie Gestalten auf der Bühne, und der Anbau eines weiteren Flügels und die Anlage des Gartens interessierten mich wie ein Vorgang in einem Theaterstück; und ich verließ sie, wie ich aus einem Schauspiel fortgehe, nahm einen andern Faden im Leben auf und dachte sehr wenig, wenn überhaupt, an sie. Jahre verstrichen, und nach langer Abwesenheit im Ausland traf ich sie zufällig in London.
Abermals folgte ein Besuch dem andern. Meine Freunde waren noch ganz ebenso wie früher: ihr Haus war dasselbe, ihre Lebensführung die gleiche. Ich glaube, eine Veränderung kam mir nicht zum Bewußtsein, bis eines Tages, als ich mit einer der Töchter im Garten promenierte, mich ein Gefühl beschlich, als sei ich hier zu Hause. Mir war, als hätte ich diese Menschen von jeher gekannt, als wären sie mit meinem Leben verwachsen. Es war ein plötzliches, bezauberndes Erwachen der Liebe. Das Leben schien sich in die Länge zu dehnen, wie die Felder bei Tagesanbruch, und in mancher vorher ungeahnten Beziehung klar und wirklich zu werden. Vor allem fand ich zu meiner Überraschung, daß ich sie, die mir vor fünfzehn Jahren recht spießbürgerlich vorgekommen war, mit einem Mal bewunderte. Sie zählte jetzt fünfundfünfzig Jahre, aber ein so hohes Alter schien bei ihrer mädchenhaften Figur und ihrem jugendlichen, überströmenden Lachen undenkbar. Ich wußte jedoch bestimmt, daß sie fünfzehn Jahre älter war als damals, da ich sie zuerst gesehn, aber diese fünfzehn Jahre hatten uns gegenseitig näher gebracht und verstehn gelehrt. Wir wurden Kameraden. Ich achtete auf ihre Kleider und sagte ihr, in welchen sie mir am besten gefiele. Sie war nur böse auf mich, wenn ich sie im Treibhaus in einem alten Hut überraschte, an dem eine verblichene Mohnblume herabhing. Dann rief sie: »Nicht ansehn, Kant! Ich weiß, ich sehe wie ein altes Zigeunerweib aus.«
»Sie sehn reizend aus in dem alten Hut,« erwiderte ich.
Sie stellte die Gießkanne hin und nahm ihn lachend vom Kopfe. »Er ist die reine Vogelscheuche.«
»Ganz und gar nicht. Ich finde Sie entzückend bei der Arbeit im Gewächshaus ... So gefallen Sie mir besser, als wenn Sie sich für Brighton in Staat werfen.«
»Wirklich? ... Ich dachte, ich gefiele Ihnen in meinem neuen schwarzseidenen am besten.«
»Sie gefallen mir zu allen Zeiten gleich gut.«
Unsre Blicke begegneten sich. Ein Ton von Liebe schwang in unsrer Freundschaft mit. »Merkwürdig,« sagte ich, »ich habe Sie nicht halb so bewundert, als ich Sie kennen lernte.«
»Wie kam das? Ich war damals doch eine ganz junge Frau.«
»Ja,« sagte ich, und meine Worte taten mir leid, »aber, sehn Sie, zu der Zeit war ich ein blutjunger Dachs – ich lebte in einem Traum und hatte kaum Augen für das, was um mich herum vorging.«
»Selbstverständlich,« sagte sie heiter, »Sie waren ja noch so jung damals. Sie sahen in mir nur die Mutter eines erwachsenen Sohnes.«
Ihr Kleid war aufgesteckt, in der Hand hielt sie den Hut, der sie ihrer Meinung nach wie ein altes Zigeunerweib erscheinen ließ, und die Sonnenstrahlen fielen auf das rote Haar, das sich schon ein wenig gelichtet hatte; aber jeder der untadligen Zähne war eine elegante Skulptur, und kein Fältchen trat auf dem hübschen, an eine Füchsin gemahnenden Gesicht zutage. Ihre Figur besonders verriet keine Altersspuren, und wenn sie mit ihren Töchtern in einem Zimmer war, galt ihr meine Bewunderung.
Eines Tages, als ich in der Vorratskammer einen Bogen Packpapier suchte, um ein Buch einzuschlagen, entdeckte ich einen Stoß alter Zeitschriften. Es war das ›Athenäum‹. Hätte ich eine Reihe Zeichnungen von Raphael aufgestöbert, mein Erstaunen hätte nicht größer sein können. Nicht etwa eine Nummer, sondern zwanzig Hefte des ›Athenäum‹ in einem Hause, darin sonst nie ein Buch gelesen wurde. Ich sah nach dem Datum – dreiundzwanzig Jahre waren sie alt. Sie hob gerade einige angefaulte Äpfel vom Boden auf.
»Wer in aller Welt,« rief ich, »kann denn die ›Athenäum‹ hier gelassen haben?«
»Oh, die gehören mir,« antwortete sie. »Ich habe das ›Athenäum‹ ständig gelesen, als ich mit Mr. Bartlett verlobt war. Sie haben doch gewiß von ihm gehört – er hat das berühmte Buch über den Euphrat geschrieben. Zu der Zeit war Lesen meine Schwärmerei, und er und ich haben uns in dem alten Garten in Wandsworth immer von Büchern unterhalten. Jetzt ist er ganz verbaut.«
Diese plötzliche Entdeckung einer ehemaligen Geschmacksrichtung und erstorbener Sympathien schien uns noch enger zusammenzuschließen, und in der stillen, vom Geruch der Äpfel erfüllten Vorratskammer erglühte ihr Gesicht und spiegelte den Geist ihrer Mädchenzeit. Ich begriff sie, als ob ich jene Tage mit ihr durchlebt hätte.
»Sie müssen ein entzückendes Mädchen gewesen sein. Ich glaube, wenn ich Sie gekannt hätte, hätte ich Sie geheiratet.«
»Mag schon sein, Kant ... Also Sie dachten, weil ich jetzt keine Bücher mehr lese, ich hätte nie welche gelesen? Sie haben keine Idee, wie erpicht ich früher auf Bücher war, und wenn ich Mr. Bartlett geheiratet hätte, wär ich wohl ein rechter Blaustrumpf geworden. Aber dann kam Dick – mein Vater hielt ihn für eine passendere Partie, und ich hatte für die Kleinen zu sorgen. Wir waren damals sehr arm; der alte Gutsherr hat nie eine Hand gerührt, uns zu helfen.«
Um diese Zeit schien ich immer bei meinen Freunden zu sein. Ich kam zu Besuch, wann es mir beliebte, und blieb bisweilen acht Tage, manchmal ein halbes Jahr; aber so lang ich auch meine Besuche ausdehnte, es war ihnen nicht lang genug. Der Fünfuhrzug brachte mich von London zur rechten Zeit zum Essen hin, und dann eilte ich auf mein Zimmer, ganz als wäre ich ein Mitglied der Familie. Wenn ich diesen Zug verfehlte und mit dem nächsten um sechs Uhr fuhr, fand ich sie bei Tische; der Schein der Lampe ließ die Innigkeit unsrer Beziehungen noch stärker hervortreten, und es war an sich schon ein besondres Vergnügen, herumzugehn und jedem einzelnen die Hand zu drücken. Als ich sie bei einer dieser Gelegenheiten an ihrem Platze vermißte, fragte ich: »Ihr habt sie doch hoffentlich nicht so lang im Garten bleiben lassen?«
Ich erfuhr, daß sie krank und schon seit zwei Wochen ans Zimmer gefesselt sei. Mehrere Tage gingen dahin, die Anspielungen auf ihren Zustand wurden immer häufiger, und schließlich hörte ich, der Hausarzt wolle die Verantwortung nicht länger übernehmen und hätte verlangt, daß man einen Londoner Professor zuziehe. Aber sie wollte nichts davon wissen, daß man ihretwegen so viel Geld ausgebe, und behauptete, wohl genug zu sein, um nach London zu fahren.
Der kleine Ponywagen brachte sie zum Bahnhof, und ich sah sie, in Tücher eingepackt, im Wartesaal. Sie schämte sich, gesehn zu werden, aber tatsächlich hatte das Leiden sie nicht verändert, wie sie annahm. Es gibt Menschen, die so schön sind, daß Krankheit sie nicht entstellen kann, und sie besaß eine so köstliche Lebenszuversicht, daß sie sich noch am Rande des Grabes umdrehte und einem zulächelte.
Wir dachten, der Zug werde sie uns auf ewig entführen, aber sie kam hoffnungsvoll zurück. Eine Operation hatte sich als unnötig erwiesen, doch blieb sie noch geraume Zeit auf ihrem Zimmer, bis die Medizin sie wieder so weit hergestellt hatte, daß sie herunterkommen durfte. Ungefähr nach einem Monat sah sie auffallend wohl aus, und mit jedem Tag ging es ihr besser, bis sie wieder im Besitz ihrer mädchenhaften Figur war und der tänzergleichen Beweglichkeit, die in dem stillen Frieden des alten Hauses eine wahre Wohltat und ein Labsal waren. Ihre Anmut und Leichtigkeit setzten uns in Erstaunen. Eines Tages kam sie, zum Ausfahren gekleidet, herunter, lief durch das Bibliothekzimmer, öffnete ihren Schreibtisch und suchte seine ungezählten Schubladen nach einer Summe ab, die sie, in Papier gewickelt, dort aufbewahrte.
»Wie schön Sie aussehn! Es geht Ihnen wieder ganz gut, und Sie haben eine Figur wie ein fünfzehnjähriges Mädchen.«
Sie kehrte sich um und sah mich an mit einem Ausdruck der Liebe, wie sie eine alte Frau für einen jungen Mann empfindet, der ihr etwas weniger und etwas mehr ist als ein Sohn. Wie ein Abglanz des Sommers auf dem Antlitz des Herbstes verweilt, so zieht eine sexuelle Empfindung durch eine solche Zuneigung. Es liegt etwas seltsam Zärtliches in der Art, wie sich ein junger Mann zu den verblühenden Reizen einer Frau hingezogen fühlt, die er als die Mutter seiner Wahl betrachtet und die ihm zugleich das Mädchen versinnlicht, das er geliebt hätte, hätte ihn die Zeit nicht um ihre Jugend gebracht. Von der Wunderlichkeit eines solchen Verhältnisses weiß der Durchschnittsmensch nichts.
Der Tag ist mir noch gegenwärtig, denn es war das letzte Mal, daß ich sie schön sah. Bald danach bemerkten wir, daß sie nicht völlig genas, und glaubten, die Schuld darauf schieben zu müssen, daß sie ihre Medizin nicht regelmäßig nehme. Sie brachte lange Stunden allein in ihrem Gewächshaus zu, wo ihr die heiße Sonne grimmig auf den Rücken brannte, und wir beschworen sie – ich an erster Stelle –, sie möge die schweren Blumentöpfe nicht mehr hin und her schleppen und die Gießkanne nicht mehr in dem Wasserbehälter am andern Ende des Gartens füllen. Um ihr das zu ersparen, erbot ich mich, ihre Blumen zu sprengen. Aber sie gehörte zu den Frauen, die alles selbst tun wollen, die da meinen, wenn sie die Tür nicht selbst zumachen, sei sie nicht richtig geschlossen. Ihr zweites Wort war ihre Arbeit. »Wenn ich meine Arbeit im Stich lasse,« pflegte sie zu sagen, »auch nur eine Woche, dann kommt alles so hoffnungslos zurück, daß ich das Versäumte nie wieder einholen kann. Das Schlimmste ist, daß keiner da fortfahren kann, wo ich aufhöre.« Und da sich ihr Zustand verschlechterte, nahm dieser Gedanke überhand, bis er zu einer Art fixen Idee wurde. Schließlich sagte ich ihr, im Vertraun auf unsre innige Freundschaft, ihr Leben gehöre ihrem Mann und ihren Kindern, und sie habe kein Recht, es so zu vergeuden. Wenn sie sich genügend schone, könne sie noch zwanzig Jahre leben, aber bei diesem Kraftaufwand dürfe sie nicht hoffen, ihr Leben noch lange zu erhalten. Ich sprach ganz brutal zu ihr, aber sie lächelte, denn sie wußte, wie sehr ich sie liebte. Und wenn ich jetzt zurückschaue, will es mir Vorkommen, als sei sie davon durchdrungen gewesen, daß sie nicht zu retten war, und habe es deshalb vorgezogen, den letzten Sommer ihres Lebens ganz ihren Blumen zu widmen. Es war rührend, sie, die arme Sterbenskranke, an den langen Nachmittagen, während die Sonnenstrahlen durch das glühende Glas auf sie prallten, dasitzen und ihre Blumen pflegen zu sehn. Ich entsinne mich, wie sie abends erschöpft hereinkam und sich auf das kleine Sofa legte. Ihr Mann, mit einem besorgten, stillen, gütigen Blick in den Augen, zog ihr den Rock über die Füße und setzte sich zu ihr, voll zärtlicher Liebe, indem er das Recht beanspruchte, ihre Hand zu halten, als wären sie nicht schon dreißig Jahre verheiratet gewesen, sondern eben erst verlobt. Damals redeten wir ihr alle zu, sie möge doch den Professor aus London kommen lassen, und ich weiß noch, wie stolz ich war, als sie aufblickte und sagte: »Nun gut, Kant, es sei, wie Sie es wünschen.« Ich weiß auch noch, wie ich am Ende der Schneise am Saum des Wäldchens wartete, wo ich den Arzt auf dem Wege vom Bahnhof unbedingt treffen mußte. Die alten Ulmen waren wundervoll grün, der Himmel wundervoll blau, und wir blieben stehn mit dem Blick auf die saftigen Wiesen, wo sich die Schafe so friedlich bewegten, und, von der köstlichen Sommerwärme durchflutet, sprachen wir von ihr, die dem Tode geweiht.
»Ist denn das Leiden unheilbar?«
»Es gibt keine Heilung ... Wir können nicht neu schaffen, wir können nur vorhandene Kräfte anreizen, und jeder Reiz schwächt, und so weiter bis zur Erschöpfung. Unsre Arzneien beschleunigen bloß das Ende.«
»Also es ist keine Hoffnung?«
»Leider nein.«
»Kann sie noch fünf Jahre leben?«
»Ich halte es für sehr unwahrscheinlich.«
»Wie lange geben Sie ihr noch?«
»Da fragen Sie zu viel ... Sagen wir: ungefähr ein Jahr.«
Der Arzt schritt durch die laubreiche Allee. Ich blieb zurück und blickte nach den dummen Schafen, vermochte aber in all dem Grün der Landschaft nur einen dunkeln, engen Fleck zu sehn. An diesem Tage sah ich sie zum letzten Mal. Sie saß auf einem Taburett, sehr krank fürwahr, und die schwache, aber immer noch junge und reine Stimme sagte: »Sind Sie es, Kant? Kommen Sie mal zu mir und lassen Sie sich anschaun.«
Während ich in London in der Arbeit steckte, trafen häufig Briefe von meinen Freunden ein, Briefe, die mir von dem Fortschreiten der Krankheit Kunde gaben, und mit jedem Brief wurde das Ende greifbarer, bis ihr Tod in Person vor mir zu stehn schien. Er konnte nicht mehr lang auf sich warten lassen, und der Brief kam mit der Nachricht: ›Mama wird den Winter nicht überleben.‹ Bald darauf ein Brief: ›Mama wird keinen Monat mehr leben‹; und diesem folgte ein Telegramm: ›Mama liegt im Sterben. Kommen Sie sofort.‹
Es war ein rauher, stürmischer Nachmittag wie im tiefen Winter. Der Sonntagszug hielt an jeder Station, und die ermüdende Fahrt von vier Stunden schüttelte einen gehörig durch und zog sich endlos hin. Der kleine Bahnhof am eisigen Meer zitterte vor Kälte, und als ich den Feldweg hinaufging, klirrte der Wind und schlug mir wie Eisen ins Gesicht. Ich eilte weiter, durch die Bäume nach den Lichtern ausschauend, deren Schein durch den Park dringen mußte, wenn sie noch am Leben war. Wie wohl taten meinen Augen die schimmernden gelben Pünktchen! Ich schlüpfte durch die Hintertür ins Haus und fragte den Diener, den ich auf dem Gange traf:
»Wie geht's ihr?«
»Sehr schlecht, gnädiger Herr.«
Sie starb in dieser Nacht nicht, auch nicht in der nächsten und nicht in der übernächsten, und während wir auf den Tod warteten, der langsam, aber sicheren Fußes kam und uns raubte, was von ihr noch übrig war, dachte ich oft, welche Entwürdigung diese säumigen Todesfälle doch für die Zuschauer bedeuten, und wie sie alles, was tierisch in uns ist, schmachvoll zum Durchbruch kommen lassen. Denn mag unser Kummer noch so groß sein, wir müssen essen und trinken und können uns nicht einmal ausschließlich von dem geliebten Wesen unterhalten, dessen Verlust uns bevorsteht. Denn es gibt kein Entrinnen vor unsrer schmählichen Natur. Bei Tische, während wir aßen und tranken, besprachen wir die Nachrichten, die stündlich aus dem Krankenzimmer eintrafen: ›Mama wird die Woche nicht überstehn.‹ Ein paar Tage später: ›Mama wird kaum noch den Sonntag überleben‹, und in der folgenden Woche: ›Mama wird nicht mehr über die Nacht kommen.‹ Am meisten empörte mich das Mittagsmahl, und ich dachte oft: ›Sie liegt oben im Sterben, während wir Fruchttörtchen essen.‹
Eines Tages mußte ich über die Felder reiten, um einige Briefe zu holen, und als ich bei meiner Rückkehr von den Ställen ins Haus trat, kam ihr Sohn auf mich zu. Er war in Tränen und sagte schluchzend: »Mein lieber, alter Freund, es ist aus – sie ist hinüber.« Ich ergriff seine Hand und brach in Tränen aus. Da kam eine der Töchter die Treppe herunter und erzählte mir, wie sie verschieden sei. Ein paar Stunden vor ihrem Tode hätte sie um einen seidenen Faden gebeten; dreißig Jahre lang habe sie stets einen vor dem Schlafengehn durch ihre schönen Zähne gezogen. Ihre Arme seien bis auf den Knochen abgemagert und nicht dicker gewesen als die eines kleinen Kindes. Man habe sie, die so hager und entkräftet, aufgerichtet, habe ihr den Seidenfaden gegeben und den Spiegel vorgehalten, aber ihre Augen seien schon glasig gewesen, und sie sei erschöpft in die Kissen zurückgesunken. Dann sei ihr Atem schneller geworden, und zuletzt, und zwar ganz plötzlich, habe sie geahnt, daß es mit ihr zu Ende gehe; da habe sie wild um sich geblickt, ohne die an ihrem Bette Versammelten zu erkennen, und gesagt: »Ach, daß man sterben muß, wenn einem noch so viel zu tun übrig bleibt! Was werden sie nur ohne mich anfangen!«
Ich war beim Schreiben der Trauerbriefe behilflich, die so förmlich gehalten waren und unsern Schmerz so wenig ausdrückten. Derweil saßen die Töchter da und banden Kränze für die Tote, und stündlich trafen Kranzspenden und Beileidsbriefe ein. Die Töchter gingen hinauf, wo die Tote lag, und als sie wiederkamen, sagten sie mir, wie schön ihre Mutter aussehe. Wie oft habe ich es im Verlauf dieser schrecklichen Tage abgelehnt, die Tote zu sehn! Mein Gedächtnis bewahrte die Erinnerung an ein Wesen voll Lebenslust, und ich konnte mich nicht dazu entschließen, sie zu opfern. Wir dachten, der Beerdigungstag werde nie anbrechen, aber er kam. Es gab ein reichhaltiges Frühstück, Zigarren wurden geraucht, es fielen heimliche Anspielungen auf die Ernte, den Preis der Schafe, die Jagd, die unter dem Frost stark gelitten, und gelegentlich wurden Bemerkungen über die hervorragenden Eigenschaften der Verstorbenen in die Unterhaltung eingeflochten. Ich weiß noch, es war herrliches Wetter, heller Sonnenschein, und der nahende Frühling prägte sich in der Farbe des Himmels aus. Der Leichenzug schlängelte sich den kahlen Weg am Meer entlang; der mit Lilien bedeckte Sarg ruhte auf einem Karren, der von den Arbeitern des Gutes gezogen wurde. An diesem Tage gruben sich jede noch so kleine Krümmung, jede Farbe der rauhen, öden Küste meinem Gedächtnis ein, und ich sah deutlicher als je zuvor die alte Kirche mit dem rotbraunen Dach und dem viereckigen, glaubensstrengen Turm, das verlassene Dorf, die grauen Wellenlinien der düsteren Hügel, deren ringförmige Baumstreifen wie eine Feder emporstanden. In der Kirche waren die Mädchen fassungslos, ihre Gesichter schmerzverzerrt; sie lagen sich in den Armen und weinten hysterisch. Die wimmernde Stimme der Orgel, der gräßliche Choral, die schnarrende Stimme des bejahrten Pfarrers, der im weißen Chorhemd auf den Altarstufen stand: ich höre sie noch! Liebes Herz, ich sah dich in deinem Garten, während die andern in das sonnenlose Loch starrten, während alte, wacklige Männer in weißem Haar, von greisenhafter Neugier getrieben, sich nach vorn drängten und in die trostlose Grube hinunterblickten.
Die Menge verlief sich rasch; die Verwandten und Freunde der Verstorbenen suchten sich auf dem Rückweg die angenehmsten und teilnahmvollsten Menschen aus und besprachen mit ihnen Angelegenheiten von privatem Interesse. Die von weit her gekommen waren, sahen nach der Uhr, und in ihrem Blick lag stillschweigend eine Entschuldigung gegenüber dem Leben: die Zeit, die sie auf etwas außerhalb des Lebens verwandt, dünkte sie offenbar in einem seltsamen Mißverhältnis dazu stehend. Längs dem Meere lachte die Sonne, das junge Korn stand dicht auf den Feldern; die Blätter sprossen an den Zweigen, die Lerchen stiegen immer höher, bis sie in der blassen Luft verschwanden, und da wir uns den Pflanzschulen näherten, tönte das verliebte Krächzen der Krähen wohlgefällig ans Ohr. Ein Todesfall im Lenz, in dem Augenblick, da die Welt zu neuem Leben erwacht, ergriff meine Seele mit jenem Schmerz, den uns das vertraute Schauspiel stets verursacht hat und immer verursachen wird, solange ein Menschenherz unter der Sonne schlägt. Und indem ich hinter der schwatzenden Menge, die in Trauergewandung durch die schwermütige Frühlingslandschaft dahinschritt, absichtlich zurückblieb, dachte ich an sie, die ich so lange geliebt hatte und nie Wiedersehn sollte. Ich stellte mir das Gedächtnis als einen Schrein vor, wo wir, ohne uns zu schämen, verehren dürfen, dachte an die Freundschaft und an die Möglichkeit eines reinen Entrinnens vor unsern natürlichen Trieben, die sie uns gewährt; ich sann darüber nach, daß es noch eine andre Liebe gibt als die, welche der junge Mann seiner Erwählten bietet, und ich wußte: meine Liebe war stärker und seltsam persönlicher als die Liebe, welche ich an diesem Tag die Welt ihren Lebewesen darbringen sah.